Kapitel 1
In aller Ruhe spazierte Margret in der unteren Etage von Raum zu Raum und schob die schweren dunkelblauen Samtvorhänge zur Seite. Das hereinfallende Sonnenlicht wärmte und ummantelte sie. Hier und da blieb sie am Fenster stehen und schaute mit zusammengekniffenen Augen hinaus in die Ferne. Ihr in die Jahre gekommenes Cottage lag am äußersten Rand von Little Maine und bot eine fabelhafte Aussicht in die Idylle, die dahinterlag. So weit das Auge reichte, sah man grüne Wiesen und Weiden mit kleinen Wäldchen. In einiger Entfernung konnte man vom Wohnzimmer aus, das alte Schloss von Little Maine sehen. Erhaben thronte es auf einem Hügel und hatte früher die Siedlungen ringsherum überwacht. Heute lockte es mehr Touristen, die den Charme längst vergangener Zeit erleben und spüren wollten. Es befand sich mittlerweile im Besitz der Rutherfords, doch lebte dort keiner von ihnen.
Margret wandte sich ab vom Anblick der Schlossmauern im saftigen Grün und wackelte barfuß über die Holzdielen. Die patschenden Geräusche erinnerten einen an eine Ente. Margret genoss es, sich ohne Schuhwerk fortzubewegen. Egal, wo sie war, zog sie, sobald sie saß, ihre Schuhe aus und genoss die Luftzüge, die Zehen und Fußsohlen umspielten. Zuhause trug sie weder im Sommer noch im Winter Schuhe. Dieses Gefühl von Leichtigkeit empfand sie als wahren Genuss, auch wenn andere es mitunter stirnrunzelnd beäugten.
Als Nächstes ging Margret in die Küche, wo sie alles für die Zubereitung ihres Apfelkuchens vorbereitet hatte. Ihr fast vierzehnjähriger Neffe liebte ihn und sie wollte ihm bei seiner Ankunft eine Freude bereiten. Es würde das erste Mal sein, dass er bei ihr eine längere Zeit übernachtete. Mit routinierten Griffen gab sie eine Zutat nach der anderen in die Rührschüssel und wenig später füllte sie den Teig in eine Backform. Die geschnittenen Apfelspalten verteilte sie sodann kreisförmig und schob ihr Werk in den Ofen. Vor Verblüffung lachend stellte sie fest, dass sie diesen bisher nicht vorgeheizt hatte. „Du Schussel, man könnte meinen, du wirst alt.“ Rasch betätigte sie die Drehknöpfe am Ofen und schaltete die Eieruhr auf die entsprechende Zeit ein. Den Kuchen wollte sie nicht auch noch in der Röhre vergessen. Solche Malheure passierten ihr schon mal und sorgten in ihrem Umfeld immer wieder für einen Lacher. Vor allem bei ihren Schülern. Die Grundschullehrerin war bei den Kleinen beliebt. Das lag zum einen daran, dass sie für jeden Blödsinn zu begeistern war, zum anderen war sie sehr direkt und sagte, wo der Hase langlief.
Da Margret die Ordnung liebte, räumte sie gleich darauf die Küche auf und wusch die benutzten Utensilien ab, die sie anschließend in den Schränken verstaute. Jedes Teil hatte seinen festen Platz. Sie konnte nahezu irre werden, wenn Freunde ihr beim Abwasch halfen und eigenmächtig Sachen an falsche Orte stellten. Daher bestand sie grundsätzlich darauf, dass man sie, wenn es unbedingt sein musste, lediglich beim Abräumen des Tisches und Abtrocknen unterstützen durfte, aber alles andere ihr oblag.
Die Uhr tickte im Hintergrund. So hatte Margret noch genügend Zeit, ehe Elisabeth sie zu ihrer kleinen Freitagsrunde abholen würde. Ihr Blick fiel auf die Schiefertafel, die sie von ihrer Klasse zum Schuljahresende geschenkt bekommen hatte. Dort notierte sich die eigensinnige Lehrerin seitdem regelmäßig alle Dinge, die sie zu erledigen hatte, um bloß nichts zu verschusseln. Laut Liste fehlte lediglich das Herrichten des Zimmers für ihren Neffen. In den kommenden Tagen würde er die Sommerferien bei ihr verbringen. Margret durchschritt von der Küche aus das Wohnzimmer, wodurch das Geräusch ihrer patschenden Füße einen kleinen Moment verstummte, als sie den Teppich beim Sofa überquerte, um zur Treppe zu gelangen. Stufe für Stufe erklomm sie den Weg nach oben. Dass sie nicht die Fitteste war, merkte Margret jetzt wieder.
„Es waren eindeutig zu viele Kekse und Kuchenstücke in den letzten Wochen … Jahren“, gestand sie sich tadelnd ein, als sie die ersten Schritte hinter sich gebracht hatte. Ein wenig behäbig hievte sie sich nach oben. Auf der Hälfte blieb sie stehen. Es war nicht so, dass sie schnaufen musste, aber ihre Knochen fühlten sich wie siebzig an, obwohl sie erst fünfunddreißig war. War sie in vielerlei Dingen sehr organisiert und diszipliniert, so zählte dies nicht für ihre Ernährung. Margret war schon immer ein Genussmensch gewesen. Es fiel ihr nicht leicht, bei leckerem Essen nein zu sagen.
Da stand sie nun und schaute die Treppe hinauf. Zur Sicherheit stützte sie sich am Geländer ab und gelangte im Schneckentempo ins Obergeschoss. Hier befanden sich die ehemaligen Kinderzimmer von ihren Geschwistern und ihr, ein kleines Bad und das frühere Zimmer von Grandpa Ian und Granny Lorna. Vom Treppenabsatz ging sie nach links bis ans Ende des schmalen, schlauchartigen Flures, wo ihr älterer Bruder sein Zimmer im Hause der Großeltern gehabt hatte.
Beim Eintreten vernahm sie den Geruch von früher und schwelgte ein wenig in Erinnerungen. Sie öffnete das Fenster zum Garten und richtete das Bett für Benjamin her. Danach kümmerte sie sich um das Bad, das sie mit Handtüchern bestückte, ehe sie den mühseligen Weg nach unten antrat.
Kaum hatte sie das Erdgeschoss erreicht, das herrlich nach Apfelkuchen roch, läutete es schrill an der Tür. Sie schaute zur Standuhr im Wohnzimmer und grinste. Ihre Freundin war wie sie selbst ein Schweizer Uhrwerk und kam lieber zu früh als zu spät. Während sie zur Haustür taspte, hörte sie die Eieruhr aus der Küche. Nun war Eile geboten, damit es später nicht Steinkohle statt Kuchen zum Kaffee geben würde. Flink öffnete sie die Tür und floh sogleich in die Küche zum Backofen.
„Komm rein, Beth. Ich muss schnell den Kuchen vor seinem Untergang bewahren!“, rief sie in den Flur und bahnte sich ihren Weg zum Gebäck. Margret wollte die Ofentür aufreißen und die Backform greifen, zog aber noch rechtzeitig die Hände zurück. Kopfschüttelnd streifte sie sich die Backhandschuhe über und holte den Kuchen heraus, damit er auskühlen konnte.
Als sie sich umdrehte, stand Elisabeth bereits am Küchentisch und hob eine Brötchentüte mit der linken Hand hoch. „Das duftet ja köstlich. Lust auf ein französisches Frühstück, wenn wir fertig sind?“, fragte die weißhaarige kleine Frau und grinste. Schnell lief Margret ins Schlafzimmer und zog sich um.
