Leseprobe Ein Mord in Brighton

Kapitel 1

Es war ein eisiger Januartag und eine Frau kauerte im Eingang zum Büro. Clara fiel auf, dass sie keine Handschuhe trug, und sie fragte sich, warum einer ansonsten so gut gekleideten Person bei diesem Wetter ein so notwendiges Kleidungsstück fehlen mochte. Clara trat näher heran und die Frau hob den Blick.

„Kann ich Ihnen helfen?“, bot Clara an.

„Oh, nein, meine Liebe, ich warte auf Mr. Fitzgerald.“

Clara verkniff sich einen beleidigten Gesichtsausdruck.

„Ich bin Miss Fitzgerald und dies ist mein Büro.“

Sie sind ein Privatdetektiv?“ Die Frau wirkte verwirrt.

„In der Tat, und ich nehme an, Sie haben auf mich gewartet?“

Die Frau war immer noch verblüfft, dann entglitten ihr die Gesichtszüge.

„Bitte entschuldigen Sie. Ich hatte angenommen, Sie würden zu diesem Laden gehören.“ Sie richtete den Blick auf die Nachbartür, die zu einem Kurzwarenhändler führte. Clara hatte die Räume über dem Laden als ihr Büro angemietet, was in der Regel auch gut funktionierte, vor allem, da es einen eigenen Eingang gab. Doch manchmal führte die Situation zu Verwirrung, wie gerade jetzt bei der Fremden vor der Tür, die zunehmend verzweifelt wirkte.

„Sollen wir hinaufgehen und über das Anliegen sprechen, mit dem Sie zu mir gekommen sind?“ Clara war an diesem Morgen schlecht gelaunt. Tommy hatte wieder eine schlechte Nacht gehabt und ihr war nicht danach, sich in der Kälte vor der Tür für ihre ungewöhnliche Berufswahl zu erklären. „Ich kann den Kessel aufsetzen, sobald wir oben sind, damit wir uns aufwärmen können. Ihre Hände sehen aus, als würden sie abfrieren.“

„Oh, ja.“ Die Frau schien ihre Hände zum ersten Mal wahrzunehmen, während sie zur Seite trat, damit Clara die Tür aufschließen konnte. „Ich war so in Eile, dass ich meine Handschuhe vergessen haben muss. Es ist dringend, verstehen Sie?“

Clara verkniff sich die Anmerkung, dass Menschen nur selten mit Problemen zu ihr kamen, die nicht dringend waren, und bedeutete der Frau, hineinzugehen.

Die Treppe im schmalen Hauseingang war dunkel; niemand hatte es je für nötig erachtet, sie mit einem Gaslicht auszustatten, als all die anderen Räume modernisiert worden waren, daher bewahrte Clara eine kleine Kerze auf einem Regal in der Nähe der Tür auf, um damit ihren Weg zu erhellen. Clara holte Streichhölzer aus der Tasche, entzündete die Kerze und bedeutete dann ihrer Besucherin, vorauszugehen. Die Frau redete nervös vor sich hin, während sie die Treppe emporstieg.

„Ich bin Mrs. Wilton, entschuldigen Sie mein mangelhaftes Auftreten. Ich war noch nie bei einem Privatdetektiv und hatte keine Frau erwartet, wenngleich man dieser Tage wohl auf so etwas gefasst sein sollte. Ich habe Ihren Namen in den Geheimakten gefunden. Dort hieß es, Sie hätten dem Bürgermeister von Brighton gute Dienste geleistet und ich dachte mir, das muss doch etwas wert sein.“

„Sollte man annehmen, Mrs. Wilton.“ Clara öffnete die erste Tür in der Nähe des Treppenabsatzes. Sie führte zum vorderen Teil der Wohnung, der ihr als Büro diente.

Vor dem Fenster stand ein großer, alter Schreibtisch – recht dominant für das Zimmer – und davor ein kleiner Stuhl für Klienten. Am anderen Ende des Raumes, gleich hinter der Tür, stand ein großes, altes Sofa, das Clara ihre „Grübel-Ecke“ getauft hatte, doch es diente ihr auch als Tagesbett, um Schlaf nachzuholen, wann immer Tommy mit seiner Nachtangst eine schlimme Periode durchmachte. In Griffweite stand ein Bücherregal, das hauptsächlich als rudimentärer Aktenschrank diente, und in einer Ecke des Raumes befand sich ein kleiner Kaminofen mit Kochstelle, sodass Clara bei Bedarf einen Kessel aufsetzen konnte.

Clara zog ihren Regenmantel aus, legte den grauen Hut ab und hängte beides an einen Wandhaken. Sie versuchte, Mrs. Wilton ihren Mantel abzunehmen, doch die Frau war zu abgelenkt, um das mitzubekommen.

„Bitte setzen Sie sich.“ Clara deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und ließ Mrs. Wilton eine Weile dort herumstehen, während sie selbst das Feuer im Ofen entzündete und im Nebenraum verschwand, um den Kessel mit Wasser zu füllen. Als sie zurückkam, gab der Ofen bereits etwas Wärme ab und sie stellte den Kessel darauf, bevor sie sich auf ihren Platz hinter dem Schreibtisch setzte. Sie bemerkte, dass Mrs. Wilton das einzige Gemälde an ihren sonst kahlen Wänden betrachtete.

„Ein Portrait meines Vaters. Er war Arzt“, erklärte Clara.

„Ich hätte erwartet, dass Sie ein so sentimentales Gemälde zu Hause aufhängen würden“, merkte Mrs. Wilton neugierig an.

„Meinem Bruder ist es lieber, wenn es hier hängt. Wir haben unsere Eltern im Krieg verloren und er tut sich mit Bildern von ihnen schwer.“

„Ich verstehe.“ Mrs. Wilton wirkte plötzlich ernst. „Ich habe meinen Ehemann und meinen Sohn im Krieg verloren.“

„Mein Beileid.“

„Oh, das ist dieser Tage nicht gerade ungewöhnlich, oder? Man ist eher ein Unikat, wenn man niemanden verloren hat.“

„Dennoch ist es schwer.“

Die beiden Frauen schwiegen für einen Augenblick, während sie an ihre Verstorbenen dachten.

