Leseprobe Ein Mord auf der Speisekarte

3. Kapitel

Myrna ließ sich auf dem Stuhl nieder, den Hank zurückschob. »Danke.« Sie trug ein glückliches Lächeln auf den Lippen.

»Warte erst ab, wenn ich dir den Schirm halte«, sagte er zwinkernd und brachte sie zum Schmunzeln. »Es soll heute Nacht noch regnen.«

»Umso besser, jetzt im Trockenen zu sitzen.« Sie sah sich in dem behaglichen Lokal um, in dem es nach Fleisch und Kamin roch. Das prasselnde Feuer sorgte für Behaglichkeit. »Nett hier. Ist das deutsche Küche?«

Hank nickte und winkte den Kellner heran, der ihnen die Karten reichte und die Getränkebestellung aufnahm. Dann verschwand er so schnell, wie er gekommen war.

Myrna ließ ihre nervösen Finger über die Maserung der Tischplatte gleiten. Sie betrachtete Hank über die Karte hinweg. Dass sie beide einmal hier sitzen würden, hätte sie nicht für möglich gehalten. Das Klirren von Gläsern lenkte sie ab.

Hank hatte ihren kreisenden Blick bemerkt. »Das Restaurant ist ganz neu. Ich dachte mir, wir könnten es einmal ausprobieren. Falls du doch woanders hingehen willst …«

»Nicht doch, ich finde es sogar schön hier. Diese heimelige Stimmung gefällt mir«, erwiderte sie eilig, ehe er wieder aufsprang. Myrna war gerührt, dass er sich Mühe für sie gab und auf ihre Wünsche einging.

Hank wirkte nervös. Ständig fuhr er sich durch sein kurzes Haar oder nestelte an seinen Fingern. Sicher fehlten ihm die Zigaretten, von denen er loskommen wollte. Immer, wenn er schwach geworden war, roch er nach Pfefferminz, weil er den Gestank des Tabaks mit Kaugummis zu überdecken versuchte. Heute hatte sie ihn allerdings noch nicht kauen sehen.

»Ich schwanke zwischen Geflügel und Fisch«, meinte Myrna, während sie die Karte studierte. »Das klingt alles köstlich, aber auch sehr sättigend.« Sie überlegte, vielleicht sogar eine vegetarische Speise zu wählen, die ihren Magen nicht unnötig aufblähte.

»Was du nicht schaffst, kannst du dir ja mitgeben lassen. Oder ich esse es auf.« Er grinste breit.

»Das glaube ich dir gern.« Wieder lachten sie.

Langsam entspannte sich die Stimmung zwischen ihnen. Myrna wurde mit jedem Schluck Wein lockerer, während Hank auch endlich mehr von sich erzählte, statt immer nur sie reden zu lassen.

»Dass du Kapitän einer Fußballmannschaft gewesen bist, hätte ich nicht gedacht.«

»Traust du mir Sport etwa nicht zu?«

»Doch, auf jeden Fall, aber ich habe einfältig geglaubt, du hättest immer hinter dem Tresen gestanden wie dein Vater. Du sagtest, du seist damit aufgewachsen.«

Myrna hielt ihm ihr leeres Glas hin, damit er nachschenkte. »Das bin ich auch, aber man braucht einen Ausgleich zum Beruf. Da erzähle ich dir sicher nichts Neues, Detective Inspector.«

Myrna wurde ernst. Sie setzte das Glas an die Lippen, trank aber nicht. Sofort wanderten ihre Gedanken zurück nach London. »Ich hoffe vergeblich auf eine Beförderung. Sie haben mich einfach abgeschoben, weil ich ihnen zu unbequem wurde.«

Hank langte über den Tisch und fasste ihre andere Hand. Der Hüne ging so behutsam dabei vor, dass Myrna beinahe Tränen in die Augen schossen. Wie konnte ein Berg von einem Mann bloß so sanft sein?

»Sag das nicht. Jeder hier weiß, was du leistest. Du bist eine tolle Ermittlerin. Sie haben dich höchstens weggeschickt, weil sie Angst vor dir und deiner vorbildlichen Arbeit haben.«

»Die Arbeit, die dank Thea und Callan schon lange nicht mehr vorbildlich ist«, sagte sie und trank nun doch, behielt ihre Linke aber liebend gern in seiner Hand.

Hank streichelte ihre Finger und versetzte Myrna allein damit in Ekstase. Was würde erst passieren, wenn sie in seinem Bett lag? Als sie sich Hank nackt vorstellte, wäre sie beinahe zum ersten Mal rot geworden.

»Ich habe meine Arbeit sehr oft mit nach Hause genommen. Vielleicht ist meine letzte Beziehung deshalb in die Brüche gegangen.«

»Was ist passiert? Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht magst.« Wieder zeigte er sich verständnisvoll.

Myrna lächelte dankbar. »Jetzt habe ich selbst davon angefangen. Es ist in Ordnung. Ich hatte eine miese Zeit mit einem Mann, der es nicht verkraftet hat, dass ich einem Männerberuf nachgehe und mehr verdiene als er. Außerdem war ich durch die vielen Überstunden kaum zu Hause.«

»Klingt nach jemandem, der mit seinem Ego nicht zurechtkommt. Ich würde mich freuen, wenn meine Freundin viel verdient. Erst recht, wenn sie so hart dafür arbeitet. Das soll schließlich honoriert werden.«

»Danke, dass du das sagst. So denkt bei Weitem nicht jeder Partner. Jedenfalls hat er mir die Schuld gegeben, als er fremdgegangen ist. Mehrere Jahre lang hat er mich betrogen. Als ich es herausgefunden habe, war unsere Beziehung nicht mehr zu retten.«

»Was für ein Idiot«, grollte Hank. Sein Griff wurde fester, aber nicht unangenehm. Myrna fühlte sich sogar bestärkt dadurch. »Wie man eine Frau wie dich gehen lassen kann, ist mir unbegreiflich.«

Es war eindeutig, dass er mehr wollte als nur ein Essen. Hank war ernsthaft an ihr interessiert und Myrna ebenso wenig abgeneigt. Sie war gespannt, was der Abend noch brachte. Hank und sie hatten lange genug umeinander herumscharwenzelt. Nun würde sich zeigen, was sie empfanden und von einer Liaison erwarteten.

Thea hatte ihr vor einigen Wochen gut zugeredet. Sie selbst gab Oakley endlich eine Chance. Nun war es an Myrna, das Gleiche bei Hank zu tun.

Ihr Essen wurde serviert und duftete köstlich. Es schmeckte mindestens so gut, wie es aussah, aber immer wieder wanderte Hanks Blick auf sein Handy. Eine Eigenart, die sie ihm abgewöhnen würde. Myrna konnte nicht anders, als ihren Rücken durchzustrecken. Nun spionierte sie genauso in fremden Telefonen, aber immerhin war das hier ihr Date!

Der Name Alison ploppte mehrmals auf. Myrna kniff die Augen zusammen und versuchte, auf dem Kopf zu lesen. Sie fühlte sich auf einmal schäbig, doch ihr sechster Sinn riet ihr, weiterzumachen.

Als Hank aufsah und das Display wieder dunkel wurde, lächelte er warm. Myrna erwiderte es ehrlich, auch wenn sich Zweifel breitmachten. Würde ein Mann direkt vor seiner neuen Flamme mit der heimlichen Geliebten chatten? Hank erschien ihr nicht abgebrüht genug, um sie zu hintergehen. Andererseits waren sie nicht zusammen. Er konnte tun und lassen, was immer er wollte.

Als dann noch ein Anruf von ebenjener Alison einging, tupfte er sich den Mund mit der Serviette ab und entschuldigte sich. »Das hier ist wirklich dringend. Nur aus diesem Grund habe ich das Telefon auf dem Tisch. Ein Notfall.« Seine Miene zeugte von Sorge.