Obwohl sie sich zum Walken verabredet hatten, war Beth wie immer hervorragend gekleidet, was man von Margret nicht behaupten konnte. Zu ihren weißen Turnschuhen trug ihre beste und deutlich ältere Freundin den cremefarbenen Trainingsanzug. Sie selbst hingegen blaugeblümte Leggings und ein neongrünes Oberteil. Dieses Ensemble vervollständigte sie mit einem gelben Schweißband, das sie nun aufsetzte. Ihre wilden roten Locken erschwerten diese Prozedur jedes Mal. Danach folgten ihre violetten Turnschuhe.
„Ich bin startklar, Beth. Und zu dem Frühstück sage ich garantiert nicht nein. Immerhin ist es eine Tüte aus Pamelas Café. Ich bin mir sicher, dass sich in dieser wieder umwerfende Croissants befinden“, gab sie gut gelaunt von sich, während Beth ihr zustimmend zunickte.
Nachdem sie ihre Stöcke aus der Garderobe neben der Haustür genommen hatte, begannen die beiden Freundinnen ihre Route. Wie zwei Stockenten marschierten sie langsamen Schrittes zunächst den kleinen Weg am Bach entlang, der in Richtung Zentrum führte. Ihr Tempo war seit je her moderat. Einerseits lag es an Margrets mangelnder Kondition, die dringend verbessert werden musste, andererseits bremste Elisabeths Hüfte den Elan.
„Und? Schon alles für den kleinen Mann vorbereitet?“, fragte Elisabeth, während sie ihres Weges daher schlenderten.
„Just als du geklingelt hast, war ich mit allem fertig“, antwortete Margret und schnappte ein wenig nach Luft. „Wir müssen öfters zusammen diese Runde walken. Ich habe mich wie eine Elefantenkuh die Treppen nach oben geschleppt.“
Es folgte ein herzliches Lachen der beiden, das abrupt endete. Ohne Vorwarnung war jemand an ihnen vorbeigerannt, sodass sie beide erschraken und einen Hopser zur Seite machten. Margret konnte sich noch rechtzeitig an einer Eiche abstützen. „Kann der Blödmann nicht aufpassen!“, stieß sie aus und blickte dem Übeltäter nach. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie den Mann in seinem typischen Laufoutfit. Er winkte ihnen entschuldigend zu, ohne zurückzusehen. Robert Cain, einer ihrer nächsten Nachbarn und engsten Freunde, der hier täglich seine Laufrunden absolvierte.
„Der hatte es aber eilig.“
„Das kannst du laut sagen, Beth. Trotzdem hätte er sich bemerkbar machen können. Der wird bei unserem nächsten Treffen noch eine Ansage bekommen.“ Margret machte eine kleine Pause, dann schüttelte sie den Kopf. „Ach, was! Das werden wir ihm jetzt direkt sagen.“
Elisabeth hatte keine Chance, Einwand zu erheben, da Margret ihren Walk energisch schnaufend fortsetzte.
Mit leicht angezogenem Tempo passierten die beiden Damen bald einen kleinen Teich und gelangten wie zwei lahmende Mulis an den Stadtrand, wo sich das Haus der Cains befand – Ein Cottage wie das von Margret, allerdings renoviert und moderner gestaltet. Im Vorgarten blühten rote und weiße Rosen, Rhododendron, Buchsbaum, Sträucher, Tulpen sämtlicher Couleur, Eisenhut und Obstbäumchen. Der Garten von Lourdes, Roberts Frau, war in der ganzen Gegend bekannt und zog auch vorbeispazierende Touristen in seinen Bann. Margret ließ sich von dieser Schönheit nicht beirren und lehnte ihre Stöcker an den weißen Friesenzaun, der das Grundstück umgab. Mit Schwung riss sie das kleine Törchen auf und bahnte sich ihren Weg zur Haustür.
„Maggie, warte doch. Findest du nicht, dass du ein bisschen überreagierst?“, versuchte Elisabeth, die am Tor innegehalten hatte, ihre Freundin von ihrem Plan abzuhalten.
Margret wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als ein lautes Scheppern ertönte. Die beiden Frauen zuckten wie erschrockene Schnecken zusammen. Es klang, als wäre Geschirr zu Boden gefallen oder geworfen worden.
„Es ist immer das Gleiche! Ich bin es leid!“, hörten sie eine erregte Frauenstimme laut und deutlich. Ein Mann, sehr wahrscheinlich Robert, antwortete etwas, doch er sprach zu leise. Margret richtete sich wieder auf und lehnte sich mit dem linken Ohr an die Haustür, um besser mitzubekommen, was im Hause der Cains vorging. Bedauerlicherweise herrschte dann Schweigen und nichts drang zu ihr durch. Stattdessen stürzte sie beinahe zu Boden, weil die Tür aufgerissen wurde. Gerade noch rechtzeitig konnte Margret reagieren und sich aufrecht hinstellen, dabei wankte sie jedoch ein wenig.
Vor ihr stand Lourdes, Roberts Ehefrau, die sie finster anstarrte. „Miss Pagnum! Ich meine Margret. Was willst du hier?“ Sie klang barsch und unfreundlich, so als wäre ihr eine Laus über die Leber gelaufen.
Margret hingegen setzte ein freundliches Lächeln auf, um nicht ertappt zu wirken. „Ach, nichts Bestimmtes. Wir waren in der Gegend und wollten spontan Hallo sagen, als wir an deinem bezaubernden Garten vorbeikamen“, log sie, um Zeit zu gewinnen. „Stimmt’s nicht, Beth?“ Sie drehte nach rechts und suchte flehend den Blick ihrer Freundin, die stumm am Törchen stand und grinsend winkte.
„Aha“, gab Lourdes wenig überzeugt von sich. „Das habt ihr beide dann ja hiermit getan. Entschuldigt mich. Ich habe es eilig und keine Zeit für ein Kaffeekränzchen mit euch.“ Sie zog die leicht offen stehende Tür hinter sich zu und ging ohne ein weiteres Wort zu sagen, an Margret und Elisabeth vorbei. Kaum passierte Lourdes die beiden Damen, bog sie in Richtung Zentrum ab.
Margret eilte zu ihrer Walkingpartnerin und schloss das Törchen. „Unfreundliches Frauenzimmer. Kein Wunder, dass der arme Robert wie der Blitz an uns vorbeigerannt ist, wenn man so einen Drachen zu Hause hat“, erboste sie sich wegen Lourdes’ frecher Abfuhr. „Obwohl wir uns regelmäßig zum Tee treffen und über Gott und die Welt reden, hat er mir noch nie davon erzählt.“
„Da magst du recht haben, aber du hast Glück, dass sie dich nicht beim Lauschen ertappt hat, Maggie. Wir haben sie sicherlich an einem schlechten Tag erwischt.“
„Du bringst immer so viel Verständnis auf“, erwiderte Margret kopfschüttelnd.
„Täte dir mal ganz gut, junge Dame“, erwiderte die zierliche kleine Frau und schmunzelte.
Margret wollte etwas erwidern, ließ es aber auf sich beruhen und griff nach ihren Stöcken, damit sie ihren Marsch fortsetzen konnten. Da öffnete sich die Haustür erneut und Robert trat heraus.
Er blickte sie überrascht an. „Oh … Maggie. Miss Moon. Habt ihr etwa geklopft oder geklingelt?“, erkundigte er sich, war jedoch nicht bei der Sache, da er sich suchend umsah.
Wie zuvor bei Lourdes setzte Margret ein falsches Lächeln auf, das überzeugender wirkte als das zuvor. „Wir hatten uns nur den Garten ansehen wollen. Lourdes muss wohl Besorgungen machen, so eilig war sie an uns vorbei“, erklärte sie ihm auf die Schnelle. „Apropos schnell.“ Sie machte eine künstliche Pause, um Roberts Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Er sah ihr nun direkt ins Gesicht und nicht an ihr vorbei. „Ja?“
„Wenn du uns das nächste Mal überholst, dann warne uns bitte. Mein Herz wäre vor Schreck fast stehen geblieben.“ Mit erboster Geste fasste sie sich an die linke Brust.
