Kapitel 1
Eine klauenartige Hand griff über den Tisch. „Haben Sie Erdbeeren da, Liebes?“ Die Hand wühlte zwischen den Honig- und Marmeladenpäckchen herum. „Bei Scones tut es nur Erdbeere, finden Sie nicht?“
Heitere Augen blinzelten unter wie mit einem Stift gezogenen Bögen von Augenbrauen hervor. Das Haar hatte einen geschmackvollen Violett-Ton und war in steife Locken gedreht. Lange Ohrläppchen trugen riesige Ohrringe mit falschen Diamanten. Die konnten nicht echt sein, dachte Darina.
„Sind Sie schon früher mit der Empress of India gefahren?“ Die forschenden Finger fanden eine Packung der gewünschten Marmelade. „Ich glaube, das machen sie absichtlich, die mit Erdbeere zu verstecken, meine ich. Nur um einen zu testen. Alfredo!“ Die Hand winkte gebieterisch einem beschäftigten Kellner zu. Allerdings war er nicht zu beschäftigt, um beinahe umgehend zum Tisch herüber zu gleiten.
„Mrs. Carter, die Dame?“
„Wo verstecken Sie die mit Erdbeere, hm? Sie wissen, dass ich Erdbeere mag.“
„Haben Sie denn keine, die Dame?“ Der Kellner blickte betont auf die Packung auf ihrem Teller.
„Natürlich habe ich welche, Alfredo, aber der Rest des Tisches nicht. Bringen Sie mehr Erdbeere.“
Eine leichte Neigung des Kopfes und ein schmales Lächeln, als sich zwei Blicke aus braunen Augen im perfekten Einverständnis trafen. Ein paar Minuten später wurde in einer anmutigen Zeremonie ein Teller mit Erdbeermarmeladen-Päckchen in der Mitte des Tisches platziert.
„Alfredo weiß, was ich mag“, sagte die Frau zufrieden. Sie zerteilte ihren Scone und bestrich ihn großzügig mit Butter und Marmelade.
„Dann haben Sie schon zuvor eine Kreuzfahrt auf diesem Schiff gemacht?“, vermutete William Pigram, Darinas Ehemann, höflich.
„Acht Mal.“ Das Scone verschwand mit enormer Geschwindigkeit in kleinen, wirkungsvollen Bissen. „Sobald George, er war mein Ehemann, sich zur Ruhe setzte, sagte er: ‚Enid, mein Mädchen, ich habe mich von der Hetze des Geschäfts verabschiedet, wir machen eine Kreuzfahrt.‘ Und das taten wir. Beim ersten Mal rund um die Welt, das hat einen Haufen Geld gekostet“, fügte sie hinzu.
„Auf diesem Schiff?“, fragte William.
„Nein, das war auf der Catriona, sehr viel größer. Die Empress haben wir erst kurz vor Georges Tod vor drei Jahren ausprobiert. Er hat sie geliebt und seitdem fahre ich mit ihr.“
„Wir lieben die Empress auch“, sagte eine stille Frau neben Enid von sich aus. „Das hier ist unsere vierte Fahrt.“ Sie lächelte den Mann an, der sie begleitete. Sie schienen mindestens siebzig zu sein, ein unscheinbares Paar, ordentlich, aber nicht modisch gekleidet.
„Wir sind William und Darina Pigram“, sagte Darina fröhlich zu den fünf Personen am Tisch.
Enid Carter hatte sich vorgestellt, als sie sich zu ihr gesetzt hatten. Jetzt räumte das unscheinbare Paar ein, dass sie Mary und Jim French aus den Midlands seien. „Jim macht in Fenstern“, sagte Mary.
„Fenster bis zum Boden“, stimmte Jim mit einem strahlenden Lächeln zu, das den Anschein der Bedeutungslosigkeit vertrieb. „Das habe ich zu meinem Werbespruch gemacht, aber wir machen alle möglichen Fenster. Wir sind Spezialisten für das Baugewerbe. Wobei ich jetzt mehr oder weniger im Ruhestand bin – die Söhne haben das Geschäft übernommen.“ Und ihm damit reichlich Freizeit verschafft, war die Schlussfolgerung.
„Auf welchen Schiffen haben Sie Kreuzfahrten gemacht?“, fragte Mary Darina.
„Ich fürchte, das ist unsere erste“, sagte sie mit einem Lächeln.
„Sie sind sehr jung“, sagte die andere Frau argwöhnisch. „Die nördlichen Häfen ziehen normalerweise keine jungen Leute an, die fahren eher in die Karibik oder ans Mittelmeer. Sie lieben die Sonne, wissen Sie.“
„Werden wir auf dieser Kreuzfahrt nicht die Mitternachtssonne sehen?“, fragte William. „Die interessiert mich.“
„Das hängt vom Wetter ab“, sagte Jim freundlich. „Aber die Chancen stehen gut, ziemlich gut.“ Das Pärchen, das als letztes am Tisch eingetroffen war, sagte nichts. Sie sahen aus wie Ende fünfzig, vielleicht Anfang sechzig. Sie waren stabil gebaut und hatten Gesichter, die eher fürs Lächeln gemacht waren, als ihren momentanen, düsteren Gesichtsausdruck. Während es Marys und Jims Kleidern an Stil fehlte, sahen ihre aus wie aus einem wohltätigen Second-Hand-Laden – der Mann in einem abgetragenen Cardigan über einem Hemd ohne Krawatte, die Frau trug ein schlecht gemachtes, ärmelloses Oberteil, dass die Aufmerksamkeit unvorteilhaft auf ihre schlaffen Oberarme lenkte.
