Kapitel 1
Als die Nachricht, dass Marie Antoinette, die ins Gefängnis geworfene Königin von Frankreich, am 16. Oktober des Jahres 1793 hingerichtet worden war, England erreichte, traf das Luc Joslyn schwer. Er war weder ein Anhänger der Königin noch der Monarchie, noch empfand er für Frankreich irgendwelche Loyalität, aber dass sie ihr Leben unter dem Fallbeil der Guillotine lassen musste, schien ihm ein schreckliches Ende für die Frau, die über den Glanz und die Pracht des Hofstaates in Versailles geherrscht hatte. Über das Schicksal des armen kleinen Dauphins, der seit der Hinrichtung seines Vaters im Januar den Titel König von Frankreich trug, gab es nur wenig zu erfahren.
Nicht zum ersten Mal dankte Luc dem Himmel für seine gerade noch rechtzeitig geglückte Flucht aus Frankreich und seine ungewöhnliche, aber letztlich glückliche Ankunft in England im Februar. Er hatte vorher gewusst, dass seine Reise ein vergebliches Unterfangen war, aber er hatte alle Ratschläge ignoriert und war im vorigen Herbst von Amerika nach Frankreich gereist, entschlossen, herauszufinden, ob irgendjemand aus der Familie seiner Mutter die Unruhen und den Umsturz überlebt hatte, die das Land seiner Vorfahren erschüttert hatten. Trotz sorgfältiger und gründlicher Suche hatte er keine Spuren der Familie seiner Mutter gefunden, und es war nur glücklichen Umständen zu verdanken, dass er nicht selbst in Frankreich gestorben war.
Ein schiefes Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Guter Gott, dem Bon Dieu sei Dank für Emilys Schmugglerbande.
Am Tisch in einer ruhigen Ecke des Ram’s Head sitzend grübelte Luc über Marie Antoinettes Los, bis seine Aufmerksamkeit von zwei Herren angezogen wurde, die an einem Tisch in der Nähe Karten spielten. Unter halb gesenkten Lidern verfolgte Luc, wie Jeffery Townsend den jungen Harlan, Lord Broadfoots jüngsten Sohn, ins Verderben lockte. In der kurzen Zeitspanne, die er das Paar jetzt schon beobachtete, hatte Jeffery seiner Schätzung nach von Harlan über viertausend Pfund gewonnen. Luc, der mit der Familie Broadfoot über seinen Halbbruder Viscount Joslyn bekannt war, wusste, dass Harlan sich solche Verluste keinesfalls leisten konnte. Eine adelige Familie konnte von sechstausend Pfund ein Jahr lang standesgemäß leben. Und obwohl Lord Broadfoot dafür bekannt war, über gut gefüllte Taschen zu verfügen, war es unwahrscheinlich, dass er es gleichmütig aufnehmen würde, wenn sein jüngster Sohn in einer einzigen Nacht ein kleines Vermögen beim Spiel verlor.
Überzeugt, dass Jeffery betrog, und dankbar für die Ablenkung von seinen trüben Überlegungen, achtete Luc genauer auf die Karten, musste den anderen aber erst noch auf frischer Tat ertappen. Seine azurblauen Augen wurden schmal, als Jeffery eine weitere Runde gewann. Luc entschied, dass er Jeffery Townsend wirklich nicht leiden konnte – selbst wenn er der Friedensrichter der Gegend und er mit ihm über Heirat verwandt war.
Als Jeffery eine weitere Flasche von zweifellos geschmuggeltem französischem Brandy bestellte und seinem Begleiter ein neues Spiel vorschlug, starrte Luc den Cousin seiner Schwägerin an und schüttelte den Kopf. Wie Emily, eine so herzliche und reizende junge Frau, wie man sie sich nur wünschen konnte, mit einem so widerlichen Wiesel wie Jeffery verwandt sein konnte, versetzte ihn in Erstaunen. Oh, sicher, es gab eine gewisse oberflächliche äußerliche Ähnlichkeit, beide waren groß und blond, aber während Emily so rein und aufrecht war wie der feinste englische Stahl, war Jeffery …
Lucs Lippen pressten sich zu einer schmalen Linie zusammen, als die beiden von dem Tisch aufstanden und zusammen – in Harlans Fall allerdings auf unsicheren Beinen – zu einem der privaten Spielzimmer gingen. Der Junge war betrunken, und Luc war nicht entgangen, dass Jeffery großzügig für Nachschub mit Brandy gesorgt hatte, seit er die beiden zu beobachten begonnen hatte.