»Mach nur. Wir treffen uns ja bloß zu einem Abendessen unter Freunden. Es ist alles locker«, antwortete sie und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen.

Myrna wollte Hank nicht unter Druck setzen, aber etwas Anstand hätte sie von ihm erwartet. Dieser Anruf musste wirklich dringend sein, wenn er Myrna dafür am Tisch sitzen ließ.

Er machte ein paar Schritte und stellte sich in eine Nische an der Garderobe, um zu telefonieren. Als er Myrna den Rücken zuwandte, schlich sie ihm nach. Sie musste einfach wissen, wer diese Alison war. Anders würde sie ihr Essen nicht mehr herunterbekommen.

»Wir schaffen das, mein Engel«, hörte sie ihn sagen. »Nicht mehr lange, und wir können uns wiedersehen. Das verspreche ich dir. Ich liebe dich.«

Als er auflegte und sich umdrehte, erstarrte Hank. Myrna war selbst zur Salzsäule geworden.

»Du … Das … Also …« Hank zupfte nervös an seinem Hemd. Verlegen sah er zu Boden.

»Nicht nötig. Ich kenne die Ausreden bereits«, sagte sie erstaunlich gefasst und machte auf dem Absatz kehrt.

Myrna zeigte Stärke, konnte und wollte aber nicht länger in diesem Restaurant bleiben. Sie griff nach ihrer Tasche, rückte das Besteck zurecht und warf ein paar Geldscheine auf den Tisch, um ihr Essen selbst zu bezahlen.

»Evans, warte!«, rief er und hielt sie am Arm zurück, doch sie riss sich los.

Sie wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen, die sie schwach machten. »Gute Nacht, Hank. Man sieht sich.« Myrna stolperte nach draußen in die kühle, verregnete Nacht, ohne ihren Mantel mitzunehmen.

Hanks Rufe wurden leiser und verstummten schließlich. Myrna war ohne Wagen gekommen, also suchte sie die nächste Bushaltestelle. Sie sah kaum etwas durch ihren Tränenschleier und rempelte gegen eine Schulter. Ein Mann beschimpfte sie wüst. Myrna nuschelte eine Entschuldigung und rannte weiter. Sie wollte bloß noch weg hier! Als Nächstes landete sie fast an einer Laterne. Sie taumelte und hielt inne, ehe sie durch den Sturm der Emotionen, der über sie hereingebrochen war, auch noch hinfiel. Myrna hielt die Augen geschlossen und atmete tief ein und aus. Ihr Herz schlug heftig, und alle möglichen Szenarien von Hank und dieser Frau schossen ihr durch den Kopf. Myrna war wütend auf sich selbst und natürlich auch auf ihn. Die kalte Herbstluft ließ sie endlich wieder klar denken. Feiner Sprühregen überzog ihr Gesicht wie ein Schleier. Kalte Tropfen lösten sich von ihrer Nase und ihrem Kinn. Sie blieb dennoch stehen, ballte die Fäuste und kam langsam wieder zu sich.

Als sie aufsah, fand sie sich in einer verlassenen Gegend wieder, die sie nicht kannte. Auch das noch!, dachte sie und zückte ihr Handy, um sich ein Taxi zu rufen.

Es war dumm gewesen, allein mitten ins Nirgendwo zu flüchten. Myrna hatte zum ersten Mal ihre Wut nicht unter Kontrolle gehabt. Das schaffte nur Hank, dieser elendige Lügner! Wenn er nur nicht immer so verflucht unschuldig aussehen würde …

Myrna zuckte zusammen, als sich ein warmer Stoff auf ihre Schultern legte. Sofort drehte sie sich um und trat ihrem Angreifer gegen das Schienbein. Sie machte sich für einen weiteren Übergriff bereit, doch der Fremde sackte stöhnend zu Boden, statt zu kämpfen.

»Wollten Sie mich entführen? Was fällt Ihnen ein?«, schrie sie ihn an.

Myrna hielt das Telefon noch immer griffbereit. Sie überlegte, ihren Kollegen zu alarmieren, der Nachtschicht schob, aber bis Ward hier wäre, wäre sie längst selbst mit diesem Halunken fertiggeworden.

»Wieso treten Sie mich? Was habe ich Ihnen denn getan?«, fragte er jammernd und rieb sich das Bein.

»Sie wollten mich angreifen!«

»Blödsinn! Ich habe nur gesehen, dass Sie frieren und ganz allein sind. So ein Mist, ausgerechnet auf mein Schienbein!«

»Und das wollten Sie sich allem Anschein nach zunutze machen. Ich kenne Typen wie Sie.« Myrna steckte das Smartphone weg und verschränkte die Arme. Erst dann bemerkte sie, dass es wirklich ein warmer Mantel war, der auf ihren Schultern lag. Er selbst trug nur ein dünnes weißes Hemd zu einer Anzughose.

Der Fremde rappelte sich wieder auf und fuhr sich durch das schwarze Haar. Ein paar gegelte Strähnen fielen ihm in die Stirn. Sein Blick ruhte auf ihr, als erwartete er eine Entschuldigung.

Myrna zeigte sich einsichtig. »Tut mir leid, aber ich komme aus London. Da habe ich so einiges erlebt. Danke für den Mantel.«

Er winkte ab. »Für den blauen Fleck an meinem Bein sind Sie mir definitiv noch einen Drink schuldig. Ich bin übrigens weder ein Vergewaltiger noch ein Entführer. Milton Langley, Geschäftsmann. Angenehm.«

»Das ist mir jetzt aber peinlich.«

»Nicht doch. Sie laufen durch eine entlegene Gegend, in der man mit allem rechnen muss. Ich hätte ja wirklich böse Absichten haben können.«

Sein Lächeln gefiel ihr. Es war smart, wenn auch nicht so sehr wie das von Hank, aber hintergründig und fast ein wenig spitzbübisch. Milton war groß und drahtig, eher ein Anzugtyp im Gegensatz zu Hank. Vielleicht fühlte sich Myrna gerade wegen ihrer Unterschiede zu ihm hingezogen. Ihr Herz suchte ganz automatisch nach dem Gegenteil ihres letzten, erst kürzlichen Reinfalls. Und attraktiv war Milton allemal.

»Auf einen Drink würde ich mich heute definitiv einlassen. Aber dafür fahren wir dorthin, wo etwas mehr los ist. Und erwarten Sie nicht, dass ich die Nacht mit Ihnen verbringe, Mr Langley. Sie sollten wissen, dass Sie es mit einem Detective Inspector zu tun haben.« Sie hielt ihm die Hand hin. »Myrna Evans.«

Er ergriff und schüttelte sie vorsichtig. »Wenn Sie mir andersherum versprechen, mich nicht noch einmal zu vermöbeln, lasse ich mich gern auf ein Abenteuer ein, Myrna. Wie auch immer das aussieht.«

»Sagen Sie Evans zu mir, das tut jeder. An welche Bar dachten Sie?«

Myrna brauchte an diesem angebrochenen Abend etwas mehr Alkohol. Sie wollte das unschöne Date mit Hank am liebsten aus ihrem Kopf trinken.

Milton überlegte. »Ich komme aus Preston, aber es wäre ein zu weiter Weg bis dahin. Vielleicht finden wir etwas in der Nähe. Zwei Straßen weiter gibt es Geschäfte und mehr Betrieb als hier. Dass mein Spaziergang mit einem Date endet, hätte ich nicht für möglich gehalten.«

»Ein Drink ist noch kein Date. Von denen habe ich für heute genug«, erwiderte sie und rollte mit den Augen.

Er bot ihr galant den Arm an, und Myrna hakte sich dankbar unter. Würde sich Milton doch noch zu einem Überfall hinreißen lassen, würde sie ihm zeigen, dass der Schienbeintritt erst der Anfang gewesen war.