Darina Lisle ermahnte sich, nicht gehässig zu sein. Es gab wichtigere Dinge im Leben, als sich um die aktuellste Mode Gedanken zu machen. Aber warum in aller Welt hatte sie sich so lange mit ihrer Garderobe für die Kreuzfahrt gequält? Sie sah sich im Raum um. Wie viele Passagiere könnten in einer Modezeitschrift auftauchen? Wo waren Glanz und Glamour, wie sie es sich vorgestellt hatte? War ihre Vorstellung einer Kreuzfahrt ein Rückblick in ein goldenes Zeitalter von Luxus und Muße gewesen, in dem wenige Passagiere große Summen zahlten und alle schick gekleidet und gesellschaftlich versiert waren? Die Wirklichkeit reichte wie so oft nicht an die fortschrittliche Werbung heran. Doch eine gespannte Erwartung brodelte in ihr. Eine Kreuzfahrt würde eine völlig neue Erfahrung sein.
Sie wollte dieses Pärchen fragen, warum sie zu Beginn von vierzehn Tagen des Vergnügens so unglücklich aussahen. Ihre wettergegerbten Gesichter erinnerten sie an die Landwirte aus Somerset, die sie häufig getroffen hatte, als sie nicht weit entfernt von Taunton aufgewachsen war, und wo sie und William ein Jahr in dem Cottage nahe seiner ersten Polizeistation, ein paar Meilen vor Frome, gelebt hatten.
Darina hatte mittlerweile völlig vergessen, dass sie das Schiff erkunden wollte und dass es William gewesen war, der dringend eine Tasse Kaffee trinken wollte und vorschlug, ob sie ihre Tour nicht im Restaurant beginnen könnten. Ein Kellner in einer roten Jacke hatte sie an einem großen Tisch bei Enid Carter platznehmen lassen. Die anderen waren umgehend dazugestoßen, waren aber einer Unterhaltung nicht zugetan gewesen.
„Warum mögen Sie dieses Schiff so sehr?“, fragte William, als die Unterhaltung drohte, zum Erliegen zu kommen.
„Oh, die Empress ist wunderschön!“, rief Enid. „All die hölzernen Vertäfelungen und die Messing-Armaturen. So traditionell. Und nur siebenhundert Passagiere, es ist wirklich gemütlich.“
„Heutzutage bauen sie richtige Monster“, seufzte Mary French, während Jim fröhlich nickte. „Von Bug bis Heck meilenlang und mit so vielen Decks und Salons. Man kann jemanden am ersten Tag kennenlernen und für den Rest der Kreuzfahrt nicht mehr wiedersehen.“
Darina betrachtete den Bereich des Speisesaals, den sie von ihrer leicht erhöhten Position auf einer Plattform neben einer Reihe von Bullaugen aus einsehen konnte. Draußen hatte man einen großartigen Blick auf die Docks von Southampton, das Schiff sollte erst in etwa einer Stunde ablegen. Ja, das Schiff war wunderschön, aber würde es sie kümmern, diese Menschen nicht mehr wiederzusehen? Neben ihnen wirkten sie und William mit Mitte dreißig unmöglich jung. Doch wie oft musste man erste Eindrücke später korrigieren. Es mussten Menschen an Bord sein, mit denen sie gerne Zeit verbringen würden. Immerhin waren es nur zwei Wochen und sie hatte William dabei.
Als Darina ihrem Ehemann von dem Angebot einer kostenlosen Kreuzfahrt erzählt hatte, war es unerwartet aufwändig gewesen, ihn zum Mitkommen zu überreden. Zu viele Menschen, nicht sein Ding, und außerdem gäbe es zu viel Arbeit, hatte er gesagt.
„Wer will denn immer wegfahren und entspannen und sagt dann, dass ihn Strandurlaub langweilt?“, fragte Darina. „Wer mag denn Abwechslung, will viele Orte besuchen und liebt Essen? Komm schon, du hast die Urlaubstage und du wirst mit niemanden reden müssen.“
Irgendwann hatte er zugestimmt und bislang keine Abneigung gezeigt, sich mit den anderen Passagieren zu unterhalten. Hier waren sie gemeinsam auf einem Luxusliner, und zwei Wochen lang konnte sie Williams Gesellschaft ohne die Gefahr genießen, dass er weggerufen würde. Zwei Wochen, in denen er nichts zu tun hatte, außer zu genießen. Zwei Wochen, in denen er am Ende des Tages nicht erschöpft sein würde und sich mit seiner Ehefrau unterhalten könnte, ohne dass ihnen die Arbeit dazwischenkam. Es sei denn, die Arbeit, für die Darina angeworben wurde, stellte sich als zeitaufwändiger heraus, als ihr beschrieben worden war. Sie hoffte inständig, dass es nicht viel Zeit in Anspruch nehmen würde. William und sie brauchten diesen Freiraum in ihrem Leben.
Enid musterte Mary French mit offener Neugier. „Haben wir uns nicht schon einmal getroffen?“, fragte sie unvermittelt. „Waren Sie nicht vor drei Jahren auf der Empress of China? Die Kreuzfahrt zu den Schätzen des Mittelmeers?“
Mary wirkte überrascht. Sogar nervös. „Ich, ich glaube wir waren dort“, sagte sie.
Enid sah zufrieden aus. „Dachte ich mir. Ich vergesse nie ein Gesicht. War das nicht die Kreuzfahrt, auf der das Gerücht umging, wir hätten einen Pädophilen unter uns?“
Jetzt wirkte Mary beunruhigt. „Ich glaube nicht. Ich erinnere mich an nichts dergleichen.“ Sie blickte zu ihrem Ehemann. Er trank Tee und schien von der Unterhaltung nichts mitzubekommen.