Es war gewiss nicht seine Aufgabe, über einen unerfahrenen jungen Mann zu wachen, räumte Luc ein, aber er konnte ebenso wenig dabeisitzen und zusehen, zulassen, wie Harlan in einem dieser Privatsalons von jemandem wie Jeffery Townsend ausgenommen wurde. Harlan konnte froh sein, wenn ihm danach noch die Stiefel an den Füßen gehörten, um darin nach Hause zu stolpern. Mit einem Seufzer erhob Luc sich von seinem Stuhl.
Aus vielen Gründen war Luc gewöhnlich nicht in der Nähe des Ram’s Head anzutreffen, und ehe er mehr als zwei Schritte machen konnte, trat ihm einer dieser Gründe in den Weg. Innerlich stöhnte er. Sich mit Will Nolles, dem Besitzer und Wirt des Ram’s Head, ein Wortgefecht zu liefern, war für ihn etwa so reizvoll, wie nackt mit einer Giftschlange zu tanzen.
Nolles war nicht sonderlich groß und schlank, trug einen eng sitzenden dunkelgrünen Rock, ein breites weißes Halstuch, das zu einer Schleife gebunden war, und eine gestreifte Hose, sodass klar zu erkennen war, dass er eine Schwäche fürs Dandytum hatte. Seine blassgrünen Augen glitzerten im diesigen Kerzenschein im Schankraum, während er sich Luc in den Weg stellte.
„Ich habe erst meinen Ohren nicht trauen wollen“, murmelte Nolles, „als eine der Schankmägde zu mir kam, um mir zu sagen, dass Sie heute Abend hier seien.“ Seine Augen blinzelten nicht, wie bei einer Schlange, als er fragte: „Ich glaube, ich habe seit … Monaten keinen Joslyn mehr in meiner bescheidenen Wirtschaft gesehen. Welchem Umstand verdanken wir heute die Ehre?“
Luc sah ihn an und überlegte, wie sein nächster Schritt aussehen sollte. Oberflächlich betrachtet war Nolles ein ehrlicher Kneipenbesitzer, aber er machte Gewinne – ziemlich große Gewinne – als Anführer einer Bande Schmuggler. Luc hatte bereits mehrere bekannte Mitglieder der Gruppe im Raum verteilt entdeckt. Aus gutem Grund waren die Joslyns bei ihnen nicht sonderlich beliebt, und Luc war sich ziemlich sicher, dass es keinen darunter gab, der ihm nicht liebend gerne ein Messer zwischen die Rippen jagen würde.
Im Frühjahr hatte Barnaby, Lucs Halbbruder, den Schmugglern einen gewaltigen Verlust zugefügt, als er Unmengen Schmuggelwaren in einem Lager in den unterirdischen Gängen und Tunneln unter Windmere ausgehoben hatte, dem Familiensitz der Joslyns. Die Schmuggelware war nicht nur den Zollfahndern übergeben worden, auch der Zugang zu den Tunneln war zerstört worden. Wenn Barnaby Nolles an den Galgen hätte bringen können, hätte er das gewiss getan, aber bei dem letzten Aufeinandertreffen in der alten Scheune war es Nolles gelungen zu entkommen.
Die Entdeckung der Schmuggelwaren hatte zu einigem Aufsehen in der Gegend geführt und war tagelang das Gesprächsthema schlechthin gewesen, und niemand hatte sich erstaunter gegeben als Nolles. In der Öffentlichkeit hielt er sich an die Regeln der Höflichkeit, aber in Wahrheit, das wusste Luc, hatte die inzwischen verstrichene Zeit nichts dazu beigetragen, den Rachedurst in Nolles zu stillen – oder den seiner Bande. Im Geiste schnitt Luc eine Grimasse. Er konnte fast hören, wie ihn Nolles fragte, was er sich dabei dachte, den Kopf in das Maul des Löwen zu stecken.
Selbst über einen Meter achtzig groß und mit den zu seiner beeindruckenden Körpergröße gehörigen Muskeln ausgestattet, war Luc nicht im Mindesten eingeschüchtert von der Lage an sich, war sich aber genau bewusst, dass jede Minute, die er hier verlor, es Jeffery erlaubte, sich weiter aus Harlans Taschen zu bedienen, daher entschied Luc, auf das Vergnügen zu verzichten, eine Schlägerei anzuzetteln, und zuckte nur die Achseln.
„Ich hatte das Gefühl, es sei an der Zeit für einen Ortswechsel – irgendwelche Einwände?“
Nolles hob abwehrend die Hände.
