1. Kapitel
New Bickford, England
Melissa Griffin sah in zwei rote Augen, die sie voller Boshaftigkeit anstarrten.
Ihr Atem stockte, aber ihr Herz machte die Meuterei ihrer Lungen wieder wett, denn ihr Pulsschlag dröhnte wie Donner in ihren Ohren, lauter als jeder hastige Atemzug.
Sie machte einen winzigen Schritt nach hinten, doch ihr Peiniger kam unerbittlich näher. Sie versuchte es mit einem Schritt zur Seite, aber auch dorthin folgte er ihr.
„Was willst du von mir?“, presste sie zwischen ihren Zähnen hervor.
Die Bestie erwiderte nichts, sondern kam noch näher.
Ihr blieben nur zwei Möglichkeiten: Flucht oder Kampf. Aber sie hatte nicht die geringste Chance, einen so unversöhnlichen Widersacher zu besiegen.
In Gedanken zählte Mel bis drei, raffte mit beiden Händen ihre Röcke und rannte los, begleitet von einem durchdringenden Schrei: „Hiiiiilfeeee!“
Sie hetzte an einem winzigen Cottage vorbei, das eigentlich so aussah, als müsste es Engel beherbergen, nicht aber diesen scheußlichen Grobian. Etwas traf sie an der Wade und als Mel einen Blick auf ihren Verfolger warf, musste sie erkennen, dass der bedrohlich dicht hinter ihr war und …
„Autsch!“ Melissa prallte ungebremst gegen eine harte, warme Mauer, die sich gleich darauf als Mensch entpuppte.
Diese menschliche Wand brummte. „Na, komm schon, du musst keine Angst haben“, wurde sie von einer tiefen Stimme besänftigt.
Mel sah nichts anderes mehr als die roten Augen und die Krallen, die so scharf wie Klingen waren. Sie kämpfte sich durch ein Dickicht aus Gliedmaßen und kletterte schließlich an dem Fremden hinauf, als wäre er ein Baum.
Starke Arme legten sich um sie, hoben sie hoch, und setzten sie dann hinter dem Mann auf dem Boden ab. Sein Körper diente als Schild – als ziemlich massiver Schild – zwischen Melissa und diesem Teufel.
„Hector!“ Die tiefe Stimme ihres Beschützers hatte einen befehlsgleichen Tonfall, der Gehorsam einforderte.
Als Stille die einzige Antwort war, stellte sich Mel auf die Zehenspitzen und spähte über die breite, in schwarzen Stoff gehüllte Schulter. Die blonden Haare des Mannes kitzelten sie an der Nase.
„Warum will dieser … dieser …“
„Hahn?“, fragte die gleiche tiefe Stimme, die aber diesmal einen amüsierten Unterton an sich hatte.
Mel wurde bewusst, dass sie sich an den Rücken des Mannes geschmiegt hatte, und löste sich mit einem hastigen Schritt nach hinten von ihm. Er drehte sich zu ihr um und sie stutzte. Es mochte am Dünkel des Stadtmenschen in ihr liegen, aber sie hatte nicht erwartet, mitten auf einer Landstraße von einem so reizenden Mann gerettet zu werden. Genau genommen konnte sich Melissa nicht daran erinnern, jemals einen Mann gesehen zu haben, der so wunderschön – jawohl, wunderschön – war wie dieser. Und er trug den Kragen eines Geistlichen.
„Ein Vikar hat mich vor diesem … diesem Satansbraten gerettet?“
Anstatt beleidigt auf ihren ungläubigen Ton zu reagieren, schenkte er ihr ein warmes, charmantes und hinreißendes Lächeln, das nicht von einem Geistlichen hätte kommen sollen. Zugegeben, sie wusste rein gar nichts über Vikare und auch nicht darüber, wie sie lächelten oder lächeln sollten. Geistliche waren in der Branche, in der sie arbeitete, eher dünn gesät. Möglicherweise waren ja alle Geistlichen so attraktiv. Vielleicht war es sogar eine Voraussetzung, um den Beruf ausüben zu können. War das womöglich der Grund, warum sich jeden Sonntag die Kirchenbänke so gut mit Besuchern füllten?
„Bedaure, aber ich habe nicht die Ehre, ein Vikar zu sein. Noch nicht. Das macht alles nur noch schlimmer, fürchte ich, denn gerettet wurden Sie lediglich von einem einfachen Kaplan.“
Er vollführte eine elegante Verbeugung. „Mister Stanwyck, zu Ihren Diensten, Miss …“
Melissa löste den Blick von den Lippen des Mannes, die bei einem Vikar pure Vergeudung waren. „Ähm … Griffin“, sagte sie.
„Ist mir ein Vergnügen, Miss Griffin.“
Seine Augen hatte das gleiche klare, arglose Blau wie der Himmel. Ihr fiel auf, dass er ihr seinerseits auch in die Augen sah, anstatt den Blick über ihren Körper wandern zu lassen. Mels innere Kritikerin – die so lautstark und unerbittlich war wie ein griechischer Chor – machte sie darauf aufmerksam, dass nicht jeder Mann in Großbritannien den Wunsch hegte, ihr zu Füßen zu liegen, auch wenn es seit ihrem vierzehnten Geburtstag tatsächlich danach ausgesehen hatte.
„In New Bickford kenne ich jeden, also müssen Sie hier zu Besuch sein, Miss Griffin.“
„Ja, ich … ich bin aufs Land gekommen, um zu genesen.“
Er zog die Augenbrauen zusammen, seine Miene strahlte prompt tiefes Mitgefühl aus. „Es tut mir leid, dass Sie krank gewesen sind.“ Es war nicht einfach dahingesagt, er klang tatsächlich, als täte es ihm leid.
„Mister Stanwyck! Huhuuu!“ Die Stimme trieb aus der Richtung des reizenden kleinen Cottages zu ihnen, das der bösartige Hector offenbar sein Zuhause nannte. In diesem Augenblick stolzierte der besagte Schurke gemächlich in den Reihen seines Hennenharems umher, blieb mal hier, mal dort stehen und machte dann etwas, das eine Art Seitenschritt darstellte, mit dem man wohl Hennen für sich interessierte. Die Brust hielt er dabei stolz rausgestreckt.
Melissa warf ihm einen finsteren Blick zu. Wie konnte er es nur wagen, so völlig harmlos zu wirken?
Der Kaplan begrüßte eine Frau, die sich ihnen näherte. „Hallo, Miss Philpot. Wie geht es Ihnen heute Nachmittag?“
Die angesprochene Frau war groß und schlaksig, hatte das kokette Lächeln und den Augenaufschlag eines Schulmädchens und musste mindestens doppelt so alt sein wie der Kaplan.
„Oh, Mr Stanwyck. Gloria wird ja so erleichtert sein, dass Sie hier sind.“ Ihre grünen Glubschaugen richteten sich auf Melissa. Im nächsten Moment kniff sie sie zusammen, was ihre grauen Augenbrauen wie zwei nach unten sausende Fallbeile erscheinen ließ. „Und Sie haben auch noch jemanden mitgebracht. Ihre Schwester?“ In dieser Frage schwang so viel Hoffnung mit, dass Melissa sich auf die Lippe beißen musste, um nicht laut zu lachen.
Der Kaplan kniff seine viel zu bezaubernden Lippen zu einem sanften Lächeln zusammen, dem das Funkeln in seinen Augen widersprach. „Ich bedaure, aber meine Eltern sahen sich außerstande, mich mit Schwestern zu segnen, Ma‘am. Ich kann nur Brüder vorweisen.“
Wenn Miss Philpot eines war, dann anpassungsfähig. Sie wandte sich von Mel ab und betrachtete den Kaplan mit sanfter Miene. „Nun, dann ist es zweifellos das Werk des Herrn, wenn sie alle so gut aussehen und so freundlich sind wie Sie, Mr Stanwyck.“
Er nahm das Kompliment freundlich auf, dann deutete er auf Melissa. „Dies ist Miss Griffin. Wie es aussieht, hatte sie gerade eben einen … nun, Zusammenstoß trifft es nicht so ganz, da es mehr eine Flucht war … vor Hector.“
Mel quittierte seine Wortwahl mit einem bösen Blick und wurde dafür mit einem weiteren atemberaubenden Lächeln belohnt.
Miss Philpot machte dem bösartigen Tier eine drohende Geste mit dem Zeigefinger. „Oh, Hector! Bist du wieder übereifrig gewesen?“ Sie sprach mit dem Hahn in einem nachsichtigen, leicht gurrenden Tonfall, der Hector zu einem seiner gleitenden Seitenschritte veranlasste. Miss Philpot kicherte anerkennend, als sie das Manöver sah. Wie es schien, konnte der Hahn mit seinem fragwürdigen Charme nicht nur seine Hennen um den Finger wickeln. Vielleicht war Hector ja schlauer, als er aussah.