„Das war kurz nach diesem scheußlichen Gerichtsverfahren. Erinnern Sie sich, eine Enkelin warf ihrem Großvater vor, sie sexuell belästigt zu haben? Es wurde nichts bewiesen, aber das war alles sehr erschütternd. Dann sagte jemand, er würde unter anderem Namen mit uns reisen. Bestimmt erinnern Sie sich.“
Mary schüttelte bestimmt den Kopf. „Das muss eine andere Fahrt gewesen sein“, sagte sie endgültig.
„Was gefällt Ihnen so gut an Kreuzfahrten?“, fragte William sie.
„Was uns an Kreuzfahrten gefällt?“, wiederholte Mary. Sie sah sich am Tisch um, als könnte jemand anderem eine gute Antwort einfallen.
„Wir kamen her, um von allem wegzukommen, geht es bei Kreuzfahrten nicht genau darum? Irgendwo zu sein, wo einen niemand erreichen kann, während man umsorgt wird und nicht nachdenken muss? Es ist eine Flucht.“ Ihre Stimme zitterte leicht. Ihr Ehemann sah noch missmutiger aus.
Sie hatte einen breiten, ländlichen Dialekt, der aus den östlichen Midlands, Cambridge oder Norfolk stammen musste, dachte Darina. „Sind Sie Landwirte?“, fragte sie freundlich.
„Ja“, sagte die Frau und schien dann zu begreifen, dass sie die einzigen waren, die sich noch nicht vorgestellt hatten.
„Joyce und Michael Harwood“, sagte sie. „Zumindest“, fügte sie abgehackt hinzu, während sie zu ihrem Ehemann blickte, „waren wir Landwirte.“
„Wir wurden aus dem Markt gedrängt“, sagte der Mann barsch.
Mit diesem Eindringen der hässlichen Realität fiel Schweigen über den Tisch.
„Das tut mir so leid“, sagte Darina mitfühlend. „Ich weiß, dass es in der Landwirtschaft zurzeit schwierig ist. Haben Sie Vieh gehalten? War es BSE?“
In diesem Augenblick warf ein junger Mann die mit einem Fenster versehene Tür zum Restaurant auf, er war Anfang zwanzig und trug eine Jeans und ein T-Shirt, auf dem der Schriftzug „Set my Willie Free“ prangte. Er war unsicher auf den Beinen, obwohl das Schiff noch am Dock lag, klammerte sich an das kleine Geländer am Fuß der schmalen Treppenflucht, die hinauf ins Hauptgeschoss des Speisesaals führte, und betrachtete die Anordnung von Tischen. „Man bekommt noch was“, trällerte er über seine Schulter, während er sich weiter am Geländer festhielt. Er hatte einen Schopf prächtiger, dunkler Locken, dunkle Augen und Wimpern, für die jede Frau morden würde. Dazu ein Gesicht, das mit der mächtigen Nase und dem Mund, der fast wie Amors Bogen aussah, eine seltsame Mischung aus machohaft und feminin ergab. Er sah eindrucksvoll aus, während er sich auf das Geländer schwang, um auf den Rest seiner Gruppe zu warten, und leise eine Melodie pfiff.
Enid Carter sah ihn an und die herbe Realität verschwand zum Bullauge hinaus. „Oh, meine verlorene Jugend! Noch einmal zwanzig sein und zusammen mit diesem jungen Mann auf einem Schiff festsitzen“, sagte sie lüstern. „Bordromanzen – jeder sollte eine haben. Was für ein Traumschiff!“ Ihre dunklen Augen leuchteten vor Freude.
Mary French sah ausgesprochen empört aus. „Meine Enkelin hält Leonardo DiCaprio für wunderschön, aber ist Aussehen wirklich alles?“, fragte sie tugendhaft und tätschelte ihrem düster dreinblickenden Ehemann die Hand.
Die Harwoods sagte nichts.
William seufzte. „Ich glaube, er steht unter Drogen“, flüsterte er Darina zu.
„Du bist hier nicht im Dienst“, sage sie bedeutungsvoll in gedämpftem Ton.
Hinter dem jungen Mann erschien jemand, der nur sein Vater sein konnte – dieselben dunklen Locken, dieselben dunklen Augen, das Gesicht derber, ohne die feminine Note, aber trotzdem sehr attraktiv. Seine Lippen allerdings bildeten eine dünne Linie der Missbilligung. Er packte seinen Sohn an der Achsel, führte seinen Mund dicht an sein Ohr und stieß Worte durch die zusammengebissenen Zähne, die nur eine Warnung sein konnten.
Stets aufmerksam, ließ der Oberkellner sie an einem nahen Tisch Platz nehmen, ehe sie auch nur Luft holen oder der Rest der Gruppe die schmale Treppe herabsteigen konnte. Als erstes kam eine kleine, schlanke Frau mittleren Alters mit schmalem Gesicht und wachsamem Blick. Alles an ihr war kontrolliert; ihre Kleidung sprach dafür, dass sie sich sorgfältig um alles kümmerte, von dem kleinen Tuch, das sie sich ordentlich um den Kragen ihres gewöhnlichen, cremefarbenen Pullovers gebunden hatte, bis zu ihrem gut geschnittenen, aber sehr einfachen, marineblauen Hosenanzug. Das einzige Auffallende an ihr war ihr Haar. Es war früh silbergrau geworden und lag in kurzen Strähnen an ihrem Kopf, in einem Stil, der jugendlich wirkte und ihr sehr gut stand. Sie hielt auf der Treppe inne und griff nach hinten, um etwas zu betonen, das sie zu der Frau hinter ihr gesagt hatte, wobei sie ihre wohlgeformte Hand auf den Arm der Anderen legte. Es war etwas Leichtes und Vertrautes an dieser Geste – wir sind Freundinnen, vermittelte sie.