„Ich schätze, das ist auch der Grund für mein Kommen“, sagte Mrs. Wilton und rüttelte damit die Stimmung auf. „Es hat alles mit meinem Ehemann zu tun.“

„Ich fürchte, ich hatte bislang wenig Erfolg damit, nachzuverfolgen, was Männern zugestoßen ist, die im Kampf gefallen sind, obwohl ich oft darum gebeten wurde.“

„Das ist es nicht. Ich mag zwar nicht wissen, wo die sterblichen Überreste meines Mannes und meines Sohnes liegen, doch ich weiß, dass ihre Seelen in Herrlichkeit ruhen, darum geht es mir nicht.“

„Das ist gut.“ Clara schenkte der Frau ihr bestes mitfühlendes Lächeln. „Es gibt zu viele Frauen, die glauben, nicht ruhen zu können, bis sie wissen, wo ein geliebter Mensch gestorben ist und wo er begraben liegt. Das kann einen Menschen zugrunde richten. Also, worum geht es bei Ihnen?“

„Nun … darf ich davon ausgehen, dass was ich hier sage vertraulich behandelt wird?“

„Als wäre es im Beichtstuhl geäußert worden, wenngleich ich keine Absolution anbieten kann.“

Mrs. Wilton grinste.

„Die Beichte liegt mir nicht, zumindest üblicherweise. Ich mache mir nichts aus all diesem katholischen Zeug. Ich bin Spiritistin. Haben Sie von uns gehört?“

„Sie glauben, dass es möglich wäre, mit den Toten zu kommunizieren.“

„Eine recht krude Beschreibung unserer Überzeugungen, aber ja. Hören Sie, Miss Fitzgerald, ich muss wissen, dass Sie mir unvoreingenommen zuhören werden.“

Clara spürte ihren aufsteigenden Argwohn; sie war nicht in der Stimmung für Spielchen und bekam das Gefühl, dass Mrs. Wilton nur ihre Zeit verschwendete.

„Ich bin recht aufgeschlossen, Mrs. Wilton, doch man sollte nicht den Fehler begehen, mich für leichtgläubig zu halten.“

„Natürlich nicht! Es ist nur so, dass man von manchen Menschen ausgelacht wird, wenn man vom Jenseits und so weiter spricht.“

„Ich würde nicht darüber lachen, doch ich brauche einen materiellen Fall, an dem ich arbeiten kann. Spirituelle Probleme liegen nicht in meinem Fachgebiet.“

„Ich bin keine Närrin.“ Mrs. Wilton sträubte sich ein wenig gegen diese Worte, dann sackte sie sichtlich in sich zusammen. „Es geht um Geld, und das liegt gewiss in Ihrem Fachgebiet.“

Clara fühlte sich beleidigt, war aber so klug, den Mund zu halten.

„Wenn Sie mir Ihre Situation schildern, werde ich sehen, was ich tun kann.“

„Die Sache ist eigentlich recht simpel. Mein Ehemann war recht altmodisch im Denken und konnte Banken nicht ausstehen. Er versicherte mir, bevor er an die Front ging, dass er mir eine beachtliche Summe Geld hinterlassen habe, sollte es zum Schlimmsten kommen, damit meine Zukunft gesichert sei.“ Mrs. Wilton hielt inne und spielte nervös am Verschluss ihrer Handtasche herum. „Nur ist das nicht geschehen.“

„Nicht geschehen?“

„Er hat mir kein Geld hinterlassen.“

„Hat er kein Testament gemacht?“

„Meines Wissens nach nicht, und ich habe danach gesucht. Sie müssen wissen, dass er auch Anwälten nicht getraut hat. Wie Sie sich vorstellen können, hat mir das mein Leben schwergemacht. Ich musste die meisten meiner Bediensteten entlassen und habe mich über Wasser gehalten, indem ich alles verkaufte, wovon ich mich trennen konnte, doch selbst damit waren es schwere Zeiten.“

„Ich verstehe Sie gut, Mrs. Wilton“, sagte Clara, und sie meinte es auch so. Viele Familien litten Not, seit sie ihren Hauptverdiener im Krieg verloren hatten. Sie selbst war nur gerade so über die Runden gekommen, mit ihrem „kleinen Detektivbüro“, wie manche Kritiker es grausamerweise nannten. „Doch ich bin mir immer noch nicht sicher, was Sie von mir erwarten.“

„Es war sehr schwer für mich“, fuhr Mrs. Wilton fort, als hätte sie Clara gar nicht gehört. „Und nach einer Weile kann man so etwas nicht mehr verstecken. Die Menschen bemerken es. Selbst Sie.“

„Ich, Mrs. Wilton?“

„Ihnen ist aufgefallen, dass ich keine Handschuhe trage. Ich habe schlicht keine mehr ohne Löcher, und ich schätze, mein Stolz hat die Oberhand gewonnen, sodass ich mir lieber mitten im Winter die Finger abfriere, als Sie meine schäbigen Handschuhe sehen zu lassen.“

Clara blickte unbewusst zu ihrem abgetragenen Regenmantel. Sie wünschte sich so sehr, einen neuen kaufen zu können, doch wenigstens war sie nicht zu stolz, um ihn noch zu tragen und nicht zu erfrieren.

„Meine Mutter sagte immer: ‚Stolz ist billig.‘“ Mrs. Wilton seufzte schwer. „Ich glaube, sie meinte damit, dass sich jeder ein wenig Stolz leisten kann, doch mittlerweile frage ich mich, ob sie damit falschlag. Tatsächlich kann Stolz sehr teuer werden.“

„Eine Tasse Tee?“, warf Clara dazwischen, als der Kessel leise pfiff. Sie beschloss, dass es an der Zeit war, die Unterhaltung voranzutreiben, bevor Mrs. Wilton zu rührselig werden konnte. Sie verspürte wachsendes Mitleid für die Frau und wusste, dass das kein gutes Zeichen war. Sie würde noch aus Sympathie ihr Honorar senken oder gar umsonst arbeiten, und wenn sie das täte, würde sie deswegen noch lange etwas von Tommy zu hören bekommen.

