1. Kapitel
Nach dem Tod ihres Mannes, des Barons, war Lady Farnsworth die allgemeine Meinung der Stadt egal geworden. Innerhalb eines Monats nach seiner Beerdigung zog sie sich nach Lust und Laune an und benahm sich auch mit derselben Freiheit. Drei Jahre später nannten sie die gutmütigen Mitglieder der Londoner Society eine ‚Originalistin‘. Die anderen benutzten weitaus unfreundlichere Begrifflichkeiten.
Keiner hieß allerdings ihre seltsame Entscheidung, eine weibliche Sekretärin einzustellen, gut. Einige wollten darin sogar den Beweis dafür erkannt haben, dass die gute Lady verrückt geworden war.
Die Sekretärin, um die es ging, Amanda Waverly, hatte hingegen nichts als Dankbarkeit für ihre neue Herrin übrig, denn sie war beinahe gänzlich ohne Empfehlungen angestellt worden. Manchmal fühlte sich Amanda auch erleichtert, wenn sie das Gefühl der Dankbarkeit überwältigte, denn sie wusste mehr von der Welt, als Lady Farnsworth je erfahren würde.
Ihre eigene Geschichte schwebte ihr im Hinterkopf herum, als sie spät im Mai an ihrem Schreibtisch in der Bibliothek der guten Adelsfrau vor sich hinarbeitete. Sie war dabei, ein Essay der Lady Farnsworth in fein säuberlicher Schrift zu kopieren, wobei der Aufsatz schrecklich viele Querverweise und Zitate beinhaltete, die allesamt richtig vermerkt werden mussten.
Ihre Konzentrationsfähigkeit wurde dabei immer wieder herausgefordert, vor allem von der lieblichen Brise, welche stets durch die Bibliothek wehte.
Sie sah hinaus zur belebten Green Street und den schicken Kutschen und Hackneys, die dort Richtung Hyde Park rollten. Sie mochte die offenen Kutschen am meisten, denn sie erlaubten ihr einen Blick auf die Hauben und hübschen Kleider der feinen Ladys. Sie schnappte immer wieder etwas Tratsch oder den ein oder anderen Satz einer Unterhaltung auf, aber das freie Lachen war das, was ihr am meisten gefiel. Es schien fast schon musikalisch und ließ sie eines ihrer Lieblingslieder summen.
Normalerweise erinnerte sie der Anblick daran, wie dankbar sie sein sollte, dass ihr Leben doch so schön geworden war, trotz der anfänglichen Schwierigkeiten. Aber heute musste sie dabei an den Brief in ihrer Handtasche denken und zu dem, was sie sich heute Nachmittag noch vorgenommen hatte.
Diese Mission würde ihre vorzügliche Situation sicher beenden, wenn Lady Farnsworth jemals davon erfahren sollte.
„Sind Sie fertig?“
Amanda sah auf und erkannte, dass Lady Farnsworth auf sie zukam. Mit ihren dunklen Haaren und Augen und der Mode, die sie vorzog, schien alles ihre selbstgefällige Art nur noch mehr zu unterstreichen. In letzter Zeit hatte sie verkündet, dass Kleider mit hohen Hüften auf alten Damen traurig aussahen, und hatte Mode entwerfen lassen, welche der jenen vor vierzig Jahren ähnlich war.
Da sie auch kein Korsett trug – zu altmodisch, ihrer Meinung nach -, wirkte sie in ihren neuen Kleidern matronenhafter, als die aktuelle Mode zuließ.
Über ihren mit Spitzen und Rüschen besetzten Kleidern trug sie gerne einen langen Schal. Ein Ende hatte sie über ihre Schulter geworfen wie bei einer Toga. Heute bestand ihr Ensemble aus roséfarbener Seide mit blauen Stickereien und weißer Spitze, darüber einen bunten Schal mit Blumenmuster. Das Muster war dem der bestickten Sessel der Bibliothek leider sehr ähnlich.
„Ich bin fast fertig.“ Amanda fokussierte ihren Blick auf den Stift. „Vielleicht noch eine Stunde.“
„Für die erste Kopie? Sind Sie vielleicht krank? Normalerweise sind Sie schneller.“
„Es gab viele Änderungen. Ich habe die beiden Briefe schon fertig.“
„Lassen Sie mich sehen.“ Eine starke Hand reichte unter Amandas Nase und riss die Unterlagen fort. „Quark. Sie brauchen keine Stunde. Eine Viertelstunde höchstens und das ist so fein geschrieben, dass es keinen weiteren Entwurf braucht. Wir bringen das hier zum Treffen mit.“
„Wir?“
„Habe ich vergessen, es Ihnen zu sagen? Ich will, dass Sie mich begleiten, damit ich Sie vorstellen kann.“ Sie schenkte Amandas Kleid einen kritischen Blick. „Warum tragen Sie nur dieses traurige grüne Ding? Ich habe Ihnen so viele Kleider umschneidern lassen, damit Sie nicht in solch unvorteilhaften Farben erscheinen müssen.“
„Ich bin Euch um die Geschenke wirklich dankbar. Wie Ihr bereits gesehen habt, trage ich sie stets, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Ich will sie nur nicht mit Tinte vollkleckern.“ Sie sprach, ohne zu zögern, auch wenn sie das alte Kleid aus einem völlig anderen Grund trug und stets einen Kittel darüber legte.
„Es wird ausreichen müssen. Keiner wird sich darum scheren. Sie sind einfach so bezaubernd, wenn Sie sich nicht derart schluderig geben.“ Lady Farnsworth tätschelte ihre Hand auf dieselbe Art, wie es auch eine freundliche Tante zu tun vermochte. „Sie wissen alle schon, was für einen Schatz ich entdeckt habe, Miss Waverly, und auch wie nachsichtig und hilfsbereit Sie sind. Das ist alles, was zählt.“
„Ich hatte vor, einzukaufen, während Ihr bei Eurem Treffen seid. Wird das noch möglich sein?“
„Die Läden in der Nähe von Bedford Square sollten für Ihre Zwecke ausreichen. Wir brauchen Sie nicht länger als eine Viertelstunde. Und jetzt kommen Sie schnell zum Schluss, damit wir zeitig aufbrechen können. Oh, und unterschreiben Sie die Briefe doch auch für mich. Ich gestehe, dass Sie es besser machen als ich selbst, und Tintenflecken will ich auch nicht auf meinen Kleidern.“
Wozu brauchen sie mich? Amanda ging davon aus, dass sie es bald erfahren würde. Innerhalb einer Viertelstunde. Sie betete dafür, dass es nicht länger dauern würde, auch wenn Bedford Square für ihre Zwecke tatsächlich ausreichen würde. So sehr sogar, dass man fast meinen könnte, Fortuna würde auf sie hinablächeln.
Sie warf ihrer gehäkelten Handtasche einen Blick zu. Der Brief von gestern Abend schien seinen Inhalt förmlich zu schreien.
Sie war zu optimistisch gewesen in ihrem Glauben, dass das Befolgen eines Befehls zu keinem weiteren führen würde. Eiserne Wut blitzte in ihr auf, als sie daran dachte, wie sehr sie ausgenutzt wurde, und dass es damit noch nicht abgeschlossen war. Bis sie den Namen der verantwortlichen Person nicht erfuhr, würde sie gehorchen müssen. Die Freiheit ihrer Mutter, ja, sogar vielleicht deren Leben, hing davon ab.
Gabriel St. James, der Duke von Langford, grübelte ungeduldig vor sich hin, während seine Kutsche langsam durch die Stadt kroch. Bei diesem Tempo würde sein Besuch den ganzen Nachmittag beanspruchen.
Das langsame Vorrankommen versauerte seine Stimmung, die sowieso schon nicht prickelnd gewesen war, wenn man bedachte, was ihm der Tag bislang geliefert hatte. Er war so verdammt genervt davon, dass die Leute ihm für das gratulierten, was ihm durch seine Geburt und sein Erbe zustand. Das ganze Vorspielen und die Komplimente waren fürchterlich herablassend. Hätte er gewusst, dass seine Rede im House of Lords letzte Woche so viel selbstgefällige Zustimmung hervorrufen würde, hätte er seinen Einfall in gutem Claret ertrunken.
Aber hier war er nun, und litt vor sich hin, weil sein Bruder ein Haus gekauft hatte, das so weit weg war.
Warum konnte Harry nicht einfach in ihrem Familienanwesen bleiben? Es gab mehr als genug Platz. Oder wenn er darauf bestanden hätte, hätte er mit seinen völlig irrsinnigen Wünschen nach Unabhängigkeit doch ein Zimmer oder ein Haus in Mayfair beziehen können. Aber, nein, Harry hatte seinen seltsamen Drang nach Einzigartigkeit dadurch ausgelebt, indem er ein Zuhause in der Nähe des British Museum gewählt hatte. Es war nicht einmal so, als würde er dort noch einmal hingehen müssen. Bestimmt kannte er jedes einzelne Artefakt im Inventar des Museums bereits in- und auswendig.
Sich ungerecht von der Welt behandelt fühlend, versuchte Gabriel, sich mit seinen Plänen für die nächsten Tage abzulenken. Ungebremste Lust ließ ihn sich immer besser fühlen. Er hatte vor, eine bestimmte Dame dazu zu verlocken. Bisher war sie ihm keusch erschienen, aber er erkannte Fortschritt, wenn er ihn sah, und der Blick aus ihren Augen bei ihrem letzten Rendezvous hatte es ihm bestätigt.
Die Kutsche bog ab und fuhr endlich etwas schneller. Aber nicht genug. Gabriel verfluchte die Tatsache, dass er nicht mit dem Pferd geritten war. Das war immer am schnellsten.
Endlich kamen sie vor dem Haus seines Bruders auf der Bainbridge Street an. Gabriel stieg aus und beäugte das Äußere kritisch.
Er mochte das Anwesen nicht, und nicht nur, weil es sein Leben erschwerte. Es stand allein, mit seinen Mauern aus roten Ziegelsteinen und seinen Kalkstein-Fensterrahmen und -banken, die vielleicht genügend waren, genauso wie die drei Stockwerke, die das Gebäude ausmachten, aber es war kaum ein passendes Zuhause für einen Lord.