„Oh, das tut mir leid. Ich war vollkommen in Gedanken und …“
Margret winkte mit einer unbekümmerten Geste ab. „Alles gut, Robert. Ist sicherlich die Aufregung wegen des Backwettbewerbes morgen. Wir beide stimmen für dich.“
„Lieben Dank. Das freut mich zu hören. Der oder die Bessere möge gewinnen, heißt es doch so schön.“
„Papperlapapp!“, rief Margret deutlich lauter als gewollt. „Dieser hochnäsigen, arroganten Ziege muss mal endlich einer Einhalt gebieten.“
Robert wirkte beeindruckt ob Margrets Äußerung.
„Wie dem auch sei, du machst das schon, Robert. Und nun belästigen wir dich nicht länger. Wir haben noch ein Stückchen zu laufen.“ Sie drehte sich um und zog ihre Freundin beim Aufbruch am Ärmel. Beth winkte noch kurz verlegen in Robert Cains Richtung und bummelte hinterher.
Als sie außer Reich- und Hörweite waren, meldete sich Elisabeth zu Wort. „Da hast du uns ja gerade noch einmal aus der Patsche geholt.“
Beide kicherten.
Elisabeth dirigierte sie Stück für Stück zum Zentrum, wo nun zu beiden Seiten mehr Häuser standen. Jedes besaß einen Vorgarten sowie eine kleine Einfahrt für das Auto. Anders als in Großstädten wie London wirkten sie nicht dicht an dicht gequetscht. Hier und da wuchsen wuchtige alte Bäume. Je weiter man dem Stadtkern kam, desto spärlicher wurden sie, dafür stieg der Lärmpegel. Überall hörte man Stimmen, Gehämmer und Treiben. Nach weiteren fünfhundert Metern fanden sie den Ursprung. Über die High Street gelangten sie in die Nähe des Marktplatzes, auf dem buntes, hektisches Gewusel herrschte. Margret und Elisabeth hielten an einer Absperrung inne. Auf dem Platz parkten Lastwagen, aus denen junge kräftige Männer allerhand Equipment trugen. Auch ein kleiner Kran war gegenüber der Bank aufgestellt worden und hievte schwere Last von einem Ort zum anderen. Mehr konnten sie hinter all den Geräten nicht ausmachen.
„Was ist denn hier los? Ich glaub, mich tritt ein Pferd.“ Kaum platzten diese Worte aus Margrets Mund heraus, quetschte sie sich mühsam an der Absperrung vorbei. Sie kämpfte sich durch eine schmale Lücke zwischen den Lastwagen und Männern hindurch, um zur Mitte des Marktplatzes zu gelangen. Sie wollte sich ein genaueres Bild vom Geschehen machen, doch nach einigen Schritten fasste sie jemand an der Schulter. Die wurstigen Finger waren das Erste, das Margret wahrnahm. Abwehrend streifte sie die Hand wie ungebetenes Ungeziefer ab.
„Miss Pagnum! Diese Absperrung wurde nicht ohne Grund aufgestellt. Wenn ich Sie bitten dürfte.“ Vor ihr stand Philipp Stone, Little Maines Bürgermeister. Der klein gewachsene dickbauchige Mann hatte eine seiner Brauen hochgezogen und wies Margret auffordernd den Weg. „Na, wird’s bald. Ich habe weitaus Besseres zu tun, wie Sie wissen. Und nun muss ich meine wertvolle Zeit damit verschwenden, eine neugierige Lehrerin vom Platz zu verweisen.“
„Dann lassen Sie es doch sein, Stone. Gönnen Sie einer armen alleinstehenden Frau wie mir ein bisschen Spaß“, gab Margret schnippisch zurück. Sie wusste, dass das frech war, aber sie mochte diesen Mann nicht. Bis heute verstand sie nicht, dass Conny ihn geheiratet und vier Kinder mit ihm hatte. Da Stone nicht nachgab, trat Margret freiwillig ihren Rückzug an, bevor er seine dicken Finger erneut in ihre Schulter grub. „Aufgeblasener Wichtigtuer“, brabbelte sie leise vor sich hin, allerdings schien ihr stilles Gemaule nicht ungehört geblieben zu sein.
„Morgen werden Sie einen viel besseren Blick auf das alles haben, Miss Pagnum. Das verspreche ich Ihnen. Ein bisschen Vorfreude ist doch immer etwas Schönes.“
Sie hielt im Gehen inne. In ihr zog sich einiges an Ärger zusammen, aber sie vermied es, die Schultern angespannt hochzuziehen. Diese Genugtuung wollte sie Stone nicht geben. Langsam, fast in Zeitlupe, wandte sie sich zum Bürgermeister und schaute ihn unbeeindruckt an. Dann schüttelte sie leicht mit dem Kopf und deutete Elisabeth, die nach wie vor an der Absperrung geblieben war. Gemeinsam marschierten sie mit ihren Stöcken wie ein vertrautes Ehepaar davon.
Eine halbe Stunde später erreichten sie Margrets Cottage. Margret öffnete die Tür energisch, streifte ihre Schuhe ab und stellte sie mit den Stöcken an die Seite. Anschließend ging sie zielstrebig zur Terrassentür. Beth tat es ihr gleich, obwohl sie nicht wusste, was ihre Freundin vorhatte. Innerlich hatte sie sich auf das gemeinsame Frühstück eingestellt, aber nun beschlich sie das Gefühl, dass dieses noch etwas warten müsste.
Als sie in den Garten zu Margret hinaustrat, war diese bereits dabei, merkwürdige Verrenkungen zu vollziehen. Ihr Hintern guckte dabei gen Himmel. Die ausgestreckten Arme und krumm eingeknickten Beine auf dem Boden abgestellt, schaute sie nach unten. Dass diese Position alles andere als gekonnt aussah, merkte man am Wanken der Mittdreißigerin. Akustisch wurde es von einem stöhnenden Schnaufer unterstrichen, den sie von sich gab.
„Was um Himmels willen tust du da, Maggie?“
„Na, wonach sieht es denn aus? Das ist der herabschauende Hund. Das ist eine Yogafigur, die mir beim Entspannen helfen soll.“ Margret löste sich wie eine Schildkröte auf dem Rücken aus dieser Haltung. Plumpsend kam sie auf dem Rasen zum Sitzen. Ihre rote Mähne hing ihr wild ins beinahe ebenso rote Gesicht. „Das musste sein. Dieser Philipp Stone bringt mich, seitdem ich hier wohne, zur Weißglut“, schimpfte sie wie ein Rohrspatz. Komm, lass uns frühstücken. Ich brauche dringend Zucker“, sagte Margret lachend und wuchtete sich mühsam hoch.
Nachdem sie den Tisch auf der Terrasse hergerichtet und Tee gekocht hatten, nahmen sie Platz und bissen genüsslich in das Backwerk: unglaublich leckere Croissants aus Pamelas Café. Jedem im Ort war es ein Rätsel, wie die bildhübsche Inhaberin der städtischen Bäckerei so vorzügliche Dinge backen konnte und dabei ihre umwerfende Figur behielt. Das kümmerte Margret in diesem Moment allerdings wenig. Sie hatte sich mit der kurzen Yoga-Session sportlich völlig verausgabt und freute sich auf diese Leckerei. Ungeniert leckte sie sich die Finger ab, als sie den letzten Bissen verdrückt hatte.
„Mal ganz im Ernst, Beth. Philipp Stone ist mit Abstand die unfähigste Person für das Amt des Bürgermeisters, die man sich vorstellen kann. Nicht nur, dass er meiner Meinung nach keine Ahnung von irgendetwas hat, nein, sein wichtigtuerisches Gehabe finde ich unmöglich. Um unser Backfest und das Wohl von Little Maine geht es doch morgen nicht wirklich, wenn das Fernsehen hier ist, das alles live übertragen wird. Mit Robert als Bürgermeister wäre das nicht passiert“, echauffierte sich die schlagfertige Lehrerin gegenüber ihrer Freundin.