Miss Philpot wandte sich wieder Mel zu. „Ich muss mich für Hectors Übereifer entschuldigen, Miss … ähm … Griffin.“ Das Liebevolle in ihren Augen – ein Überbleibsel dessen, was Hector mit seinem Charme bewirkt hatte – verlor sich und wich einem beflissenen Glanz, der jeden spanischen Inquisitor mit Stolz erfüllt hätte. „Besuchen Sie nur unser Dorf auf dem Weg nach … irgendwo anders?“
Sie war nicht die Einzige, die interessiert auf die Antwort wartete. Die himmelblauen Augen des Kaplans waren ebenfalls auf sie gerichtet.
Etwas an seinem klaren Blick ließ Mel schüchtern und nervös werden, ein Gefühl, wie sie es zuletzt erlebt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und an Straßenecken Orangen verkauft hatte. Sie wischte über ihren Rock, als hätte Hector sie mit verfaultem Obst und Gemüse bombardiert, nicht bloß mit seinem Körper. Der war, wie ihr ein genauerer Blick auf den Hahn zeigte, zugegebenermaßen sehr dürr.
„Ich bin in einem Haus dort hinten untergebracht“, sagte sie und gestikulierte mit der Hand, die nicht ihren Pompadour umklammert hielt. Dann aber fiel ihr auf, dass sie in Richtung Ozean gezeigt hatte. Beide Mitglieder ihres winzigen Publikums ließen leichte Ratlosigkeit erkennen, woraufhin Melissa ihr charmantestes Lächeln an Miss Philpot richtete. Sie war wirklich gespannt, ob es bei der Frau irgendeine Wirkung zeigen würde, doch das war nicht der Fall.
„Oh, bitte entschuldigen Sie. Ich glaube, ich habe gerade ein wenig die Orientierung verloren.“ Dann zeigte sie auf den Pfad, auf dem sie vor wenigen Augenblicken hierher gelaufen war. „Ich wohne zurzeit in Halliburton Manor.“
Miss Philpot sah sie mit großen Augen an. „Halliburton Manor?“
„Ja, das ist richtig.“ Warum sah diese Frau sie bloß so merkwürdig an?
„Ah … verstehe. Wie ungewöhnlich, dass wir davon noch gar nichts gehört haben.“
Mel fragte sich, ob man von ihr erwartete, dass sie eine Bekanntmachung in der örtlichen Zeitung veröffentlichen würde oder ob sie mit dem Stadtausrufer Kontakt aufnehmen sollte. „Ich vermute, es hängt damit zusammen, dass ich das Ganze über einen Agenten in London laufen ließ und mein eigenes Dienstpersonal mitgebracht habe.“
„Aha. Und Sie sind jetzt ganz … ähm … allein dort?“
Melissa musste sich den Anflug von Verärgerung verkneifen, den diese forschenden Fragen bei ihr auslösten. Das war genau jene Art von Neugier, mit der sie in einem so kleinen Dorf hätte rechnen müssen. „Ich …“
„Mister Stanwyck!“, ertönte in diesem Moment eine Stimme, die aus Richtung des Cottages kam. „Wie schön Sie zu sehen. Aber Agnes, warum lässt du denn den Reverend einfach da stehen und … oh“, unterbrach sich die Frau, als sie Melissa bemerkte. „Das tut mir aber leid. Ich habe Sie da gar nicht gesehen.“
„Gloria, das ist die neue Bewohnerin in Halliburton Manor: Miss Griffin. Miss Griffin, meine Schwester Miss Gloria Philpot.“
Mel hätte auch ohne Erklärung gewusst, dass diese Frau Miss Philpots Schwester war, schließlich sahen sie sich so ähnlich wie ein Ei dem anderen.
„Halliburton Manor?“ Miss Gloria schaute sehr interessiert in Melissas Richtung. Was war bloß so bemerkenswert daran, für welche Unterkunft im Dorf sie sich entschieden hatte?
Miss Gloria setzte zum Reden an, da sie zweifellos die Befragung übernehmen wollte, doch der Kaplan nutzte die winzige Pause, um das Wort zu ergreifen und die Unterhaltung in eine von ihm gewünschte Richtung zu lenken. „Sie sind doch sicherlich in Richtung Stadt unterwegs, nicht wahr, Miss Griffin? Vielleicht darf ich Ihnen ja den Weg dorthin zeigen.“
Mel hatte das Gefühl, dass er sie irgendwie … hoffnungsvoll anschaute.
Die Damen Philpot dagegen machten einen verlassenen Eindruck.
„Aber, Mr Stanwyck, sind Sie nicht gerade eben aus der Stadt zurückgekehrt? Möchten Sie nicht auf eine Tasse Tee hereinkommen?“ Während sie redete, warf die ältere Miss Philpot Melissa einen vorwurfsvollen Blick zu, als wäre Mel eine Sirene, die den Kaplan zu einem dicht unter der Wasseroberfläche befindlichen Riff locken wollte.
„Und ich hatte gedacht, Sie würden sich unser Rankgitter für die Wisterien ansehen, das ein bisschen ausgebessert werden muss“, fügte Miss Gloria hinzu, als der Kaplan nicht auf den angebotenen Tee reagierte.
Mel konnte nicht anders als einzuwerfen: „Ja, Mister Stanwyck. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn ich Sie um den Tee bringen würde. Und um das Rankgitter.“
Ein Winkel seines wohlgeformten Mundes zuckte. „Ich werde einfach Miss Griffin in die Stadt begleiten und ihr bei dieser Gelegenheit die Kirche zeigen. Ich werde im Hui wieder zurück sein. Keine Sorge; um das Rankgitter werde ich mich kümmern, noch bevor es dunkel wird.“ Noch bevor Mel wusste, wie ihr geschah, hatte er seine Hand in ihren Ellbogen gelegt und sich gemeinsam mit ihr umgedreht, um sich auf den Weg zu machen.
„Auf Wiedersehen, die Damen. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen“, rief sie den beiden verdutzt dreinschauenden Frauen über die Schulter zu. Sie wandte sich dem Reverend zu, der ein flottes Tempo an den Tag legte, als wollte er schnell Abstand zu den beiden enttäuschten Schäfchen seiner Herde schaffen. „Und ‚im Hui‘, Mr Stanwyck? Ich glaube nicht, dass ich eine solche Formulierung jemals irgendwo gehört habe.“
Er lachte leise und nahm die Hand von ihrem Arm. „Wie kommt es, dass ich Eindruck habe, dass es Ihnen ein bisschen Spaß macht, Unruhe zu stiften, Miss Griffin?“
„Auf jeden Fall flüchte ich nicht vor Unruhestiftern, anders als vor boshaften, kleinen, gefiederten Kobolden mit spitzen Schnäbeln.“
„Tss, tss, tss“, machte er. „Sie werden mir diesen Versprecher noch lange vorhalten, nicht wahr?“
„Mag sein.“
Er warf ihr einen gespielt todernsten Blick zu. „Irren ist menschlich, aber Vergeben ist göttlich, Miss Griffin.“
„Ich bedauere, aber das Irren ist mir weitaus vertrauter, Mr Stanwyck.“ Der Mann konnte ja nicht ahnen, wie sehr das den Tatsachen entsprach.
„Hmm, verstehe. Nun, in dem Fall sollte ich Sie besser warnen, dass Hector hier in der Gegend sehr beliebt ist. Es würde einen Schatten auf Ihren Ruf werfen, wenn jemand hören würde, wie Sie Schmähungen seines Charakters oder seiner … ähm … Statur verbreiten.“
Mel musste lachen. „Nun, ich möchte keineswegs einen zweifelhaften Ruf erlangen.“
„Das glaube ich Ihnen.“ Als er sie dabei angrinste, sah er aus wie der eine Mann in ganz Großbritannien, der am allerwenigsten ein Geistlicher sein konnte.
„Ich fürchte, wir haben uns auf den Weg gemacht, bevor es Miss Philpot möglich war, Ihnen alle maßgeblichen Einzelheiten zu entlocken.“
„Entlocken Sie ruhig weiter, Reverend.“
„Wann sind Sie in Halliburton Manor eingetroffen, Miss Griffin?“
„Erst gestern.“
„Ah. Das erklärt, wieso keine der beiden Misses Philpot von Ihrer Ankunft wusste. Beide gehen immer früh schlafen. Mit den Hühnern, wenn man so will.“
Mel warf ihm einen Seitenblick zu, den sie besser hätte bleiben lassen. Mit seinem auffallenden weißblonden Haar, den großen blauen Augen, welche dunkle Wimpern säumten, und den klassischen Gesichtszügen stellte er wirklich ein hinreißendes Exemplar Mann dar. Das war zumindest ein Gebiet, von dem sie behaupten konnte, sich damit auszukennen. Auch wenn er sie an einen Engel erinnerte, steckte unter dem locker sitzenden Anzug ein Mann mit Muskeln so stark wie ein Stier. Sie wusste das, weil sie von seinen Armen umschlossen gewesen war.