***

»Thea, wir müssen reden.«

»Nicht jetzt, Callan. Ich denke nach.«

»Über was?« Er kam näher und setzte sich auf einen freien Stuhl in der Küche. Neben ihm saß Oakley, der seinen Blick ebenfalls auf Thea gerichtet hielt.

»Über den Reverend. Er verheimlicht mir etwas.« Sie erzählte ihnen von den Schritten auf dem Dachboden, die er als Mäuseplage heruntergespielt hatte.

Oakley stimmte ihr zu. »Dass der alte Herr Geheimnisse hat, habe ich zusammen mit dem Sergeant bemerkt. Wir haben ein Mal nachts an die Kirchenpforte geklopft, aber es war niemand da, obwohl kurz vorher noch geläutet wurde. Stattdessen hat er uns dann völlig verschlafen die Tür vom Pfarrhaus geöffnet.«

Callan kratzte sich nachdenklich am Hals. »Vielleicht eine heimliche Geliebte, die er uns verschweigt? Oder er hält jemanden gefangen und ist in Wahrheit ein Perverser.«

Thea und Oakley schüttelten ihre Köpfe.

»Das klingt zwar spannend, aber das traue ich ihm nicht zu«, sagte sie. »Es muss etwas anderes dahinterstecken. Solltest du nicht langsam nach Hause, Callan? Fiona macht sich sicher Sorgen.«

»Die kann mir gestohlen bleiben«, erwiderte er gepresst und wich ihrem Blick aus.

Oakley erhob sich. »Ich lasse euch mal allein. Tante Lu hat mich gebeten, Jolene bei der Umgestaltung ihrer Zimmer zu helfen. Evans ist ja nun ausgezogen. Sie hat jetzt ein neues Thema im Sinn: karibischer Strand.«

Thea schmunzelte amüsiert. »Bei den vielen Katzen im Haus sollte sie sich lieber für das Thema ›Haariger Albtraum‹ entscheiden.«

Callan bedachte Oakley mit einem Stirnrunzeln. »Du hilfst ihr immer noch, nachdem sie dich so mies erpresst hat? Alle Achtung, euer Familienband muss wirklich fest sein.« Er riss die Augen weit auf.

»Sie ist immer noch meine Tante, bei der ich aufgewachsen bin, seit mein Vater lieber auf Weltreise gegangen ist. Auch wenn ich meine Schulden bei ihr los bin, bin ich ihr dankbar. Und tief in ihrem Herzen ist Lucretia kein übler Mensch. Es wird bloß ein schlechter Einfluss auf sie ausgeübt.« Dass er auf die benachbarte Jolene hindeutete, war nicht zu überhören.

Er küsste Thea liebevoll und entlockte ihr ein herzliches Lächeln, das man selten bei ihr sah. »Ich freue mich auf dich.«

»Und ich erwarte dich nachher in meinem Bett.«

Callan wurde übel. Schlimmer hätte es nur noch durch einen Heiratsantrag werden können.

Als Oakley ging, atmete er auf. »Muss das denn vor meinen Augen und Ohren passieren? Sucht euch doch gleich ein Zimmer, aber lasst es nicht die ganze Welt wissen.«

»Du bist in meinem Haus, vergiss das nicht.« Sie tippte ihm gegen die Nasenspitze. »Was wolltest du bereden? Es klang dringend.«

Callan haderte mit sich. Zum Glück drehte sich Thea weg und kümmerte sich um den Abwasch.

»Ach, das ist vielleicht gar keine große Sache, aber …«

Als er innehielt, wandte sie sich wieder um und stützte die Hände in die Seiten. »Du hast im Sessel gesessen und über die Tunnel nachgeforscht, oder?«

»Woher weißt du das? Die Kamera in der Bibliothek ist längst deinstalliert.«

Sie grinste siegessicher. »Du hinterlässt Chipskrümel und ein leeres Colaglas, wenn du in die Arbeit vertieft bist. Hast du wenigstens etwas herausgefunden?«

Thea schnappte sich den nächsten Teller, um ihn abzutrocknen und zurück in den Schrank zu stellen.

Callan seufzte. »Es gibt kaum Aufzeichnungen darüber. Lucretia und Jolene sind wohl auf einen alten Schwindel hereingefallen. Wieso weiß sonst niemand von dem Gold im Untergrund? Es hätte längst Leute gegeben, die danach gesucht hätten.«

»Vielleicht war das der Grund, aus dem mein Vater vor zwanzig Jahren hierhergezogen ist. Um reich zu werden.« Sie sah durch das Küchenfenster und fokussierte irgendeinen Punkt in der Ferne.

»Thea, ich muss dir etwas sagen. Es fällt mir nicht leicht.«

»Bist du schwul?« Sie ließ das Wasser im Becken ab und drehte sich ihm wieder zu.

Callan schüttelte perplex seinen Kopf. »Was? Wieso denkst du das?«

»Na ja, du bist fünfzehn und hast nie Mädchen um dich herum. Es wäre für mich kein Problem.«

»Ja, weil ich gerade andere Sorgen habe als Frauen.« Er rieb sich angestrengt den Nasenrücken. »Ihr Weiber macht sowieso alles viel komplizierter.«

Thea warf das Handtuch in die Spüle und legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Ein Heilmittel gegen allen Kummer ist das Gespräch.«

Callan sah überrascht auf. »Das ist ein irisches Sprichwort.«

»Ich habe auch von dir einiges gelernt. Und nun raus mit der Sprache. Was bedrückt dich? Du leidest seit Wochen darunter und arbeitest dich fast zu Tode. Ich lasse dich nicht eher gehen, bis du darüber gesprochen hast.«

Callan wusste, dass Thea ihre Drohung wahrmachte, also sammelte er sich. »Ich habe herausgefunden, wer die Lilien auf das Grab deines Vaters legt.«

Thea beugte sich vor, um kein Wort zu versäumen. »Wer ist es?«, flüsterte sie und leckte sich über die Lippen.

Er erinnerte sich an den Sprungturm im Schwimmbad. Augen zu und durch, hatte er damals gedacht und war einfach losgerannt. »Es ist meine Mum, die die Blumen bringt. Ich habe sie durch Zufall frühmorgens dabei erwischt. Sie lief herum wie ein Sektenmitglied.«

»Sektenmitglied?«

»Du kennst doch diese langen, dunklen Kutten. So etwas tragen Satanisten bei schwarzen Messen.«

Thea lehnte sich gegen den Küchenschrank und starrte ihn eine Weile an, bevor sie sich zu ihm setzte. »Und du bist dir sicher, dass Fiona unter dem Umhang steckte?«

»Ich habe ihr Gesicht eindeutig erkannt. Sie war es.«

»Fiona Healy, die freundliche Dame aus dem Café, hat also auch ein paar Geheimnisse, von denen wir nichts wissen. Interessant. Ich wusste nicht, dass sie und mein Vater so eng befreundet waren.«

Callan schnaubte einmal und verschränkte die Arme. »Befreundet, dass ich nicht lache! Wieso sollte jemand jahrelang weiße Lilien auf ein Grab legen und es geheim halten? Der Pfarrer und deine Wenigkeit kümmern sich bestens um die Gräber. Jede Wette, dass die zwei eine Affäre hatten.«

Thea lief unruhig auf und ab. »Sie war vielleicht der wahre Grund, weshalb Nathan nicht bei uns geblieben ist.«

»Wäre gut möglich.«

»Und sie hat dich nicht gesehen? Hast du sie darauf angesprochen?«

»Bist du verrückt? Das würde ich nie tun!«, rief er fast panisch. »Meine Mum würde mich sowieso anlügen. Wer gibt als verheiratete Mutter von vier Kindern schon gern eine Affäre zu? Wir Iren sind viel zu familienverbunden dafür.«

Plötzlich kam Callan ein neuer erschreckender Gedanke. Er wechselte einen Blick mit Thea. Sie dachte allem Anschein nach genauso. Schockiert starrten sie sich eine Weile an, ehe beide wegwerfende Gesten machten und lachend verneinten.