„Natürlich nicht.“ Er lächelte verkniffen. „Das Ram’s Head ist ein öffentliches Lokal und steht somit allen offen.“
„Précisement, genau“, erwiderte Luc und verfolgte aus dem Augenwinkel, in welchem Raum Jeffery mit Harlan verschwand. „Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen …“
Nolles machte eine angedeutete Verneigung und trat ihm aus dem Weg.
Luc spürte Nolles’ Blick auf seinem Rücken wie Dolchspitzen, als er zu der Tür ging, durch die Jeffery Harlan geleitet hatte. Als er an ihr ankam, klopfte er nicht; er öffnete die Tür einfach nur, wie es von ihm erwartet wurde, und betrat den Raum dahinter.
Es war ein behagliches Zimmer. Ein kleines Feuer flackerte in dem gemauerten Kamin, das die leichte Kälte der Oktobernacht in Schach hielt. Kerzen brannten in den Zinnkerzenständern, die überall im Zimmer verteilt standen. Unter einem Fenster, das nach vorn hinausging, stand ein niedriges geschnitztes Schränkchen aus Eichenholz, auf dem ein Tablett mit Gläsern und verschiedenen Karaffen mit hochprozentigen Getränken stand. Am anderen Ende des Raumes, flankiert von zwei braunen Lederstühlen, befand sich eine kleine Truhe, auf der mehrere Sets Kartenspiele lagen, Würfel und andere Gegenstände, die man zum Spielen benötigte. In der Mitte des Zimmers gab es einen großen mit grünem Filz bespannten Tisch. Ein halbes Dutzend hölzerne Stühle mit Armlehnen und gepolsterten Ledersitzen stand darum herum.
Harlan saß zusammengesunken auf einem der Stühle auf der anderen Zimmerseite, und Jeffery, der gerade dabei war, dem Jungen fürsorglich ein Glas Brandy in die Hand zu drücken, blickte bei Lucs Eintreten auf. Er erkannte Luc und seine Miene zeigte deutlich, wie verärgert er über die Störung war.
„Das hier ist ein Privatzimmer“, erklärte Jeffery.
Luc lächelte, und es gab Leute, die Jeffery hätten warnen können, sich von diesem besonderen Lächeln nicht täuschen zu lassen.
„Kommen Sie, mon ami“, antwortete Luc, „mein Freund, wir sind doch praktisch Cousins. Sicherlich haben Sie keine Einwände, dass ich dazukomme, oder?“
Harlan starrte ihn erfreut an.
„Das ist Luc Joslyn. Ich mag Luc. Luc ist ein Freund meiner Familie“, verkündete er mit leicht undeutlicher Stimme und lächelte Jeffery glücklich an. Als der sich unbeeindruckt zeigte, fügte Harlan hinzu: „Er ist Joslyns Halbbruder. Halbfranzose, wissen Sie? Ihre Cousine Emily hat ihn geheiratet.“ Er kicherte. „Barnaby natürlich, nicht Luc.“
„Dessen bin ich mir bewusst“, brummte Jeffery.
Harlan runzelte die Stirn, als suchte er einen Gedanken.
„Älter als Barnaby. Er wäre der Viscount gewesen“, sagte er schließlich, „ist aber auf der falschen Seite des Bettes geboren.“
Mit zusammengebissenen Zähnen bemerkte Jeffery:
„Ich bin mit Lucs Abstammung vertraut.“
Harlan lehnte sich im Stuhl zurück und stierte ihn verwundert an.
„Sie kennen Luc? Sein Halbbruder ist Lord Joslyn.“
„Das weiß ich“, entgegnete Jeffery knapp. „Lord Joslyn hat meine Cousine geheiratet, schon vergessen?“
Harlan nickte fröhlich.
„Hat Ihre Cousine Emily geheiratet.“ Er sah Luc an. „Ich mag Sie. Mein Vater mag Sie ebenfalls.“ Er dachte einen Moment nach. „Mein Bruder Miles mag Sie ebenfalls. Sagt, auch wenn Ihre Mutter Französin war, seien Sie doch ein guter Kerl.“
„Ja, ja“, schaltete sich Jeffery ungeduldig ein. „Alle mögen Luc.“ Mit einem nörgelnden Unterton in der Stimme sagte er: „Aber wir wollen nicht, dass er sich an unserem Spiel beteiligt, oder?“
Dass Harlan viel zu viel Brandy intus hatte und in keiner Verfassung war, Karten zu spielen, war offensichtlich, aber er war ein freundlicher, wohlerzogener junger Mann, und selbst so betrunken, wie er war, würde es ihm nie in den Sinn kommen, einem anderen Mann seine Gesellschaft zu verwehren.