Der Umstand, dass er die schlichte Kleidung eines Geistlichen trug, machte sein gutes Aussehen nur umso verlockender. Oder war es nur der Reiz des Neuen?
Auch wenn sich Melissa mit Männern besser auskannte, als sie es eigentlich wollte, hatte sie nur selten etwas mit dem anständigen Typ zu tun gehabt, und mit einem Geistlichen hatte sie bisher noch nie auch nur ein Wort gesprochen – zumindest nicht wissentlich. Neben ihm herzugehen, machte sie aus irgendeinem Grund … nervös. Wahrscheinlich lag es nur daran, dass er in keine der Kategorien passen wollte, in die sie Männer für gewöhnlich einteilte. Oder es hing damit zusammen, dass sie damit rechnete, jeden Moment von Gottes Zorn getroffen zu werden, weil sie die Dreistigkeit besaß, sich mit einem seiner Auserwählten zu unterhalten.
„Passen Sie auf, Miss Griffin.“ Seine starke Hand kehrte an ihren Ellbogen zurück, damit der Kaplan sie um eine Baumwurzel herum lotsen konnte, die weit aus dem Boden herausragte.
„Vielen Dank.“ Sie sollte wohl besser darauf achten, wohin sie ging, anstatt den Mann an ihrer Seite in irgendeine Schublade stecken zu wollen.
„Haben Sie einen Termin in der Stadt wahrzunehmen oder hätten Sie noch einen Moment Zeit, um sich unsere schönen Kirchenfenster anzusehen?“, fragte er, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander her gegangen waren.
Zeit hatte sie im Überfluss, aber wollte sie deshalb auch in eine Kirche gehen? Immerhin hatte sie nie die Absicht gehabt, irgendeinen Gottesdienst zu besuchen, geschweige denn mit irgendjemandem aus der Stadt Kontakt zu haben. Aus genau diesem Grund hatte sie ja ein Haus gemietet, das außerhalb der Stadt lag.
„Unsere Fenster gehören zu den schönsten in diesem Teil von England“, fügte er hinzu. Der Humor in seiner Stimme ließ sie noch einen Blick wagen. Oh Gott! Seine Augen funkelten sie förmlich an! Sollten die Augen eines Kaplans eine Frau anfunkeln? Ganz sicher nicht.
„Nun, da kann ich ja wohl kaum Nein sagen, nicht wahr?“, erwiderte Mel, wobei ihr Tonfall etwas spitzer klang als beabsichtigt. „Aber lange kann ich nicht bleiben, weil ich mich später noch mit meiner Tante treffe.“
„Ich werde Ihnen nur die herausragendsten Fenster zeigen, damit ich Sie rechtzeitig bei Ihrer Tante abliefern kann.“
„Oh, Sie müssen mich nicht bei ihr abliefern. Ich werde einf…“
„Ich kann Sie auch dem Vikar, Mr Heeley, vorstellen, falls er im Haus ist.“
„Nein, die Mühe müssen Sie sich nun wirklich nicht machen.“ Großer Gott! Wenn sie eines nicht brauchte, dann noch mehr Geistliche. Es würde einem Wunder gleichkommen, wenn sie nicht zur Salzsäule erstarrte oder sich in Rauch auflöste oder irgendeiner anderen göttlichen Strafe zum Opfer fiel. Sie musste aber auch zugeben, dass sie noch nie in der Bibel gelesen hatte und daher auch nicht wusste, welche Strafen sie erwarten würden.
„Es wäre mir ein Vergnügen“, versicherte er ihr und unterbrach ihre wirren Gedankengänge. Doch im gleichen Moment wurde ihr bewusst, dass sie sich seine Fenster ansehen und von ihm in die Stadt gebracht werden wollte. Wie lange war es her, seit sich ein Mann das letzte Mal so sehr um ihre Sicherheit gesorgt hatte, dass er sie irgendwohin begleiten wollte? Oder besser gesagt: jemand, außer ihrem lieben Freund Joss? Vielleicht wäre es schön, so viel Fürsorge zu erfahren. Diese Erkenntnis bewirkte nur, dass sie sich über ihr eigenes Verhalten ärgerte. Schließlich war sie ganz bestimmt nicht hierher aufs Land gekommen, um mit dem ersten Mann zu schäkern, der ihr über den Weg lief – und schon gar nicht mit einem verdammten Vikar!
„Gehört es eigentlich zu den anstrengenden Pflichten des Kaplans, jeden Besucher von New Bickford persönlich durch die ganze Stadt zu führen?“
„Oh ja. Ich bin hier für viele Dinge zuständig: Ich trinke Tee mit den Gemeindemitgliedern, ich repariere Rankgitter, gebe mit unseren Kirchenfenstern an, rette junge Frauen vor gefiederten Raubtieren – ah, da wären wir. Nach links, wenn ich bitten darf, Miss Griffin.“ Er zeigte auf ein kunstvoll gefertigtes Tor in einer alten Steinmauer. „Heute ist es nur noch der Hintereingang zum Friedhof, aber ursprünglich war es das Hauptfriedhofstor, das Leichentor.“ Er hob den schweren Riegel in Form eines Hufeisens an und drückte das Tor auf. „Es ist ein seltenes Beispiel für den gotischen Stil.“ Nachdem sie ihm nach drinnen gefolgt war, zog er das Tor zu. „Damals nannte man es auch das Wiederauferstehungstor.“
Melissa bemerkte, dass sie sich auf einem mit verwitterten und teils umgestürzten Grabsteinen übersäten Friedhof befand. „Warum wird denn dieser Durchgang nicht mehr benutzt?“, fragte sie irritiert. „Und was genau ist ein Leichentor?“
Er zeigte auf die massiven Balken über dem Tor. „Das war ein Ort, an dem der Sarg vor der Beerdigung geschützt aufbewahrt werden konnte. Daher auch die ungewöhnliche Substanz des Tors. Der Pfad, auf dem wir hergekommen sind, wurde früher als Leichenweg bezeichnet.“
Mel schauderte.
„Ist Ihnen kalt, Miss Griffin?“ Er schaute sie besorgt an, doch in seinen Augen lauerte wieder Humor.
„Nein, das war gerade lediglich ein Anfall von Gänsehaut, also genau das, was Sie auch erwartet haben, nachdem Sie mir diese gruseligen Informationen anvertraut haben.“ Sie zog eine Augenbraue hoch und sah ihn forschend an. „Gestehen Sie es, Mister Stanwyck. Sie wollten, dass ich eine Gänsehaut bekomme.“
Als er daraufhin lachte, konnte sie auch noch seine ebenmäßigen weißen Zähne auf die Liste aller Dinge setzen, die dazu beitrugen, ihn zum perfekten Mann zu machen. „Sie müssen es mir nachsehen, aber ich habe wenig, über das ich lachen kann.“
Irgendwie wollte Mel ihm das nicht abnehmen.
„An diesem Punkt meiner Führung weise ich auf unseren großartigen Kirchturm hin.“ Er beugte sich so vor, dass er irgendetwas aus ihrem Blickwinkel betrachten konnte, dann streckte er den Arm aus und zeigte nach oben. „Können Sie über der großen Kastanie dort die Spitze des Kirchturms ausmachen?“
Melissa nahm vor allem die Hitze, die sein Körper ausstrahlte, und den sauberen, männlichen Geruch wahr. Sie ignorierte das ungewollt erwachende Interesse, das sich in ihr regte, und folgte der Richtung, in die er zeigte. Dort war ein wenig grauer Stein zu erkennen, der mit einer Höhe von vielleicht einem Fuß die Baumkrone überragte.
„Die Kirche und das Tor wurden gleichzeitig gebaut?“, fragte sie, wobei sie deutlich ihre Halsschlagader pulsieren spürte. Sie war froh, als er sich aufrichtete und wieder auf mehr Abstand zu ihr ging.
„Sie haben einen ausgezeichneten Blick für Architektur, Miss Griffin.“
„Und Sie haben sich soeben der Schmeichelei schuldig gemacht, Mr Stanwyck.“
Er lachte wieder so warmherzig wie zuvor und Melissa kam zu dem Schluss, dass ein solch samtiges Lachen einen angenehmen Zeitvertreib bieten konnte. Ehe sie sich aber genauer mit diesem beunruhigenden Gedanken befassen konnte, kam ein anderer Mann in der Kleidung eines Geistlichen auf sie zu.