»Wir sind ganz sicher nicht verwandt. Du bist viel zu altklug dafür«, meinte Callan überheblich.

»Und du viel zu nervtötend, um mein Halbbruder zu sein. Hast du Hunger? Ich könnte Fiona anrufen und sie fragen, ob du zum Essen bleiben darfst.«

»Danke, Thea. Es ist mir echt lieber, wenn ich ihr erst einmal nicht so oft begegne.«

Fort waren die Neckereien und seine Last der heimlichen Beobachtung. Von dem fehlenden Totenschein verriet er Thea lieber noch nichts. Eine große Enthüllung sollte für heute genügen.

4. Kapitel

Myrna räumte die letzten Kisten aus und fühlte sich im Chamberling-Anwesen bereits wie zu Hause.

»Evans, kommst du? Wir wollen los!«, rief Thea von unten.

Sie hatten sich zu ihrem Geburtstag auf einen Happen im ›Café Healy‹ geeinigt. Callan, Harrison und die anderen würden dort sein und zwanglos mit ihr feiern. Nach mehr war Myrna auch nicht zumute.

Als sie in ihrem Cocktailkleid nach unten kam, pfiff Thea beeindruckt. »Du siehst rattenscharf aus. Wie schade, dass Hank nicht mitfeiert.« Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Tut mir leid. Ich habe schon wieder zu schnell geredet, statt zu denken.«

Myrna lächelte entspannt. Sie gab sich gelassen, als sie sagte: »Ich glaube nicht, dass Hank überhaupt an mich denkt. Er hat sicher zu viel im Pub zu tun.« Und er geht mir seit letzter Woche aus dem Weg.

»Bist du dir sicher, dass wir ihn nicht fragen sollen? Du hast nie erzählt, was passiert ist.«

Myrna lächelte traurig. »Das hat hier und heute keinen Platz. Wir wollen Spaß haben. Lass uns besser gleich losgehen. Der Wind nimmt wieder zu, und es soll bald regnen.«

Theas skeptischer Blick sagte so viel wie ›Schieb es ja nicht auf das Wetter, dass du nicht reden willst‹, doch sie schwieg, wofür Myrna ihr dankbar war. Es kam selten vor, dass Thea ihre Meinung für sich behielt.

»Bevor wir aufbrechen, solltest du dir das ansehen. Es ist vorhin für dich abgegeben worden.« Sie hielt Myrna ein Päckchen mit einer roten Schleife hin, dazu zwei Briefe.

Die krakelige Schrift auf dem ersten Kuvert erkannte sie sofort. Hank! Achtlos hielt sie sein Schreiben in der Hand, ohne es sich auch nur näher anzusehen. Sie hatte zu viel Angst, seinem Charme noch einmal zu erliegen. Myrna würde nicht der Spielball eines Mannes sein, der mehrere Frauen gleichzeitig traf. Nie wieder!

Die zweite Handschrift kannte sie nicht. Sie ging in den Salon, legte Hanks Brief beiseite und öffnete das Kuvert neugierig. Dazu gehörte das kleine Geschenk.

»Komm schon, Evans, lies laut vor, damit ich auch etwas davon habe«, sagte Thea und sah sie mit einem Hundeblick an, der sie schmunzeln ließ.

»Du gibst ja sowieso keine Ruhe. Also …« Myrna räusperte sich. »Liebste Evans, ich weiß, wir kennen uns noch nicht lange, aber auf diesem Weg möchte ich dir herzlich zum Geburtstag gratulieren. Du bist eine starke, toughe und wunderschöne Frau, die mich gleich bei unserem ersten Aufeinandertreffen ins Herz getroffen hat – oder besser gesagt, ans Schienbein.« Sie musste lachen. »Würdest du mir die Freude machen, und an deinem Ehrentag mit mir ins teuerste Restaurant der Grafschaft gehen? Natürlich bist du mein Ehrengast und musst keine Kosten scheuen. Ich hole dich um neunzehn Uhr ab, falls ich nichts von dir höre. Bis bald, meine Schöne. Dein Milton.«

Theas Grinsen war mit jeder Zeile breiter geworden. Sie stieß Myrna den Ellenbogen verspielt in die Seite. »Du hast heute Abend also wieder ein Date. Wer ist denn dieser Milton?«

»Ach, das ist nichts.«

»Es hört sich aber nicht nach nichts an.«

»Nur eine Zufallsbekanntschaft, die ich nach dem desaströsen Treffen mit Hank gemacht habe. Wir schreiben seitdem. Ich kenne ihn kaum.«

»Immerhin scheint er deine neue Adresse zu haben.«

»Ich habe in einem Nebensatz erwähnt, dass ich ins Chamberling-Anwesen gezogen bin. Das Haus sorgt immer für guten Gesprächsstoff«, meinte sie schulterzuckend. »Milton ist trotzdem nur ein Bekannter.«

»Und dennoch lässt er dich endlich wieder lächeln, im Gegensatz zu unserem Pubbesitzer. Vielleicht genau der richtige Mann, um dich abzulenken.«

»Vielleicht. Mal sehen. Wir sollten langsam los. Die anderen warten sicher.«

Thea hielt sie an der Tür auf und schielte auf das Päckchen, das unbeachtet auf der Kommode lag. »Du hast es noch nicht geöffnet. So lange gehen wir nirgendwohin.«

Myrna seufzte, gab aber nach. Sie nahm das Geschenk zur Hand und löste die rote Schleife. Dann hob sie den Deckel ab und hielt inne. Vorsichtig öffnete sie die edle Schmuckschachtel darin und keuchte vor Verzückung. »Das ist eine sündhaft teure Halskette!«

Thea beugte sich vor und begutachtete das glänzende Stück. »Sieht echt aus. Ist Milton vermögend?«

»Ich weiß es nicht. Will er mich etwa kaufen?« Sie war auf einmal richtig empört.

Thea zog die Brauen zusammen. »Das glaube ich nicht. Er will dich wahrscheinlich nur beeindrucken. Wenn du merkst, dass er ein Idiot ist, der denkt, Frauen lassen sich von funkelnden Diamanten um den Finger wickeln, kannst du die Angelegenheit immer noch beenden.«

»Du hast recht. Ich sollte Milton zumindest eine Chance geben. Sein Brief hat mich allerdings mehr überzeugt als die Kette.«

Vorsichtig nahm Thea das gute Stück aus Weißgold zur Hand und ließ die feinen Glieder fast ehrfurchtsvoll durch ihre Finger gleiten. »Fühlt sich toll an. Komm, ich lege sie dir an. Immerhin ist es nicht so ein protziges Ding, sondern fein und einer Frau wie dir würdig. Ich finde sie schön.«

»Dabei trägst du gar keine Ketten.«

»Ich habe trotzdem Geschmack und kann beurteilen, was meiner besten Freundin steht.«

Gerührt drehte Myrna ihr den Rücken zu, damit Thea ihr beim Schließen helfen konnte. Jene betitelte nicht viele Menschen als ihre Freunde. Eine beste Freundin zu haben, war für sie wahrscheinlich das Größte der Gefühle.

***

Sie brachen endlich ins ›Café Healy‹ auf, in dem Callans Mutter ordentlich aufgetischt hatte. Das große Geburtstagsbuffet für Myrna bestand aus deftigen Eintöpfen wie Lancashire Hotpot und Scouse, Mürbeteigspezialitäten à la Chorley Cake und Butter Pie sowie köstlichem Aughton Pudding. Hier war für jeden etwas dabei.