Elisabeth sah sie mit großen Augen über den Rand ihrer Tasse an. Sie trank einen Schluck und stellte die Tasse ab. „Selbstverständlich nicht, Margret. Und er braucht ja auch für die anstehende Wahl Ende August noch einige Stimmen, um den Posten zu behalten. Man munkelt, dass Robert Cain dieses Mal ein Stückchen weiter vorne liegt.“
„Das wäre uns zu wünschen“, warf Margret ein. „Mich würde ja brennend interessieren, weshalb sich Lourdes und er so in den Haaren hatten.“ Sie blickte verträumt an Elisabeth vorbei zu den Bildern auf dem Kamin, fing sich aber schnell wieder. „Sei es drum. Ich werde gleich noch kurz in die Stadt fahren, bevor mein Bruder John samt Frau und Kind hier aufschlägt.“
Nach dem Abräumen verabschiedeten sich die beiden ungleichen Freundinnen in üblicher französischer Manier voneinander. Margret ging wieder ins Cottage und machte sich frisch. Ihr farbenfrohes Outfit tauschte sie gegen einen schwarzen knöchellangen Rock mit Spitze und einen cremefarbenen Wollpullover, über den sie ihre grüne Kunstlederjacke zog. Flache schwarze Schuhe vervollständigten das Ganze und sie ging zum Schuppen, wo ihr treuer Gefährte auf sie wartete. Sie öffnete das Tor und lief auf ihre Vespa zu. In fließender Routine stülpte sie nach dem Aufsitzen den giftgrünen Helm über und startete dann ihre ebenfalls giftgrüne Lucy.
Margret bretterte mit fünfzig Kilometern pro Stunde über den Sandweg davon. Nach wenigen Minuten erreichte sie ihr Ziel und klopfte an die Tür des Pfarrhauses. Es dauerte nicht lange, bis diese von Pater Grey geöffnet wurde.
„Oh, schönen guten Tag, Miss Pagnum. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Es war Maggie immer noch schleierhaft, weshalb er sie unentwegt siezte, obwohl sie sich seit ihren Kindertagen kannten.
„Hallo, Jonathan. Entschuldige die Störung. Es geht auch schnell.“ Der weißhaarige hagere Mann auf der Treppe sah von weit oben zu ihr hinunter und nickte. „Mein Neffe wird die kommenden Tage hier sein und ich würde ihn gerne am Donnerstag mit in die Suppenküche nehmen.“
„Nichts lieber als das. Die Kirche freut sich immer über das Engagement junger Leute.“
„Danke dir.“ Sie drehte sich um und war im Begriff zu gehen, blieb aber zögernd stehen. „Margret“, sagte sie dann. „Mein Name. Das solltest du eigentlich wissen, mein Lieber.“
Pater Grey lächelte sie an. „Bis Donnerstag.“ Dann schloss er die Tür wieder.
Ihren Trip in die Stadt rundete Margret auf ihrem schnittigen Gefährt mit einem weiteren Abstecher zum Marktplatz ab. Sie wollte ihre Neugierde befriedigen. Doch auch dieses Mal sollte es ihr nicht gelingen, nur den Hauch eines Einblicks zu erhalten, da Stone wie ein Luchs aufpasste.
Einige Stunden später empfing Margret ihren ältesten Bruder John und seine kleine Familie freudig an der Tür. Benjamin schmollte, weil er nicht in den Freizeitpark vor Little Maine durfte. Aber sein Gesicht hellte sich auf, als er auf die nackten Füße seiner Tante schaute, die verkündete, seinen geliebten Apfelkuchen gebacken zu haben. Kaum hatte er zwei Stücke verdrückt, zeigte er ihr sein neues Handy, das er für sein gutes Zeugnis bekommen hatte.
„Das ist ja ein tolles Teil, Benji“, sagte sie, war aber nicht sonderlich angetan. Sie betrachtete die neumodische Technik mit Argwohn. Bis heute waren ihr diese Dinger ein Rätsel und sie war davon überzeugt, sie nicht zu benötigen.
„Du brauchst auch eins, Tante Margret. Hast du Internet und kann ich dein WLAN-Passwort haben?“
Margret erhob sich langsam und ging zu ihrem Telefon mit Wählscheibe. „Junger Mann. Ich bin stolze Besitzerin hiervon. Mehr brauche ich nicht. Internet habe ich aber und einen Computer besitze ich auch. Ich lebe ja nicht vollständig hinterm Mond.“
Benjamin gesellte sich zu ihr und betrachte das Relikt aus Urzeiten mit Skepsis. Nach einigen Fehlversuchen dieses zu bedienen, verzog er sich in den Garten, wo nichts vor seiner Handykamera sicher war. Die Erwachsenen lachten und unterhielten sich über die Situation der Familie und Johns Jobaussichten in London. Erst vor einigen Wochen war die Familie in ein neues kleines Haus ins Zentrum von London gezogen. Dadurch hatte Benjamin einen deutlich kürzeren Schulweg.
„Das sind ja toll Neuigkeiten. Und wann fängst du bei der Firma an?“, erkundigte sich Margret.
„Wenn alles gut läuft schon im September. Dann leite ich zwei Abteilungen.
Margret und John schwelgten noch in Erinnerungen und erzählten kleine Anekdoten von früher.
Gegen späten Nachmittag darauf fuhren ihr ältester Bruder und seine Frau Kate zurück. Margret und Benjamin winkten ihnen nach und läuteten ihren ersten Abend mit einer saftigen, leckeren selbst gemachten Pizza ein. Diese ausgelassene Stimmung sollte am Folgetag eine überraschende Kehrtwende nehmen.
Kapitel 2
Am nächsten Morgen frühstückten Margret und Benjamin in der Küche: typisch Englisch mit weichem Rührei, Baked Beans und Heißwürstchen, so wie es ihr Neffe liebte. Sie wusste, dass der Junge solches Essen zu Hause selten bis gar nicht bekam, weil es zu ungesund wäre. Das war eine der Marotten, die sie an der Frau ihres Bruders weniger mochte. Gleiches galt für deren Tassen. Für Margret gab es nichts Schlimmeres, als den Tee aus einer bedruckten oder bunten Tasse zu trinken. Sie bevorzugte absolut reinweiße Gefäße, alles andere ging nicht. Das wirkte zwar etwas schräg auf ihre Mitmenschen, doch Margret kümmerte es in der Regel nicht, was andere über sie dachten. Sowieso konnte man die Grundschullehrerin als eigensinnig und speziell bezeichnen. Im Gegensatz zu ihren drei älteren Brüdern John, Michael und Tim wirkte Margret recht schrullig und altbacken, obwohl sie das jüngste Kind war. Sie selbst sah das nicht so. Eher vermutete sie, dass sie sich gewisse Verhaltensmuster von ihren Großeltern abgeschaut hatte, die sie unentwegt besucht hatte.
Wie Benjamin verputzte auch sie jetzt die letzten Happen ihres Mahls und tupfte sich anschließend den Mund mit einer Serviette ab. „Ich würde vorschlagen, dass du dich fertig machst, während ich in aller Ruhe die Küche sauber mache. Danach könnten wir noch eine Runde Karten spielen, ehe es in die Stadt geht.“ Margrets Vorschlag stieß auf Beifall ihres Neffen, der den Frühstückstisch verließ, sodass sich seine Tante ans Werk machen konnte. Ganz wie es ihre Natur war, verstaute sie die Lebensmittel wieder an Ort und Stelle, ehe sie mit dem Saubermachen der Arbeitsflächen startete. Seitdem ihre Großeltern dieses Cottage besessen hatten, kannte Margret die vertraute Küche aus hellem Massivholz. Die Arbeitsflächen wiesen zahlreichen Abnutzungserscheinungen auf, doch gerade diese verliehen dem Raum genauso wie der ursprüngliche Linoleumboden seinen Charme. Ebenso die grüne Lampe über dem Tisch, eine alte Coolicon. Schon als Kind liebte sie den britischen Klassiker unter den Leuchtelementen, der sie aufgrund seiner Form irgendwie immer an einen Topfdeckel erinnerte.