„Ja, gerne.“ Mrs. Wilton nickte.

Clara hantierte mit dem kochenden Wasser und einer alten, braunen Teekanne, deren Ausguss halb mit alten Teeblättern verstopft war. Sie zog einen gestreiften, gestrickten Teewärmer darüber, brachte sie zum Tisch und brauchte dann noch eine Weile, um zwei zueinander passende Tassen und Untertassen zu finden. Die ganze Prozedur dauerte knapp zehn Minuten, was Mrs. Wilton ausreichend Zeit ließ, um sich zu sammeln und sich an den Grund für ihr Kommen zu erinnern, während Clara den Tee einschenkte und schließlich eine Tasse des schwachen Gebräus vor Mrs. Wilton abstellte.

„Ignorieren Sie die Teeblätter, ich weiß nicht mehr, wo ich das Sieb gelassen habe.“

„Danke.“ Mrs. Wilton wärmte sich die Hände an der Tasse.

„So“, sagte Clara, während sie nachdenklich an ihrem Tee nippte, „lassen Sie uns dieses Problem mal erfassen. Warum sind Sie hier?“

Mrs. Wilton rührte mit ihrem Löffel in der Teetasse herum, als könnte sie so die Kraft finden, um über die Sache zu sprechen.

„Ich habe schon erklärt, dass diese Dinge den Menschen nicht entgehen, und Bedienstete – insbesondere entlassene Bedienstete – reden gern. Bei der Messe hat mich eine liebe Dame über neunzig zur Seite genommen. Sie ist eine inbrünstige Spiritistin, und, nun ja, ich schätze, ich war so unglücklich, dass mich ein paar freundliche Worte dazu brachten, mich an ihrer Schulter auszuweinen. Ich habe ihr erzählt, was ich auch Ihnen berichtete, und sie war der Meinung, eine private Sitzung könne mir weiterhelfen. In der folgenden Woche hat sie mir diese Karte mitgebracht.“ Mrs. Wilton zog einen schmalen Streifen weißen Pappkartons aus ihrer Handtasche und reichte ihn sorgenvoll an Clara weiter.

Auf der Karte stand nur: Mrs. Martha Greengage, spiritistisches Medium, Chestnut Grove 261, Brighton. Clara las den Text und schaute dann ihre Klientin an.

„Ich weiß, Sie müssen mich für eine naive, alte Frau halten, die verzweifelt nach Antworten sucht und dabei nach Strohhalmen greift.“ Mrs. Wiltons Stimme bebte. „Doch glauben Sie mir, auch ich war skeptisch. In eine spiritistische Kirche zu gehen ist das Eine, aber Hellsehern gegenüber war ich immer argwöhnisch. Allein diese liebe, alte Frau hat mich überzeugt, daran teilzunehmen. Sie sagte mir, dass Mrs. Greengage sich auf verlorenen Besitz spezialisiert habe und bereits einer Person aus Adelskreisen dabei geholfen habe, ein kleines Vermögen wiederzufinden. Ich war zu diesem Zeitpunkt wirklich am Rande der Verzweiflung, und bin es noch.“

Mrs. Wilton lachte schmerzerfüllt. Clara legte die Karte ab und empfand noch mehr Mitgefühl für diese arme Frau, die ihre letzte Hoffnung in eine Scharlatanin gelegt hatte (Clara hatte keinen Zweifel daran, dass Mrs. Greengage genau das war), die ihr gewiss ein Vermögen dafür abgenommen hatte. Sie dachte einen Augenblick darüber nach, was sie als nächstes sagen sollte, und sprach dann mit betont neutralem Gesichtsausdruck.

„Wie war Mrs. Greengage?“

„Alt und“, Mrs. Wilton zögerte, „ein wenig zu ‚hexenhaft‘ für meinen Geschmack. Sie trägt viel Schwarz, obwohl Mr. Greengage gesund und munter ist, wie ich glaube, und hält sich einen weißen Papageien, der ihrer Behauptung nach ebenfalls empfänglich ist und manchmal von den Geistern besessen wird, die zu Besuch kommen. Bei meinem ersten Besuch hat sie nicht gerade überzeugend auf mich gewirkt.“

„Sie kommen mir nicht wie eine törichte Frau vor, Mrs. Wilton, aber Ihrer Wortwahl nach zu urteilen haben Sie diese Dame mehr als einmal besucht?“

„Oh, ja, mindestens fünf Mal.“

„Und wegen dieser Besuche sind Sie jetzt hier?“

Mrs. Wilton blinzelte.

„Oh je, ich glaube, ich habe mich nicht sehr verständlich ausgedrückt. Wissen Sie, ich war bei meinem ersten Besuch sehr skeptisch, kam aber nicht umhin, diese Einschätzung zu ändern, nach allem, was ich gesehen habe. Mrs. Greengage hat tatsächlich eine Gabe.“

Kapitel 2

„Ich verstehe immer noch nicht, wie ich Ihnen helfen soll.“

Mrs. Wilton seufzte.

„Ich muss die ganze Sache ein wenig logischer erklären. Ich war vor etwa einem Monat an einem Freitagabend bei Mrs. Greengage, zusammen mit der lieben Dame, die mir die Karte gab. Ich muss Mrs. Greengage zugutehalten, dass sie mir für diesen ersten Besuch nichts berechnet hat, was mehr ist, als man von den meisten Unternehmen sagen kann.“

„Meine Konsultation ist ebenfalls kostenlos“, warf Clara sanft ein.

„Nun, das liegt daran, dass Sie eine Frau sind, meine Liebe, und Frauen wissen, dass nicht alles im Voraus bezahlt werden muss. Eine kurze Unterhaltung sollte immer kostenlos sein.“ Mrs. Wilton trank einen Schluck von ihrem Tee. „Wo war ich? Oh, ja, als Mrs. Greengage mir ihre Tür öffnete, sah sie aus wie die Hexe aus einem Märchenspiel und ich war sehr verblüfft. Erwähnte ich, dass sie eine rote Nelke im Haar trug?“

„Nein“, sagte Clara, während es ihr sehr schwerfiel, ob des Bildes von Mrs. Greengage, das vor ihrem inneren Auge entstand, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren.