Lachend, über was auch immer gesagt worden war, zeigte sich das letzte Mitglied der Gruppe von ihrer besten Seite. Ebenfalls in mittlerem Alter, aber elegant und selbstbewusst, war sie auffallend attraktiv. Sie war durchschnittlich groß und ihr wehendes, blondes Haar rahmte ein begehrenswertes Gesicht ein, während exzellent geschnittene Jeans und ein Pullover in passendem Blauton, der mit cremefarbenen Blüten bestickt war, ihre gute Figur zur Schau stellten.
Der ältere Mann erhob sich, als sie sich dem Tisch näherten und zog der Frau mit silbergrauem Haar einen Stuhl heraus. Sie lächelte ihn mit ihrem plötzlich strahlenden Gesicht an. Die andere Frau warf dem Mann ein diskretes Lächeln zu und ignorierte bewusst den Jüngeren. Er saß krumm und beleidigt auf seinem Stuhl, hatte den Kopf zurückgeworfen, während eine Hand auf der Tischdecke mit einem Messer spielte.
„Mein Gott“, sagte Enid Carter in ehrfurchtsvollem Ton. „Das ist die Lottogewinnerin!“
„Wirklich? Welche?“, fragte Darina, die sich immer für solche Informationshappen über ihre Mitmenschen interessierte.
„Die Grauhaarige. Ich habe alles über sie gelesen. Das sind ihr Ehemann und ihr Stiefsohn. Sie ist Wissenschaftlerin und wird die ganzen sieben Millionen Pfund der Forschung spenden!“ Enid schmunzelte düster. „Ich frage mich, was ihre Familie davon hält!“
Kapitel 2
Phil Burell, Assistent des Chefstewards und Lagermeister auf der Empress of India, ließ sich mit einem erleichterten Seufzer in seinen Drehstuhl fallen. Er streckte die Arme aus und lockerte seine Schultern. Das Laden und Verstauen der Lebensmittelvorräte für eine zweiwöchige Kreuzfahrt zu beaufsichtigen war der schlimmste Teil seiner Arbeit. Aber das war jetzt geschafft und sie befanden sich auf See. Er konnte bereits spüren, wie eine leichte Dünung das Schiff bewegte. Aber das würde die gewaltigen Vorräte nicht ins Rutschen bringen, die er den ganzen Tag lang hatte verladen lassen. Er gähnte ausgiebig und ging in Gedanken noch einmal alles durch, was sie erreicht hatten. Unter den Decks befanden sich genug Lebensmittel in einer Reihe großer Backskisten, um eine kleine Stadt durch eine mehrmonatige Belagerung zu bringen. Die Passagiere der Empress of India würden das Meiste davon in zwei Wochen verspeisen.
Das war eine beängstigende Aussicht. Bei jeder Kreuzfahrt kam Phil an diesem Punkt nicht umhin, mit der Vorstellung wohlgekleideter Schweine zu spielen, die sich um Designer-Tröge drängten und unter unersättlichem, freudigem Quieken einen nicht enden wollenden Schwall an Feinkost hinunterschlangen. Dann fühlte er sich schuldig. Das musste die Erschöpfung sein, sagte er sich jedes Mal. Passagiere waren wichtig. Eines Tages wäre er Chefsteward eines Schiffes und müsste im Restaurant an einem Tisch den Gastgeber spielen. Und die Passagiere an diesem Tisch würden von ihm erwarten, weltmännisch, liebenswürdig und charmant zu sein.
Die Aussicht war beängstigend. Phil wusste, dass er gute Arbeit machte. Vorausgesetzt er würde weiterhin hart arbeiten und es gäbe keine Unfälle, könnte er seinen Traum erreichen. Aber gesellschaftliches Geplauder war nicht seine Stärke.
Seine Ex-Frau Lizzie hatte gesagt, dass das Leben mit ihm wie ein Leben mit einem Buch in einer fremden Sprache sei. Man müsse sich sehr anstrengen, um irgendwelche Informationen herauszuziehen und man habe dabei keinen Spaß. Phil fand das lächerlich, wenn man bedachte, dass ihr Gesprächstalent nicht einmal einen Vierjährigen herausfordern konnte. Aber immerhin habe sie ihn wissen lassen, was sie dachte, hatte sie gesagt. Phil war häufig unter der Kraft ihrer Gefühle ins Wanken geraten.
Sie hätten nie heiraten sollen. Phil stellte fest, dass es eine Büro-Romanze gewesen war, umso intensiver, weil sie zusammen auf einem Schiff gewesen waren. Aber sie hatte all ihre Anziehungskraft verloren, als sie in einer offiziellen Beziehung gefangen waren. Es war eine solche Erleichterung gewesen, als die Scheidung endlich überstanden war.
War er dabei, denselben Fehler noch einmal zu begehen? Nein, definitiv nicht! Karen war alles, was er sich von einer Frau wünschen konnte: liebevoll, herzlich, lustig und sie besaß gesunden Menschenverstand. Sie schaffte es, dass er positiv von sich dachte. Später, wenn sie ihre Pflichten für den Abend hinter sich hatte, würde er sie suchen. Vielleicht war heute die Nacht, in der ihre Beziehung wirklich Fahrt aufnehmen würde.