Thea bemerkte Myrnas kreisenden Blick. Sie suchte vergeblich nach Hank, freute sich aber über die vielen Leute, die gekommen waren. Hauptsächlich waren es Nachbarn aus Pendle. Thea wunderte sich, dass neben Sergeant Harrison Oakleys Tante stand. Lucretia wirkte sogar ein wenig schüchtern und versteckte sich problemlos hinter dem fülligen Bartträger. Vielleicht schämte sie sich noch immer dafür, in Theas Haus eingebrochen und der Neuen gegenüber so feindselig gewesen zu sein. Sie kam auch nach der Begrüßung nicht aus ihrer Deckung.

Ward zog Myrna überraschenderweise in seine Arme und schlug ihr so fest auf den Rücken, dass sie hustete. »Alles Gute, Kollegin! Seit Sie hier sind, haben die Verbrecher keine Chance mehr!« Er war kein Mann vieler Worte.

Myrna zeigte sich erfreut und erwiderte sein Lächeln. »Danke, Ward, aber auch ein Inspector ist nur so gut wie sein Team.«

Er fuhr sich geschmeichelt über den Bart. Heute war er wieder besser gelaunt. Seit er die Finger vom Alkohol ließ und sich lieber auf seinen Hund konzentrierte, machte er einen Wandel durch, der mit ein paar Schwankungen einherging.

Sein Jack Russell Terrier hingegen hatte nur Augen für Thea. Er sprang an ihrem Bein hoch und hechelte wild. Harry wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, als würde er sich speziell über sie freuen, dabei zeigte sie dem Rüden meistens die kalte Schulter und überließ Myrna das Kuscheln und Streicheln. Schnell entfernte sie sich von ihm. Sie fand diesen kleinen weißen Streuner mit den braunen Flecken zwar niedlich, wollte aber nicht mit geschwollenen Augen und juckender Nase nach Hause gehen.

Es wurde gefeiert, getanzt, gejohlt und angestoßen. Sogar Lucretia ließ sich zu einem Tänzchen mit ihrem guten Freund Ward hinreißen. Thea musste sich das Lachen verkneifen und wechselte einen amüsierten Blick mit Myrna. Es sah kurios aus, wie der Sergeant mit der kleinen Lucretia tanzte. Er war wahrscheinlich der Einzige neben ihrem Neffen, den sie ehrlich leiden konnte. Jolene hingegen blieb auch den restlichen Nachmittag weg.

Nicht dass sie schon wieder in mein Haus einbricht, um einen Schatz zu suchen, den es nicht gibt.

Myrna freute sich über jedes Geschenk wie ein kleines Kind. Callan und Thea hatten sich für einen roten Kaschmirpullover, ein Paar Ohrringe nach Myrnas Geschmack und einen spannenden Liebesroman ihrer Lieblingsautorin entschieden. Dank Callans Recherchen trafen sie genau ins Schwarze.

Thea suchte nach Fiona, die sie in der Küche fand.

»Kann man dir helfen?«, fragte sie. Natürlich verfolgte sie einen Plan mit ihrem Angebot.

Fiona sah auf. Ihre dunkelgrünen Augen blickten überrascht, aber freundlich drein. Sie wischte sich die Hände an der Schürze trocken und strich sich eine rotblonde Strähne hinters Ohr.

Thea ging das Bild von ihrem Vater und ihr nun nicht mehr aus dem Kopf. Sie stellte ihn sich mit kurzen Haaren und dunkelbraunen Augen vor. Ob er wirklich so ausgesehen hatte, wusste Thea bis heute nicht. Sie erinnerte sich kaum. In ihrer Vorstellung sah er Liam Neeson ähnlich. Vielleicht, weil sie sich immer einen Vater wie ihn gewünscht hätte. Einen Beschützer. Doch Fiona und Nathan? Sie war ein ganz anderer Typ als Theas Mutter. Womöglich hatte ihn gerade das gereizt.

Aber hatten die beiden wirklich eine Affäre gehabt? Nathan war wenigstens alleinstehend gewesen, weil er sich von seiner Familie vorher getrennt hatte. Fiona hingegen war noch immer mit einem herumreisenden Geschäftsmann verheiratet, der sich nur alle paar Monate blicken ließ. Genau genommen wuchs Callan also auch ohne Vater auf. Es würde Thea nicht wundern, vielleicht konnte sie es Fiona nicht einmal verübeln, wenn sie sich etwas Spaß abseits ihrer nicht stattfindenden Ehe gesucht hatte. Dennoch gingen ihr Lügen grundsätzlich gegen den Strich.

»Du könntest mir bei den Getränken helfen. Hast du schon einmal eingeschenkt?«, erwiderte Fiona mit leuchtenden Augen. Ihr Lächeln war so herzlich, dass Thea ein schlechtes Gewissen bekam.

Sie freute sich sehr über ihr Erscheinen. Würde jemand so reagieren, der eine Liaison mit dem Vater der anderen gehabt hatte? Diese Geschichte fühlte sich mit jedem Wort abwegiger an.

Da Fiona immer für ein Schwätzchen zu haben war und sich auch gern mal verplapperte, begann Thea mit ihrer heimlichen Befragung. »Toll, dass du heute Butter Pie gemacht hast. Die hat Dad geliebt.«

Sie beobachtete Fionas Gesicht genau. Ein trauriger Schleier legte sich über ihre Augen, aber sie lächelte weiterhin. »Er mochte es nicht so süß. Vielleicht früher einmal. Nathan war mehr Fan von Black Pudding.«

Thea verzog das Gesicht. »Blutwurst? Igitt!«

Fiona lachte hinter vorgehaltener Hand. »Ja, Nathan war nicht gerade ein Gourmet, aber er wusste immer, was er wollte, und hatte ein klares Ziel vor Augen. Und diese Blutwurst hat ihm die Kraft dafür gegeben.«

»Was meinst du damit?«

Die Tür öffnete sich, und lautes Gelächter drang zu ihnen durch. Myrna hatte allem Anschein nach viel Spaß, obwohl ihr heimlicher Herzensmensch nicht mit von der Partie war.

Ausgerechnet Callan unterbrach Theas vorsichtiges Verhör. »Gibt es noch was von der Butter Pie?«

»Wieso? Ist sie schon weg?« Fiona reckte ihren Hals, um durch das kleine Fenster in den Gastraum zu sehen.

»Du hast den verfressenen Harrison nicht mitgezählt.« Callan grinste frech.

»Sei nicht so vorlaut.« Sie schlug ihm sachte gegen den Hinterkopf. »Du hast nicht einmal mitgeholfen und deine Mutter alles allein machen lassen. Tun das gut erzogene Kinder?«

Callan zog eine Schnute. »Na ja, im Falle der Erziehung hättest ja dann du versagt.« Er wich zurück, als sie sich vor ihm aufbaute. Fiona war nicht gerade zart gebaut. Ihr voluminöser Busen hätte Callan zerquetschen können. »Schon gut! Was soll ich tun?«

»Das Tablett reinbringen.« Sie drückte es ihm in die Arme.

Erst jetzt sah Thea lauter kleine Gläser darauf, die Fiona bereits mit einer knallgrünen Flüssigkeit gefüllt hatte.

»Was ist das? Likör?«, fragte sie neugierig.

Fiona zwinkerte. »Unser kleines Geheimnis. Ein altes Familienrezept. Die Färbung fügen wir erst im letzten Schritt hinzu, damit es nach was aussieht. Und da wir eine alte irische Familie sind, haben wir uns für Grün entschieden.« Als sie Callan den Arm um die Schultern legen wollte, wand er sich heraus und verschwand samt Tablett im Nebenzimmer.