„Ich mag Luc. Kein Grund, warum er nicht zu uns stoßen sollte.“ Er musste gähnen, und er fügte verschlafen hinzu: „Ich glaube, ich döse ein wenig. Danach wird sich das Glück wenden.“
Ehe Jeffery etwas dagegen sagen konnte, sank Harlans Kopf auf seine Brust, und er schlief ein. Für diesen Abend war Harlan vor Jeffery sicher.
Luc schlenderte zu der kleinen Truhe und nahm mehrere Paar Würfel in die Hand. Er setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Harlan und legte die meisten Würfel auf die Seite, behielt nur ein paar in der Hand. Er warf sie mit einer Drehung des Handgelenks, die von jahrelanger Übung sprach, und lächelte Jeffery an.
„Hazard?“, fragte er. „Ein paar Würfe? Wenn ich Ihre Cousine recht verstehe, sind Sie ein bekannter Spieler.“
Jeffery zögerte. Harlan schlief tief und fest, mit ihm war an diesem Abend nichts mehr anzufangen. Zwar waren seine Taschen voller Schuldscheine von Harlan, aber seine Spielernatur war nicht bereit, jetzt zu gehen und den Abend so enden zu lassen – nicht wenn er noch mehr gewinnen könnte. In den sieben oder acht Monaten, die Luc inzwischen auf englischem Boden weilte, war sein Ruf, alle möglichen Glücksspiele zu gewinnen, stetig gewachsen und eilte ihm inzwischen voraus. Lucifer – so genannt, weil niemand bestritt, dass Luc das Glück des Teufels hatte – zu besiegen, war das erklärte Ziel vieler unerfahrener junger Männer … und einiger älterer, klügerer Herren, die es eigentlich hätten besser wissen müssen.
Jeffery hielt sich selbst für einen begnadeten Spieler, und die Vorstellung, Lucifer zu schlagen, war überaus reizvoll, aber er war auch argwöhnisch. Er hatte Vertrauen in seine Fähigkeiten, konnte aber Lucs Ruf nicht einfach so abtun. Durfte er es wagen, es zu versuchen?
Unter halb gesenkten Lidern verfolgte Luc, wie in Jeffery Vorsicht und Versuchung miteinander rangen; er setzte darauf, dass die Versuchung die Oberhand gewann. Jeffery war schließlich ein Spieler, und er musste insgeheim lächeln, als Jeffery sagte:
„Warum nicht? Der Abend ist noch jung.“
Luc behielt einen kühlen Kopf, wenn er spielte, verzichtete auf jeglichen Alkohol, allerhöchstens gönnte er sich ab und zu ein Gläschen Wein. Diesem Umstand schrieb er sein phänomenales Glück zu, dem und dem instinktiven Geschick mit den Karten sowie dem Wissen, wann er aufhören musste. Jeffery schien diese letzte Lektion noch nicht gelernt zu haben.
Luc hatte recht. Jeffery war kein Glück beschieden, er hatte immer wieder wertlose Würfe, während Luc jedes Mal die benötigten Punkte würfelte, wenn er an der Reihe war. Nach mehreren Runden erhöhte Jeffery den Einsatz, statt einzusehen, dass die Glücksgöttin ihm an diesem Abend nicht gewogen war, von der Hoffnung getrieben, auf diese Weise seine Verluste wettzumachen. Luc hinderte ihn nicht daran, bis er sich zu langweilen begann … und sich vielleicht auch so etwas wie Mitleid in ihm regte. Von Emily wusste er, dass Jeffery seit Jahren den Familiensitz The Birches ausblutete, um seine Spielsucht zu finanzieren, und wenn er das nicht bald änderte, würde er alles verlieren. Luc spielte berechnend, aber er wollte sein Gewissen nicht mit dem Ruin eines Mannes belasten – selbst wenn es um ein Wiesel wie Jeffery ging. Nach ein paar Stunden beendete er das Spiel. Als er sich vom Tisch erhob, lagen vor Luc nicht nur Harlans Schuldscheine, sondern auch welche von Jeffery – im Wert von zweitausend Pfund.
Mit verkniffenem Gesicht stand Jeffery auf, nickte Luc kurz zu und verließ fluchtartig den Raum. Da er nun mit Harlan allein im Zimmer war, rüttelte er ihn an der Schulter, um ihn zu wecken. Harlan erschrak, als Luc leise sagte:
„Kommen Sie, mon ami. Ich glaube, es ist Zeit für Sie, nach Hause zu gehen.“
Harlan lächelte ihn engelsgleich an.
„Luc. Ich mag Sie. Mein Vater mag Sie. Und Miles auch.“
Luc lachte.