Das größte Problem war das nächste Gebäude auf der Straße. Es war das riesige Haus von Sir Malcom Nutley, welches Ecke zu Ecke mit Harrys Anwesen stand. Es war ein altes Gebäude, welches in einer Ära entworfen worden war, in der man keinen Rückhalt in solchen Dingen demonstrierte. Unzählige steinerne Schnitzereien und Statuen schmückten jede Fläche und ließen das Haus an sich schon einschüchternd wirken. Da erschien das schlichte Ziegelsteinhäuschen nebenan noch bescheidener.
Die Auswirkung konnte an der Reaktion einer Frau erkannt werden, die stehen geblieben war, um die Architektur zu bewundern. Ihrem einfachen grünen Kleid nach war sie eine Dienerin und sie musste den Kopf mit ihrem Strohhut zum Himmel ordentlich hoch neigen. Das altmodische graue Gebäude hatte sie so sehr beeindruckt, dass sie auf die gegenüberliegende Straßenseite lief, um es besser ansehen zu können.
Gabriel dachte lieber daran, was ihn überhaupt hergebracht hatte. Der Besuch eines Bruders, ein Besuch der Pflicht, aber auch der Zuneigung. Harrys Herz war dem Armen das erste Mal gebrochen worden, und Gabriel nahm an, dass der junge Mann nicht wusste, was er mit den Schmerzen anstellen sollte.
Gabriel indessen hatte weitläufiges und tiefgründiges Wissen über die Angelegenheiten des Herzens. Auch wenn es unpässlich war, war er quer durch die Stadt geritten, um seinem Bruder auszuhelfen.
Das Anwesen schien geschlossen. Amanda betrachtete es, während die andere Hälfte ihrer Gedanken mit der seltsamen Viertelstunde in dem anderen Haus eben verbrachte, das Haus auf der Bedford Square.
Eine hübsche, zärtliche Frau namens Mrs. Galbreath hatte sie und Lady Farnsworth empfangen. Dann saßen sie alle in der Bibliothek mit zu vielen Stühlen, während Mrs. Galbreath Amanda sanft befragte. Es waren die Art von Fragen gewesen, die man einer neuen Bekannten zu stellen vermochte, nur ein wenig grober.
Hätte sie es nicht besser gewusst, wäre sie davon ausgegangen, dass man sie für eine neue Stelle befragte. Aber Lady Farnsworth würde sie sicherlich vorwarnen, wenn sie vorhätte, ihre Einstellung zu terminieren. Nein, Lady Farnsworth hatte sogar nickend und zustimmend zugesehen. Nur am Ende hatte sie beiläufig erwähnt, dass Mrs. Galbreath die Herausgeberin des Journals, für das sie schrieb, der Parnassus, war. Mrs. Galbreath hatte gesagt, dass sie sie bald wiedersehen würde. Und dann hatte Lady Farnsworth sie zum Einkaufen entlassen.
Amanda zwang sich, aufzuhören, über das seltsame Treffen zu grübeln und fokussierte ihre gesamte Aufmerksamkeit auf das große Haus vor ihr. Sie balancierte ihren Einkaufskorb, gefüllt mit alltäglichen Banalitäten, an ihrem rechten Arm, damit jeder im Haus es sehen konnte. Keiner der Herrschaften, der dort wohnte, würde sich wundern, warum eine Frau in ihrem ärmlichen Kleid auf ihrem Weg zurück von den Einkäufen stehen blieb.
Es half, dass Sir Malcom Nutley in einem berühmten Haus wohnte. Es musste um die Zeit von King Charles erbaut worden sein. Nichts in Mayfair kam dem gleich, und selbst die famosesten Anwesen wie Montagu oder Somerset House hatten weniger Prunk im Bau. Dazu kam noch die riesige Größe des Gebäudes. Sie konnte sich gar nicht erst vorstellen, wie viele Zimmer darin enthalten waren.
Eine Kutsche rollte vor dem Nachbarhaus zum Stehen. Sie beobachtete, wie ein großer, gut aussehender Mann hinauskletterte und ebenfalls die Augen auf das Haus von Sir Nutley richtete. Ihr warf er auch einen Blick zu, aber keinen verdächtigen.
Sie für ihren Teil hatte ihn auch bemerkt. Er wäre jedem ins Auge gestochen. Von seiner Kutsche und seiner Kleidung ausgehend, war er sehr vermögend. Seine Augen waren blauer als alles andere, was sie jemals gesehen hatte. Er trug seinen Hut in der Hand. Sie nahm an, dass es nicht einfach war, ihn schicklich auf seinen üppigen dunklen Locken zu tragen.
Er ging auf das Haus zu und trat ein. Sie schlenderte auf seine Kutsche zu, den Blick noch immer auf das prunkvolle Anwesen gerichtet. Der Butler lehnte sich entspannt gegen die Tür, während der Kutscher sich um eines der Pferde kümmerte.
Sie kam nahe genug, dass der grauhaarige Kutscher sie bemerkte. Er nickte ihr zu und lächelte. Sie deutete auf das große Haus. „Weißt du, wer da wohnt?“
„Das ist das Haus von Sir Malcom. Sir Malcom Nutley. Ein älterer Typ. Familienanwesen. Vor der Art gibt’s nicht viele. Sieht ein wenig katholisch aus, wenn du mich fragst. Nicht nach meinem Geschmack, aber ich bin auch einfach gestrickt.“
„Ich finde es schon beeindruckend und auch wirklich groß, aber es ist auch nicht nach meinem Geschmack. Ich finde das Ziegelsteinhäuschen hier hübscher. Ich nehme an, ein Handwerker wohnt da?“
Der Kutscher grinste. „Sah der Kerl, den ich herbrachte, aus wie ein Handwerker?“
„Ist es sein Haus?“
„Nein, aber er ist nicht die Art von Gentleman, der Handwerker besucht. Wenn ich die andere Kutsche fahren würde, würdest du wissen, was ich meine.“ Er lehnte sich geheimnisvoll vor und deutete mit dem Daumen auf das Haus. „Da wohnt der Bruder eines Dukes, und es war der Duke höchstselbst, der eben rein ist.“
„Ach du meine Güte! Ich bin mir sicher, noch nie einen Duke gesehen zu haben. Meine Freundin Katherine wird mir das niemals glauben. Kannst du mir sagen, wer es war? Wenn ich es ihr nicht sage, glaubt sie es bestimmt nicht.“
„Langford. Sein Bruder ist Lord Harold St. James.“
Amanda sah zurück zum prunkvollen Anwesen. „Ich hätte gedacht, dass ein Lord eher dort wohnen würde.“
„Nun ja, Lord Harold ist …“ Er rieb sich das Kinn, während er nach dem richtigen Wort suchte, „ungewöhnlich. Nicht so die Art, der so stark auf Aussehen achtet, wenn du verstehst, was ich meine. Das Haus passt zu ihm wie die Faust aufs Auge. Kein Platz für Unmengen an Dienern und Menschen, die ihm nur auf die Nerven gehen.“
„Er mag zwar ein Lord sein, aber ich würde lieber das Innere von Sir Malcoms Haus sehen. Ich wette, es ist beeindruckend.“
„Eher staubig. Sir Malcom ist seit letztem Sommer nicht wieder nach London zurückgekehrt. Krank, hab ich gehört. Ist auf dem Land, wo die Luft besser ist.“
Also war das Haus tatsächlich zu. Da hatte sie Glück. „Wenn die Familie nicht da ist, lässt mich die Haushälterin vielleicht einen kleinen Blick reinwerfen.“
Er schenkte ihrem grünen Kleid einen langen Blick. „Ziemlich dreist von dir. Ich würde ein ganzes Pfund darauf verwetten, dass sie das nicht macht.“
„Fragen kostet doch nichts.“
„Wie’s dir passt.“
„Ich versuche es am Eingang für die Diener. Kathrine wird vor Neid vergehen, wenn ich es schaffe. Dann wird sie mir wieder sagen, dass ich mehr Mut als Verstand habe. Das sagt sie immer.“ Sie wandte sich dem Haus zu. „Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass man mich abweist.“
Sie konnte den Blick des Kutschers auf sich ruhen spüren, als sie auf das Seitentor des Hauses zuging. Sie machte es auf und ging durch, dann entlang des kleinen Pfades, der am Haus vorbei und in den Garten führte. Als das Tor hinter ihr zuschwang, blieb sie stehen.
Der Pfad war nicht sonderlich weit, kaum ein Yard breit, und die Mauer, die das Grundstück von dem Lord Harolds trennte, lag direkt daneben. Sie neigte den Kopf und sah zu den Fenstern hoch. Selbst die im ersten Stockwerk waren gute fünfundzwanzig Fuß höher.
Amanda fuhr mit den Fingern über die Steine des Baus und bemerkte die tiefen Rillen, die zwischen den alten Steinblöcken zu ertasten waren. Über ihr befanden sich große Fensterbanken. Während sie auf dem Pfad weiterlief, entging es ihr nicht, dass die Fenster im Erdgeschoss nicht nur verschlossen, sondern auch mit Eisenbaren versehen worden waren. Um die Ecke des Hauses fand sie den Hintereingang für die Dienerschaft.
Keiner kam, als sie klopfte. Sie beugte sich vor, um durch das Fenster zu sehen. Die Küche schien nicht in Betrieb. Auf dem großen Tisch lag nichts, kein Essen, keine Messer. Gar nichts. Offensichtlich arbeitete hier kein Koch, wenn Sir Malcom auf dem Land war. Und wenn es keinen Koch gab, dann wahrscheinlich auch nur sehr wenige Diener.
Sie hatte nicht wirklich geglaubt, dass die Haushälterin ihr eine Führung des Anwesens gestatten würde, aber es war immerhin einen Versuch wert gewesen. Ihre Aufgabe wäre dann sehr viel leichter. Nach zwei Minuten Ablenkung wäre sie fertig.