„Ah, Mr Stanwyck. Guten Morgen.“
„Ich hatte gehofft, dass wir uns begegnen würden, Vikar. Mr Heeley, darf ich Ihnen Miss Griffin vorstellen? Sie ist neu in unserer Gegend und hat sich soeben im Halliburton Manor niedergelassen.“
Der Vikar, ein Mann Ende sechzig, Anfang siebzig, der fast nur Haut und Knochen war, versteifte sich für einen Moment. Es war eine Reaktion auf etwas, das der Kaplan gesagt hatte, und was sie zuvor schon bei den Philpots beobachtet hatte. Er fasste sich aber gleich wieder und richtete seine tiefliegenden grauen Augen auf sie, dann verzog er den Mund zu einem freundlichen Lächeln. „Willkommen in New Bickford, Miss Griffin. Ich bin sehr erfreut zu hören, dass Halliburton Manor wieder einen Mieter hat.“
„Vielen Dank, Mr Heeley.“
„Ich bin Miss Griffin ganz in der Nähe des Philpot-Cottages begegnet. Es … ähm … fiel ihr ein wenig schwer, dort vorbeizukommen.“
Der Vikar lachte glucksend. „Ah, Hector, richtig?“ Er nickte, als benötige er keine Antwort auf seine Frage. „Er ist ein leidenschaftlicher Beschützer der alten Schule. Ein wirklich ausgezeichneter Hahn.“
Der Kaplan warf ihr einen Blick zu, der so viel ausdrückte wie: Hab ich’s nicht gesagt?
Mel setzte zu einer Erwiderung an.
„Da sagen Sie etwas Wahres, Vikar“, warf Mister Stanwyck ein, da es Melissa nicht gelingen wollte, die Worte zu finden, die sie brauchte, um ihre Meinung über Hector auszudrücken. Er warf ihr einen Seitenblick zu und wippte leicht auf den Fersen. „Hector ist einer der Titanen.“
„Und wie lange werden Sie bei uns bleiben, Miss Griffin?“, fragte der Vikar und veranlasste sie, den Kaplan nicht länger argwöhnisch zu mustern, der sie ein weiteres Mal aufzog.
Es war an der Zeit, die Geschichte zu verbreiten, die sie sich zurechtgelegt hatte. „Bis zum Ende des Sommers.“ Sie räusperte sich und redete weiter. „Im letzten Winter war ich krank und nun bin ich mit meiner Tante hergekommen, um die frische Landluft zu genießen.“
„Ah, verstehe. Sie kommen aus der Großstadt?“
„Ja, wir kommen beide aus London.“
„Nun denn“, sagte der Vikar mit Nachdruck, während er sich die Hände so rieb, als hätte er irgendeine Aufgabe erledigt, deren Überreste er sich abwischen wollte. „Ich weiß, ich bin voreingenommen, aber ich glaube, es gibt in ganz Großbritannien keine Stadt, die besser geeignet ist, um Frieden und Genesung zu finden. Wir stehen uns in unserer Gemeinde alle sehr nahe, aber jeder hier respektiert die Privatsphäre des anderen.“
Melissa hoffte, dass das stimmte, denn jeder, der ihrer Geschichte zu sehr auf den Grund gehen wollte, würde auf Dinge stoßen, die er lieber nicht entdecken sollte.
„Nun gut, ich lasse Sie und Mr Stanwyck weiter Ihren Rundgang machen. Es war mir ein Vergnügen, Miss Griffin. Wir sehen uns am Sonntag.“
Sie reagierte mit einem unverständlichen Laut, der alles bedeuten konnte. Als der Vikar schließlich außer Hörweite war, wandte sie sich dem Kaplan zu. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass die Leute überrascht reagieren, wenn sie hören, dass ich in Halliburton Manor lebe.“
Seine kantigen, klar gezeichneten Wangenknochen wirkten noch verlockender, wenn sie so wie jetzt eine leichte Rötung aufwiesen. „Nun, bedauerlicher wurde die letzte Bewohnerin von einem recht tragischen Ende ereilt.“
Mel ließ das Kinn leicht sinken, als er nicht weiterredete. „Und?“
„Sie war Witwe. Ihr Ehemann wurde …“ Er verzog den Mund. „Also, er war bei einem Militäreinsatz in Indien gefallen. Mrs Symes nahm sich das Leben.“
Das war zwar eine traurige Geschichte, aber sie erklärte nicht, wieso …
„Mrs Symes hatte ihren Ehemann seit elf Monaten nicht mehr gesehen.“ Nach kurzem Zögern fügte er an: „Als sie starb, erwartete sie ein Kind.“
Aah, das erklärte die seltsamen Blicke. Und es war zugleich Grund genug für sie, vor Wut zu kochen. „Ich verstehe. Also eine Tragödie und ein Skandal.“ Sie ließ einen Blick folgen, der klar machte, dass sie es ernst meinte. „Oder wird es von den anständigen Bürgern hier vielleicht gar nicht als Tragödie angesehen?“
Verdutzt blinzelte er. „Der Tod ist immer ein Tragödie, Miss Griffin.“ Das war zwar eine Antwort, aber nicht auf die Frage, die sie gestellt hatte. Er beugte sich vor und sie sah, dass sich Sorge wie ein Schatten über seine blauen Augen gelegt hatte. „Sie sehen ein wenig erschöpft aus. Ich glaube, ich habe Sie mit meiner Führung über Gebühr strapaziert.“
Sie schluckte die Verärgerung über die Geschichte, die er ihr erzählt hatte, hinunter. Als die Philpots so eigenartig darauf reagiert hatten, dass sie in genau dieses Haus eingezogen war, hatte Melissa ihnen anmerken können, dass irgendwas nicht stimmte. Diesen Blick hatte Melissa schon viel zu oft am eigenen Leib erfahren müssen.
Reiß dich zusammen, Mel!
Ja, das sollte sie besser auch machen. Sie hatte von vornherein gewusst, dass in Gemeinden wie dieser Engstirnigkeit weit verbreitet war, und trotzdem war sie hergekommen.
Du bist hergekommen, um Ruhe zu finden und um wichtige Entscheidungen zu treffen. Du bist nicht hier, um die Vorurteile der Landbevölkerung zu bekämpfen.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Danke für Ihre Sorge, aber es geht mir gut. Allerdings muss ich mich jetzt auf den Weg machen, sonst bin ich zu spät. Vielleicht können Sie mich ja bei Gelegenheit durch die Kirche führen.“ Allerdings würde sie darauf auch liebend gern verzichten.
Nein, die Geschichte, die ihr eben zu Ohren gekommen war, machte auf fast schmerzhafte Weise deutlich, dass sie sich hier mit niemandem anfreunden musste. Es wäre sogar alles andere als eine gute Idee. Und sich mit einem Geistlichen anfreunden, allen voran mit diesem attraktiven, netten und neugierigen Kaplan? Das wäre wirklich das Verheerendste, was sie tun könnte. Für sie selbst genauso wie für ihn.
2. Kapitel
Magnus’ Kollar fühlte sich steif an und kratzte am Hals, als er Miss Griffin hinterherschaute, wie sie zusammen mit ihrer Tante Mrs Daisy Trent die enge Hauptstraße – und zugleich die einzige Straße überhaupt – entlangging.
Mrs Trent hatte im winzigen örtlichen Gasthaus, The Sleeping Ferret, auf ihre Nichte gewartet und dabei in ihrem privaten Salon einen Tee genossen.
Und was für eine Tante diese Mrs Trent war! Ganz andere als Magnus’ zahlreiche eigene Tanten, von denen nicht eine groß oder vollbusig war oder einen so forschen Blick hatte. Außerdem vermutete er, dass Mrs Trent sich schminkte. Da er sich damit aber nicht genügend auskannte, konnte er so etwas nicht mit Gewissheit sagen.
Die beiden Frauen ähnelten sich in keiner Weise. Miss Griffin war eine zierliche, blasse Göttin mit kastanienroten Haaren und von fast himmlischer Schönheit. Sie wirkte fast zu zerbrechlich für diese Welt. Ihre Tante dagegen war der Inbegriff von Urtümlichkeit. Das lag nicht nur an ihrem üppigen Körper, sondern auch an ihren vollen Lippen, die so reizend lächelten, und an dem wissenden Funkeln in ihren Augen. Magnus kam es so vor, als würden sie ihn genauestens von Kopf bis Fuß mustern und ihn dabei mit ihren Blicken ausziehen. Es war ein eigenartiges Gefühl und er war sich sicher, dass er sich das nur eingebildet hatte.