„Das ist geradezu lächerlich für eine Frau ihres Alters. Ich schätze, das ist alles für den Schein“, mokierte sich Mrs. Wilson. „Wie Sie sich vorstellen können, fragte ich mich, an was für einen Ort ich da gebracht worden war, doch sie war recht höflich und es kam mir rüpelhaft vor, nach der Einladung einfach fortzugehen.“

Mrs. Wilton lehnte sich auf ihrem Stuhl nach vorn.

„Sie geleitete uns in ein Wohnzimmer, wie ich es seit den Tagen meiner Großmutter nicht mehr gesehen habe. Es war kein einziger moderner Gegenstand zu sehen, sämtliche Möbel waren dunkel und schwer und überall standen Statuen klassischer Persönlichkeiten herum. Manche waren in derart indiskreter Kleidung dargestellt, dass ich gar nicht wusste, wohin ich schauen sollte.“ Mrs. Wiltons Augen weiteten sich. „Und dann war da dieser Papagei. Er hockte auf einer Stange mitten auf diesem Tisch mit grünem Tischtuch und sah mich mit diesen schrecklichen Knopfaugen an. Ich war recht verunsichert, denn dieses Tier sah geradezu besessen aus.“

„Ich fürchte, das ist bei Papageien nicht unüblich“, merkte Clara an, bevor ihre Klientin fortfuhr.

„Mrs. Greengage ließ uns am Tisch Platz nehmen und erklärte mir, dass sie ein Medium sei und der Papagei manchmal Geister kanalisiere. Gerade als sie das sagte, blickte mir dieser entsetzliche Vogel direkt in die Augen und schrie: ‚Dorothy!‘ Nun, das ist mein Vorname und ich war so verblüfft, ihn zu hören, dass ich beinahe vom Stuhl gefallen wäre. Mrs. Greengage sah mich an und sagte: ‚Da ist ein Geist, der mit Ihnen sprechen will, Mrs. Wilton. Es ist ein Mann und sein Name ist Geoffrey.‘“

„Ihr Ehemann“, schlussfolgerte Clara.

„Oh, nein, ich kenne keinen Geoffrey. Nun, abgesehen von dem kleinen Jungen des Bäckers, aber der würde sich wohl kaum durch einen Papagei kanalisieren lassen!“

Clara hatte den Eindruck, die Grenze zu Dingen, die ‚wohl kaum‘ passieren würden, war längst eingerissen.

„Nein, nein, Geoffrey war eine Art Geistervermittler – Mittelsmann“, fuhr Mrs. Wilton fort. „Geoffrey schien im Jenseits mit meinem Ehemann in Kontakt zu stehen. Mir ist immer noch ein wenig unklar, wie das alles passiert ist. Vielleicht gibt es dort eine Art großen Treffpunkt. Auf jeden Fall hat Geoffrey mit Arthur gesprochen, meinem Ehemann, und er versprach mir, dass Arthur bald persönlich in Kontakt treten würde, wenn ich mich an Mrs. Greengage halte. Bis dahin würde Geoffrey die Botschaften weiterleiten.“

„Ah“, sagte Clara, während sie langsam erkannte, welches Spiel da gespielt worden war. „Und Sie haben sich also an Mrs. Greengage ‚gehalten‘?“

„Musste ich ja! Geoffrey sagte, Arthur wolle dringend mit mir sprechen, müsse dafür aber noch Kraft sammeln. Anscheinend dauert es eine Weile, bis sich ein Geist ganz von der materiellen Welt gelöst hat, und bis dahin ist die Kommunikation sehr schwierig.“

„Wie viele Sitzungen hat Mr. Wilton gebraucht, um seine Kraft zu sammeln?“ Clara vermutete, genug, um ein oder zwei Shilling zu verdienen.

„Ich glaube, es war die vierte Sitzung, als er zu uns gesprochen hat.“

„Durch den Papageien?“

„Gewissermaßen. Wissen Sie, der Vogel hat nur ein begrenztes Vokabular, wie Mrs. Greengage sagen würde, deshalb hört sie dem Papageien auf psychischer Ebene zu und gibt die Worte an uns weiter.“

„Aha, aber Mr. Wilton hat schließlich gesprochen?“

„Ja.“

„Und was sagte er?“

„Er sei sehr aufgebracht über meine Situation und fühle sich schuldig, weil er nicht eindeutiger zum Ausdruck gebracht habe, wo das Geld sei. Er versprach, mir zu helfen, doch er werde Zeit brauchen, um ausreichend spirituelle Kraft zu sammeln, damit er mir diese Information überbringen kann. Ich war verzweifelt, wie Sie sich vorstellen können, konnte es kaum erwarten und dachte, dass all meine Gebete erhört werden würden.“ Mrs. Wilton zitterte mittlerweile, so emotional war sie. „Als ich dann gestern Abend dort ankam, war Mrs. Greengage ganz aufgeregt. Arthur hatte sie im Schlaf aufgesucht und ihr das lebhafte Traumbild einer Karte gesandt, die sie nach dem Aufwachen gleich aufgezeichnet hatte.“

Mrs. Wilton kramte erneut in ihrer Handtasche herum und holte ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. Clara öffnete das Blatt und sah eine fleckige Karte, die mit roter Tinte gezeichnet worden war und grob an die Vorstadt von Brighton erinnerte.

„Das ist mein Haus.“ Mrs. Wilton deutete auf ein ausgemaltes Quadrat. „Und das hier sind Orientierungspunkte: das Feld, die Kirche und der Ententeich. Arthur hat Mrs. Greengage gesagt, dass er all seinen Reichtum in einer Teekiste vergraben habe und diese Karte mich an die richtige Stelle führen werde.“

Clara nahm sich die Karte und betrachtete sie. Die Zeichnung war rudimentär und es fehlten jegliche Andeutungen von Straßen oder Himmelsrichtungen. Sie sah wie die Kritzelei eines Kindes aus und dürfte der verzweifelten Frau, die ihr gegenübersaß, kaum eine Hilfe sein.