Amanda beäugte die Tür. Sie war aus schwerem Holz und schien nach innen zu öffnen. Drei Schlösser verwehrten den Einlass. Sie zweifelte nicht daran, dass sie von innen auch mit einem Barren zugehalten wurde. Sir Malcom nahm kein Risiko in Kauf. Er ging wahrscheinlich davon aus, dass ein solches Haus Diebe anlockte, denn die Nachbarschaft war nicht so wie in Mayfair.
Also gab es keinen einfachen Weg hinein. Das bedeutete, dass sie einen schwierigeren Weg finden musste.
Sie ging wieder zurück, aber dieses Mal begutachtete sie das Haus nebenan.
„Ich glaube nicht, dass es besonders schlau ist, die Stadt sofort zu verlassen“, gab Gabriel seine Gedanken kund, als er seinen Bruder dabei beobachtete, wie er unwirsch Kleidung in eine Truhe stopfte. Man könnte fast meinen, dass Harry keinen Butler hatte, was auch stimmte. Aber er hatte einen Diener, der für ihn packen könnte, auch wenn dieser momentan mit irgendwelchen anderen Aufgaben beschäftigt war.
„Es gibt keinen einzigen Grund, hierzubleiben“, grummelte Harry.
„Du gibst viel zu schnell auf, wenn du enttäuscht wirst. Nimm es doch als Herausforderung.“
Harry hörte auf zu packen. Er sah in die Truhe und dann zu Gabriel. „Ich habe gesehen, wie sie einen anderen küsst. Gestern Abend in der Box während des Theaters.“
„Dann sprich doch mit ihr. Nach all der Zeit, die du ihr den Hof gemacht hast …“
„Emilia hat es wohl nicht als Hofmachen aufgefasst.“ Seine Stimme klang bitter. „Ich hätte wissen müssen, dass sie nach der Hochzeit ihrer Schwester das Interesse verlieren würde. Es ist ihre erste Saison. Weißt du was? Ich wusste es sogar. Ich habe es in meinem Herzen gespürt. Es ist am besten, wenn ich London verlasse. Ich werde nicht einer dieser abgewiesenen Herren, die wie ein Schluck Wasser in der Kurve bei den Feierlichkeiten herumlungern, ganz poetisch und von Selbstmitleid zerfressen.“
Gabriel musste lächeln. Selbst wenn er bei bester Laune war, sah sein Bruder poetisch und von Selbstmitleid zerfressen aus. Es hatte mehr mit seiner ernsten, nachdenklichen Natur zu tun als alles andere.
Sie waren einander vom Aussehen her sehr ähnlich und würden wahrscheinlich auch mit der Zeit einander mehr ähneln. Sie hatten beide helle blaue Augen und dunkle Haare und denselben Kinn- und Kieferbau. Harry war einen Inch kürzer als er, aber trotzdem größer als die meisten anderen.
Zehn Jahre trennten sie. Der zweitgeborene Sohn war spät zur Familie gestoßen, als seine Eltern die Hoffnung auf weitere Kinder schon aufgegeben hatten. Bis auf ihre Gesichter hatten sie miteinander nichts gemeinsam. Harry verbuddelte sich in seine Bücher, sobald er lesen gelernt hatte. Die Vergnügen von London interessierten ihn kaum und die Frauen ebenso wenig.
Gabriel wusste, dass sein Bruder das erste Mal in seinem Leben den Schmerz schiefgegangener Liebe fühlte. Als er ihn beobachtete, keimten Erinnerungen an seine ersten Liebeleien auf, als er ähnliche Leidenschaft verspürt hatte.
Harry griff nach einem weiteren Haufen Kleidung und hielt dann inne. „Ich habe mit ihr gesprochen, Gabe. Bevor sie das Theater verlassen hat.“
„Was hat sie gesagt?“
„Sie war lieb und zuneigungsfreudig, aber …“ Er zuckte mit Schultern und zeigte ein schiefes, bitteres Lächeln. „Sie sagte mir, sie sieht mich eher als Bruder.“
Hölle. Verdammt. Gabriel versuchte, seine Reaktion zu mildern. So eine Aussage bedeutete, dass es hoffnungslos war. Es war so, als würde eine Frau sagen, der Gedanke an eine leidenschaftliche Nacht stieße ihr als unnatürlich auf.
Harry begann wieder zu packen. Gabriel ging auf ihn zu, schob seine Hände davon und stellte die Truhe zur Seite. „Dann ist es vorbei. So ist es. Manchmal läuft es so. Es wird andere Mädchen geben.“
„Aber keine so wunderschön, so engelsgleich, so …“
„Genau so wunderschön und engelsgleich, aus genauso gutem Hause und genauso freundlich zu dir. Glaub mir, es gibt einen ganzen Strom aus Weiblichkeit da draußen und der Trick ist es nicht, eine zum Lieben zu finden, sondern all denen zu entkommen, die auf Liebe aus sind. Du bist der Sohn eines Dukes, verdammt, mit einem ansehnlichen Erbe und fast so gut aussehend wie ich, was nicht hässlich ist, Bruder.“
Harry lachte kurz auf, was ihn ermutigte, aber er schüttelte den Kopf. „So oder so. Ich muss die Stadt für eine Weile verlassen.“
„Ich befehle dir, noch drei Tage zu bleiben. Es schickt sich nicht, wenn du einfach mit dem Schwanz zwischen den Beinen davonläufst, weil dich ein Mädchen abgewiesen hat. Es ist nicht sehr männlich.“
„Aber drei Tage werden eine Ewigkeit sein in dem Wissen, dass sie auch hier ist.“
„Drei Tage sind drei Tage. Du gehst in deinen Club und redest über Geschichte, oder“, er wedelte zu einer anderen Truhe, die randvoll mit Büchern war, „oder was auch immer da drinsteht. Morgen reiten wir zusammen in den Park und wir lächeln all die hübschen Dinger an, die unterwegs sind. Und du gehst zu Lady Hamiltons Maskenball.“
„Ich würde nicht zum Maskenball gehen, selbst wenn mich Emilia
noch lieben würde.“
„Unsinn. Du wärst hingegangen, um ihr einen Kuss auf der Veranda zu stehlen. Also gehst du trotzdem.“
„Ich werde sie aber dort sehen und das will ich nicht.“
„Ja, du wirst sie sehen. Du wirst mit ihr tanzen und über all die üblichen Dinger reden, wie immer.“
Harry sank in einen Stuhl und schloss die Augen. „Ich würde lieber aufs Land gehen.“
„Am Morgen nach dem Maskenball. Dann kannst du dich dort für immer vergraben und dein Buch schreiben, oder was auch immer du sonst vorhast. Du kannst einen Monat lang durchsaufen, wenn du willst. Aber bis dahin zeigst du Mut und dich der Society.“
Harry öffnete die Augen nicht, aber nach einer Weile nickte er. Er sah sehr jung aus, noch jünger als die zweiundzwanzig Jahre, die er zählte. Aber wenn Harry wirklich noch ein Junge gewesen wäre, wäre Gabriel anders mit ihm umgegangen. Weniger schroff. Vielleicht hätte er ihn sogar in den Arm genommen wie damals, als er Angst gehabt hatte.
Aber er war nun einmal kein Kind mehr. Trotzdem wünschte Gabriel sich, ihm mehr Mitleid zeigen zu können.
„Ich gehe nun. Ich bin sicher, dass du lieber allein sein willst. Wenn du heute Abend zum Essen kommen möchtest, würde ich mich sehr freuen. Mein Haus ist noch immer auch deins.“
„Vielleicht mache ich das. Mal sehen.“
„Und morgen reiten wir um fünf los.“ Gabriel packte seinen Hut und seine Handschuhe.
„Es war sehr nett von dir zu kommen, Gabe.“
„Dafür sind Brüder doch da.“ Er ging auf die Tür zu und zögerte dann einen Moment. „Schau her. Wenn du wegen deinen Emotionen die Fassung verlierst, ist es nicht weiter schlimm und du musst dich nicht schämen. Der erste Herzschmerz tut am meisten weh.“
2. Kapitel
Zwei Tage später machte Amanda ihr Tintenfässchen um sechs Uhr zu und legte den Füller zur Seite. Sie schob die Seiten zusammen, die sie vervielfältigt hatte, räumte einige Rechnungen fort, nahm den Ordner und machte sich auf die Suche nach Lady Farnsworth.
Sie fand sie in ihrem Apartment an ihrem eigenen Schreibtisch mit einem Stift in der Hand und gefurchter Stirn. Es sah aus wie ein weiterer Brief. Einer, der an den Duke von Wellington adressiert war.
Es überraschte sie schon lange nicht mehr, dass Lady Farnsworths männliche Bekannte alle aus den höchsten Rängen der Society stammten. Manche waren sogar in den fünf Monaten, die Amanda für sie arbeitete, persönlich vorbeigekommen.
Sie hatten sich dann ins Empfangszimmer gesetzt und in ernsten Stimmen über die Politik und andere gebildete Themen gesprochen. Die Meinung der Baroness schien ihnen wichtig zu sein.
Manchmal war Amanda dabei. Lady Farnsworth sagte, es wäre für ihre Bildung und tatsächlich hatte Amandas Weltansicht sich schlagartig erweitert. Aber sie schätzte, dass der wahre Grund eher damit zu tun hatte, dass die Baroness so ein zweites Paar Ohren und Augen hatte, um sich später besser daran erinnern zu können.
„Ah, Sie haben den Ordner. Sind die Geschäfte alle in Ordnung?“
„Der Lebensmittelhändler hat wieder einen Fehler gemacht. Ich habe es auf der Rechnung verbessert. Alle Unstimmigkeiten habe ich notiert.“
Lady Farnsworth nahm den Ordner an sich und legte ihn zur Seite. Sie würde Amanda das Geld für die Händler geben, wenn sie Zeit dazu fand, aber ihr war schnell aufgefallen, dass die Baroness es vorzog, einfach zu bezahlen, ohne alles erneut zu kontrollieren. Sie vertraute auf das Gute in den Menschen und dass alles mit rechten Dingen zuging.
Und das tat es auch. Auch wenn Amanda wusste, dass sie in der Position war, mindestens fünf Schilling pro Woche in ihre eigene Tasche zu stecken, würde sie es niemals tun.