Nachdem die Frauen sich von Magnus verabschiedet hatten, waren sie beide zu Cooper’s Mercantile gegangen. Zwar sah sein Plan eigentlich nicht vor, sich vor dem Geschäft länger aufzuhalten und den beiden Neuzugängen in New Bickford durch die Rautenfenster nachzuspionieren, andererseits hatte er es auch nicht besonders eilig, von dort wegzukommen.
Magnus ging gerade in Gedanken noch einmal seine kurze Unterhaltung mit der ergötzlichen Miss Griffin durch, als ihn eine Stimme dicht hinter ihm aus diesem angenehmen Zeitvertreib holte.
„Mr Stanwyck, hätten Sie wohl einen Moment Zeit für mich?“
Er drehte sich um und sah, dass Mrs Pilkington zusammen mit ihren drei Töchtern auf ihn zukam. Er musste sich ein Aufstöhnen verkneifen. „Ah, einen guten Tag wünsche ich Ihnen, Ma‘am.“
Egal, wen man fragte, ob Magnus wohl arrogant oder stolz oder eitel wäre – selbst, wenn diese Person Magnus nur flüchtig kannte –, es würde jeder mit einem herzlichen Lachen reagieren. Und es stimmte auch: Er war auf sein Erscheinungsbild nicht stolz, da er es als das Ergebnis zweier gut aussehender Elternteile betrachtete, nicht aber als das Ergebnis eigener Bemühungen.
Er hatte nie danach gestrebt, der Inbegriff der feinen Gesellschaft zu sein, und seine Kleidung war schon vor seinem Beitritt in den Klerus stets zweckmäßig und bequem gewesen, aber keinesfalls modisch. Sein einziger wirklicher Beitrag zu seinem Aussehen bestand darin, seinen Körper gesund und in Form zu halten, was erfreulicherweise schon dadurch beiläufig erreicht wurde, dass er ein aktiver Landkaplan war.
Aber nur weil Magnus nicht eitel war, hieß das nicht zwangsläufig, dass er sich seiner Wirkung auf das andere Geschlecht nicht bewusst war. Schon früh hatte er einsehen müssen, dass das übermäßige Interesse an seiner Person eine Belastung für einen Kaplan war, der nicht in der Lage war, zu heiraten.
Sorgen musste er sich keine machen, da er sich in der Lage sah, allen Verlockungen zu widerstehen, die ihm in den Weg gelegt wurden. Zu schaffen machte ihm allerdings die Erschöpfung, die ihn heimsuchte, weil er sich gegen so viele klammheimliche und unerbittliche Scharmützel zur Wehr setzen musste.
So wie beispielsweise bei Mrs Pilkington und ihren drei Töchtern.
„Mister Stanwyck“, begann Mrs Pilkington in ihrem üblichen schrillen Tonfall, während ihre Töchter ausschwärmten und um ihn herum in Stellung gingen. Die älteste Pilkington-Tochter nahm ihre Position an seiner linken Flanke ein, die mittlere Schwester stand rechts, während die jüngste sich irgendwo hinter ihm aufhielt – ein Manöver, das sie sich bei Hannibals Truppenbewegungen während der Schlacht von Cannae abgeguckt haben mussten.
Magnus war stolz darauf, jedem Gegner von Angesicht zu Angesicht zu begegnen und nicht zurückzuweichen. „Guten Tag, Mrs Pilkington.“ Dann drehte er sich ein wenig zur Seite und nickte den Mädchen zu. „Die Damen.“
„Ich habe von Ihnen noch gar keine Rückmeldung auf unsere Einladung zur Sommersoiree erhalten, Mr Stanwyck.“
Ach ja, die verdammte Soiree.
Magnus war zu der Ansicht gelangt, dass der Begriff Soiree nur anderer Ausdruck für Auktion des lokalen Kaplans war.
„Ich muss mich für meine Nachlässigkeit entschuldigen, was meine Reaktion angeht, Mrs Pilkington. Vergessen habe ich Ihre Einladung keineswegs, allerdings ist es bedauerlicherweise so, dass ich noch nicht genau weiß, an welchem Tag mein Bruder heiraten wird, und dieses Ereignis darf ich um keinen Preis versäumen.“
Mrs Pilkingtons blasse Augen, die an die von Reptilien erinnerten, wurden größer. „Ist der fragliche Bruder womöglich der Earl of Sydell?“
Magnus presste die Lippen zusammen. Die Verbindungen, über die seine Familie verfügte, machten ihn nur umso mehr zu einem begehrten Heiratskandidaten. „Nein, Ma‘am, es geht um meinen zweitältesten Bruder.“
„Lord Michael?“
Die Tatsache, dass sie auch den Namen dieses Bruders kannte, ließ ihm einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Es stand außer Zweifel, dass sie ein Exemplar seiner Familiengeschichte vorliegen hatte.
Dass sie nicht in der gesamten Grafschaft auch von ihm als „Lord Magnus“ sprach, lag nur daran, dass der Vikar kurz nach Magnus‘ Einführung als Kaplan darauf hingewiesen hatte, dass „Mann Gottes“ der einzige Titel war, den er noch tragen durfte, da jeder andere Titel dahinter zurückzustehen hatte, sogar der des Königs.
„Ja, es ist mein Bruder Michael, der ba…“ Eine Bewegung auf der anderen Straßenseite lenkte seine Aufmerksamkeit dorthin. Es war Miss Griffin mit ihrer ungewöhnlichen Tante, die soeben den Kaufladen verließen und beide in Papier gewickelte Päckchen trugen.
„Wer ist das?“
Er wandte sich wieder an Mrs Pilkington, deren wachsamer Blick nicht von den beiden Frauen abließ.
„Das ist Miss Griffin mit ihrer Tante, Mrs Trent.“
„Ah, die neuen Mieter in Halliburton Manor.“
„Sie wissen über sie Bescheid?“, fragte er ein wenig überrascht.
Sie reagierte mit einem aufreizend überheblichen Lächeln. „Mr Pilkington hatte maßgeblich daran teil, das Haus für die neuen Mieter herzurichten.“
Mr Pilkington war im Baugewerbe tätig und es war ihre vollmundige Art zu sagen, dass ihr Ehemann in dem lange Zeit leer stehenden Cottage ein paar Reparaturen ausgeführt hatte.
„Sie ist aus London hergekommen, um unsere gesunde Luft zu genießen“, sagte Magnus.
Genau in diesem Moment warf Mrs Trent den Kopf in den Nacken und lachte recht rau, womit sie die Aufmerksamkeit einiger Dorfbewohner auf sich lenkte.
Mrs Pilkington rümpfte angesichts dieser ungehemmten Zurschaustellung von Ausgelassenheit die Nase. „Ich hoffe sehr, dass sie nicht von der Sorte ist, die für jede Menge Trubel sorgt.“
Ihre Tochter Emily – die jüngste und zugleich die Einzige, die nicht diesen kämpferischen Glanz in den Augen hatte – wand sich angesichts der harschen Äußerung ihrer Mutter. „Oh, Mama.“
Sofort drehte Mrs Pilkington den Kopf herum und kniff die Augen zusammen, während ihre lange Nase zu zucken begann. Das Bild, das sie so abgab, wies eine verblüffende Ähnlichkeit zu dem Frettchen auf dem Schild des Pubs auf, unter dem sie bedauerlicherweise gerade stand. Ihrer Tochter warf sie einen frostigen Blick zu. „Ja, Emily?“
Die Tochter starrte sie an und hielt dem Blick der Mutter genauso stand, wie es ein Kaninchen tat, das sich einem Falken gegenüber sah.
„Ich hoffe, Sie entschuldigen mich, Mrs Pilkington“, ging Magnus schnell dazwischen, „aber ich muss weiter, sonst komme ich zu spät zu Mrs Tisdale.“
Ein ganz und gar unchristliches Schnauben entfuhr der Frau. „Ach, sie schon wieder? Eine knarrende Tür hält doch am längsten.“
Magnus ignorierte die Verärgerung, die ihre unfreundliche Bemerkung bei ihm auslöste, und verkniff sich die Erwiderung, Mrs Tisdale sei keine knarrende Tür, sondern eine kranke und einsame alte Dame. Stattdessen lächelte er nur, verbeugte sich kurz und ging dann los. Erfreulicherweise war er in die gleiche Richtung unterwegs wie Miss Griffin und ihre Tante, allerdings hatte er nicht vor, die beiden noch einzuholen.
Der Weg zum winzigen Cottage von Mrs Tisdale führte ihn kurz nach Verlassen der Stadt weg von der Route, auf der Miss Griffin unterwegs war, doch aus seinen Gedanken war sie damit längst noch nicht verschwunden.