„Sie suchen nach Richtungsangaben? Arthur war sehr auf Sicherheit bedacht und hat Hinweise übermittelt, die mich zum Schatz führen sollen. Er hat neun davon verfasst und mir die ersten drei an dem Abend genannt, an dem Mrs. Greengage mir die Karte gab. Bei meinem Besuch nächste Woche wird er mir drei weitere Hinweise geben und in zwei Wochen die letzten. Das ist sehr eindeutig.“

„Ist es.“ Clara nickte. Sie war beeindruckt von Mrs. Greengages Raffinesse, wenn auch nicht von ihrer Moral.

„Jetzt verstehen Sie vielleicht auch, wie Sie ins Bild passen.“ Mrs. Wilton lächelte hoffnungsvoll.

„Nicht ganz“, antwortete Clara, obwohl sie einen starken Verdacht hatte.

„Nun, ich möchte, dass Sie diese Hinweise deuten und den Schatz für mich finden! Sie müssen wissen, dass es sich bei den Hinweisen um Rätsel handelt.“ Mrs. Wilton reichte ihr mehrere Zettel, jeder mit der gleichen auffälligen, roten Tinte beschrieben.

Clara unterdrückte ein Seufzen; sie hatte nicht wirklich viel für Rätsel übrig, oder für eine sinnlose Suche.

„Ich muss Sie das fragen, Mrs. Wilton: Sähe es ihrem Ehemann ähnlich, so etwas zu tun?“

Mrs. Wilton wirkte verwirrt.

„Was meinen Sie damit, meine Liebe?“

„Ich frage mich, ob er ein Mann war, der Freude an Rätseln und Schatzsuchen hatte.“

„Spielt das eine Rolle?“

Clara biss sich auf die Lippe und blickte auf die Zettel. Sie spürte, dass dies ein heikler Moment war.

„Ich fragte mich nur, ob unsere spirituelle Persönlichkeit unserer materiellen Persönlichkeit gleicht.“

Das war eine ungeschickte Antwort, doch Mrs. Wilton wirkte zufrieden.

„Er mochte akrostische Gedichte, wobei ich sagen muss, dass er nie sehr gut darin war, sie zu verfassen.“

„Dann könnte es seinen …“, Clara schloss die Augen, während ihre Lippen unbeirrbar den zweiten Teil des Satzes formten, „… Geist erfreut haben, kleine Rätsel zu verfassen?“

„Ich denke, schon.“ Mrs. Wilton errötete plötzlich. „Ich weiß, dass mich die meisten Leute für eine Närrin halten, die einer Scharlatanin ins Netz gegangen ist. Doch ich habe Dinge gesehen, gehört, was sie gesagt hat, und kann keine logische Erklärung für diese Dinge finden, als die Tatsache, dass diese Frau mit den Toten in Kontakt steht. Wenn Sie zu einer Séance kommen würden, könnten Sie es selbst erleben. Das wäre doch gewiss nicht zu viel verlangt, bevor Sie diesen Fall ablehnen, oder? Denn Sie denken gewiss darüber nach, mich abzuweisen, nicht wahr?“

Clara sah die Verzweiflung in Mrs. Wiltons Gesicht und ihre Entschlossenheit bröckelte weiter. War es denn so abwegig, dass sich eine so von Trauer ergriffene und notleidende Frau an die einzige Quelle von Hoffnung wandte, die sie ausmachen konnte; selbst wenn es sich dabei um eine alte Dame mit einem Papageien handelte?

Doch Mrs. Greengage war eine Bauernfängerin, eine andere Möglichkeit gab es nicht, und sie nutzte den emotionalen Zustand einer Frau aus, um leichtes Geld zu verdienen. Schlimmer noch: Sie nutzte keine reiche Frau aus, die mehr Geld als Verstand besaß, sondern eine Person, die auf Kohle oder Brot verzichten musste, um sich noch eine weitere Séance leisten zu können. Aber wäre sie selbst besser, wenn sie den Fall basierend auf diesen Geisterrätseln annahm? Sie würde sich bezahlen lassen, um etwas Unmögliches zu vollbringen.

„Ich habe für morgen Abend eine spezielle Séance gebucht und dabei einen Platz für einen Gast reserviert. Werden Sie mich begleiten?“, fragte Mrs. Wilton beharrlich.

„Sind Sie sich absolut sicher, dass Ihr Ehemann irgendeine Art von Vermächtnis hinterlassen hat?“

„Ja, natürlich!“

„Und Sie konnten kein Bankkonto ausfindig machen?“

„Nichts, wie ich es Ihnen bereits sagte.“

„Sie müssen mir verzeihen“, sagte Clara ernst, „aber dieser Tage ist es sehr unüblich, dass ein Mensch sozusagen seinen Goldschatz vergräbt.“

„Und doch hat mein Ehemann genau das getan, davon bin ich überzeugt. Und jetzt versucht er, mit mir in Kontakt zu treten. Würden Sie mich bitte begleiten? Dann kann Mrs. Greengage sich Ihnen persönlich beweisen.“

Clara seufzte.

„Ich muss darüber nachdenken, Mrs. Wilton. Dies ist, da werden Sie mir zustimmen, eine sehr ungewöhnliche Situation.“

„Ich weiß, und ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, mich ohne Gelächter und Spott angehört zu haben.“

Jetzt fühlte Clara sich noch schlechter.

„Ich werde über alles nachdenken und Ihnen morgen meine Entscheidung mitteilen. Haben Sie Zugang zu einem Telefon?“

„Ich kann ein öffentliches Telefon in der Bäckerei von Mrs. Branbury an der Ecke nutzen. Sie gestattet nach Absprache Zugang zu dem Gerät; üblicherweise zwischen zwölf und eins.“

„Dann rufe ich Sie zu dieser Uhrzeit an, wie lautet die Nummer?“

„Brighton 42“, sagte Mrs. Wilton rasch. „Ich werde dort warten und auf eine positive Nachricht hoffen.“

„Ich kann nichts versprechen, Mrs. Wilton.“ Clara erhob sich, um ihre Klientin hinauszugeleiten.