Nach einem entspannten Vormittag machten sie sich auf den Weg in die Stadt. Da Margrets Lucy nicht dafür geeignet war, sie alle – Beth, Benji und Margret – zu transportieren, legten sie die Strecke zu Fuß zurück. Petrus meinte es an diesem Samstag gut mit Little Maine und dem anstehenden Fest. Kleine Schleierwolken paarten sich mit angenehmen Temperaturen, sodass es selbst für Margret fast ein Leichtes war, die Strecke zu bewältigen.
„Das nächste Mal dürft ihr mich gerne zum Pizzaessen einladen“, sagte Elisabeth, nachdem Benjamin ihr erzählt hatte, was er und seine Tante den vorherigen Abend angestellt hatten. Danach wandte sie sich an Margret. „Was denkst du, wer heute das Rennen machen wird, meine Liebe?“
„Was ich denke beziehungsweise mir wünsche, weißt du ja. Aber ich habe irgendwie das ungute Gefühl, dass diese Schnepfe erneut den Sieg einfahren wird.“
Dafür erntete sie unvermittelt einen Ellbogenhieb in die Seite. „Passt du wohl auf, was du von dir gibst. Du hast echt ein loses Mundwerk. Wir sind schließlich nicht allein“, maßregelte Elisabeth sie und deutete auf Margrets Neffen. Dieser grinste nur, wohingegen seine Tante genervt die Augen verdrehte. Manchmal merkte man den großen Altersunterschied zwischen Elisabeth und ihr, wenn es um solche Dinge ging. Von Berufswegen wusste Margret, dass die Kinder von heute einen völlig anderen Sprachduktus an den Tag legten und das Wort Schnepfe wahrscheinlich gar nicht mehr kannten. In den Schulpausen schnappte sie ganz andere Wortgefechte auf und staunte nicht schlecht über die Ausdrücke, mit denen die Knirpse um sich warfen. Dagegen erschien ihr kleiner Ausbruch harmlos. Sowieso verhielt sich Margret nicht immer so aufbrausend wie eben. Im Schulalltag war sie stets darauf bedacht, ein Vorbild für ihre kleinen Schützlinge zu sein. Nur in Gegenwart Erwachsener, die sie nicht ausstehen konnte, überkam sie gelegentlich ihr Temperament, das sie wohl von ihrem Großvater geerbt hatte. Zumindest zogen ihre Geschwister sie damit immer auf.
„Kommt nicht wieder vor“, gestand sie Beth gegenüber ihren verbalen Ausrutscher ein und zwinkerte frech.
Einige Minuten später gelangten sie zum Stadteingang, wo deutlich zu spüren war, dass etwas Großes bevorstand. Hatte Margret gestern noch geglaubt, dass ein Spektakel geherrscht hatte, so wurde sie in diesem Moment eines Besseren belehrt. Überall tummelten sich Leute und unterhielten sich angeregt. Zum Stimmgewirr gesellte sich die Blaskapelle von Little Maine, die auf einer Bühne am Marktplatz vor der Kirche aufspielte. Die fröhliche Musik, unter anderem auch die Hymne der Stadt, zog viele Zuschauer an. Auch Margret und Beth kamen näher und schauten sich weiter um. Wo man sonst die vertrauten Fassaden von Mildreds Blumenladen, des Cafés, der Näherei und anderer Geschäfte sah, beherrschten jetzt Buden für Speisen und Getränke das Stadtbild. Jeder Stand war passend zum Thema Backen dekoriert worden. Auf die Kinder warteten eine Hüpfburg, ein Karussell und weitere Attraktionen. Doch was vielmehr ins Auge stach, war die Platzmitte. Wie in einer TV-Sendung standen dort Kochinseln, Backöfen und Kühlschränke für die Kandidaten, die am Wettbewerb teilnahmen. Quer über dem Geschehen prangte ein Banner, auf dem der 150. Contest angepriesen wurde. Little Maine wirkte sonst wie ein verschlafenes kleines Städtchen, nun wie eine der großen Metropolen. Viele der Anwesenden machten Fotos und zeigten auf Stände, Personen und andere Dinge, die sie begeisterten. Zwischen all den Zuschauern wuselten geschäftig die Leute vom Fernsehen. An der einen Stelle kümmerte sich der Kabelträger um alles, an der anderen gab der Regisseur Anweisungen zum Ablauf. Dazu gesellten sich Kameramänner, Tontechniker, Make-up-Artists und einige andere wichtig wirkende Personen. Auch der bei allen bekannte Landstreicher George fiel Margret ins Auge, wie er von Mülleimer zu Mülleimer ging, um nach brauchbaren Sachen zu suchen. Schnell tauchte er aber in der Masse unter.
Margret erging es wie Benjamin, der nicht recht wusste, wohin er als Erstes schauen sollte. Alles war so gewaltig. Von ihrer Position aus erblickte sie Pamela zwischen den Backstationen, die konzentriert alles inspizierte. Pamela Reece war die Besitzerin von Pam’s bakery, wo Elisabeth am Vortag die Croissants besorgt hatte. Der Laden galt als einer der Hotspots der Stadt und war daher ständig gut besucht. Das lag ohne Frage an den ausgezeichneten Backwaren und Kuchen, die die Inhaberin alle selbst herstellte und dort anbot.
„Hey, Pamelaaaaaaa!“, rief Margret und winkte Pamela wie von einer Tarantel gestochen, die allerdings keine Notiz von ihr nahm. Man konnte es ihr nicht verübeln, war sie schließlich allein für die Vorbereitung der Kandidatenplätze zuständig. Während Benjamin alles mit seinem Smartphone fotografisch festhielt, ließ seine Tante ihren Blick weiter durch die Menge schweifen und sah Stone. Sein Anzug war bestimmt zwei Nummern zu klein, sodass sein Bauch wie ein Muffin über den Rand seines Förmchens quoll. Zu allem Überfluss hatte er sich ein blaues Blümchen in eines der Knopflöcher gesteckt. Und so einer war der Repräsentant der Stadt. Er machte in diesem Moment eine lächerliche Figur in Margrets Augen. Little Maines Bürgermeister schüttelte eifrig Händchen, während er zur großen Bühne ging. Ein jubelnder und tosender Applaus setzte ein.
Als Philipp Stone die letzten Stufen erklomm und in gewohnt stapfendem Gang in Richtung des Mikros lief, wurde es allmählich ruhiger in der Menge. Alle Augen waren nach vorn gerichtet, denn jedem war klar, dass es nun losgehen würde, wenn das Oberhaupt der Kleinstadt vortrat.
„Liebe Bewohner von Little Maine, sehr geehrte Damen und Herren“, sagte der in Margrets Augen aufgeblasene Nichtskönner zur Begrüßung. „Es ist mir eine Ehre, Sie alle herzlichst in unserer bezaubernden Stadt zu begrüßen. Seit mehr als hundert Jahren – um genau zu sein, hundertfünfzig Jahren – findet dieser Backwettbewerb statt.“ Er hielt inne und sogleich ertönte ein lauter Applaus, in dem sich der kleine Mann badete und sein ohnehin riesiges Ego weiter wuchs. „Zur Feier dieses Events ließen wir es uns nicht nehmen, ganz England daran teilnehmen zu lassen, damit Little Maine auch außerhalb seiner Grenzen gehört und gesehen wird. Denn wir, die Bewohner dieser Stadt, sind weitaus mehr als Kuchen backende Landbewohner. Und das soll jeder sehen.“
Erneut tobte die Menge und Stone verneigte sich. Am liebsten hätte sich Margret übergeben, aber sie schluckte ihre Abneigung tapfer herunter und hörte dem Bürgermeister weiter zu.