Magnus sagte sich, dass sein Interesse an ihr eine für jeden Mann normale Reaktion war. Schließlich konnte er sich nicht daran erinnern, jemals einer Frau begegnet zu sein, die so wunderschön war wie Miss Griffin. Neben ihrem faszinierenden kastanienroten Haar, dem cremigen Teint und einer bemerkenswert üppigen Figur, die von ihrem Ausgehkostüm nur noch stärker betont wurde, war da auch ihre katzenartige Oberlippe, die ihre volle Unterlippe regelrecht sündig erscheinen ließ. Und als wäre das alles nicht bereits genug gewesen, funkelte in ihren Augen müder Humor, der ihm sofort einen Stich in die Brust versetzt hatte.
Um ehrlich zu sein, der Stich hatte ihn auch an ein paar anderen Körperpartien erwischt. Nur weil er ein Diener Gottes war, hieß das nicht auch, dass er außerstande war, auf Schönheit und weiblichen Charme zu reagieren.
Magnus schob den Tragegurt der abgenutzten Ledertasche zurecht, die er immer bei sich trug. Die Gläser und Flaschen darin sorgten dafür, dass sie heute schwerer war als üblich. Die Frau des Vikars hatte ihn mit Kalbsfußgelee und einer Kräutersalbe auf den Weg geschickt, deren Lieferung sie einem Gemeindemitglied für heute versprochen hatte. Magnus brachte es nicht übers Herz, Mrs Heeley zu sagen, dass ihr Gelee meistens von einem Haushalt zum nächsten wanderte und letztlich im Futtertrog für die Schweine auf einem abgelegenen Bauernhof landete.
Mrs Heeley galt bei vielen als die schlechteste Köchin der Grafschaft, vielleicht sogar von ganz Großbritannien. Aber sie war auch eine so gutherzige Frau, dass niemand ihr mit der Wahrheit wehtun wollte. Und so machte sie, sehr zum Ärger ihrer Schäfchen, Jahr für Jahr ihr Körpergewicht in Form von grässlichen Marmeladen und Gelees ein.
„Ich weiß nicht, wie du das erträgst. All diese Leute“, hatte Magnus‘ ältester Bruder Cecil zu ihm gesagt, als Magnus ihn das letzte Mal besucht hatte.
Obwohl er selbst der jüngste Bruder war, standen sich Cecil und er von allen sechs Brüdern immer noch am nächsten. Magnus empfand diese beiderseitige Zuneigung als amüsant und seltsam zugleich, denn sie beide hatten schlichtweg nichts gemeinsam. Cecil hatte keine Zeit für andere Menschen und ging ihnen sogar aus dem Weg, wo er nur konnte, während Magnus selten einmal jemandem begegnete, den er überhaupt nicht ausstehen konnte.
„Welche Leute meinst du damit, Ceec?“, hatte Magnus ihn gefragt.
„Die meine ich: die eingebildeten Kranken, die einsamen alten Pensionäre, die verzweifelten Jungfern, die niemand will. Alle buhlen sie um deine Aufmerksamkeit und klammern sich an dich wie Kletten.“
Magnus musste jetzt lächeln, als er sich an Cecils Entsetzen erinnerte. Sein Bruder mochte die Jagd, er mochte Hunde und Pferde. Darüber hinaus schien ihn in der Welt um ihn herum nichts zu kümmern. Das war alles andere als die beste charakterliche Voraussetzung für den Mann, der eines Tages das Marquisat mit seinen zahlreichen Anwesen und vielen Angestellten erben würde.
Die Eltern hatten schon vor langer Zeit verzweifelt jeden Versuch aufgegeben, ihn zumindest solange von seinen sportlichen Interessen abzulenken, um zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen. Es war keineswegs so, dass man Cecil als Herumtreiber bezeichnen konnte, schließlich betrank er sich nicht und er fand auch keinen Gefallen an Glücksspielen. Es war einfach nur so, dass er weder schäkern noch tanzen wollte, und Partys waren auch nichts für ihn.
Als Magnus nicht schnell genug Cecils Worte zurückgewiesen hatte, war das für seinen Bruder Anlass genug gewesen, einfach weiterzureden: „Ich verstehe dich nicht, Mag. Du hast Briar House und ein gutes Stück Land dazu. Mit ein paar verdammt guten Fährten“, ergänzte er, da es für ihn nichts Wichtigeres als die Fuchsjagd gab. „Du musst dir nicht dieses Kaplansgehabe antun.“
Seit er mit fünfzehn Jahren beschlossen hatte, Geistlicher zu werden, hatte Magnus immer und immer wieder mit jedem die gleiche Diskussion führen müssen. Mit zwanzig hatte er es schließlich aufgegeben, diesen Schritt zu erklären. Er war der Erste und – soweit sie alle zurückdenken konnten – vermutlich auch der Einzige in seiner Familie, der Interesse an einer Karriere zeigte, wie sie üblicherweise – und dann meistens auch nur widerwillig – von zweitgeborenen Söhnen eingeschlagen wurde.
Zwar hatte Magnus einfach aufgehört, den anderen zu erklären, warum er dieser Berufung folgte, dennoch musste er sich nach wie vor rechtfertigen, wieso er so weit von zu Hause weg gegangen war, um diesen Beruf auszuüben.
„Du musst nicht gleich bis nach unten in den Süden gehen, um ein einfacher Kaplan zu sein.“ Cecil hatte dabei das Wort Süden so ausgesprochen, als würde es sich um einen vulgären Fluch handeln, was es für die meisten Leute aus der Gegend um Yorkshire wohl auch war.
„Das weiß ich, Ceec. Aber mir gefällt New Bickford und ich mag Reverend Heeley. Und so schwer es dir auch fällt, mir das zu glauben, aber ich bin gern Kaplan und ich mag es, mich um alte Leute zu kümmern und um Jungfern, die keiner haben will, und … wie hast du sie noch genannt?“
Cecil war auf diese spitze Bemerkung nicht eingegangen. „Wie zum Teufel ein Mann so viel Zeit mit elendem Beten verbringen und dabei wie ein Mönch leben kann, werde ich nicht begreifen.“
Die Bemerkung über ein Leben wie ein Mönch hatte Magnus überrascht, denn er kannte keinen Mann, der seiner Geliebten treuer war als Cecil seiner Alice Thompkins, einer älteren Witwe, die in einem der Cottages auf dem Anwesen von Cecils und seinem Vater lebte. Magnus nahm an, dass sein Bruder Mrs Thompkins schon vor Jahren geheiratet hätte, wenn er der Meinung gewesen wäre, dass seine Eltern es ihm erlauben würden.
Was Magnus‘ andere Brüder – Michael, Henry, James und Philip – anging, so waren diese allesamt von einem völlig anderen Schlag als Cecil. Geschichten über die wilden jungen Söhne des Earls machten in jedem Schankraum in West Riding die Runde.
Gott, was hatten die vier Magnus verhöhnt, als er sechzehn wurde und immer noch Jungfrau war. Es war ein Beleg für seinen unglaublichen Starrsinn – von dem seine Mutter behauptete, er sei seine einzige Sünde –, dass er nicht zugelassen hat, sich von den anderen in ein Bordell schleppen zu lassen. Er war standhaft geblieben, und er war auch dann keusch geblieben, als andere Männer aus seinem Seminar Bordelle besuchten oder Geliebte hatten. Ein solches Verhalten wurde zwar nicht befürwortet, aber es wurde hingenommen, solange man sich diskret verhielt. Schließlich, so das Argument der anderen, bestand ja ein Unterschied darin, ob man Vikar oder katholischer Priester werden wollte.
Das stimmte, weil man als Vikar keinen Zölibatseid ablegen musste, doch Magnus konnte es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, eine Frau dafür zu bezahlen, dass sie seine körperlichen Bedürfnisse befriedigte. Stattdessen nahm er sich dieser Bedürfnisse selbst an, auch wenn es noch so unbefriedigend sein mochte. Daher freute er sich schon auf alles, was es zu entdecken gab, wenn er einmal verheiratet war und seine Ehefrau das Bett mit ihm teilte. Bis dieser Tag gekommen war, würde er versuchen, so wenig wie möglich über den Geschlechtsakt nachzudenken. Heute war dieser Versuch jedoch eindeutig zum Scheitern verurteilt.
Etwas an Miss Griffin hatte in seinem Kopf Gedanken an fleischliche Gelüste erwachen lassen.
Magnus ging die Stufen zu Mrs Tisdales winzigem Haus hoch. Seine Wangen glühten wegen der Bilder, die ihm unablässig durch den Kopf gingen. Es war nicht Miss Griffins Schuld, dass sie eine so verführerische Sinnlichkeit ausstrahlte, die sich wie Efeuranken um ihn schlangen.
Ein unerwünschtes Lustgefühl überkam ihn bei dem Gedanken an ihre leicht schrägstehenden Augen und diese auffallend lange Oberlippe. Magnus verzog den Mund. Diese unschuldige junge Frau war sich vermutlich gar nicht im Klaren darüber, welche Wirkung ihr Gesicht und ihre Figur auf Männer hatte.