„Dann werde ich einfach an das Gute glauben müssen.“ Mrs. Wilton lächelte schwach. „Wir hören uns morgen.“

„Natürlich, aber bitte machen Sie sich nicht allzu große Hoffnungen. Dies ist keiner meiner üblichen Fälle.“

Sie verabschiedeten sich auf der Türschwelle und Mrs. Wilton eilte die Straße hinauf, die ungeschützten Hände unter die Arme gesteckt. Der Himmel hatte einen unheilvollen Grauton angenommen und leichter Schneefall legte sich wie ein Schleier über die Welt. Clara hoffte, dass es die glücklose Mrs. Wilton bis nach Hause schaffte, bevor das Wetter schlimmer wurde.

Sie kehrte in ihr Büro zurück und starrte auf die eigenartigen Zettel, die Mrs. Wilton zurückgelassen hatte, während hinter ihr leise die Schneeflocken gegen die Fensterscheibe fielen. Bei den Rätseln handelte es sich um ganz gewöhnliche Hinweise, wie Clara sie noch aus den Abenteuerromanen ihrer Kindheit kannte. Eines lautete:

Denk an mich, bevor du schläfst, ich lieg an der Erde tiefem Grund.

Ein anderes:

Du brauchst mich, jetzt da deine Welt verloren, find mich beim Kirchturm und beim Kreuz.

Und das letzte Rätsel war noch mysteriöser:

Drei Schritt nach Norden, drei Schritt nach Süden, der starrende Mann hat keinen Mund.

Clara malte sich aus, dass Mrs. Greengage einen vergnüglichen Nachmittag damit verbracht hatte, diese Rätsel zu formulieren. Wie die Frau diese Texte an Mrs. Wilton hatte übergeben können, ohne eine Miene zu verziehen, war ihr schleierhaft.

Plötzlich wurde sie sehr wütend. Was gab dieser „Wahrsagerin“ und Hexe das Recht, der armen Mrs. Wilton einzureden, ihr Ehemann würde mit ihr in Kontakt stehen und bald ihre Geldsorgen beenden? Sie hatte schon beinahe Lust, der Séance allein dafür beizuwohnen, dieser Mrs. Greengage einmal deutlich die Meinung sagen zu können. Doch damit würde sie Mrs. Wilton falsche Hoffnungen machen, und das kam nicht in Frage. Nein, sie würde die Frau am folgenden Tag anrufen und ihr sagen, dass sie den Fall nicht übernehmen konnte, dann wäre alles vorbei. Es würde keine angenehme Unterhaltung werden, doch es war moralisch betrachtet das einzig Richtige.

Sie packte die Rätsel und die Karte ordentlich in einen Umschlag, um sie Mrs. Wilton zurückgeben zu können, und suchte sich dann ausstehenden Papierkram, in dem verzweifelten Bedürfnis, sich abzulenken.

Kapitel 3

Tommy saß in seinem Rollstuhl am Esstisch und machte sich mit einer Schere über weißes Papier her. Der Krieg hatte seine Beine unbrauchbar gemacht und er griff immer häufiger auf kreative Arbeit zurück, um bei Verstand zu bleiben, wie er es ausdrückte. Clara kam in den Raum und gab ihrem großen Bruder einen liebevollen Kuss auf die Wange.

„Was ist das?“ Sie hob ein zackiges Papiergebilde hoch, das mit unregelmäßigen Löchern übersät war.

„Weihnachtsdekoration“, antwortete Tommy heiter. „Das hat man uns im Krankenhaus beigebracht. Hält den Verstand beschäftigt.“

„Weihnachten ist über zwei Wochen her“, rief Clara ihm ins Gedächtnis, während sie weitere Papierfetzen musterte, von denen manche vage als Schneeflocken erkennbar und andere nicht zu deuten waren.

„Ich bereite mich auf das nächste Jahr vor“, sagte Tommy hochmütig. „Ich habe eine Engelsgirlande für das Geländer gemacht.“

Er wühlte im Papierstapel herum und zog eine Reihe aus deformierten Figuren heraus.

„Oh, schön“, sagte Clara argwöhnisch. „Aber hätten die nicht ein wenig engelsgleicher aussehen können und weniger … dämonisch?“

Tommy musterte sie eindringlich, dann grinste er.

„So schlimm? Ich habe wohl ein wenig die Fetzen fliegen lassen. Ich musste mich in der Nacht ablenken.“ Er setzte einen zaghaften Gesichtsausdruck auf. „Das tut mir übrigens sehr leid.“

„Du hast es ja nicht absichtlich getan.“ Clara zuckte mit den Schultern.

„Diese Träume sind schlimm genug, wenn sie nur mich wachhalten und nicht noch jemand anderen belästigen.“ Tommy spielte an einer krummen Schneeflocke herum. „Was ist denn eigentlich los? Du siehst aus, als würde dir das Gewicht der Welt auf den Schultern lasten.“

Clara ließ sich in einen Polstersessel am Feuer fallen.

„Was hältst du von Spiritismus, Tommy?“

„Ist das diese Sache, bei der man seine ganze Zeit damit verbringt, mit den Toten zu sprechen?“

„Ich glaube zwar nicht, dass man das den ganzen Tag tut, aber ja, das gehört zu ihren Überzeugungen.“

„Ich fand die Idee immer interessant“, sagte Tommy grüblerisch. „Stell dir vor, du könntest mit beliebigen Gestalten aus der Vergangenheit sprechen, wie zum Beispiel Aristoteles. Natürlich müsste man erst ein wenig Altgriechisch lernen.“

„Sie scheinen nur mit den kürzlich Verstorbenen in Kontakt zu treten, und mit Menschen, die sie kennen … kannten, meine ich.“ Clara zog ihre Schuhe aus und rieb sich die Zehen. „Ich hätte größere Skepsis von dir erwartet.“

„Ja? Oh, ich weiß, dass manche die Erlebnisse in den Schützengräben als erstklassigen Beweis gegen die Existenz Gottes ansehen, doch ich gehöre nicht dazu. Nicht dass ich mich jetzt gleich den Spiritisten anschließen würde, um mit Ma und Pa zu reden.“

„Mir kommt das alles wie Wunschdenken vor.“ Clara seufzte.