„Mir ist aufgefallen, dass der Gemüsehändler immer wieder solche Fehler macht, Mylady. Vielleicht sollten wir einen anderen suchen.“
„Hanson ist bestimmt nur überarbeitet.“
„Jede Rechnung enthält Fehler, Mylady, und keine Flüchtigkeitsfehler.“
Lady Farnsworths dunkle Augen wandten sich ihr zu. „Sie verdächtigen ihn eines Verbrechens, Miss Waverly.“
„Ich würde es nicht tun, wenn nicht jede Unstimmigkeit zu seiner Gunst wäre. Er sollte hin und wieder zu Eurer Gunst Fehler machen, wenn er nur überarbeitet ist.“
„Es ist lieb von Ihnen, sich solche Gedanken zu machen, aber mit Ihrem Argusauge denke ich nicht, dass er mich ausnutzen werden wird.“
„Ich denke, ich werde ihm vorschlagen, selbst ein Paar Argusaugen zu finden.“
„Machen Sie das doch. Vielleicht ist er wirklich nur überarbeitet und erschöpft.“
Sie war wirklich gutgläubig und optimistisch. „Mylady, ich breche nun auf, wenn Ihr mich nicht mehr braucht.“
Lady Farnsworth legte ihren Füller ab. „Bevor Sie gehen, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass Sie sich morgen etwas schicker anziehen sollten. Wir gehen zurück zur Bedford Square und Sie werden die Schutzpatronin der Parnassus kennenlernen. Sie ist eine Lady von höchstem Stande. Ich möchte nicht, dass Sie wie eine arme Kirchmaus aussehen.“
„Was möchte so eine Lady von mir?“ Es klang ganz nach Lady Farnsworth, davon auszugehen, dass alle Interesse an Amanda hätten, nur weil sie es selbst hatte. Wahrscheinlicher war also, dass niemand sich um sie scherte.
„Sie weiß von Ihrer Anstellung. Sie findet es interessant, dass ich eine Frau beschäftige. Sie sind eine Kuriosität, meine Liebe.“ Sie sah wieder zu ihrem Brief hinab. „Ich fürchte, ich muss von vorne beginnen. Ständig ändere ich meine Meinung über die Wortwahl und nun hinterfrage ich selbst die Betonung der Thematik. Ich werde mir Gedanken machen und es morgen Abend zu Ende schreiben.“
„Ihr wollt morgen Abend auch arbeiten?“ Amanda konnte nicht glauben, dass Lady Farnsworth das Thema von sich aus angesprochen hatte. Sie hatte lange darüber nachgedacht, wie sie es tun sollte. „Ich hätte gedacht, dass Ihr zu diesem großen Maskenball geht. Ich dachte, alle in der Society gehen hin. Sie reden sogar in den Geschäften darüber.“
„Lady Hamiltons Maskenball? Gütiger Gott, ich doch nicht. Ich hasse Maskenbälle. Es ist albern. Und alle möglichen Leute schleichen sich dazu. Selbst Damen der Nacht kommen! Die Herren möchten zwar alle denken, dass es ein großer Spaß ist, aber ich würde mein Abendmahl lieber nicht neben einer gewöhnlichen Straßendirne einnehmen.“
„Vielleicht nimmt die Schutzherrin der Parnassus daran teil. Dann kann sie Euch davon erzählen.“
„Ah! Sie bedauern, dass ich Ihnen keine Geschichten darüber erzählen kann.“ Bei diesem Gedanken legte sie den Kopf schief. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Lady nicht hingeht. Morgen sehen Sie, warum. Ich hole mir den Tratsch anderswo her, wenn Sie möchten.“ Sie nahm den Stift wieder in die Hand. „Nun machen Sie sich davon. Ich sorge mich um Sie, wenn Sie abends durch die Straßen laufen, Miss Waverly. Es wäre besser, Sie zögen bei mir ein, wie ich bereits angeboten habe, aber ich kann verstehen, dass Sie nicht von Ihrer Herrin abhängig sein wollen.“
Amanda verabschiedete sich, um nach Hause zu laufen. Sie erlaubte sich einen kleinen Umweg und ging in Hansons Grocery. Es war ein Laden, der von der Elite Mayfairs bevorzugt wurde und betrieb Handel auf dem Boden seines langjährigen Bestehens mit Kaffee, Mehl und Salz. Der jetzige Mr. Hanson hatte den Laden und seine Kundschaft von seinem Vater geerbt.
Amanda tat so, als würde sie die verschiedenen Waren begutachten, bis seine Kunden ihre Käufe abgewickelt und den Laden verlassen hatten. Dann wandte sich Mr. Hanson ihr zu. Er war ein großer, schlanker Mann mit feurigen Haaren, der kein Problem damit hatte, mit einem Mal auf sie hinabzusehen, als er ihre schlichte Kleidung wahrnahm. Seine roten Augenbrauen stiegen hoch genug, um zu demonstrieren, dass er ihre Anwesenheit missbilligte.
„Ich bin Amanda Waverly, Mr. Hanson. Ich diene Lady Farnsworth seit fünf Monaten als Sekretärin. Sie erinnern sich vielleicht daran, dass ich Ihnen das Geld für die Lieferungen bezahle.“
Er gab ein kleines Nicken, seine Augenbrauen senkten sich.
„Ich pflege auch ihr Vermögen. Ich dachte, ich bin so freundlich, um Ihnen den Hinweis zu geben, dass Sie ein strenges Wörtchen mit Ihrem Sekretär wechseln sollten. Jede einzelne Rechnung von Mylady hat mindestens einen Fehler, den ich korrigieren muss.“
„Tatsächlich? Lady Farnsworth ist eine sehr geschätzte Kundin. Ich bin bestürzt, dass so etwas passieren konnte.“ Er sah nicht sonderlich bestürzt aus. Etwas irritiert vielleicht, aber nicht belastet von dieser Offenbarung.
„Es ist nicht Unachtsamkeit, Sir. Es ist Absicht. Eine eins wird eine sieben. Eine neun wird eine null. Jemandem, der seine Arbeit nicht geflissentlich macht, würde dies auffallen. Kurz gesagt, Sir, die Person, die diese Rechnungen schickt, ist ein Dieb und das führt zu Skandal, Ruin und Zerstörung für ein Gewerbe wie Ihres.“
Seine Wangen begannen, rot zu leuchten.
„Ich dachte, Sie sollten davon wissen. Es wäre so schade, wenn all das, wofür Ihre Familie seit Generationen arbeitet, von einem diebischen Angestellten zunichte gemacht würde.“
Seine Stirn legte sich in tiefe Falten und seine Augenbrauen trafen sich. „Wie gut von Ihnen, mich darüber zu informieren. Ich werde mich selbstverständlich darum kümmern und dafür sorgen, dass es nicht wieder vorkommt.“
„Das wäre weise. Nicht jeder Kunde ist so optimistisch wie meine Herrin, was die menschliche Natur angeht. Wenn es anderen auffällt, könnte jemand womöglich Anklage gegen Sie erheben. Das wäre wirklich schade.“ Sie schenkte ihm einen offenen, ernsten Blick.
Nun schien er doch beunruhigt. „Ich sorge dafür, dass Myladys Rechnungen in Zukunft immer korrekt sind, indem ich sie persönlich kontrolliere.“
„Wie freundlich von Ihnen. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag, Mr. Hanson.“
Sie verließ den Laden, wohl im Wissen, dass der Besitzer seine Angewohnheit ändern würde. Sollte Lady Farnsworth zukünftig jemand anderen außer Amanda einstellen, war sie sich sicher, dass die Dinge nicht so ehrlich zugehen würden.
Zwei Stunden später stand Amanda in dem Zimmer, welches sie auf der Girard Street mietete und begutachtete die Kleider, die sie auf ihrem Bett ausgelegt hatte. Den Inhalt ihrer Einkaufstasche schüttete sie unwirsch dazu.
Das waren die schicksten Kleider, die Lady Farnsworth ihr geschenkt hatte, und sie waren sehr altmodisch geschnitten. Normalerweise sollte Felice, die Maid, diese ungewollten Kleider bekommen, aber sie war in einem Alter, wo sie keine Zeit für Schnick-Schnack hatte, wie sie es selbst nannte, und Amanda war zu stolz, um die Sachen zu einem Händler zu bringen, damit dieser sie für sie verkaufen konnte.
Amanda hatte die verstoßene Kleidung immer dankbar empfangen und steckte Stunden rein, um sie umzuschneidern, damit sie der aktuellen Mode glichen. Sie hob die Taillen an, nahm die Rüschen davon und ließ die Röcke schlanker werden. Aber manche Kleider ließen sich einfach nicht abändern. Und das waren die beiden, die sich nun auf ihrem Bett befanden.
Die untergehende Sonne ließ sie in all ihrer Hässlichkeit aufleuchten. Sie strahlte durch die kleinen, nach Süden gerichteten Fenster, welche hoch an der Wand ihrer Kellerwohnung eingelassen waren. Vor einigen Jahren war das Zimmer die Küche eines Familienhauses gewesen. Doch irgendwann hatte der Besitzer das Haus in verschiedene kleine Bruchbuden aufgeteilt, in denen sich viel zu viele Mieter einfanden.
Hier unten hörte Amanda glücklicherweise nichts von den lärmenden Familien in den anderen Zimmern. Die ehemalige Küche hatte eine große Feuerstelle, die sie ausnahmslos durchwärmen konnte, wenn sie sich die Mühe machte, Feuerholz oder Kohle zu kaufen, und die gepflasterten Wände hielten die Nässe und den Schimmel ab. Das Zimmer mit der Badewanne, welche von allen Bewohnern des Hauses verwendet wurde, war nebenan. Sie konnte jemanden hören, der Wasser aus dem Brunnen in einem Eimer abstellte und dann die Tür zum Garten zuschlug. Ein weiterer Vorteil war, dass sie die Wanne nach Lust und Laune benutzen konnte und dafür keine Treppen steigen musste.