Sein Eifer vermischte sich sofort mit Lampenfieber. Was, wenn er die Zeichen falsch interpretiert hatte? Wenn er doch nur gleich zu ihr gehen könnte, um das herauszufinden. Warten war die Hölle. Während er an einem Finger knabberte, rief Phil auf seinem Computer „Solitär“ auf und versuchte sich in den Feinheiten der Kartenzüge zu verlieren, um eine weitere der Patiencen zu lösen, die er für die befriedigendsten ihrer Art hielt. Es kam so viel mehr auf das eigene Können an als darauf, wie die Karten ausgelegt waren. Doch beinahe sofort merkte er, dass er einen falschen Zug gemacht hatte. Er nagte an seinen Knöcheln, während er den Bildschirm betrachtete und herauszufinden versuchte, wie er das Spiel noch retten konnte.
Die Tür zu seinem Büro öffnete sich. „Haben Sie eine Minute?“, fragte sein Assistent Roger Coutts gutgelaunt.
„Sechzig Sekunden, ja“, sagte Phil, winkte Roger herein und klickte auf das Feld, dass das Spiel in ein Icon am unteren Rand seines Bildschirms verbannte. „Eine Sekunde mehr und ich brauche einen Schnaps. Eigentlich ist das gar keine schlechte Idee.“ Er griff in die unterste Schublade seines Schreibtisches und zog eine Flasche Whisky mit zwei Gläsern heraus. „Wollen Sie einen?“
„Und ob!“ Roger ließ sich in den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches fallen. „Ich bin ausgebrannt!“ Er strich sich mit einer Hand durch sein kurzes, blondes Haar. Roger hatte ein breites, offenes Gesicht, das immer fröhlich wirkte, doch Phil fand, dass er noch etwas Feinschliff brauchte, wenn er mit seiner Karriere vorankommen wollte. Phil schenkte großzügig ein, gab einen Schuss Wasser hinzu und reichte ein Glas hinüber.
„Dennoch, wir haben jetzt alles verstaut“, sagte Roger und trank mehr als die Hälfte seines Drinks in einem Zug.
„Sie können morgen früh Zeit am Computer verbringen und die Inventarliste auf den neuesten Stand bringen“, sagte Phil mit einem leichten Lächeln.
Roger betrachtete den Bildschirm auf Phils Schreibtisch und nickte niedergeschlagen. „Trinken Sie heute Abend einen mit uns?“
Phil schüttelte den Kopf. „Ich hau mich früh aufs Ohr“, verdrehte er die Tatsachen.
„Ach ja? So nennen Sie das also?“
Phil errötete leicht. Wenn es eine Sache gab, die ihn nicht kalt ließ, dann war es, dass alle an Bord eines Schiffes immer alles über alle anderen zu wissen schienen.
„Das können Sie nicht verstecken, wissen Sie?“, fügte Roger unnötigerweise hinzu. „Aber wenn der himmelhohe Harry davon erfährt, ist das Ihr Untergang, das ist Ihnen klar, oder?“
Der Erste Offizier hatte diesen Spitznahmen erhalten, lange bevor Phil von der Empress of China auf dem Schwesternschiff, der Empress of India, angeheuert hatte. Er hatte nie herausgefunden, woher er kam, fand aber, dass er Harry Summers gut beschrieb. Viel zu verbissen darauf, eine große Nummer zu sein.
Phil grunzte etwas in sein Getränk. Dann beschloss er, dass er nichts zu verbergen hatte. „Ich schaue später vielleicht, ob Karen frei hat“, gab er zu.
Roger schenkte ihm ein breites Grinsen. „So wird was draus!“, sagte er ermutigend. „Wer nicht wagt, und so weiter. Das soll aber nicht heißen, dass Sie nicht wagemutig wären, nicht nach der letzten Fahrt.“
Phil füllte ihre Gläser wieder auf und sagte nichts. Er hatte keinen Bedarf, diesen kleinen Zwischenfall erneut zu erörtern. Er hatte zur Genüge unter den Konsequenzen gelitten und würde sich nicht auf eine Wiederholung einlassen.
Roger hob anerkennend sein Glas. Das bedeutete wohl, dass er aus Dank für den Drink mit der Stichelei fertig war. Mehr Whisky verschwand in seinem geräumigen Hals, dann griff er hinter den Computer. „Ich dachte, das könnte Sie interessieren. Hat meine Schwester geschickt, sie hat es extra für mich aufgehoben.“ Er zog eine sechs Wochen alte Ausgabe einer Boulevardzeitung hervor. „Das fiese, alte Ding, das sie ist. Sie hätte es zu einem unserer Häfen schicken können, aber sie spart das Porto lieber. Ich hatte nur Zeit für einen kurzen Blick, nachdem wir heute Morgen reinkamen.“ Er faltete die Zeitung auf und reichte Phil die innere Seite.
Lotteriegewinner wählt Kreuzfahrt, verkündete die Schlagzeile.
Phil ließ den Blick über den Artikel schweifen und pfiff. „Also ist eine Berühmtheit mit uns an Bord, ja? Ich beneide Sie nicht um die Mitläufer, die versuchen werden, kostenlosen Champagner abzustauben, wenn sie bemerken, dass sich eine Millionärin unter ihnen befindet.“
„Klingt als wären Mitläufer schnell abgefertigt“, sagte Roger träge und leerte sein Glas. „Na ja, ich genehmige mir ein bisschen Entspannung, ehe ich in die Heia gehe. Danke für den Grog.“ Er verschwand zur Tür hinaus.