„Und um die Perfektion zu vollenden, haben meine Berater und ich niemand Geringeren als Luis Porter zu uns geholt. Einen kräftigen Willkommensapplaus bitte!“, rief Stone und klatschte Beifall.
Von der anderen Bühnenseite kam der in ganz Großbritannien beliebte TV-Moderator Luis Porter wie ein junger Gott herbeigeschwebt. Dabei winkte er charmant lächelnd ins Publikum. Margret wusste nicht, welcher der beiden Männer aufgeblasener wirkte: Philipp Stone oder dieser Mittvierziger, dessen blondes Haar grau meliert in der Sonne glänzte. Zu seiner gut sitzenden Jeans trug der Entertainer ein schlichtes weißes Hemd. Für Margret stand fest, dass er dieses Outfit bewusst gewählt hatte, um sein gutes Aussehen zu unterstreichen.
„Das wird ja immer schlimmer. Warum machen die nicht einfach mit dem wichtigeren Teil weiter?“, flüsterte Margret in Elisabeths Richtung, die wiederum schmunzelnd den Kopf schüttelte.
Nachdem sich die beiden Männer betont freundschaftlich begrüßt hatten, erklärte Porter für die Anwesenden und TV-Zuschauer den Ablauf des Wettbewerbes, der nun endlich starten sollte.
„Begrüßen Sie mit mir unsere Kandidaten!“, forderte der Moderator sein Publikum auf, das frenetisch jubelte und applaudierte.
Einer nach dem anderen kamen die sieben Teilnehmer auf den Platz und gingen zu ihren Backstationen. Neben den Favoriten Constance Rutherford, Robert Cain und Lisa James hatten sich drei weitere Frauen und ein Mann beworben. Margret kannte sie alle. So, wie sie überhaupt nahezu jeden in der Stadt kannte. Zum einen wegen ihres Berufes als Lehrerin, zum anderen, weil sie einen Großteil ihrer Kindheit in Little Maine verbracht hatte. Nicht nur in den Ferien – fast jedes Wochenende hatte sie ihre Großeltern besucht, die für sie persönlich mehr Eltern gewesen waren als ihre leiblichen. Margret und ihre Brüder stammten aus guten Verhältnissen und waren überwiegend von Nannys betreut worden. Durch die Jobs ihrer Eltern hatte sie viel Zeit in Internaten verlebt und, so wie es ihr Vater zu sagen pflegte, eine hervorragende Schulbildung genossen, die ihnen alle Türen öffnen würde. Er mochte damit recht behalten, allerdings wären der kleinen Margret elterliche Fürsorge und Liebe mehr wert gewesen als ein tolles Internat. Genau deswegen hatte sie alles daran gesetzt, die Großeltern in Little Maine so oft es ging zu besuchen, wo sie sich wirklich zu Hause fühlte. Damals wie heute.
Ein lauter Ton riss Margret aus ihren Erinnerungen, sodass sie gerade noch mitbekam, wie alle Kandidaten sich an die Arbeit machten. Porter verriet, welche Kreationen die Kandidaten in den vorgegebenen drei Stunden zaubern wollten. Neben einer Schwarzwälder Kirschtorte von Sarah Wilson und der Rhabarber-Baiser-Torte von Luise Davies stachen die dreistöckige Erdbeersahnetorte von Robert und die Mirror-Glace-Torte von Constance deutlich heraus. Selbst Lisa als geübte und sehr gute Hobbybäckerin konnte gegen die beiden Backkoryphäen nichts ausrichten. Als Porter das Publikum fragte, wen sie vorn sehen würden, wurden sämtliche Namen durch die Menge gebrüllt, wobei Robert und Constance deutlicher herausklangen.
Um besser sehen zu können, packte Margret Benjamins Hand. „Wir laufen schon einmal vor, Beth. Okay?“, fragte sie ihre Freundin, die zustimmend nickte. Anschließend zog sie ihren Neffen mit sich nach vorne zur Absperrung. Flink wie ein Kugelblitz manövrierte sie sich in einem knallgelben Kleid mit grünen Blüten durch die Menge. Den einen oder anderen bösen Blick erntete sie dabei. Das interessierte sie allerdings nicht, denn sie wollte ihren guten Freund Robert unterstützen.
„Looooos, Robert! Du schaffst das! Back sie in Grund und Boden!“, rief sie lauthals, kaum dass sie das Gitter erreicht hatten.
Robert dankte es ihr mit einem sanften Lächeln und schaute flüchtig mit seinen grau-blauen Augen zu ihr. Routiniert rührte und schnippelte er. Nebenbei trank er aus seiner Getränkeflasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war zwar nicht allzu heiß an diesem Sommertag, aber die Öfen an den Stationen strahlten mit Sicherheit einiges an Wärme aus.
Kurz nach Margrets Jubelrufen gesellte sich Elisabeth zu ihnen, die es irgendwie allein geschafft hatte, sich durch die Meute zu quetschen.
„Was ist denn mit dir los, Maggie? Du benimmst dich ja wie eine wildgewordene Irre.“
„Blödsinn, Beth“, wiegelte Margret ab, insgeheim wusste sie aber, dass ihre Freundin recht hatte. Sie war zwar privat unterwegs, aber als Lehrerin der Grundschule dieser Stadt mit jedermann bekannt. Vor allem Benjamin gegenüber sollte sie sich ein wenig mehr unter Kontrolle haben. Rasch suchte sie nach einer logischen Erklärung, damit Elisabeth sie nicht weiter rügte. „Ich feuere Robert doch nur an. Das ist nicht verboten und schau selbst: Es scheint zu helfen. Es läuft gut bei ihm. Constance dagegen wirkt irgendwie unruhig, findest du nicht auch?“
Elisabeth beobachtete Robert Cain’s Kontrahentin, die tatsächlich nervös schien. Immer wieder warf sie einen Blick zu Robert und versuchte dann, weiter an ihrem Teig zu kneten. Insgesamt schien sie nicht ganz bei der Sache zu sein.
An allen Stationen klapperten Schüsseln, Mixer brummten, Mehlstaub schwebte durch die Luft. Man konnte die Anspannung aller Kandidaten deutlich spüren. Die Atmosphäre war zum Schneiden gespannt. Die einen rührten wie verrückt ihre Cremes, wohingegen andere bereits abschmeckten oder schon Teile ihrer Torten schichteten.
Da hörte Margret einen Knall. Eine Metallschüssel war auf die Erde gepoltert. Aus dem Augenwinkel vernahm sie merkwürdige Bewegungen. Sie kamen aus der Ecke von Roberts Station. Ihr guter Freund stand mit aufgerissenen Augen da und fasste sich an die Brust. Mit der anderen Hand stützte er sich an der Arbeitsplatte ab. Er rang nach Luft und versuchte, etwas zu sagen. Sein Gesicht war kreidebleich und verzerrt. Das Entsetzen in seinem Blick war für alle Umstehenden greifbar. Die Erweiterung seiner Pupillen und das Händeringen drückten die Verzweiflung aus, in der er sich befand. Die pure Angst sprach ihm aus dem Gesicht. Noch ehe jemand zu Hilfe eilen konnte, sank Robert wie ein nasser Sack zu Boden und blieb regungslos liegen.