Fiona seufzte. »Ich erkenne mich kaum wieder. Mein Junge benimmt sich seit Wochen seltsam.«

Thea nestelte an ihren Fingern. »Ist sicher nur die Pubertät. Immerhin ist er fünfzehn.«

Sie schüttelte den Kopf. Ihr freudiges Lächeln war verschwunden. »Ich habe drei weitere Jungs vor ihm großgezogen. Nein, ihn beschäftigt etwas anderes. Ich kenne Callan.«

Thea wollte ihr das Wissen um ihren Sohn nicht absprechen. Sie kämpfte bereits mit sich, nicht auf der Stelle mit der Sprache herauszurücken, aber es bestand die Gefahr, dass Fiona dann gar nichts mehr sagte.

»Er hat angedeutet, dass er etwas gesehen hat.«

»Etwas gesehen?«

»Eher jemanden. Morgens auf dem Friedhof.«

Jetzt habe ich es doch unmittelbar gesagt, ich Trottel!, dachte sie verärgert. Thea hatte noch nie lange um den heißen Brei herumgeredet.

Fiona erstarrte sichtlich. Sie wurde kreidebleich. »Was genau hat er gesehen?«

Thea wollte gerade etwas sagen, als die Tür von Neuem aufflog und Myrna hereinschneite. »Ich werde mich bald auf den Weg machen. Milton holt mich in einer Viertelstunde vor dem Chamberling-Haus ab. Vielen Dank für alles.«

»Wie gefiel dir deine kleine Party?«, fragte Fiona. Ihre Stimme überschlug sich leicht. Nervös kratzte sie sich am Dekolleté, bis ihre Haut so gerötet war wie ihre Wangen. Sie lenkte geschickt ab.

»Harrison hat mich nach zwei, drei Drinks plötzlich beim Vornamen genannt, ehe er es gemerkt und einen Rückzieher gemacht hat«, erzählte sie amüsiert. »Schade, dass ich Oakley verpasse, aber du sagtest ja, er muss noch arbeiten.«

»Ich bestelle ihm deine Grüße. Sag bloß, du und Lucretia …« Thea machte große Augen.

Myrna winkte ab und kicherte. »Mit dieser alten Hexe wird wohl niemand mehr warm. Ich frage mich, was sie hier macht. Wahrscheinlich hat Jolene sie als ihren Spitzel vorbeigeschickt. Weder sprechen wir uns mit dem Vornamen an, noch wechselt sie überhaupt ein Wort mit mir. Stattdessen hat sie sich aufs Buffet gestürzt und danach jede Speise einzeln auseinandergenommen.« Myrna äffte ihren zänkischen Tonfall nach. »Der Pudding ist zu trocken, die Pie ist zu hart und der Eintopf zu kalt. Du kannst dir das Gezeter in etwa vorstellen.«

»Und wie!« Sie lachten zu dritt, ehe Thea ernster wurde. »Viel Spaß bei deinem Treffen mit Milton. Wir feiern hier noch ein wenig, wenn es dir nichts ausmacht.«

»Nein, macht nur. Ich bin froh genug, dass auch du wieder unter Leute gehst. Oakley scheint dir gutzutun.«

Thea verdrehte die Augen und schob sie mit einem Grinsen vor die Tür. »Ich erwarte dich nicht vor morgen früh zurück. Hab Spaß und denk nicht immer so viel nach.«

***

Myrna beschleunigte ihre Schritte nach Hause. Es war ein Katzensprung vom Café zum Chamberling-Haus, aber der Wind frischte auf. Sie machte sich Sorgen, dass es gleich wieder regnete.

Als sie eine schattenhafte Gestalt im Vorgarten sah, dachte sie zunächst, dass Jolene schon wieder bei ihnen herumschlich. Seit sie die geheime Tür hinter dem verschiebbaren Regal fest verschlossen und nur zwei Schlüssel an Thea und sie verteilt hatten, war zum Glück Ruhe eingekehrt.

Myrna kam näher und atmete auf. Es war nicht Jolene, sondern Milton, der bereits auf sie wartete.

»Tut mir leid, aber ich konnte nicht länger still sitzen. Wow, du siehst toll aus!« Sein Blick blieb an der Kette um ihren Hals hängen. »Der Schmuck betont deine grauen Augen. Wie schön, dass du ihn trägst.«

Ehe Myrna sich’s versah, zog er sie in seine Arme. »Alles Liebe zum Geburtstag. Ich hoffe, dass ich jetzt keinen Tritt in die Weichteile kassiere.«

Er grinste schief und erinnerte sie schlagartig an Hank. Myrna schüttelte die Erinnerung ab und konzentrierte sich ganz auf den Mann vor sich. Sie hatte sich seltsamerweise lange nicht so wohlgefühlt. Sein herber Duft stieg ihr in die Nase und liebkoste ihre Sinne.

Myrna befreite sich aus seinem Griff und ging auf Abstand. Immerhin kannten sie sich kaum. »Wollen wir dann los? Ich bin schon ganz gespannt, wohin du mich entführst

»Sehr gern. Wir sollten aber noch einmal über deine Wortwahl reden.«

Myrna lächelte endlich wieder. Selbst wenn Milton bloß ein reicher Macho war, so brachte er sie wenigstens zum Lachen. Etwas, das Hank immer geschafft hatte. Erneut wanderten die Gedanken zu ihm. Sie vermisste Hank furchtbar, doch das Leben ging auch ohne ihn weiter.

Milton öffnete ihr die Beifahrertür eines teuren Sportwagens und setzte sich dann elegant hinters Steuer. Bis nach Preston waren es zweiunddreißig Meilen, also gut fünfzig Minuten, in denen sie sich unterhalten konnten.

Myrnas Befürchtung, das Gespräch könnte versiegen, bewahrheitete sich zum Glück nicht. Sie plauderten munter, als würden sie sich schon eine Weile kennen.

Manchmal erwischte sie sich dabei, dass sie Milton von der Seite her musterte. Sein Profil war attraktiv, das dunkle Haar wieder gegelt und sein Kinn frisch rasiert. Ein Frauenmagnet, würde man meinen. Wieso wollte er unbedingt mit Myrna ausgehen? Ein Traumtyp wie Milton Langley konnte wahrscheinlich jede Frau haben. Sofort kamen ihre Zweifel zurück.

Als Milton ihren Blick bemerkte, legte er seine Hand wie selbstverständlich auf ihre. Nicht auf ihr Bein oder in ihren Nacken, nur auf Myrnas Finger. Er gab ihr damit die nötige Kraft, ohne aufdringlich zu sein. Sofort fühlte sie sich ehrlich begehrt und nicht bloß benutzt.

Myrna hatte das Gefühl, dass dieser Abend wunderschön wurde. Nichts und niemand würde ihr das Essen mit Milton verderben, schwor sie sich.

***

Thea saß eine Weile vor dem hellen Monitor und überlegte, was sie ihren Followern auf ›Churchyard Crimes‹ mitteilen sollte. Ihre Konkurrenz war längst auf einen Podcast umgestiegen, doch sie selbst blieb bei einem Blog, der besser zu ihr und ihrem Leben passte.

Ihre Finger schwebten über den Tasten, aber bis auf ein paar alte Fälle hatte sie in letzter Zeit nichts herausgekramt. Leider durfte sie das Geheimnis der Tunnel noch nicht preisgeben. Sie hatte es Callan versprochen. Erst wenn sie das Geheimnis gelöst hatten, würde sie darüber berichten.

Plötzlich meldete sich ›Wookieboy‹, der ›UFO-Spinner‹, wie sie ihn insgeheim nannte, zu Wort:

Sie haben dich mundtot gemacht, oder? Wir wussten es immer. Dieser Regierung kann man nicht trauen. Kaum geht man an die Öffentlichkeit …

Thea las nicht weiter, was er dieses Mal für einen Unsinn von sich gab, und teilte stattdessen eine andere Theorie zum Fall der unbekannten Isdal-Frau mit ihren Abonnenten. Dann schlug sie frustriert den Laptop zu. Das Gespräch mit Reverend Hughing hatte ihr wieder Lust auf die alte Geschichte gemacht, auch wenn sie nichts Neues darstellte. Leute wie ›Wookieeboy und ›Peach92‹ würden sich nicht lange damit zufriedengeben, alte Kriminalfälle aufzuwärmen. Immerhin hatte Thea erst im letzten Frühjahr ihre Seite von ›Theas Krimiblog‹ in ›Churchyard Crimes‹ umbenannt und den Schwerpunkt auf Verbrechen in ihrer Nachbarschaft gelegt.