Phil hörte kaum, dass er ging. Seine Aufmerksamkeit war auf die Zeitung geheftet. Er vergaß völlig, seinen Computer auszuschalten, während sich die Puzzleteile zusammenfügten und er verstand, wer die Lottogewinnerin war. Entsetzen überflutete ihn, als er in Erinnerungen versank.
Er saß da und starrte auf den Artikel. Hatte ihn die Vergangenheit wirklich eingeholt?
Kapitel 3
William lehnte sich über die Reling eines der Oberdecks der Empress of India. Feuchte Luft blies ihm ins Gesicht und eine breite Woge ließ das Schiff sanft und langsam schaukeln. Tief im Inneren hämmerten die Maschinen. Er sah zu, wie die Isle of Wight achtern verschwand und spürte eine gewisse Zufriedenheit. Vierzehn Tage lang konnte er alle Schwierigkeiten des Lebens auf dem Festland vergessen, die Spannungen und Konkurrenzkämpfe unter seinen Mitarbeitern, die Hindernisse bei der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, und das Böse, das Menschen ihren Mitmenschen antun konnten. Vierzehn Tage lang würde ihn nichts stören können, und er hatte seine Frau ganz für sich allein. Abgesehen von den siebenhundert anderen Passagieren natürlich.
Am Horizont fuhr ein großes Containerschiff gemächlich in die entgegengesetzte Richtung.
„Bei einer Backpfeife wird sogar die linke Backe rot“, murmelte William vor sich hin. Backbord, links, rot ... Steuerbord, rechts, grün.
Diese Seefahrerweisheit hatte sein Vater ihm beigebracht. Als Offizier der Armee war sein Vater kein großer Seefahrer gewesen. Doch die Familie Pigram hatte sich mal während eines Urlaubs auf der Isle of Wight mit einigen Freunden ein Haus geteilt, und Schlauchbootfahren hatte einen Großteil der Aktivitäten ausgemacht. William hatte es geliebt. Er hatte gehofft, dass sie wieder dorthin fahren würden, doch die nächste Versetzung seines Vaters führte ihn nach Deutschland und seine Mutter hatte aus irgendeinem Grund die Freundschaft zu der Seefahrer-Familie nicht aufrechterhalten wollen.
Rückblickend erinnerte sich William jetzt an eine Bemerkung von ihr an seinen Vater, die er mit angehört hatte. „Andy Wright wird es nie zum Partner bringen, er hat nicht genug Ehrgeiz. Nicht dass eine Partnerschaft bei dieser lächerlichen Anwaltskanzlei auf dem Land irgendetwas zu bedeuten hätte. Hast du denn keine alten Schulfreunde, die der Welt ihren Stempel aufgedrückt haben, John?“
William konnte sich nicht daran erinnern, was sein Vater geantwortet hatte, falls er es überhaupt getan hatte. John Pigram war sehr gut darin gewesen, zu ignorieren, was er von seiner Frau nicht hören wollte. Außerdem war er sehr gut darin gewesen, seinen Kindern nicht zuzuhören. Ganz anders als Darinas Vater; laut ihren Erzählungen hatte Dr. Lisle immer Zeit gehabt, sich mit seiner Tochter zu unterhalten. Oh, Vater sein! William sehnte sich nach der Erfahrung und fürchtete gleichzeitig, sich als mangelhaft herauszustellen. Wie gut würde er die Bedürfnisse eines Kindes erkennen können?
Aber das war nichts, womit er sich in der nahen Zukunft herumschlagen musste. Bei zahllosen Diskussionen zu dem Thema hatte Darina klargestellt, dass sie erst Zeit brauchte, um sich in ihrer Arbeit zu etablieren. Er hoffte, dass sie entweder bald erreichte, was sie wollte, oder aufgab. Während er sich jetzt an die Reling lehnte und beobachtete, wie die See hypnotisierend gegen das Schiff brandete als würde die glasklare Oberfläche eine Macht zurückhalten, die noch ihre Kräfte sammelte, dachte William über Karrieren nach. Die Anforderungen seiner eigenen bedeuteten, dass er selten zu einer Zeit zu Hause sein konnte, zu der er Kleinkinder baden oder ihnen Gutenachtgeschichten vorlesen konnte. Er konnte nicht einmal garantieren, dass die Wochenenden frei von plötzlichen Einsätzen waren. Aber immerhin war seine Arbeit wichtig und notwendig.
Das Schiff wogte leicht, die Macht unter der glasklaren Oberfläche schien sich bemerkbar zu machen.
Natürlich wollte er sehen, dass Darina ihre Ziele erreichte, sagte William sich. Die Tage waren längst vergangen, in denen eine Frau damit zufrieden war, sich um ihren Ehemann zu kümmern, den Nachwuchs aufzuziehen und ein Zuhause zu gestalten, so wie seine Mutter es noch getan hatte.
„Sagen Sie dem Festland Lebwohl?“ Jim French lehnte sich neben William an die Reling und zog seine Pfeife heraus.
William blickte aufs Meer hinaus, dort waren jetzt viele Schiffe zu sehen, aber angenehm wenig Land. Eine Komposition in grau, kein Sonnenuntergang an diesem Abend, zu viele Wolken. Das Schiff bewegte sich langsam unter seinen Füßen. „Glauben Sie, es wird regnen?“, fragte er.
Jim zuckte mit den Schultern. „Ich war noch nie ein Wetterfrosch, trotzdem würde ich sagen: sehr wahrscheinlich. Aber die Empress hat gute Stabilisatoren.“
William folgte seiner elliptischen Aussage ohne Probleme. „So schlimm, ja?“
„Es heißt, dass es morgen etwas windig wird.“ Er paffte stillvergnügt an seiner Pfeife.