Instinktiv schälte sich Margret aus der Masse und wandte sich zeitgleich an Elisabeth. „Pass bitte kurz auf Benjamin auf, ja?“ Dann schob sie eine der Absperrungen zur Seite und wollte zum Unglücksort laufen. Ihr Vorhaben wurde auf halbem Wege vom Fernsehteam vereitelt, sodass sie nur hilflos mit einigem Abstand verfolgen konnte, was passierte. Sie fühlte sich wie in einem Tunnel, sorgte sich sehr um ihren guten Freund, weshalb das aufgeregte Schreien um sie herum kaum zu ihr drang. Porter eilte zu Robert, wohingegen Stone panisch vor den Kameras fuchtelte, um Aufnahmen zu verhindern. Andere riefen nach ärztlicher Hilfe, während vereinzelt gaffende Zuschauer mit ihren Handys das Geschehen filmten.
Erst als die Wagen der Polizei und des Stadtarztes eintrafen, strömten die Leute auseinander.
Kapitel 3
„Es tut mir leid. Ich kann nichts mehr für ihn tun. Er ist tot.“ Doc Brown, der ortsansässige Arzt, erhob sich beim Gesagten mit einem traurigen Gesichtsausdruck. In den letzten Monaten schien sein Haar noch weißer und dünner geworden zu sein, ging es Margret durch den Kopf, als sie die Information von Roberts Tod zu verarbeiten versuchte. Realisieren konnte sie das nicht wirklich.
Während zwei Polizeibeamte die neugierige Menschenmenge vom Ort des Geschehens verbannt hatten, war es Margret gelungen, sich hinter einer der Kochstationen zu verstecken. Vorher hatte sie Elisabeth gebeten, ihren Neffen nach Hause zu bringen, die ihrem Wunsch nachkam.
Jetzt, wo alles ruhiger war und lediglich Stone, Porter, Doc Brown und der junge Polizist Nicolas Smith dastanden, kroch sie ein wenig ungalant aus ihrer Deckung hervor. Von Lourdes, Roberts Frau, war nichts zu sehen, was Margret suspekt vorkam. Schließlich war sie seine Ehefrau und sollte zumindest in irgendeiner Form anwesend sein. Selbst die neugierige Constance konnte man nicht ausmachen. Und dass, obwohl in all dem Aufruhr kurzerhand von der Jury beschlossen und mit Megafon verkündet wurde, dass sie mit ihrem Rezept erneut den Wettbewerb gewonnen hätte.
„Das ist unmöglich …“, polterte Margret erschrocken heraus, als sie nach der Verkündung von Roberts Tod zu den anderen stieß. Diese sahen sie überrascht an.
„Miss Pagnum, was machen Sie denn hier? Sie haben an diesem Ort genauso wenig zu suchen wie alle anderen!“, wollte Stone sie maßregeln, aber sie schob ihn beherzt zur Seite und ignorierte ihn. Dann ging sie zu Doc Brown. Er überragte sie um fast zwei Köpfe und erst jetzt bemerkte sie, dass der Arzt nicht nur an Haar, sondern auch an Gewicht verloren hatte. Er blickte milde und fürsorglich zu ihr nach unten. Mit hochgezogenen Brauen schaute sie ihn auffordernd an.
„Margret, er hatte einen Herzinfarkt. Und zwar keinen leichten, sonst hätte man noch etwas machen können. Ich …“, versuchte der Gott in Weiß der eigenwilligen Lehrerin klarzumachen, wurde dabei von ihr abgewürgt.
Margret war aufgebracht und zerstreut, wusste aber, was sie sagte. Wiederholt blickte sie dabei auf den leblosen Körper ihres Freundes. Das kam so unerwartet, dass sich ein ungutes Gefühl in ihr ausbreitete, dem sie einfach Luft machen musste. „Papperlapapp. Robert war bei bester Gesundheit und hat sich stets gesund ernährt. Erst gestern ist er noch wie ein junger Hirsch an Beth und mir vorbeigejoggt und hat uns fast umgeworfen. Und jetzt soll er mir nichts dir nichts wegen seines Herzens umfallen? Das glauben Sie doch selbst nicht, Doc.“
Es brach einfach aus ihr heraus. Der Hohn in Margrets Stimme war deutlich zu hören. Sie zweifelte an der Diagnose des Arztes. Bevor sie jedoch weiter ausholen konnte, unterbrach Inspector Smith sie. Der junge Polizist war neu in Little Maine und das komplette Gegenteil zu Johnson, der die letzten zwanzig Jahre für Recht und Ordnung gesorgt hatte. Nicolas Smith stammte aus London, wo er Margrets Wissen nach die Polizeiakademie erfolgreich abgeschlossen hatte und, anders als gewünscht, nicht nach Liverpool, sondern in ihre Stadt versetzt wurde. Warum auch immer, bei den Frauen kam der schlaksige, unsicher wirkende Beamte gut an. Allerdings hatte er keinerlei Interesse, etwas mit einer von ihnen anzufangen beziehungsweise war er zu schüchtern. Oder er begriff es gar nicht, dass man ihm Avancen machte. Sowieso glaubte Margret, dass er am liebsten nicht mehr in Little Maine wäre.
„Das muss der Schock sein, Miss Pagnum, der da aus Ihnen spricht. Es wäre sicherlich das Beste, wenn ich oder jemand anderes Sie nach Hause fährt und Sie sich beruhigen können“, sagte Smith, der kerzengerade vor ihr stand und seinen Text aufsagte. Es hatte schon etwas Komisches an sich, wie der Freund und Helfer so unbeholfen vor ihr agierte.
Statt zu lachen, kochte Margret innerlich. „Erzählen Sie mir nicht, dass ich mich beruhigen soll. Anscheinend begreift hier niemand, dass das alles nicht mit rechten Dingen vor sich geht.“ Sie baute sich auf, wobei ihre roten Locken weit von ihrem Kopf abstanden. Vollends von ihren Emotionen übermannt, stand sie völlig neben sich. Für sie lag klar auf der Hand, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Genau erklären konnte sie es nicht. Es war ein Gefühl, das sie wie eine Welle durchzog, um ihr mitzuteilen, dass ihr Bauchgefühl sie nicht trog. Der Schock saß tief und sie hätte sich mit Sicherheit anders verhalten. Doch gerade spielte alles in ihr verrückt. Trauer und Fassungslosigkeit auf der einen Seite – der Drang, frech zu sein auf der anderen. Im Normalfall hätte sie nie gewagt, einen Polizeibeamten so rotzig anzublaffen. Obwohl sie zugeben musste, dass es ihr irgendwie Spaß machte.
Inspector Smith sah sie verblüfft an, reagierte aber nicht auf ihren Anfall. Dem Ausdruck seiner braunen Rehaugen nach zu urteilen, scheute er sich davor, ihr etwas zu entgegnen. Wahrscheinlicher war es allerdings, dass er sie nicht weiter aufregen wollte.
„Sie haben wohl zu viele Krimis gelesen, gute Frau. Es ist tragisch, aber nicht mehr zu ändern. Lassen Sie die Profis ihre Arbeit machen.“ Dieses Mal war es wieder Stone, der auf Margret einredete und sie mit sich ziehen wollte, jedoch ließ sie ihn nicht gewähren. Abermals blickte sie in die Runde der Männer.
Luis Porter war der Einzige, der die ganze Zeit schwieg, und stattdessen alles beobachtete. Ganz sicher malte er sich schon die große Schlagzeile aus, mit der er auf Sendung gehen wollte. In Margret wallte erneut Wut auf, aber sie besann sich. Es brachte nichts, gegen alle zu wettern. Anscheinend war sie allein mit ihrer Theorie, dass Roberts Tod etwas Bizarres und Merkwürdiges an sich hatte. Mühsam zwang sie ihren Ärger runter, kniete sich neben Robert und strich ihm über die Wange. Schon jetzt kühlte sein Körper aus, was ihr einen leichten Schauer über den Rücken jagte. Sie schluckte hart. „Mach’s gut, lieber Freund.“ Trauer huschte über ihr Gesicht. Schnell fand sie zur Kontenance zurück. Dann stand sie auf, strich ihr Kleid glatt und guckte trotzig in die Gesichter der Anwesenden. „Ich werde mal nach Hause gehen, um mich zu beruhigen, wie es mir der ehrenwerte Inspector Smith rät.“
Damit drehte sie sich um und lief davon.