Eigentlich konnte sie sich Besseres leisten, aber sie sah kaum Grund, Geld für Komfort auszugeben. Sie hatte ein kleines trockenes Plätzchen mit einem Kamin und das reichte ihr. Ihr Geld sparte sie für anderes. Wie ihren großen Traum, nach Amerika zu reisen, dem Land, in dem niemand etwas über ihre Vergangenheit wusste.
Sie konnte natürlich erst abreisen, wenn sie die Aufgaben erledigt hatte, die sie um ihrer Mutter willen ableisten musste und solange sie dafür nicht verhaftet wurde. Sie war aber entschlossen, dass die jetzige Aufgabe die letzte sein würde.
Aber der Plan, den sie dafür hatte schmieden müssen … Wenn er auch nur ein wenig schiefging, wäre die Zeche hoch. Dieses gefährliche Spiel hielt sie nicht mehr lange durch.
Es gab jedoch keinen Grund, über zukünftige Fehler nachzudenken. Ihr waghalsiger Plan brauchte einiges an Bravado. Zögern und Zweifel würden nur zum Versagen führen.
Amanda sang leise für sich, als sie ihren teuersten Einkauf zwischen die kostbaren Kleider legte. Eine weiße Maske, die sie von einem Warenhaus ersteigert hatte. Sie bedeckte beinah ihr ganzes Gesicht, selbst ihre Wangen, dass man nur ihre Augen, Nase, Mund und Kinn sehen konnte. Nun musste sie entscheiden, welches der Gewänder am besten dazu passte.
Sie überlegte sich eine Kombination, die sie womöglich wie eine Aristokratin aus dem alten französischen Regime aussehen lassen würde. Das benötigte jedoch einiges an Verzierungen, und sie hatte nicht mehr viel Zeit. Sie entschied sich dafür, dass das rosa Kleid mit einer kleinen Änderung und etwas mehr Rüschen als die Kleidung einer einfachen Schafshirtin durchgehen würde.
„Amanda, ich kann dich singen hören, kann ich rein?“
Kathrines Stimme riss sie aus ihren Gedanken, auch wenn sie vom Badezimmer nebenan tönte.
„Willst du dein Badewasser wärmen?“
„Wenn ich darf.“
„Bring es rein.“
Kathrine wohnte im obersten Stockwerk. Die Luft war in ihrem Zimmer besser, aber Amanda beneidete sie nicht um das viele Treppensteigen.
Ihre Tür ging auf und Kathrine kam schwerfällig mit zwei gefüllten Eimern rein. Ihre roten Locken sprangen im Takt ihres wankenden Ganges mit. „Es sollte im Gesetz festgelegt sein, dass ein Badezimmer immer genug Brennstoff haben muss. Denkt er wirklich, wir sollen uns mit dem kalten Brunnenwasser waschen?“ Sie stellte die Eimer neben der Feuerstelle ab und Amanda stocherte das Feuer auf.
„Was ist denn das hier?“, fragte Kathrine. Sie stand zwischen zwei Kreidemarkierungen auf dem Boden.
„Ich habe überlegt, ob ich eine Truhe kaufen soll, die ich in Mr. Carews Laden gesehen habe und mich gefragt, ob sie reinpassen würde.“
Man konnte das Lügen nicht verlernen. Es kam ihr immer noch so einfach über die Lippen.
„Die ist doch riesig. Hier kannst du sie nicht reinstellen, sie wird dir nur im Weg sein.“
„Ich schätze, du hast recht. Ich werde mir was anderes einfallen lassen müssen …“
Kathrine verlor das Interesse an den Markierungen und ging zum Bett. Sie begutachtete die Kleider mit großen Augen. „Was für schicke Sachen du hast. Wer hätte das gedacht?“
„Das sind altmodische Sachen von meiner Herrin, die sie sonst entsorgt hätte, aber sie passen meinen Zwecken ganz gut. Ich muss hier und da was abändern, dieser Überrock zum Beispiel, der muss weg.“ Sie hob die Scheren demonstrativ auf.
„Du kannst das doch nicht einfach abhacken. Es wird hässlich aussehen, die Reste aus der Naht hochragen und das kriegst du nicht so leicht ab.“
„Einen Schneider kann ich mir nicht leisten. Vielleicht kann ich die Unordnung mit der Borte vom anderen Kleid verstecken.“
Kathrine hielt das Kleid hoch in die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Geschickt wendete sie den Stoff, sodass das Kleid falsch rum war und sah noch einmal genauer hin. „Es sollte nicht zu schwierig sein, wenn du Faden hast, um das Unterkleid wieder an das Mieder zu nähen.“
„Faden habe ich, nur kein Geschick für so etwas. Das ist keine einfache Naht.“
„Haben sie dir auf deiner schicken Schule für junge Damen kein Nähen beigebracht?“
„Sie haben uns nur das beigebracht, was junge Damen können müssen. Das hier ist keine Stickerei.“
„Ich kann es für dich machen. Ich hab ein paar Jahre für einen Schneider als Auszubildende auf dem Buckel“, sagte sie mit einem Schulterzucken. „Bevor mich James verlockt hat, natürlich. Jetzt verteil ich Bier und muss Besoffene bekämpfen, aber ich verdiene wenigstens viel besser, als wenn ich mir die Finger in schlechtem Licht für feine Frauen zersteche.“
Amanda hatte nichts davon gewusst, aber mit lügenden Verführern kannte sie sich aus. Sie und Kathrine hatten das gemeinsam. Es hatte ihre Freundschaft fest versiegelt.
„Wenn du mir wirklich helfen könntest, wäre ich dir unendlich dankbar. Ich kann nur nicht viel dafür bezahlen …“
„Du lässt mich hier doch immer mein Wasser anwärmen, oder? Natürlich helfe ich dir. Ich bin sogar beleidigt, dass du mich nicht gefragt hast.“ Kathrine strich das Mieder glatt. „Du hast keine richtigen Unterkleider für das hier. Es braucht ein richtiges Korsett. Was du hast, wird wahrscheinlich nicht lang oder fest genug sein. Zeig mir, was du besitzt und ich schaue, was ich noch machen kann.“ Sie sah wieder auf das Kleid. „Ich weiß, ich habe eigentlich kein Recht dazu, aber … Wozu brauchst du das alles?“
„Ich gehe zum Maskenball, über den alle reden.“
Kathrines blauen Augen wurden weit. „Du bist so waghalsig, Amanda! Die lassen dich niemals rein.“
„Ich schaff das schon. Und wenn nicht, schadet der Versuch wohl kaum."
„Ich fände es fürchterlich peinlich, wenn sie mich wegschicken würden. Warum willst du dahin?“
„Ich würde es lieber selbst sehen, als den Tratsch von anderen hören, die wahrscheinlich auch nicht da waren. Außerdem wird es schöne Musik geben und leckeres Essen, wenn ich erfolgreich bin. Vielleicht sehe ich sogar den König. Wäre das nicht lustig? Amanda Waverly im Angesicht Seiner Majestät?“
„Vielleicht fordert dich ein reicher Lord zum Tanz auf. Wenn, dann musst du achtgeben. Dieses Kleid hat einen großen Ausschnitt, und wir wissen alle, wie die Männer ticken.“
„Möglicherweise erlaube ich ihm sogar einen Kuss, nur um sagen zu können, dass ich einen Lord geküsst habe. Vielleicht küssen sie ja anders. Das würdest du doch sicher wissen wollen.“
Kathrine lachte. „Oh, ich würde das schon gerne wissen, aber ich würde dir den Speichel und das Begrapschen lieber ersparen.“
„Ich stehle dir ein Küchlein in meiner Handtasche.“
„Für einen Braten und eine gute Flasche Wein hast du wohl eher keinen Platz, huh?“
„Vielleicht im Rock? Der ist ja riesig.“
Kathrine begann, die Naht vorsichtig aufzuschneiden. „Du hast mehr Mut als Verstand, aber ich hoffe für dich, dass es klappt. Ich will jedes einzelne Detail hören, wenn ich das Kleid für dich umschneidere.“
Eine halbe Stunde später hatten sie das Kleid auseinandergenommen. Kathrine hievte ihre Eimer in das Badezimmer, versprach aber, danach wiederzukommen, bevor sie in die Taverne arbeiten ging. Sie bot auch an, im Verlauf des Tages morgen den Rest zu machen.
Amanda ging in ihrem Kopf alles durch, das vor morgen Abend anstand. Sie würde natürlich zum Ball reinkommen. Sie würde sich einfach unter eine große Gruppe mischen und reingeschwemmt werden, das war einfach.
Danach würde sie jedoch etwas Glück brauchen. Wenn Lord Harold nicht auch am Maskenball teilnahm, war alles umsonst.
Wenn er sich allerdings zeigte, würde sie ihn verführen, oder zumindest so tun.
Gabriel inspizierte immer wieder die wabernde Menschenmenge beim Ball, aber während er das tat, verlor er seinen Bruder Harry nicht aus den Augen. Wenn, dann würde er sich sicherlich davonmachen.
Die Maske versteckte wenigstens Harrys tiefe Unzufriedenheit. Er unterhielt sich sogar mit einigen anderen Gästen. Trotz seiner Entschlossenheit konnte Gabriel aber sehen, dass er immer wieder sehnsüchtige Blicke in Lady Emilias Richtung warf.
Sie hatten bereits zusammen getanzt. Es musste all seinen Mut gebraucht haben, um so zu tun, als wäre seinem Bruder egal, dass seine liebste Freundin in Zukunft nur eine Freundin bleiben wollte. Gabriel fand, dass Harry es gut gemacht hatte.
Nur ließ Harrys allgemeine Misere ihn eine Sache nicht bemerken, eine Sache, die ihn vielleicht doch aufheitern könnte. Eine junge Frau versuchte mit allen Mitteln, seine Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen.
Vielleicht war sie hübsch. Mit ihrer riesigen Maske konnte man keine Aussage zu ihrem Aussehen treffen, nur, dass sie rubinrote Lippen hatte. Wahrscheinlich bemalt, aber ganz sicher provokativ. Sie hatte auch eine ansehnliche Körperform, betont durch das enge Kleid und den tiefen Ausschnitt.