Ein Knacken im Garten ließ sie hochschrecken. Was war das? Sie schnappte sich Taschenlampe und Handy und verließ das Haus durch die Hintertür. Dunkelheit und viel Gestrüpp erwarteten sie. Bis sich Callan, Myrna und sie um den Garten kümmern konnten, vergingen wahrscheinlich Jahre.

»Wenn du das bist, Jolene, dann verschwinde endlich! Hier gibt es nichts zu holen, auch keinen Goldschatz!«, rief sie, als es erneut hinter den Dornensträuchern krachte. »Das hat sich deine Familie ausgedacht! Wir haben nichts gefunden!«

In Wahrheit hatten die drei nicht mehr danach gesucht. Sie waren viel zu beschäftigt mit ihrer Renovierung gewesen, um sich in die Tiefen der Tunnel aufzumachen. Zudem wollte Myrna zunächst die Rechtslage abklären, bevor sie das Labyrinth ausführlich erkundeten. Da sie derzeit genug mit ihren Männergeschichten zu tun hatte, zog sich das Vorhaben in die Länge.

Thea wartete immer noch auf eine Antwort aus dem Gebüsch. Sie vermutete die typische Schimpftirade, die jedoch nicht folgte. Thea schluckte. Sie blieb in der Nähe der Tür stehen, um notfalls ins Haus zu flüchten.

Als sie einen großen Schatten sah, der sich vom Grundstück entfernte und Richtung Straße lief, folgte sie ihm aus einem Impuls heraus. Sicher war es dumm, ohne Myrna einen Verdächtigen zu verfolgen, aber Theas Wut auf den Unbekannten, der es wagte, sich in ihrem Garten herumzutreiben, war zu groß, um sich jetzt noch zu stoppen.

»Halt! Sofort stehen bleiben!«, schrie sie unnötigerweise.

Natürlich hetzte der Fremde weiter und beachtete ihre Rufe nicht. Er verschwand hinter der Friedhofsmauer. Dort war es zu dieser Zeit stockdunkel, weshalb Thea die Taschenlampe anschaltete und sich den Weg leuchtete.

Der Schatten tauchte nicht noch einmal auf. Stattdessen rannte sie beinahe in den alten Pfarrer hinein.

»Nanu, wo kommen Sie denn auf einmal her?«, fragte er erstaunt. »Ich dachte, Sie feiern noch mit Ihren Freunden.«

Sein Lächeln wirkte echt, aber Thea war sich sicher, dass er mehr über den Stalker wusste.

»Gerade war ein Mann in meinem Garten. Wahrscheinlich ein Perverser.«

»Hier in Pendle?« Er lachte auf. »Aber selbst in kleinen Gemeinden passiert Ungeheuerliches, wie wir inzwischen wissen. Möchten Sie den Abendspaziergang zum Pendle Hill mit mir gemeinsam machen?« Er breitete seinen Arm aus. »Ich freue mich über etwas Gesellschaft.«

Theas Blick wanderte zum Pfarrhaus. Hatte sich die Tür nicht eben noch bewegt?

»Nein, danke. Ich muss noch ein paar Dinge im Haus erledigen, ehe ich schlafen gehe. Viel Spaß bei Ihrem Spaziergang.«

»Wie Sie meinen. Bis morgen in alter Frische, Alethea.«

»Bis morgen, Reverend. Schlafen Sie gut.«

Sie tat, als würde sie umkehren, versteckte sich aber hinter der alten, moosbewachsenen Mauer. Nun war sie es, die ihren Nachbarn ausspionierte.

Statt zum Pendle Hill aufzubrechen, machte der Pfarrer auf dem Absatz kehrt und ging wieder ins Pfarrhaus.

Irgendwann werde ich hinter dein Geheimnis kommen, alter Mann, versprach sie mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen.

***

Milton ließ Myrna vorangehen, die aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam. Über ihr glitzerten Kronleuchter, und ihre Zehen versanken in einem weinroten Teppich. Am liebsten hätte Myrna sich die Sandaletten ausgezogen und wäre barfuß darüber spaziert. Dieses schillernde Ambiente hätte sie nach dem ersten, eher gemütlichen Eindruck der Fassade nicht erwartet. Angenehme Klassikklänge drangen aus den Lautsprechern, und leises Gemurmel an den Tischen erfüllte den Saal. Ab und zu hörte man den hellen Ton von Gläsern erklingen oder das glückliche Lachen einer Frau. Myrna erschnupperte dieses Mal kein Fleisch, sondern besondere Gewürze, die sie nicht zuordnen konnte. Alles an diesem Ort war faszinierend und machte sie neugierig auf mehr.

»Wow, das ›Hungry Eyes‹ ist wirklich beeindruckend!«

»Habe ich dir zu viel versprochen?«

»Ich fühle mich underdressed«, sagte sie und zupfte verlegen an ihrem Cocktailkleid, während die anderen Gäste in dem voll besetzten Restaurant lange Abendkleider und schicke Anzüge trugen.

»Rede dir nichts ein. Sie werden neidisch auf mich sein, weil ich heute Abend mit dir essen darf.«

Sie meldeten sich an und wurden an ihren Tisch geführt. Myrna spürte die neugierigen Blicke der Gäste und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Kommst du häufiger hierher?«

Milton lächelte wissend. »Falls du hören möchtest, ob ich mit anderen Frauen schon hier gewesen bin, lautet die Antwort Nein. Dieses Lokal ist seit seiner Eröffnung der letzte Schrei wegen seiner exquisiten Gerichte, aber ich habe einfach nie die Zeit gefunden, herzukommen.«

Sie bestellten Getränke und warfen einen Blick in die Karte. Als Myrna die Preise sah, verflüchtigte sich ihr Lächeln. Sie beugte sich leicht über den Tisch mit der schneeweißen Decke und dem blank geputzten Besteck. »Bist du dir sicher, dass wir keinen Burger nebenan essen sollten? Du hast mich mit der Kette schon genug beeindruckt. Ich möchte dir nicht auf der Tasche liegen.«

Milton lächelte selig. »Keine Sorge. Aufgrund eines Deals meiner Firma konnte ich im letzten Jahr mehr als genug sparen. Bestell dir, was immer du willst, und halte dich bitte nicht zurück. Du bist heute Abend mein Gast. Immerhin hast du Geburtstag. Da wäre es doch eine Schande, wenn du dein Essen selbst bezahlen müsstest, oder?«

Myrna legte die Karte beiseite. Sie hatte bereits gewählt. »Was machst du eigentlich beruflich? Du hast nie davon erzählt.«

Wieder grinste er. »Wird das hier ein Verhör oder eine Unterhaltung unter Freunden?«

»Das kommt ganz auf dich an. Ein wenig von beidem.« Sie nahm den Blickkontakt mutig auf. Myrna war endlich wieder sie selbst, und daran war Milton nicht ganz unschuldig.

Sie stießen mit edlem Rotwein auf ihren Geburtstag an und verfielen in Small Talk. Der Tropfen schmeckte herrlich. Wahrscheinlich würde sich Myrna keine einzige Kiste davon leisten können.