Margret nahm die gleiche Strecke wie auf dem Hinweg, es erschien ihr aber deutlich länger. Der Schock, einen geliebten Menschen verloren zu haben, saß tief in ihrem Inneren und so richtig wollte sich dieser Fakt nicht in ihrem Bewusstsein manifestieren. Sie ging an den vielen kleinen Häuschen im viktorianischen Stil am Stadtrand entlang. Ein jedes wirkte auf seine ganz eigene Art bezaubernd. Manche hatten Erker zur Straße, andere stachen durch die liebevoll angelegten Vorgärten heraus. Während sie dort lief und ihren Gedanken nachhing, überrollte sie die Trauer geradezu. Robert war nicht mehr da. Nichts und niemand konnte etwas daran ändern. Diese Erkenntnis hinterließ ein schmerzendes Loch in Margret und alle Versuche, es zu verschließen, scheiterten. Sie erinnerte sich an die vielen Gespräche, die sie mit Robert bei Spaziergängen oder zufälligen Treffen im Supermarkt geführt hatte. Auch Roberts unermüdliche Hilfsbereitschaft bei Schulveranstaltungen schob sich in ihre Erinnerungen. Ihn reglos liegen zu sehen, war erschreckend gewesen. Sie konnte nichts tun, außer immer und immer wieder zu betonen, dass sie sich nicht erklären konnte, warum Robert einen Herzinfarkt erlitten hatte. Im Nachgang klang das selbst in ihren Ohren dumm und unnachgiebig. Schließlich hatte Doc Brown die Todesursache mehr als deutlich bestätigt. Vorbei an den letzten Lichtern der Häuser, die von innen nach draußen drangen, marschierte Margret am kleinen Bach entlang, der nur spärlich von zwei Laternen beleuchtet war. In der Nähe ihres Cottages verspürte sie trotz ihrer Betroffenheit noch ein anderes Gefühl: Ungewissheit. Und diese beschäftigte sie ebenfalls.
Kaum erreichte sie das Haus, atmete Margret einmal tief durch, bevor sie die Tür öffnete. Elisabeth und Benjamin saßen zusammen auf der Couch und schauten irgendeine Quizshow. Erschöpft streifte sie ihre Schuhe ab und ging ins Wohnzimmer. Als sie neben den zweien saß, erklärte sie ihrem Neffen schonend, was vorhin am Marktplatz vorgefallen war.
„Alles gut, Tante Margret. Das ist nicht der erste Tote, den ich gesehen habe. Letztes Jahr ist unsere Mathelehrerin mitten im Unterricht umgefallen und war tot. Hatte einen Hirnschlag oder so etwas. Außerdem sieht man das voll oft in Filmen und Serien“, entgegnete Benjamin ihr, als wäre es etwas völlig Normales. Der Junge kam ganz nach seinem Vater. Unerschrocken und selbstbewusst saß der Blondschopf mit seinen grünen Augen vor ihr und schaute sie zufrieden an. Er war eigentlich in vielerlei Hinsicht anders als die Kinder, die Margret sonst in dem Alter kannte. Neben typischen Dingen wie Handys, Computer und Social Media interessierte sich ihr Neffe für Botanik, das Backen und Fotografie. Das faszinierte sie. Kurz wuschelte sie ihm durchs Haar, was ihn nicht störte. Anschließend schnappte sich Benjamin seine Konsole und verschwand auf sein Zimmer.
„Ich wusste zwar, dass die Kids von heute anders sind als vor zehn Jahren. Aber dass sie so abgebrüht sind, überrascht mich doch“, kommentierte Margret Beth gegenüber den Dialog mit ihrem Neffen. Abrupt stand sie auf und ging in die Küche, wo sie Teewasser aufsetzte und kurz darauf mit zwei schneeweißen Tassen zurückkehrte.
Gemäß der Art ihrer Großeltern, dass eine junge Frau nämlich rein gar nichts schockieren oder überraschen konnte, ließ sie sich gefasst auf dem Sofa nieder und schüttelte den Kopf, ehe sie zu sprechen begann. „Das ist doch alles eigenartig, Beth, und äußerst außergewöhnlich, oder?“
Im Anschluss berichtete sie ihrer alten Freundin, was sich nach dem Eintreffen der Polizei und des Arztes auf dem Marktplatz abgespielt hatte. Margret ließ kein Detail aus, wusste sie schließlich aus ihren Krimis, dass es meist unscheinbaren Kleinigkeiten waren, die des Rätsels Lösung in sich bargen.
Elisabeth war ganz Ohr und hörte aufmerksam zu, bis Margret Atem schöpfen musste, weil sie das Ganze immer noch so sehr aufwühlte.
„Das klingt wirklich alles ganz ungewöhnlich, Maggie. Was sagt denn dieser junge Polizist dazu?“
„Ach, Smith! Der schließt sich der Aussage Browns an. Wenn du mich fragst, hat dieser lange Lulatsch absolut keine Ahnung. Er mag zwar nett sein, aber blind scheint er dennoch.“
„Nun bist du aber wieder garstig. Das passt gar nicht zu dir“, tadelte Elisabeth sie und nippte an ihrem Tee.
Margret tat es ihr gleich, setzte ihren Gedankengang kurz darauf fort. „Das hat nichts mit Garstigkeit zu tun, sondern mit normalem Menschenverstand. Ich kannte Robert wirklich gut, das weißt du. Es will einfach nicht in meinen Kopf, dass dieser gesunde Mann ganz plötzlich während des Wettbewerbs, bei dem er als einer der Favoriten galt, einen Herzinfarkt hat und tot umfällt. Selbst du musst zugeben, wie unglaubwürdig das klingt.“ Margret schaute Beth in die Augen, bis die Freundin zustimmend nickte.
„Da hast du recht. Aber was will man dagegen tun?“, fragte sie und leerte ihre Tasse, während Margret konzentriert dasaß und ihren Tee anstarrte.
„Na, was wohl. Ich werde schon herausbekommen, warum Robert so unerwartet von uns gehen musste“, sagte sie plötzlich voller Überzeugung.
„Wie willst du das denn anstellen?“
Die Frage ihrer Freundin befeuerte Margret und sie ließ Beth an ihren Überlegungen teilhaben. „Ich glaube, ich werde unserem werten Doc Brown einen Besuch abstatten. Immerhin ist er es gewesen, der den Herzinfarkt diagnostiziert und bestätigt hat. Vielleicht kriege ich ihn ja dazu, Robert noch einmal genauer zu untersuchen. Gewiss war die Umgebung, in der er den Tod festgestellt hat, alles andere als optimal“, erklärte sie Elisabeth. „Mir wird schon ein Grund einfallen, weswegen ich ohne Termin bei ihm in die Notfallsprechstunde muss. Und wenn meine monatlichen Beschwerden dafür herhalten müssen.“
„Du ähnelst ohne Frage deiner Großmutter Lorna. Sie war auch ein Sturkopf und ließ sich von nichts abbringen, auch wenn ihre Ideen manchmal wirklich wahnwitzig waren.“
Als Elisabeth das gesagt hatte, brachen die zwei in unbeschwertes Gelächter aus, obwohl Margret eigentlich zum Weinen zumute war. Doch der kleine Augenblick der Unbekümmertheit tat gut. Der tiefe Schmerz wegen des Verlustes ihres engsten Freundes kehrte sogleich zurück. Die Geräusche lockten Benjamin aus seinen vier Wänden. Den irritiert dreinblickenden Jungen schickten sie sogleich wieder zurück und überlegten leiser weiter, wie sie ihren Plan morgen umsetzen wollten.