Er verdrängte diese Gedanken rasch wieder und klopfte an der Haustür an.
Niemand reagierte, woraufhin er die Tür ein Stück weit aufdrückte und den Kopf durch den Spalt steckte. Die alte Dame war schwerhörig und ihre Helferin für den Haushalt kam nur morgens her. „Mrs Tisdale?“
Da immer noch niemand antwortete, trat er ein und stellte seine Tasche in der Diele auf den Boden. In diesem Moment vernahm er ein schwaches Klopfen und einen leisen Ruf.
Magnus stürmte die schmale Treppe hoch. Er war noch nie im ersten Stock gewesen, daher konnte er nur vermuten, dass sich das Schlafzimmer dort oben befand.
„Mrs Tisdale?“, rief er, als er oben angekommen einen Flur mit drei Türen vorfand. Hinter der ersten befand sich ein Abstellraum, hinter der nächsten ein Gästezimmer. Die dritte Tür öffnete er behutsamer. „Mrs Tisdale?“
„Mister Stanwyck!“ Die Stimme, die außer Atem und heiser klang, kam von der anderen Seite des ungemachten, aber verwaisten Betts.
Magnus entdeckte die alte Dame auf dem Holzboden liegend, ein Bein war in einem bedenklichen Winkel verdreht. Er kniete sich neben ihr hin und drehte sie behutsam so, dass ihr Gewicht nicht auf diesem Bein lastete. Dennoch schrie sie vor Schmerzen auf.
„Es tut mir schrecklich leid, Mrs Tisdale“, redete er besänftigend auf sie ein und zog ihr Nachthemd zurecht, sodass ihre Beine wieder bedeckt waren, die so dünn und von blauen Adern überzogen waren, dass ihr Anblick ihn schmerzte. Schließlich sah er ihr wieder ins Gesicht und stellte fest, dass ihre Augen geschlossen waren. Einen Moment lang fragte er sich, ob sie wohl das Bewusstsein verloren hatte, da zuckten auf einmal ihre papiernen wirkenden Lider und sie schlug die Augen wieder auf.
„Kalt“, sagte sie nur, obwohl es im Haus fast unerträglich warm und feucht war.
Magnus fand nicht, dass das ein gutes Zeichen war. „Ich werde Sie jetzt wieder ins Bett legen, wo es wärmer und bequemer ist.“
Zwar verzog sie das Gesicht, nickte dann aber.
So vorsichtig er auch vorging, stieß sie beim Hochheben dennoch einen Schmerzensschrei aus, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ und der ihm einen Stich ins Herz versetzte. Erst nachdem er sie hingelegt und die dicke Decke umgeschlagen hatte, wagte er es, sie wieder anzusehen.
Sie starrte ihn an, die Augen hatte sie vor Schmerzen zusammengekniffen.
„Ich muss den Doktor holen.“
Ihre Hand zuckte sehr viel schneller auf ihn zu, als er es ihr zugetraut hätte. „Nein! Noch nicht!“
„Aber …“
„Nicht … Lassen Sie mich nicht allein, bleiben Sie noch einen Moment hier.“ Ihr Atem ging viel zu schnell und die Haut über ihren scharfkantigen Wangenknochen wies leuchtend rote Flecken auf. Ihre Hand klammerte sich an seiner fest, ihre knochigen Finger erinnerten an die Krallen eines Vogels. „Bitte.“
Es war das erste Mal, dass er sie dieses Wort sagen hörte. „Natürlich werde ich noch bleiben.“ Er hakte seinen Fuß hinter dem Stuhlbein ein und zog den Stuhl zu sich ans Bett, ohne ihre Hand loszulassen.
„Angst.“ Ihr Atem ging zwar etwas langsamer als zuvor, aber er war immer noch sehr unregelmäßig.
Magnus richtete den Blick von ihrer Hand auf ihr Gesicht, als sie das eine Wort sprach. Ihre blauen Augen, die sonst so wachsam und erbarmungslos dreingeschaut hatten, waren nun wässrig und unstet.
„Ich bin jetzt bei Ihnen, Mrs Tisdale. Es gibt keinen Grund Angst zu haben.“
Sie nickte, ohne den Blick von ihm abzuwenden und ohne seine Hand loszulassen.
Mrs Tisdale war die Ausgestoßene des Dorfs. Magnus ging davon aus, dass es in jeder britischen Ortschaft einen Menschen wie sie gab. Er hatte keine Ahnung, was sie getan hatte, um diesen Ruf erlangt zu haben. Er bezweifelte auch, dass ihre Nachbarn den wahren Grund noch kannten. Sie hatte sich lediglich über so viele Jahrzehnte hinweg in diese Rolle gefügt, dass die sich mittlerweile so anfühlte wie ein alter Mantel, der einfach so bequem war, dass man ihn nicht ablegen wollte.
Er wusste, es gehörte sich nicht, eine Frau nach ihrem Alter zu fragen, aber er hatte einmal einen Blick auf ein Buch werfen können, das sie aufgeschlagen hatte liegen lassen. Die handschriftliche Widmung darin hatte gelautet: „Für meine liebste Eunice für die Zeiten, in denen wir nicht zusammen sein können. James.“ Das Datum darunter hatte die Jahreszahl 1751 gezeigt. Selbst wenn sie damals erst um die zwanzig gewesen sein sollte, bedeutete es, dass sie heute über achtzig sein musste. Das elegant geschnittene Gesicht und die großen, tiefliegenden Augen zeugten davon, dass sie eine wunderschöne junge Frau gewesen sein musste.
Plötzlich fiel ihm auf, dass ihre Finger ihn nicht mehr verkrampft festhielten. Der Mund war einen Spaltbreit geöffnet und ihr Atem ging röchelnd, aber gleichmäßig und tief. Sie war endlich eingeschlafen.
Vorsichtig löste er ihre Finger von seinen, schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und rannte mit unwürdiger Eile los, um den Arzt zu holen.
***
Melissa schenkte sich noch eine Tasse Tee ein, da der für ihren Magen viel verträglicher war als Kaffee. Dann brach sie das Siegel auf Joss Gormleys jüngstem Brief. Joss war nicht nur ihr bester Freund, er leitete während Melissas Abwesenheit auch das Bordell.
Liebe Mel,
ich hoffe, dieser Brief erreicht dich, wenn du dich bereits gesund und munter im Dörfchen New Bickford entspannst. Das Geschäft läuft wie gewohnt. Laura bittet mich, dir Grüße von ihr auszurichten. Außerdem soll ich dich an ihren Vorschlag zur Erweiterung des Geschäfts erinnern, den sie dir unmittelbar vor deiner Abreise gemacht hatte.
Melissa seufzte. Sie hatte es vermieden, über den Vorschlag ihrer anderen Geschäftspartnerin Laura Maitland nachzudenken. Tatsächlich war sie nicht mehr mit ganzem Herzen Geschäftsfrau, seit sie an jenem Tag im letzten Herbst Blut gespuckt hatte und beinahe gestorben wäre. Ein solches Aneinandergeraten mit der eigenen Sterblichkeit veranlasste einen dazu, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was einem im Leben wirklich wichtig war.
Ihr kam die unerfreuliche Erinnerung an jenen Tag ins Gedächtnis, sie biss noch ein Stück Toast ab, dann wandte sie sich wieder dem Brief zu.
Sei jetzt bitte nicht böse.
Mel schüttelte den Kopf. „Oh, Joss, was um alles in der Welt ist denn nun schon wieder?“
Laura hat sich nicht damit begnügt, dich an ihren Vorschlag zu erinnern. Sie hat den Eigentümer von Nummer neun angesprochen und ihm für das Objekt ein Angebot unterbreitet, über das er jetzt nachdenkt.
Mel ließ den Toast fallen. „Was?“
Ich weiß, du wolltest damit warten, bis du Gelegenheit hattest, mit Laura und Hugo das Thema zu besprechen und dich mit ihnen auf ein Angebot für das Objekt zu einigen. Aber …
Melissa stöhnte aufgebracht. Sie hatte tatsächlich noch warten wollen. Aber nun wusste der Eigentümer, ein abscheulich verschlagener Mann, dass sie das Gebäude haben wollten. Also konnte er jetzt den Preis verdoppeln. Sie presste die Kiefer zusammen. Laura lief ganz offensichtlich Amok, wenn Melissa nicht da war, um sie im Zaum zu halten. Auch wenn sie niemals behaupten konnte, dass es ihr Herzenswunsch gewesen war, ein Bordell zu besitzen, war das White House dennoch ihre Zukunft. Wenn sie es mit Gewinn weiterverkaufen konnte – so wie die Frau, von der sie es erworben hatte –, würde sie sich in ein paar Jahren zur Ruhe setzen können. Dazu würde es aber natürlich nicht kommen, wenn sie ein Vermögen für die nächste Erweiterung ausgab.