„Da war ein Kerl in den Gräben, der behauptete, einen Engel gesehen zu haben. Er ist im Niemandsland auf eine Mine getreten und wir konnten nur noch seine obere Hälfte zurückschleifen. So hat er noch eine Stunde durchgehalten und gegen Ende sagte er, ein Engel sei gekommen, um ihn zu holen; er könne ihn sehen.“ Tommy hob seine Girlande aus deformierten Engeln hoch. „Wir haben ihn gebeten, den Engel zu beschreiben, doch das konnte er nicht. Niemand dachte auch nur daran, mit ihm über das zu streiten, was er da sah. In diesem Augenblick kam es uns allen völlig logisch vor. Jetzt, da wir zurück sind, bezeichnen wir solche Dinge natürlich als Halluzinationen.“

Clara sah zu, während ihr Bruder die Engelsgirlande in winzige Schnipsel zerriss. Manchmal versuchte sie sich auszumalen, wie es war, von sterbenden Männern umgeben zu sein; manche so entsetzlich verstümmelt, dass kaum noch etwas von ihnen übrig war. Doch ihr Verstand bekam den Gedanken nicht zu fassen, was vielleicht auch gut so war, angesichts von Tommys Alpträumen.

„Worum geht es hier, Clara?“ Tommy fixierte sie mit einem stechenden Blick.

„Ich hatte heute Vormittag eine neue Klientin im Büro. Sie geht zu einer Hellseherin, die behauptet, mit ihrem verstorbenen Ehemann in Kontakt zu stehen, der ihr ausgerechnet Rätsel gibt, die zu irgendeiner Art Schatz führen sollen, den der Mann angeblich vergraben hat, bevor er in den Krieg zog.“

„Wirklich? So leichtgläubig bin nicht einmal ich. Was wollte sie von dir?“

„Ich soll die Rätsel lösen, damit sie den Schatz finden kann.“ Clara kramte in ihrer Handtasche und zog den Umschlag mit den Zetteln heraus.

Tommy musterte jeden einzelnen gründlich.

„Wer schreibt denn mit roter Tinte?“

„Hellseherinnen … anscheinend.“

Nachdem Tommy die Zettel untersucht hatte, reichte er sie an seine Schwester zurück.

„Wirst du den Fall übernehmen?“, fragte er.

„Natürlich nicht. Dieses Medium ist eine Hochstaplerin und ich wäre auch eine, wenn ich Hinweisen nachgehe, von denen ich weiß, dass sie fabriziert sind.“

„Andererseits könntest du den Auftrag annehmen und die Hellseherin als Lügnerin überführen, während du gleichzeitig ermittelst, ob an der Sache mit dem Schatz des Ehemannes irgendetwas dran ist.“

„Ich würde nur das Geld und die Zeit meiner Klientin verschwenden.“ Clara rieb sich die müden Augen. „Sie will so dringend daran glauben, dass ihr Ehemann irgendwo Geld für sie versteckt hat. Sie kommt kaum über die Runden und ich glaube, sie hat ihre letzte Hoffnung in diese Hellseherin und den erfundenen Schatz gelegt.“

„Nun, dann ist es entschieden.“

„Wie bitte?“

„Wenn du ihr nicht hilfst, wird sie jemand anderen finden, der keine Skrupel davor hat, ihr Geld mit einer sinnlosen Suche zu verschwenden. Und währenddessen wird sie immer noch für die Lügen eines Mediums zahlen. Du musst eingreifen, die Hellseherin als Scharlatanin überführen und herausfinden, ob noch irgendwelche legitimen Ersparnisse für die Frau übrig sind.“

Das war ein überzeugendes Argument und Tommys Worte kamen Clara vernünftig vor. Außerdem wäre sie kaum besser als Mrs. Greengage, wenn sie zulassen würde, dass Mrs. Wilton noch länger hinters Licht geführt wurde.

„Ich habe noch ein Argument für dich“, sagte Tommy, während er sie mit seinen braunen Augen fixierte. „Du brauchst Geld und ich brauche etwas Besseres als Papierengel, um meinen Verstand auf Trab zu halten. Der Fall des Bürgermeisters ist schon über einen Monat her.“

Auch darin lag Wahrheit. Es war nicht einfach, als recht unbekannter Privatdetektiv an Fälle zu kommen; und als recht unbekannte, weibliche Privatdetektivin erst recht nicht.

Clara hatte ihre Detektei aus den Trümmern des Weltkrieges emporgezogen; teils aus praktischen Gründen, teils als Mittel zum Zweck. Wie Tommy gerade schon angemerkt hatte, halfen die Fälle ihrem Bruder dabei, beschäftigt zu bleiben. Es hatte damit angefangen, Freundinnen und Nachbarinnen zu helfen, die damit zu kämpfen hatten, sämtliche Männer der Familie verloren zu haben. Manche suchten immer noch nach Antworten auf die Frage, was ihren Angehörigen zugestoßen war, andere versuchten, an verlorene Sparkonten zu gelangen, oder an Kriegsrenten. Ehe sie es sich versah, war Clara zu der Person geworden, an die man sich wandte, wenn man etwas aufklären wollte.

Während sie einen Ruf erlangte, stieg die Menge der Aufträge, wie auch die Schwierigkeit der Fälle. Sie hatte sich überwältigt gefühlt, gerade als Tommy zutiefst depressiv aus dem Militärkrankenhaus entlassen worden war. Sie hatte ihm Recherchen übertragen, damit sein Verstand beschäftigt war, während sie nicht zu Hause sein konnte, und bald war er ganz fasziniert vom neuen Leben seiner Schwester gewesen und hatte mehr wissen wollen.

Jetzt, zwei Jahre später, waren sie richtige Partner geworden, doch Tommy war immer noch derjenige, der am schlimmsten litt, wenn sie keine Arbeit hatten.

„Sieh es doch mal so“, sagte Tommy jetzt. „Wenn sie nach einem vermissten Familienmitglied in Frankreich suchen würde, müsstest du ihr sagen, dass es sich um eine beinahe unmögliche Aufgabe handelt, aber versuchen würdest du es dennoch. Ist das hier so anders?“

„Sie ist sich sicher, dass ihr Ehemann ihr irgendwo Geld hinterlassen hat“, räumte Clara ein.