„Du solltest aufhören, ihm so aufzulauern.“ Eric Marshall, der Duke von Brentworth, bot seinen Rat lässig an, als er seinem Blick folgte. „Er ist kein Kind mehr.“
„Wenn er anders wäre, würde ich es nicht tun, aber Harry ist eine besondere Art von Mann.“
„Er ist vielleicht kein Hecht, aber er ist sein eigener Mann. Er wird auch ohne deine Hilfe sein Herz heilen und eine neue Herzensdame finden. Das Wissen kommt nur mit der Erfahrung.“
„Ich glaube nicht, dass er sonderlich viel aus dieser Erfahrung lernen wird. Dort ist ein Mädchen, das ihm offensichtlich den einzigen Trost anbieten will, der seine Stimmung heben könnte, und er nimmt sie kaum wahr. Sie könnte genauso gut unsichtbar sein.“
Brentworth wandte Harry seine Aufmerksamkeit zu. Er war zweifelsohne der größte Mann im ganzen Ballsaal und konnte sogar mehr sehen als Gabriel selbst.
Ihm fiel dabei auf, dass sein Freund das bessere Kostüm hatte in der Hinsicht, dass er gar keins trug. Nicht einmal eine Maske, um höflich zu sein. Einige Männer weigerten sich, sich als Ritter oder Römer zu verkleiden, aber Brentworth hatte es eine Nummer weiter getrieben.
„Kennst du sie, Langford? Hast du sie dazu angestachelt? Dass du den armen Harry mit achtzehn direkt in ein Bordell geschleppt hast, kann man vielleicht noch verzeihen, aber das hier …“
„Ich weiß nicht, wer sie ist. Sie ist mir gänzlich fremd.“ Normalerweise kannte er alle Frauen bei einem Ball. Aber an einem Abend wie heute mischten sich auch Fremde ungewollt unter die feinen Herrschaften.
„Sie ist entschlossen. Egal wohin er sich dreht, sie ist da.“
In dem Moment lief Harry zu den Musikern, und da war sie wieder vor ihm. Dieses Mal schaffte sie es, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.
Brentworth zuckte mit den Schultern. „Ich würde sagen, sie ist eine Harlot.“
„Für all ihre Aufdringlichkeit, finde ich nicht, dass sie wie eine wirkt. Vielleicht nur eine unglückliche Ehefrau auf der Suche nach einer Liebelei. Oder ein Ladenmädchen, die einen reichen Gönner sucht.“
Gabriel konnte die Entschlossenheit der Frau hinter der Maske spüren, während sie sich zu seinem Bruder neigte. Dunkle Locken türmten sich auf ihrem Kopf und rollten in dichten Ringellocken an einer Seite hinab. Sie trug eine mit Rüschen besetzte Haube und weitere Rüschen umrahmten ihren tiefen Ausschnitt, der eine fabelhafte Aussicht auf ihre sanft wiegende Brust offenbarte. Mit einem hölzernen Stab sähe sie wie eine lebendige Schafshirtin aus Porzellan aus.
„Sie werden schon ohne uns Gemeinsamkeit finden“, sagte Brentworth und stellte sich so hin, dass Gabriel nicht mehr hinschauen konnte. „Übrigens war das eine beeindruckende Rede letzte Woche, Langford. Es tut mir leid, dass ich erst jetzt wieder in London bin, um dir meine Bewunderung auszusprechen. Es ist selten, dass die Rede eines Lords es wert ist, zuzuhören. Wer hätte gedacht, dass du ein Talent dafür hast?“
„Ich habe doch in der Schule dieses Abzeichen gewonnen.“
„Ah, ja. Wie sie sich alle gefreut haben und was für Hoffnungen es plötzlich gab. Endlich ein Duke von Langford, der oratorisches Talent hat und dieses hoffentlich auch mit der Welt teilt. Was hat dich nur geritten, dass du ihnen die Hoffnung nach all den Jahren erfüllst?“
Brentworth, der seine Macht mit Diskretion, Effektivität und angesehenen Reden ausübte, konnte verdammt herablassend sein.
„Ich hatte etwas zu sagen, also habe ich gesprochen. Der Impuls hat mich dazu getrieben.“
„Ach komm schon, ich bin kein Narr und du nicht so talentiert. Du kannst ruhig zugeben, dass dich Lady Farnsworths Aufsatz letzten Herbst in diesem Frauenjournal so sehr blamiert hat, dass du deine Pflichten nun ernster nehmen willst. Niemandem ist entgangen, dass du in diesem Jahr mehr gemacht hast als in den ganzen Jahren zuvor.“
Gabriel würde verdammt sein, wenn er das irgendjemandem jemals gestehen würde. Es war schlimm genug, dass diese exzentrische Lady Farnsworth ihn fast schon persönlich in ihrer Schimpferei genannt hatte. Es war fast schlimmer, dass sie ihren Aufsatz Faule Dekadenz der Obrigkeit genannt hatte. Am schlimmsten war vielleicht die Tatsache, dass das Journal zurzeit eines riesigen Skandals herausgekommen und von allen gelesen worden war. Es war vor einem Jahr erschienen, aber noch immer gab es einige, die sich deswegen über ihn lustig machten, vor allem wenn sie betrunken waren.
„Wie ich dir schon mehrfach erklärt habe, finde ich Lady Farnsworths Aufsatz immer noch kaum erwähnenswert. Ich frage mich höchstens, wer dieser eine Duke sein könnte, auf den sie sich bezog.“
„Wie auch immer“, meinte Brentworth mit einem kleinen Lächeln. „Es ist gut, dich wieder im Haus of Lords zu sehen, auch wenn deine Rede etwas radikal war.“
„Radikal? Ist es so aufgefasst worden?“
„Manche behaupten das. Die restlichen warten lieber noch ab.“
„Was für Narren. Radikal, wirklich?“
Brentworth wechselte das Standbein, sodass Gabriel wieder einen Blick auf seinen Bruder erhaschen konnte. Er unterhielt sich immer noch mit der dunkelhaarigen Dame. Sein Gesicht war rot geworden. Die Füchsin musste immer dreister werden.
Harry wandte den Kopf und traf seinen Blick über die Menge der Gäste hinweg. Sein Ausdruck konnte nicht missverstanden werden.
Rette mich.
3. Kapitel
Amanda hätte nie gedacht, dass es so harte Arbeit sein könnte, einen Mann zu verführen. Ihre Beute, Lord Harold, war jedoch unfassbar schüchtern. Er sprach kaum mehr als zwei Wörter auf einmal und vermied es, in ihre Augen zu sehen. Aber sie war sich sicher, dass sie das alles zu ihrem Vorteil wenden konnte.
Zwar hatte sie keine Zurückhaltung gezeigt, aber nun war es an der Zeit, selbst die Maske der Enthaltsamkeit fallen zu lassen. Vielleicht, wenn sie an seinen Beschützerinstinkt appellierte … Selbst der schüchternste Mann wollte ein Ritter in glänzender Rüstung sein, der eine holde Maid rettete.
„Hier ist es ziemlich warm, findet Ihr nicht?“ Sie wedelte stärker mit dem Fächer an ihrem Gesicht, damit sie seine Aufmerksamkeit erhaschte und auf ihr unsicheres Lächeln lenken konnte.
„Etwas warm vielleicht, würde ich sagen.“ Lord Harolds Blick blitzte nach links und rechts und hob sich sogar kurz über ihren Kopf hinweg.
„Ich fürchte, mir wird ganz schwindelig.“ Sie hielt sich dabei den Fächer über das Gesicht, dass ihre flehenden Augen alles waren, was er davon sehen konnte.
Seine Miene blieb unverändert.
Sie tat so, als würde sie plötzlich stolpern und schwankte in seine Richtung, um die Theatralik anzukurbeln. „Ach du meine Güte“, sagte sie atemlos, „ich verliere gleich die Fassung.“ Sie nutzte den Vorwand eines tiefen Atemzuges, um eine Hand an ihren Hals zu legen und seinen Blick zu dem tiefen Dekolleté zu lenken.
Das funktionierte. Er lief kräftig rot an. Er zeigte … Nicht Überraschung, das war das falsche Wort. Schock würde auch nicht passen, nein, auch nicht, dass er perplex aussah. Amanda war sich sicher, dass Lord Harold nicht weniger als blanke Angst auf seinen Zügen zeigte.
Sie ließ ihre Augen noch weiter werden und tat so, als wäre sie ihrem Schicksal hoffnungslos ausgeliefert. „Wenn ich nur etwas frische Luft auf der Terrasse erhaschen könnte … Aber es schickt sich leider nicht, dass sich eine Frau dort alleine aufhält.“
Er sah verzweifelt an ihr vorbei, als würde er jede Gelegenheit zur Flucht ergreifen, wenn sich doch nur eine finden würde. Mit einem Mal wurde er entspannter. „Wir können doch nicht zulassen, dass Ihr hier in Ohnmacht fallt, oder dass ein betrunkener Grobian Euch da draußen angeht.“
Endlich. Amanda drehte sich zur Tür. Lord Harold lief neben ihr und zusammen gingen sie los. Amanda stellte sich auf die kommende Schlacht ein. Sie musste seine stoische Maske brechen und sein Interesse endlich für sich gewinnen. Sie wollte ihn so verzaubern, dass er ihr jeden Wunsch widerstandslos von den Lippen ablesen würde.
Und dafür hätte sie nicht länger als zehn Minuten.
Sie lächelte Lord Harold an. Er lächelte endlich zurück. Mit etwas Glück würde ihr Plan doch noch funktionieren. Er war ein gut aussehender Mann. Das würde es einfacher machen, wenn er sie endlich küsste. Das musste er. Sie könnte ihn sonst nicht mehr in ihren Bann ziehen.
Amanda wusste, dass sie fabelhaft ausgesehen hatte, als sie ihre Wohnung verlassen hatte. Das Kostüm der Schafshirtin stand ihr ausgesprochen gut, auch wenn sie es selbst sagte. Es schenkte dem sonst skandalösen Kleid einen Hauch Unschuld. Der Ausschnitt bedeckte nämlich gerade so ihre Nippel. Das Halstuch, welches Anstand schenken sollte, hatte sie abgelegt.