»Ich bin leitender Geschäftsführer einer europaweiten Warenhauskette. Wir sind allerdings mehr in Italien und Frankreich vertreten als hier auf der Insel.«

»Das klingt interessant. Und wie kamst du dazu?«

Ein seltsamer Ausdruck trat in seine Augen. »Wieso reden wir nicht lieber über dich? Heute ist dein Tag, Evans. Außerdem ist deine Geschichte sicherlich spannender als meine von einem großen Erbe und einer Familienfirma, in die ich hineingeboren wurde. Warum bist du Polizistin geworden?«

Als die Kellnerin ihre Essensbestellung aufnahm, bemerkte Myrna den interessierten Blick, mit dem sie ihre Begleitung betrachtete. Milton sorgte für Aufsehen. Dass sich aber auch alle anderen Tische, darunter viele Männer, zu ihm umdrehten, wunderte sie nun doch.

»Bist du zufällig auch noch ein Promi?«, zischte sie ihm zu.

»Nein, wieso?«

»Bemerkst du das denn nicht? Sie starren dich an, verdrehen ihre Hälse und tuscheln.«

Milton sah sich im Saal um. »Das bildest du dir ein. Vielleicht schauen sie auch dich an.«

Myrna beobachtete aus alter Gewohnheit die Gäste und Angestellten. Alle schienen seltsam nervös zu sein. Sie konzentrierten sich kaum auf ihr Essen, das vor ihrer Nase stand und kalt wurde.

Dann ging ihr ein Licht auf. Sie verfolgte die Blickrichtungen. »Sie sehen gar nicht zu unserem Tisch, sondern zu dem in deinem Rücken. Vielleicht sitzt dort irgendeine Fernsehgröße.«

Myrna kannte den fülligen Mann am Nebentisch nicht. Sein Schnauzbart wackelte, wenn er kaute. Immer wieder griff er zum Wasserglas, spülte durch und verzog das Gesicht nach einem neuen Happen. Er aß ungemein hektisch und runzelte mehrmals die Stirn. In Begleitung war er nicht, füllte den Tisch dafür aber mit Tellern aus. Myrna staunte nicht schlecht, als sie sah, dass er sich gleich mehrere Vorspeisen bestellt hatte. Dazu gab es unterschiedliche Weine und das Wasser.

Milton schüttelte den Kopf. »Sagt mir nichts. Aber ich schaue nicht viel Fernsehen und gehe selten ins Kino. Vielleicht ist er auch ein Musiker.« Er erhob sich. »Ich nutze die Zeit, bis das Essen kommt, und suche die Waschräume auf. Du entschuldigst mich?«

»Aber natürlich. Geh nur. Soll ich uns Wein nachbestellen?«

»Sehr gern.«

Milton verschwand, woraufhin Myrna nun ohne gestörtes Sichtfeld den Mann beobachten konnte. Sieht mir weder nach Musiker noch nach Filmstar aus, überlegte sie. Vielleicht einer dieser piekfeinen Designer. Nein, dafür benimmt er sich nicht vornehm genug. Er schmatzte und kleckerte auf sein Hemd, das sich über seinem Wohlstandsbauch wölbte. Nein, dieser Typ steht nicht in der Öffentlichkeit. Zumindest nicht immer. Es ist ihm offenbar egal, was andere von ihm halten. Er ist wahrscheinlich hochnäsig.

Myrnas Verdacht bestätigte sich, als er den Kellner anbrüllte, der ihm den Hauptgang – wieder mehrere Teller auf einmal – servierte: »Na endlich, das wurde aber auch Zeit! Meine ist kostbar. Schreib dir das hinter die Ohren.« Er machte eine wegwischende Geste.

Dieser Mann war Myrna sofort unsympathisch. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Essen noch immer nicht gekommen war. Sie winkte nach der Kellnerin, die für ihren Tisch zuständig war, und fragte nach.

»Entschuldigen Sie bitte vielmals, aber heute ist ein Ausnahmezustand. Ich bringe Ihr Essen sofort. Möchten Sie dazu noch einmal Wein?«

Ein Ausnahmezustand? Wegen des Mannes am Nebentisch?

»Ja, bitte noch einmal den von gerade.«

»Sehr wohl.«

Myrna heftete ihren Blick weiter auf den besonderen Gast. Eine schlanke Blondine Ende zwanzig erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie trug ein roséfarbenes Kleid und knallroten Lippenstift und stellte sich zwischen sie und den Herrn am Nebentisch. Die beiden unterhielten sich leise. Myrna strengte sich an, aber wegen der Nebengeräusche und der Musik aus den Lautsprechern konnte sie nichts verstehen.

Plötzlich schmiss er sein Besteck auf den Teller und warf mit der Serviette nach ihr. »Komm mir ja nicht mehr unter die Augen! Dass ich so etwas erleben muss, ist eine Schande!«

Mit hochrotem Kopf verschwand sie auf der Toilette, durch deren Tür Milton in diesem Moment kam. Er musste ihr ausweichen, um nicht umgerannt zu werden.

Myrna atmete auf. Sie hätte keine Sekunde länger den Blick auf diesem unappetitlichen Kerl lassen können, der auch jetzt wieder schmatzte und grunzte wie ein Schwein, das seine Nase in den Trog gesteckt hatte.

Milton beugte sich vor und raunte: »Tut mir leid, dass ich so lange weg war, aber ich habe mich vorher ein wenig mit den Angestellten unterhalten und herausgefunden, wer das da ist.«

»Spann mich bitte nicht auf die Folter. Nicht an meinem Geburtstag.« Es konnte Myrna kaum auf ihrem Stuhl halten. Nun war sie fast so neugierig, wie es sonst Thea war.

Milton warf einen kurzen Blick zurück, aber der andere war viel zu sehr mit seinem Essen beschäftigt, als das Gespräch zu belauschen.

»Das ist Sean Dougan, ein sehr berühmter Restaurantkritiker. In der Szene ist er bekannt, und er soll auch irgendeine Fernsehsendung haben.«

»Ach, deshalb missachtet man die anderen Gäste also. Die Betreiber haben wohl Angst vor diesem Wichtigtuer hinter dir. Du hättest sehen sollen, wie er sich benommen hat.«

»Ein Mr Dougan darf das offenbar.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber davon lassen wir uns nicht die Suppe versalzen, einverstanden? Ich möchte den Abend mit dir genießen.«

Milton legte seine Hand wieder auf ihre und streichelte liebevoll Myrnas Finger. Hanks Gesicht blitzte kurz vor ihrem geistigen Auge auf, verschwand dann aber so schnell, wie es aufgetaucht war.

»Das werden wir.« Sie erwiderte sein Lächeln und die Geste.

Ein Husten und Würgen in Miltons Rücken ließ sie aufhorchen. Vielleicht hatte sich Dougan endlich an seinem Essen verschluckt! Myrna wischte solche Gedanken sofort beiseite. Das war mehr Theas Art. Sie selbst kannte sich erst seit ihrem Reinfall mit Hank derart missgünstig. Ganz ruhig, du bist immer noch du, auch wenn du jetzt im Chamberling-Anwesen wohnst, sagte sie sich.

Eine Frau kreischte plötzlich spitz, und ein Stuhl kippte um. Im Saal brach Hektik aus.

»Was ist denn los?«, fragte sie besorgt.

Milton drehte sich um, und auch Myrna folgte den Blicken der anderen. Sean Dougan lag auf dem Boden und rührte sich nicht. Seine weit aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen sprachen Bände, und die Adern an seinem Hals traten deutlich hervor.

»O mein Gott«, hauchte Milton entsetzt. »Was ist mit ihm?«

Myrna war die Erste, die sich zu Dougan herunterbeugte und seinen Puls suchte. Sie fand ihn nicht.

»Ich glaube, er ist tot«, sagte sie apathisch. Nicht schon wieder. Instinktiv griff Myrna zum Telefon und wählte die Nummer, die auf der Kurzwahlliste ganz oben stand. »Thea? Ich glaube, ich habe ein böses Déjà-vu.«