„Dann finde das Geld und stell den Betrug des Mediums bloß!“

Clara schloss kurz die Augen und ließ zu, dass die Gedanken durch ihren Kopf wirbelten. Mrs. Wilton brauchte Hilfe, daran bestand kein Zweifel, und sie in den Fängen von Mrs. Greengage allein zu lassen, war undenkbar. Sie öffnete die Augen, als die Entscheidung gefallen war.

„Ich werde sie morgen anrufen und ihr mitteilen, dass ich ihren Fall übernehmen werde.“

„Gut.“

„Aber ich werde kein Honorar von ihr verlangen, es sei denn, ich kann die verlorenen Ersparnisse ihres Ehemannes finden.“

„Clara“, ächzte Tommy. „Du kannst doch deine Hilfe nicht derart verschenken. Wie müssen auch an unsere eigenen Finanzen denken.“

„Papas Investitionen werden uns durchbringen, wo ist also das Problem?“

Tommy sah sie an und schüttelte den Kopf.

„Was sagtest du noch gleich über Leichtgläubigkeit?“

„Ich nenne das moralisches Handeln. Nun denn, sie hat eigens für mich morgen Abend eine Séance gebucht. Ich nehme an, du willst dabei sein?“

„Absolut!“

„Dann werde ich dafür sorgen, dass für dich auch ein Platz vorgesehen ist. So. Und jetzt sollte ich mal nachsehen, ob Annie es geschafft hat, irgendein Abendessen anzurichten.“

Tommy grinste sie an.

„Das wird unterhaltsam“, sagte er.

„Ich hoffe nicht. Ich erinnere mich noch an den letzten Fall, den du als unterhaltsam bezeichnet hast. Danach habe ich mich nach stumpfen und langweiligen Aufgaben gesehnt.“

„Erschrecke dich bloß nicht, wenn morgen Abend irgendwelche Geister oder Ghule auftauchen“, spottete Tommy.

„Pah!“, sagte Clara, während sie die Tür öffnete. „Mach dir keine Sorgen um mich, großer Bruder. Es ist Mrs. Greengage, die sich morgen Abend wird in Acht nehmen müssen!“

***

Mrs. Wilton war hocherfreut, als Clara am Telefon zustimmte, die Séance zu besuchen. Sie beschwerte sich nicht einmal, als Clara auf eine weitere Einladung für ihren Bruder bestand.

Clara hatte gerade aufgelegt und fühlte sich mies, ob der ganzen Situation, als die Haustür geöffnet wurde und das Hausmädchen Annie Tommy in seinem Rollstuhl hereinschob.

„Wo wart ihr? Es ist bitterkalt draußen.“ Clara hörte den scharfen Ton ihrer Stimme und bereute ihn sofort. Sie hatte sich Tommy gegenüber sehr beschützend verhalten, seit er nach Hause gekommen war, doch sie wusste, dass sie mittlerweile alle verrückt machte, inklusive sich selbst.

„Immer mit der Ruhe, Schwesterchen.“ Tommy grinste. „Annie hat mich altes Wrack bloß zur Bibliothek geschoben, das war alles. Die ist mittwochs nur wenige Stunden lang geöffnet, erinnerst du dich?“

Clara verfluchte sich innerlich. Tommy hatte ihr am vergangenen Abend gesagt, dass er in die hiesige Leihbücherei gehen würde, um dort nach Büchern über Spiritismus zu suchen.

„Hattest du denn Glück?“, fragte Clara, während sie Annie entschuldigend anlächelte. Die Frau war ihre einzige Bedienstete, ein Mädchen für alles und eine loyale Freundin, die einen Großteil ihrer Zeit damit verbrachte, sicherzustellen, dass Tommy alles hatte, was er brauchte. Sie zwinkerte Clara zu; eine Erinnerung daran, dass sie lange genug befreundet waren. Annie wusste, dass da bloß die strapazierten Nerven ihrer Herrin gesprochen hatten.

„Hast du etwas Gutes gefunden?“, fragte Clara in einem entschlossenen Versuch, das Thema zu wechseln.

„Zwei Bücher: Von der Dunkelheit ins Licht: eine Neubewertung von Christentum und Spiritismus und Abhandlungen über die Spiritistische Kirche und ihre Rolle im Mediumismus.“

„Klingt fesselnd.“

„Nun, wenigstens habe ich etwas zu lesen, wenn ich nicht schlafen kann, und ich habe in Mrs. Eatons Buchladen zwei Hefte über Hellseherei gekauft.“

Tommy reichte ihr die beiden dünnen Werke.

Die Kunst des Mediumismus und Dreißig kurze Lektionen zur Stärkung des Verstandes und zur Förderung hellseherischer Fähigkeiten. Sollte ich mir Sorgen machen?“

„Wohl kaum. Es scheint hauptsächlich darum zu gehen, wiederholt ‚Ist jemand da?‘ zu rufen.“

Clara gab ihm die Hefte zurück.

„Nun, unsere Plätze sind wider besseren Wissens gebucht.“

„Freust du dich nicht darauf, eine potenzielle Scharlatanin auszumerzen?“

„Potenziell? Sie ist ganz sicher eine Scharlatanin.“

„Nicht notwendigerweise. Auf Seite fünf der Dreißig Lektionen heißt es, dass Gewissheit nur ein relativer Zustand des Geistes ist, und wir unseren Verstand den Unmöglichkeiten öffnen müssen, um zu begreifen, dass nichts an der Gewissheit gewiss ist.“

Clara warf ihm einen vernichtenden Blick zu und Tommy lachte los.

„Wenn Mrs. Greengage anfängt, solchen Unsinn von sich zu geben, werde ich vielleicht nur schwer den Mund halten können.“

„Bleib stark, Schwesterchen.“ Tommy gluckste. „Wir tun das alles für eine verzweifelte Witwe.“

„Ja, ja. Nun, eine Gewissheit habe ich für dich: Ich brauche dringend eine Tasse Tee“, entgegnete Clara.

„Dem kann ich nur zustimmen.“