Eine Paar Küsse und Liebkosungen, dann würde sie ihren Köder auswerfen.
Er würde danach schnappen, natürlich. Schließlich war er ein Mann. Ihr Rücken wurde gerade, als sie sich an dem Gefühl labte, dass ihr Plan funktionieren würde. Sie drehte sich zu ihrem Begleiter, um diesem ein weiteres Lächeln zu schenken.
Nur war ihr Begleiter nun ein anderer.
Ein Mann, der ein wenig größer war und eine stärkere Körperhaltung besaß. Sie erkannte die dunklen, wilden Locken und die stechenden blauen Augen. Es war der Duke von Langford, der nun an ihrer Seite lief. Die Maske, die er umgebunden hatte, konnte ihn nicht verhüllen.
Sein lässiges Lächeln hatte nichts mit dem seines Bruders gemeinsam. Diese waren alle schüchtern, zurückhaltend und sanft gewesen. Seines war das komplette Gegenteil.
Sie blieb ruckartig stehen und sah sich nach Lord Harold um. Eine starke Hand legte sich um ihren Arm.
„Er ist fort, aber sorgt Euch nicht, edles Fräulein. Man hat Euch nicht im Stich gelassen.“ Er lenkte sie geschwind über die Türschwelle auf die Terrasse.
„Aber ich … Das ist …“
„Ihr habt Euren Blick auf meinen Bruder gerichtet und Ihr könnt keine Substitution erwarten. Das ist verständlich. Nur leider muss Harold sich von diesem Spiel erholen. Er hat morgen eine lange Reise vor sich und konnte deswegen nicht länger Zeit mit Euch verbringen, so sehr er sich auch von Euch betört fühlte. Ich für meinen Teil habe nichts dergleichen vor und kann mich Euren Gelüsten vollständig widmen.“
Seine Augen verengten sich und er begutachtete das, was er von ihrem Gesicht sehen konnte. Dann fiel sein Blick zu ihrem viel zu tiefen Ausschnitt. Die Veranda hatte nur wenige Laternen, doch sie standen im Lichtkegel darunter. Sie drückte sich unauffällig in die Schatten, aber er folgte ihr entspannt in die Dunkelheit.
„Ihr mögt viel mit Eurem Bruder gemeinsam haben, doch Ihr seid wohl kaum miteinander verwechselbar. Ihr könnt einander nicht substituieren, als wäre es nichts Weiteres, fürchte ich.“
„Wir sehen einander ähnlich genug, dass genügt für Euer Vorhaben.“
„Das stimmt nicht.“ Sie neigte den Kopf, um in den Ballsaal zu sehen und zu erkennen, ob Lord Harold tatsächlich gegangen war.
„Sagt mir nicht, Ihr hättet in dieser kurzen Zeit bereits seinen Charakter kennengelernt.“
Amanda richtete den Blick auf diesen irritierenden Herren, der eben stunden- und tagelange Arbeit zunichte gemacht hatte. „Man kann viel über Menschen lernen, ohne sie davor kennengelernt zu haben. Er sah ein wenig schüchtern aus. Ihr hingegen überhaupt nicht.“
„Er ist nicht schüchtern. Nur sehr reserviert und ein ausgesprochen privater Mann. Und spaßig ist er kein bisschen. Glaubt mir, mit meiner Wenigkeit werdet Ihr viel eher zufrieden sein.“
„Ist er auch so eingebildet wie Ihr? Liegt das in der Familie?“
„Ich sage nur die Wahrheit und bin ganz und gar nicht eingebildet. Wir werden alle mit bestimmten Talenten gesegnet. Von den Gaben meines Bruders wird die ganze Menschheit profitieren. Meine hingegen segnen Frauen im Hier und Jetzt.“
„Eure Gaben müssen wahrlich eindrücklich sein, wenn Ihr im Vorhinein solche Aussagen treffen könnt. Die meisten Männer hoffen lediglich, dass ihr Können ausreicht. Aber ich schätze, Ihr habt viel geübt.“
„Braucht man nicht immer Übung, um ein angeborenes Talent zur vollen Fähigkeit auszubessern? Ein Leben ohne Sinn ist nicht lebenswert.“
Eingebildet war nicht ausreichend für diesen Mann. Er hatte sich soeben selbst als großartiger Liebhaber proklamiert, ein geborener Liebhaber, sogar. Was wahrscheinlich bedeutete, dass er im Bett gerade so über die Runden kam und dass die Frauen ihm das Leben leicht machten, weil er reich war.
Auch wenn sie versucht war, seine Selbsteinschätzung zu verbessern, hatte ihr Plan Vorrang. Vielleicht gab es doch noch etwas zu retten.
„Ihr habt gesagt, Euer Bruder verlässt London?“
„Zum Morgengrauen. Er ist ein fleißiger Kerl. Sein Haus wird so sehr verschlossen sein wie ein Reliktenkästchen, wenn er nicht da ist. Er will einige Monate auf dem Land ein Buch schreiben. Seht Ihr? Ganz und gar langweilig.“
Monate? Sie fluchte vor Enttäuschung fast laut. Wenn Lord Harold so lange fort war, hatte sie tatsächlich keinen Nutzen für ihn. Mit dieser Erkenntnis war der ganze Abend eine riesige Zeitverschwendung. Sie sollte sich besser aus diesem Fiasko befreien und einen anderen Weg finden.
„Ich war nicht auf der Suche nach Spaß, was auch immer Ihr damit aussagen wolltet. Ihr habt mein Interesse an ihm falsch eingeschätzt.“ Sie musste sich selbst gestehen, dass sich das nach einer sehr schwachen Ausrede anhörte.
„Jetzt kommt schon, Ihr habt Euch ihm praktisch an den Hals geworfen. Wie viele andere Gäste seid Ihr hierhergekommen, um Euch hinter der Maske einer Liebelei hinzugeben. Nun, ich bin hier und ich biete mich Euch anstelle meines Bruders gerne an. Verführt mich.“
Sie würde ihn ganz bestimmt nicht verführen, selbst wenn sie es wöllte. Im Ballsaal war Lord Harold ihr ausgeliefert gewesen. Hier draußen war sie es seinem Bruder. Ganzheitlich.
Er machte einen Schritt auf sie zu. „Habt Ihr Euren Mut verloren?“
Beim Allmächtigen, war er groß gewachsen. Sie mochte Lord Harold viel lieber, er war nicht so unglaublich sicher in seinem Vorhaben, nicht so entschlossen und nicht so … Gefährlich. Sie ging zwar nicht davon aus, dass er ihr Gewalt antun würde, aber sie konnte nicht ignorieren, dass es sie einiges an Kraft kostete, sich nicht einfach von ihm dominieren zu lassen.
„Ganz und gar nicht. Ich muss bloß gestehen, dass meine Abenteuerlust verflogen ist. Der Mann, den ich mir ausgesucht hatte, besaß Nuance und Zurückhaltung, sein Ersatz ist mir zu vorhersehbar und offensichtlich.“
Selbst mit seiner Maske und in der Dunkelheit konnte sie sehen, dass sich seine Augen verengten. Das hatte ihm wohl nicht gefallen.
„Aber vielen Dank, dass Ihr sichergehen wolltet, dass ich mich nicht im Stich gelassen fühle“, sagte sie. „Ich befürchte, ich muss heute Abend ohne den Spaß auskommen, den Ihr mir angeboten habt, und Eure nicht unbeträchtlichen Gaben verschmähen. Nach meiner Erfahrung schmeckt das Essen besser, wenn es nicht vom Koch selbst derart gelobt wird.“
„Da habe ich nun eine Herausforderung herausgehört, holde Hirtin. Ich hoffe, Ihr versteht, dass ich nun nicht einfach davonlaufen kann.“
„Nur der arroganteste Mann würde meine Aussage als Herausforderung interpretieren. Sie troff vor Skepsis und Ablehnung, Sir. Ich gehe nun.“
Sie drehte sich zur Tür, aber er schnappte nach ihrer Hand und hielt sie auf. „Ich kann nicht zulassen, dass Ihr mit einem so schlechten Bild von mir geht. Dieser Koch besteht darauf, Euch wenigstens einmal kosten zu lassen.“
Mit einem Finger strich er ihr ungebeten den langen Handschuh an ihrem Arm hinab. Seine sachte Berührung hinterließ eine warme Fährte auf ihrer Haut.
Ihre Reaktion überraschte sie selbst. Es war Jahre her, dass ein Mann sie so angefasst hatte. Nicht, seit sie die Wahrheit über Steven herausgefunden und ihn verlassen hatte. In ihr keimte Empörung über die Dreistigkeit des Dukes auf, aber ihr Körper labte sich an der erquickenden Zuneigung des Lords. Fasziniert beobachtete sie, wie der Handschuh hinab gestrichen wurde, bis er sich um ihr Handgelenk aufbauschte. Sein Kopf neigte sich unvorhergesehen. Seine Lippen fuhren sachte über die weiche Haut an der Innenseite ihres Ellbogens. Wärme. Intimität. Es war so lange her. So unbeschreiblich lange. Er küsste ihre Haut einmal. Zweimal. Sowohl einladend als auch betörend. Der dritte Kuss wurde auf einer Stelle platziert, die genüssliche Schauer über ihren Körper jagte.
Seine Küsse gingen langsam an ihren Arm hinab bis zu ihrem Handgelenk. Die aufkeimende Erregung machte ihren Körper schwach. Sie fühlte sich wie eine Schauspielerin im Theater. Die Laternen auf der Veranda und im Garten leuchteten mit den Sternen zusammen wie ein idyllisches Bühnenbild.
Amanda hob ihre andere Hand instinktiv, um ihn davonzuschieben, aber sie hielt inne. Ihre Finger schwebten über seinem Kopf, während sie gegen die Versuchung ankämpfte, sie in seine dunklen Locken zu versenken. Nur etwas mehr davon, von diesem köstlichen Gefühl, am Leben zu sein.