William fragte sich, ob Darina eine gute Seefahrerin war. Dann fragte er sich, ob er selbst einer war. „Sollte im Sommer nicht so schlimm werden“, bot er an.
Jim sagte nichts, doch die Art, mit der er das tat, beunruhigte William.
Jim zeigte mit seiner Pfeife auf eine Kanalfähre, die gerade in Sicht kam. „Erinnern Sie sich an die Zeit, als die noch halb so groß waren, mit wenig Komfort und voller betrunkener Randalierer, die das meiste aus dem zollfreien Verkauf machen wollten? Da musste man noch die Zähne zusammenbeißen, ehe man unter Deck ging. Jetzt bieten Sie den puren Luxus, liegen stabil im Wasser und die Überfahrt ist Teil des Urlaubs, statt etwas, das man vergessen will, sobald man auf der anderen Seite angekommen ist.“ Er hielt inne, dachte nach und fügte dann hinzu: „Aber es gibt keinen Duty-Free-Shop mehr.“
„Das scheint keinen großen Unterschied zu machen“, kommentierte William, während sie zusahen, wie die riesige Fähre durch das Wasser pflügte. Als er die Überfahrt verfolgte, fiel Williams Blick auf den ehemaligen Landwirt Michael Harwood, der ein Stück weiter an der Reling lehnte.
„Schlimme Geschichte“, stieg Jim ein. „Zu viele Landwirte nagen heutzutage am Hungertuch. Die Regierung mischt sich zu sehr ein, das ist das Problem“, fügte er klug hinzu. „Einer der Gründe, warum ich an die Jungs übergeben habe, war der ganze Papierkram, mit dem man sich heutzutage herumschlagen muss.“
William dachte verzweifelt an all den Papierkram, der ihn in seinem Leben verfolgte.
„Also, was führt Sie und Ihre Lady bei dieser Reise zu uns an Bord?“
„Darina ist Köchin“, sagte William. „Sie ist Expertin für skandinavisches Essen und die Betreibergesellschaft hat sie darum gebeten, dem Smutje dabei zu helfen, ein paar regionale Gerichte auszuarbeiten.“
„Ich esse gerne Steak“, sagte Jim. „Ich habe für diesen fremdländischen Mist nichts übrig. Obwohl das Curry, das sie uns zum Mittagessen vorgesetzt haben, gar nicht schlecht war“, fügte er nachdenklich hinzu. „Mary versucht sich manchmal daran, aber das ist nicht dasselbe. Sie meint, dass sie hier nicht das fertig gemischte Pulver verwenden. Viele der Mitarbeiter in der Bordgastronomie kommen aus Goa, also ist das kein Wunder.“
„Darina wird den Passagieren zeigen, wie man Canapés macht“, sagte William.
„Canapés, ja?“, fragte Jim nachdenklich. „Also ein Sandwich ohne Oberseite?“
„Ja.“
„Das ist bestimmt schwer zu essen.“
„Man benutzt Messer und Gabel.“
„Dann hat das ja wohl kaum etwas von einem Sandwich.“
William beschloss, dass er Darina nicht von dieser Unterhaltung berichten würde.
„Immerhin mal was anderes, schätze ich. Das sollte einem doch gefallen, oder?“ Jim zog an seiner Pfeife und erzeugte damit ein seltsames, blubberndes Geräusch. „Es klingt, als wären Sie ein glücklicher Mann, mit einer Essens-Expertin zusammenzuleben.“
William dachte daran, dass er widerholt heimgekehrt war, die Küche mit allerlei Kochgerätschaften vollgestellt vorfand, überall Geschirr herumstand und es trotzdem nichts zu essen gab. Alles war entweder nicht fertig, oder für den Tiefkühler bestimmt und Darina saß an ihrem Computer und braute einen Artikel oder den Abschnitt eines Buches zusammen. Wenn er Essen vorgesetzt bekam, wartete Darina immer unruhig auf seine Kommentare, es waren Gerichte mit fremden Gewürzen, seltsames Gebäck oder sogar rohes Gemüse. Nie schien es gewöhnliches Essen wie Shepherd’s Pie, Gebratenes oder Kedgeree – ein Gericht aus Reis mit Fisch und Ei – zu geben.
William rutschte unbequem am Geländer herum. Natürlich genoss er häufig, was Darina produzierte, dachte er, wie seltsam es auch war; sie war auf jeden Fall eine brillante Köchin.
„Sind Sie beim ersten oder beim zweiten Abendessen?“
„Beim zweiten.“
„Dafür hat Mary uns auch eingetragen“, sagte Jim niedergeschlagen. „Ich esse gerne früh, dann hat man noch den ganzen Abend Zeit, aber sie sagte, das spätere Essen sei stilvoller. Was arbeiten Sie, wenn ich fragen darf?“
„Beamter im öffentlichen Dienst“, sagte William prompt.
„Ich dachte mir, dass Sie nicht in der Industrie sind“, sagte Jim zufrieden.
„Warum?“ William war neugierig.