„Verdammt noch mal!“, murmelte sie.
Ich weiß, wie sehr du dich jetzt über ihr Verhalten ärgern wirst, aber das ist nichts im Vergleich zu Hugos Wut.
Unwillkürlich musste sie über Joss‘ ironische Feststellung lachen. „Ich möchte wetten, dass du richtig liegst, Joss“, sagte sie und musste lächeln, als sie sich die Reaktion ihres höchst kratzbürstigen Geschäftspartners auf Lauras überstürztes Handeln vorstellte.
Ich hätte nicht gedacht, dass Hugo dazu fähig ist, Wut zu empfinden – oder überhaupt irgendetwas anderes außer Selbstliebe.
Joss verabscheute Hugo – Melissas bei Frauen wie Männern gleichermaßen beliebtesten Angestellten – und machte daraus auch keinen Hehl. Zugegeben, ein Großteil dieser Ablehnung hatte mit einem ziemlich listigen Trick zu tun, den Melissa Joss vor einigen Monaten gespielt hatte. Sie war auf die Idee gekommen, Hugo zu benutzen, damit der sich zwischen Joss und die Frau drängte, bei der Joss sich standhaft geweigert hatte, zuzugeben, dass er sie in Wahrheit liebte.
Es war ein wirklich gefährlicher Plan gewesen, aber er hatte funktioniert.
Sie wusste, sie konnte heilfroh sein, dass die beiden Männer sich an jenem Abend nicht gegenseitig umgebracht hatten. Melissa lebte nach dem Motto: Ende gut, alles gut. Dummerweise hatte Joss das nicht so gesehen. Seine Wut auf Melissa war letztlich zwar verraucht, doch sein Hass auf Hugo hatte sich im gleichen Maß gesteigert. Und nachdem er Hugo ein blaues Auge geschlagen hatte, beruhte die tiefe Abneigung nun auf Gegenseitigkeit.
Mel kommentierte die Erinnerung mit einem „Tss, tss“ und konzentrierte sich wieder auf den Brief.
Das Ergebnis von Lauras überstürztem Handeln ist, das sie und Hugo sich gegenseitig mehr denn je hassen. Ich glaube, zwischen den beiden wird es schon bald Ärger geben. Ich bin froh, dass ich meinen Anteil am Geschäft an dich verkauft habe. Da muss ich mir wenigstens keine Gedanken machen, dass die zwei Tag und Nacht auf mich einreden, damit ich an einen von ihnen verkaufe.
Nein, aber auf Melissa würde genau das warten, sobald sie zurückgekehrt war.
Sofern ich überhaupt zurückkehre.
Mel hielt inne, das Briefpapier zerknitterte zwischen ihren verkrampften Fingern. Wo war denn dieser Gedanke auf einmal hergekommen? Natürlich würde sie zurückkehren. Wohin sollte sie denn sonst gehen?
Sie kniff die Lippen zusammen. Nirgendwohin: Es gab nichts, wohin sie sonst hätte gehen können. Zumindest gab es keinen Ort, an dem sie ihre Vergangenheit und ihr wahres Ich nicht hätte verheimlichen müssen. Selbst der vorübergehende Aufenthalt hier auf dem Land war für sie mit Angst verbunden. Männer aus ganz England kannten sie und es war immer möglich, dass … nein, es war vielmehr unvermeidlich, dass sie selbst in einem Dorf, das so abgeschieden war wie New Bickford, wiedererkannt werden konnte.
Nun, es war sinnlos, jetzt über so etwas nachzudenken. Sie war erst den dritten Tag hier und bislang war sie noch von niemandem erkannt worden. Der gut aussehende Kaplan ging ihr durch den Kopf. Sie schnaubte aufgebracht. Er war ein Teil mehr, das für sie unerreichbar war und das sie am besten sofort aus ihrem Gedächtnis streichen sollte. Sie und er waren derart unterschiedlich, dass man sie für Vertreter zweier grundverschiedener Spezies hätte halten können.
Sie strich das Briefpapier glatt und widmete sich wieder dem Brief, dessen letzte Abschnitte vorrangig mit dem Geschäft zu tun hatten und von Reparaturen, zwei neuen Angestellten und einem jungen Lord berichteten, den Joss wegen übermäßiger Schulden vor die Tür gesetzt hatte. Erst ganz zum Schluss schrieb er auch ein paar Zeilen über sich.
Ein Vater ist vergangene Woche friedlich im Schlaf verstorben.
Sie legte eine Hand an ihren Hals. „Oh, Joss.“
Wie du weißt, war es eine Erlösung. In den letzten Monaten ist er kaum noch ansprechbar gewesen und meine Schwester hat sich halb totgearbeitet, um ihn zu pflegen.
Zwar wird sie bald zu ihrem Verlobten Joseph ziehen, aber ich möchte gern mit ihr noch eine Woche allein verbringen, bevor sie heiratet. Ich habe sie zu einem Kurzurlaub an der See überreden können. Gib mir bitte Bescheid, wenn es dir Unbehagen bereiten sollte, dass ich Laura und Hugo während meiner Abwesenheit für zehn Tage die Leitung überlasse.
Unbehagen? Nein, so würde sie es nicht ausdrücken. Blankes Entsetzen traf es schon besser. Blankes Entsetzen, weil von ihrem Geschäft womöglich nichts mehr übrig war, wenn sie heimkehrte. Aber das konnte sie nicht Joss ankreiden. Er hatte sich nur angeboten, bei der Leitung der Geschäfte mitzuhelfen, damit Melissa sich zu diesem Aufenthalt auf dem Land bereiterklärte. Er hatte schließlich sein eigenes Leben und es wäre ungerecht gewesen, von ihm zu erwarten, dass er sein Privatleben opferte, damit der Bordellbetrieb reibungslos ablief – und das umso mehr, da sie ja bereits zwei Geschäftsführer hatte, die sich um alles kümmern sollten.
Seufzend wanderte ihr Blick weiter zum Ende des Briefs.
Du fehlst mir. Ich hoffe, es geht dir gut. Grüß diese Giftnudel Daisy von mir und richte ihr aus, dass etliche Männer sich über ihre Abwesenheit beklagen.
Dein Freund
Joss
Sie faltete den Brief zusammen und musste an Joss‘ Bemerkung denken, dass er Laura und Hugo die Geschäftsführung überlassen hatte. Das war in etwa so, als würde man den Insassen einer Irrenanstalt die Kontrolle überantworten. Diese beiden Huren stellten die denkbar schlechteste Kombination dar. Laura war eigensinnig und kam bei ihren Entscheidungen nur selten auf die Idee, auch einmal an andere Leute zu denken.
Und Hugo?
Allein wenn sie an seinen Namen dachte, bekam sie Kopfschmerzen. Hugo war eine Naturgewalt. Er war offen gesagt der sexuell attraktivste Mann, dem sie je begegnet war. Es war unfassbar, welche Faszination er auf beide Geschlechter ausübte – vor allem angesichts der Tatsache, dass er gar nicht so gut aussah. Sein gertenschlanker Körper, die pechschwarzen Augen und die schmalen, grausam wirkenden Lippen machten ihn zu einem regelrecht hässlichen Mann. Dennoch hatte er etwas an sich, das alle Blicke auf ihn lenkte und dort verharren ließ. In einem überlaufenen Raum würde man Hugo trotzdem immer sofort bemerken.
Er war ihr einziger Angestellter, der niemals einen Kundenwunsch ablehnte. Wenn es um Sex ging, war Hugo zu allem bereit.
Ihm die Geschäftsleitung zu überlassen, war, als würde man den Bock zum Gärtner machen – einen Bock, der das Haus plündern, die gesamte Einrichtung verkaufen und es dann in Brand stecken würde, nur um zusehen zu können, wie es niederbrannte.
„Melissa?“
Sie sah auf und entdeckte Daisy, die in der Tür stand. „Ja?“
„Was ist los mit dir? Ich habe jetzt schon dreimal nach dir gerufen.“
„Ich habe nur nachgedacht und mich entspannt – also genau das, wofür ich hergekommen bin.“
„Tja, die Zeit zum Entspannen ist vorbei. Du hast Besuch.“
„Zu dieser Tageszeit?“
„Es ist bereits nach Mittag, Liebes.“
Mel sah zur Uhr auf dem Nachttisch. Tatsächlich. „Wer ist es?“
Daisy verzog die vollen Lippen zu einem verruchten Lächeln, mit dem sie über die Jahre hinweg eine Menge Geld verdient hatte. „Ich möchte dir die Überraschung nicht verderben.“