Er sah hoch und fing ihren Blick in einer selbstgefälligen Anerkennung ihrer Befangenheit. „War das zurückhaltend genug? Angemessen subtil?“
Der Duke streckte den Rücken durch und zog sie an seine Brust. Eine Hand legte er an ihre Wange, während er mit den Fingern weiter ihre Handfläche streichelte. Sein Kuss war betörend.
Es schockierte sie, dass sie sein Talent zugeben musste. Trotz der Tatsache, dass Lust ihre Gedanken nach und nach vernebelte, merkte sie, wie er all die Veränderungen ihres Körpers wahrnahm und seine Aufmerksamkeit dementsprechend anpasste. Er demonstrierte mehr als genug Zurückhaltung und Geschick. Entgegen ihrer Annahme. Wie würde er sonst wissen, wie er gleichzeitig Dominanz und Geborgenheit zu zeigen hatte? Oder wie er sie genau im richtigen Moment weiter locken konnte, dass sie mehr und mehr seiner sündhaften Berührungen zuließ. Mit einem Kuss hatte er das Duell gewonnen, zu dem sie ihn herausgefordert hatte.
Dann zog er sie plötzlich an der Terrasse entlang. Sie stolperte mit und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Diese Nacht hatte sich unvorhergesehen mit Magie und Aufregung gefüllt.
Trotz ihrer Benommenheit war ihr allerdings eine Sache klar. Wenn sie nicht den Kopf verlor, würde sie mit dem Duke von Langford viel weiter kommen als mit seinem schnöden Bruder.
Überraschung. Das war es, was er in ihren Augen sah. Nicht das, was er erwartet hatte, aber ihm fast schon sympathischer. So war sie nicht so dreist, nicht so wortfertig und furchtlos. Sie sprach gar nicht mehr, derart hatte er ihr die Sprache verschlagen. Sie benahm sich, als hätte kein Mann sie jemals berührt.
Das bezweifelte er jedoch. Sie war keine Dirne, so viel war klar und ihre Talentlosigkeit betörte ihn noch mehr. Eine Hure zu verführen, war keine große Herausforderung.
Gabriel führte sie die Treppen hinab und in den Garten. Ihr überraschtes Aufatmen nahm er wahr, aber sie beschwerte sich nicht. Er zog sie weiter und schwang sie hinter einen der Büsche. In der Ferne tanzten einige kleine Laternen, aber ihr Licht schaffte es nicht, zu ihnen vorzudringen.
Trotzdem könnten sie gesehen werden. Ihm würde es nichts ausmachen. Vielleicht würde es sogar das selbstgefällige Grinsen der Idioten vernichten, die glaubten, dass dieser eine Duke seine Wege geändert hatte.
„Ich denke nicht … Ich habe nicht …“
Sie schaffte es nicht, mehr zu sagen, so atemlos war sie. Er fand das niedlich und wunderte sich, was sie zum Teufel mit seinem Bruder gemacht hätte, wenn Harry für ihre Zuneigung empfänglich gewesen wäre.
Er sog sie wieder in seine Arme. „Ihr hattet doch vor, heute Nacht geküsst zu werden. Ich will Euch nicht enttäuschen.“
Gabriel schenkte ihr einen festen Kuss. Sie wehrte sich nicht. Für einen Moment schien sie der Schock zu Stein werden zu lassen, doch dann wurde ihr Mund weich und sie ließ ihn gewähren wie auf der Terrasse auch. Er konnte keine Schminke schmecken. Ihre Lippen waren von Natur aus also Weinrot.
Ihr Kleid irritierte ihn nur noch. Es hielt ihren sinnlichen Körper fest umschlungen wie eine Rüstung. Ihre Maske verwehrte ihn, weitere Höhen seiner Kunst zu demonstrieren.
Mit einer Hand suchte er nach den Bändern ihrer Maske. „Lasst uns das hier ausziehen, damit ich Euch …“
„Nein. Ich darf hier nicht gesehen werden.“
„Es ist dunkel im Garten, Euch würde sowieso niemand erkennen.“
„Ich darf es nicht riskieren. Nicht einmal mit Euch.“
Dann war es so. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihrem Mund zu, um zu erfahren, wie unerfahren sie tatsächlich war. Aber sie war nicht ganz unerfahren, erfuhr er schnell. Sie ließ die Intimität zu, als er mit seiner Zunge zwischen ihre Lippen schlüpfte und sie mit ihm um Dominanz focht. Das war genug, um seine Erregung aufflammen zu lassen. Er begann, abzuschätzen, zu wie viel er sie heute im Garten bringen konnte.
Das Kleid wehrte zwar seine Versuche ab, aber der tiefe Ausschnitt gewährte ihm eindrückliche Möglichkeiten. Seine Lippen legten sich um ihr Ohrläppchen und fuhren dann ihren Hals hinab zu den sanften Wogen ihrer weichen Brüste. Der Geruch von Lavendel stieg ihm in den Kopf, als er sich daran labte, und ihr leises Stöhnen begleitete das sinnliche Gefühl mit der schönsten Melodie.
Sie drückte ihren Körper gebogen gegen seinen, um ihm ihre Brüste besser zu präsentieren. Ihre Finger klammerten sich gegen seine Schulter, als wäre sie eine Ertrinkende. Die kleine Schafshirtin war im Wirbelstrom der Lust gefangen und verlor sich in steigender Erregung.
Gabriel hob den Kopf. „Kommt mit mir. Dort hinten gibt es ein ruhiges Plätzchen, wo wir …“
Sie lief drei Schritte mit ihm, ehe sie sich sträubte. „Hier sind noch andere im Garten. Ich kann sie hören. Ich wage es nicht, weiterzumachen.“
Verdammt. Also war sie noch nicht ganz der Lust ergeben. Er nahm sie wieder in den Arm, während seine Gedanken nach weiteren Optionen rasten. Er würde verrückt werden, wenn das alles gewesen sein müsste. Er wollte sie und sie wollte ihn und es konnte jetzt nur noch eines geben.
„Kommt mit mir zu meinem Haus zurück“, hauchte er, während er ihre seidige Haut mit Liebkosungen überhäufte und dabei immer wieder ihrer vermaledeiten Maske ausweichen musste. „Geht Ihr zuerst und ich folge und gewähre Euch Einlass. Wir werden für uns sein und können Champagner trinken.“ Und er würde auch von ihrer Sinnlichkeit schmecken. Langsam. Genießerisch. Er würde jeden einzelnen Tropfen gebührend ehren.
„Mit Euch darf ich nicht gesehen werden“, brachte sie atemlos hervor.
Sie musste verheiratet sein. Das war die einzige Erklärung. Eine gelangweilte Ehefrau, die endlich genug von ihrem Herren hatte, der bestimmt jeden Abend sein Vermögen in einer der Clubs verspielte. Gabriel kannte sich mit solchen Weibern bestens aus.
„Gibt es nicht einen anderen Ort? Irgendwo außerhalb von Mayfair?“
Ihre Zustimmung ließ ihn zum Genie werden. „Wir können uns morgen Nacht im Haus meines Bruders treffen. Es ist nahe der Stadt. Keiner wird dort sein außer wir beide.“ Mit der Verzögerung war er nicht glücklich, aber er konnte damit arbeiten.
Ihr Kuss wurde fiebrig. So sehr, dass er vergaß zu denken, und mit den Händen an ihrem Körper hinabfuhr, bis sie um ihre Hüften lagen.
„Wo ist dieses Haus?“, fragte sie. „Ist es sicher für mich?“
„Von der Straße aus fällt es nicht auf. Es ist in der Nähe des British Museum.“ Seine Finger spreizten sich über ihren Hintern und pressten dann ihr Becken gegen seins. Ihre Hitze und der Druck schenkten ihm etwas Erleichterung, trieben ihn aber gleichzeitig unbedacht weiter. „Sagt mir, dass Ihr mich dort morgen trefft.“
Sie drückte sich von seinem Schoß fort. „Ich fürchte, Ihr erwartet zu viel von mir.“
Nicht zu viel, aber es war zu früh. Es war ein Anfängerfehler gewesen, sich ihr so aufzudrängen. Er konnte das besser. Er zwang sich zur Ruhe. „Ich erwarte nichts, außer, dass Ihr ein Glas Champagner mit mir trinkt und vielleicht einen einzelnen Kuss. Nicht mehr als das. Ich lasse meine Finger von Euch. Mein Wort als Gentleman.“
Alles Lügen. Sie würde ihm nach dem ersten Kuss ergeben sein.
Sie presste ihre Hände gegen seine Schultern und sah ihn mit großen Augen unter der Maske hervor an. „Wie komme ich hinein?“
Ah, endlich der Sieg. „Durch die Vordertür, natürlich.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ihr wisst nicht, was ich alles riskieren würde. Wenn Ihr die Tür zum Garten offen lasst, komme ich dort hinein.“
„Ihr könntet auch durch ein Fenster steigen, wenn Ihr wollt.“
Sie lachte nicht. Sie sprach nicht ein Wort und bewegte sich nicht.
„Ich lasse Euch die Tür zum Garten offen“, sagte er ernst und wagte einen weiteren Kuss, einen sanften, zusichernden. „Ihr kommt doch?“
„Nicht morgen, die Nacht darauf.“
„Jede Nacht, die Ihr wollt. Ich werde die Lampen nicht anmachen und das Feuer nur niedrig brennen lassen. Würdet Ihr Euch dann wohler fühlen?“
Sie hielt sich immer noch an seinen Schultern fest. Er konnte spüren, wie sie ihre Optionen angestrengt abwägte.
„Wo ist dieses Haus?“
„Bainbridge Street.“ Er beschrieb ihr den Weg. „Die Nacht nach der morgigen. Um zehn Uhr. Versprecht mir, dass Ihr kommt.“
Sie drückte sich plötzlich weg. „Ich versuche es. Aber nun muss ich gehen. Ich bin hier schon viel zu lange mit Euch.“
„Bis in zwei Nächten, meine Edelste. Ich werde auf Euch warten.“
Sie drehte sich ab.
„Wartet. Wie ist Euer Name?“, fragte er.
Sie sah kurz über die Schulter, eilte aber weiter davon.