Jim betrachtete ihn eingehend. „Ich schätze, es hat etwas mit der Art zu tun, wie Sie Menschen betrachten. Als würden Sie uns einschätzen, beobachten, wie wir ticken. Ich wette, Sie sind Polizist.“
William lachte. Jim war scharfsinniger, als er auf den ersten Blick wirkte. „Erwischt!“
„Ich kann übrigens verstehen, warum Sie das nicht an die große Glocke hängen wollen.“
„Können Sie?“
„Natürlich, jedes Mal, wenn einer einem Polizisten begegnet, fühlt er sich schuldig.“
„Ich fürchte, das ist ein Hinweis auf Ihr Alter, heutzutage bringen uns nur wenige Menschen überhaupt Respekt entgegen.“
„Das macht die Arbeit sicher mühsamer.“
„Das können Sie laut sagen!“
„Ihr Geheimnis ist bei mir sicher“, sagte Jim beruhigend.
Michael Harwood blickte immer noch trostlos auf den Ozean hinaus, der jetzt eine etwas stärkere Dünung entwickelte.
„Er sieht aus als würde er sich im Meer wohler fühlen als darauf.“ Jim klang besorgt. „Ich denke, ich werde mal Hallo sagen.“
William fragte sich einen Augenblick lang, ob er auch die Hand zur Freundschaft austrecken sollte, dann dachte er, dass der ältere Mann allein eine bessere Chance hätte, Kontakt aufzunehmen. Als er sich umdrehte, um sich unter Deck zu begeben, stieß er mit einem großen, uniformierten Mann zusammen. Mit einer mechanischen Entschuldigung auf den Lippen realisierte William plötzlich, dass er ihn kannte. „Sergeant Dobson!“
Der Mann trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn genauer. „Also wenn das nicht Detective Sergeant Pigram ist. Nur dass ich nicht glaube, dass Sie noch Sergeant sind, Sir, habe ich recht?“
„Ich bin vor Kurzem Chief Inspector geworden“, gestand William mit abwehrend verzogenen Lippen. „Hatte Glück.“
„Oh ja, Sie waren immer ein verdammter Glückspilz. Es ist beeindruckend, wie Sie immer mehr Glück hatten, je härter Sie gearbeitet haben.“
„Haben Sie jetzt den Dienst gewechselt?“, fragte William, als er das goldene Flechtband an der dunklen Marineuniform seines ehemaligen Sergeants betrachtete. „Ich dachte, Sie wären mit der Familie Ihrer Frau rauf nach Liverpool gezogen.“
Sergeant Dobson trat zur Seite, um eine Gruppe Passagiere an diesem schmalen Teil des Decks passieren zu lassen. „Ich habe meine dreißig Jahre gedient, Sir. Und gerade als ich ausschied, hörte ich, dass es offene Stellen als Sicherheitsbeamter an Bord von Linienschiffen gebe. Meine Frau starb vor einigen Jahren und ich wollte schon immer reisen, also bin ich hier. Schön, Sie wiederzusehen, Sir. Ich freue mich, dass es Ihnen so gut ergangen ist.“ Der ehemalige Sergeant hatte offensichtlich Pflichten zu erfüllen.
„Das mit Ihrer Frau tut mir leid. Ich hoffe, wir können uns mal zusammensetzen, wenn Sie nicht im Dienst sind und Zeit haben“, sagte William. „Es wäre schön, alte Zeiten aufzufrischen.“
Das furchige Gesicht des großen Mannes erhellte sich. „Das wäre es, Sir. Wir sehen uns dann.“ Er salutierte beinahe. William sah zu, wie er zielstrebig das Deck hinablief und dachte reumütig daran, dass man die Polizeiarbeit nie ganz hinter sich lassen konnte. Doch er hatte Stan Dobson immer gemocht und es wäre angenehm, etwas Zeit mit ihm zu verbringen. Konnte es bei Kreuzfahrten kriminelle Elemente geben?
Unter Deck hatte Darina bereits ausgepackt. „Ich habe noch nie so einen gut genutzten Raum gesehen“, rief sie aufgeregt, als William in die Kabine kam. „Ich hätte viel mehr Anziehsachen mitbringen können.“
William dachte an die Zeit, die sie zum Einpacken dessen gebraucht hatte, was ihm wie ein Großteil ihrer Garderobe erschien, und betrachtete das Ende eines Koffers, dass unter einem der Betten hervorschaute. „Du hättest aber die Koffer nicht mehr verstauen können, wenn wir noch mehr mitgebracht hätten“, sagte er und hielt sich an der Kante des Schminktisches fest, als das Schiff im Seegang wankte. „Jim French sagt, dass wir uns auf einen Sturm einstellen können“, fügte er hinzu und ließ sich schwer auf das Bett fallen.
Darina blickte auf die graue See hinaus, kleine, weiße Kronen auf den Wellen waren das einzige, was sie vom ebenso grauen Himmel unterschied. „Das ist in Ordnung, ich bin eine gute Seefahrerin“, sagte sie fröhlich. „Ich werde jetzt duschen und mir dann etwas anderes anziehen.“
„Ich dachte, das macht man beim ersten Abendessen nicht.“ William erinnerte sich an mehrere Hollywood-Filme mit peinlich berührten, neureichen Passagieren, die in voller Montur im Speisesaal auftauchten, während alle anderen Alltagskleidung trugen.
„Nichts Förmliches, aber ich dachte, ich ziehe eine andere Hose an, und das Oberteil, das dir so an mir gefällt.“ Darina legte Jeans und Sweatshirt ab und verschwand im Badezimmer.
„Ah!“, sagte William und nahm sich den Aktivitätenplan des Schiffes.
„Oh, und wir wurden von der Kreuzfahrtdirektorin zu einer Cocktail-Party eingeladen“, fügte Darina hinzu, indem sie ihren mit einer Duschhaube bedeckten Kopf noch einmal in die Kabine streckte. „Das ist vor dem Abendessen. Halt dich an mich und du wirst nicht für deine Getränke zahlen müssen!“