„Bon! Und jetzt lassen Sie allen die gute Meinung von mir und helfen mir, Sie auf Ihr Pferd zu setzen.“
Harlan blickte sich um, entdeckte die Würfel auf dem Tisch und blinzelte.
„Haben wir gespielt?“
Luc nickte.
„Mais oui. Aber ja, und die Dame Fortuna war Ihnen gewogen. Sie haben Ihre Schuldscheine zurückgewonnen!“
Harlan riss seine blauen Augen weit auf.
„Wirklich?“, fragte er verwundert.
Luc lächelte und schwenkte die Zettel vor Harlans Nase.
„Allerdings. Und jetzt, bevor die Nacht älter wird, schlage ich vor, gehen wir heim.“
Harlan nickte und vertraute Luc an:
„Ich bin angeheitert, wissen Sie?“
Auch nach dem Nickerchen war Harlan noch ziemlich betrunken, aber Luc gelang es trotzdem, ihn in seinen Mantel zu stecken und den torkelnden jungen Mann aus der Taverne zu führen. Draußen in der kühlen Oktobernacht hievte Luc ihn mit einiger Mühe in den Sattel und steckte ihm die Schuldscheine in eine Tasche seines Mantels. Als er überzeugt war, dass Harlan wach genug war, um nicht vom Pferd zu fallen, stieg er selbst auf und hielt die Zügel von Harlans Pferd, dann machte er sich so auf den Weg nach Broad View, dem Anwesen der Broadfoots.
Als sie die hohen Steinpfosten mit dem Eisengittertor erreichten, das den Beginn der Auffahrt zu dem Anwesen markierte, war Luc mehr als bereit, seinen trunkenen Schützling abzugeben. Der Ritt nach Broad View war notwendigerweise langsam, und es war mehrmals nur Lucs Reaktionsschnelle zu verdanken, dass Harlan nicht vom Pferd fiel. Wenn Harlan nicht gerade damit beschäftigt war, aus dem Sattel zu kippen, ergötzte er Luc mit dem Bekenntnis, wie gerne er ihn mochte, wie gerne ihn jedes einzelne Mitglied seiner Familie mochte oder sang aus vollem Hals jedes schmutzige Trinklied, das er kannte.
Zwei Fackeln brannten zu beiden Seiten der breiten Eingangstür des Herrenhauses, und während Harlan weiter unsicher im Sattel saß und dabei aus Leibeskräften sang, saß Luc vor dem Gebäude ab. Sogleich wurde die Tür geöffnet, und Miles trat heraus.
Miles war eine ältere Version von Harlan, etwas größer und mit breiteren Schultern, aber mit den gleichen blauen Augen und den gleichen hellbraunen Haaren. Lächelnd schüttelte Miles den Kopf, als er zu Luc kam.
„Ein fröhlicher Singvogel, was?“
„Ich fürchte, ja.“
„Als ich den Lärm gehört habe, habe ich mir so etwas schon gedacht.“ Miles zögerte. „War er wieder im Ram’s Head?“
Luc nickte.
„Hat mit Jeffery Townsend gespielt.“
Miles’ freundliche Züge wurden hart.
„Teufel noch mal! Vater wird ihn enterben, wenn er wieder an diesen Wüstling verloren hat.“
„Sie müssen sich heute Abend deswegen keine Sorgen machen … Harlan hat großes Geschick beim Hazard bewiesen, sodass es ihm gelungen ist, seine anfänglichen Verluste wieder wettzumachen und zudem ein paar tausend Pfund von Monsieur Townsend zu gewinnen. Sie werden die Beweise dafür in seinen Taschen finden.“
Miles Augen wurden schmal.
„Was Sie nicht sagen.“
Luc nickte wieder.
„Allerdings, ich war da und habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.“
„Und hat Harlan dieses große Geschick bewiesen, vor oder nachdem er getrunken hatte?“
„Währenddessen. Ich glaube, der Alkohol hat ihm geholfen, alle Vorbehalte zu vergessen und die Würfel ganz nach Gefühl zu werfen“, erwiderte Luc mit ernstem Gesicht.
„Was Sie nicht sagen“, wiederholte Miles, und die Ironie in seinem Ton war unverkennbar.
„Wirklich“, bekräftigte Luc. „Und jetzt muss ich mich, wenn Sie mich entschuldigen wollen, auf den Heimweg machen.“
Luc saß auf, neigte seinen Kopf in Miles’ Richtung und wendete sein Pferd.
„Bonne nuit, gute Nacht!“, rief Luc über seine Schulter, während er seinem Pferd die Fersen in die Flanken drückte und es antrieb. Kurz darauf hatte die Dunkelheit ihn verschluckt.
Das Tor von Broad View hinter sich lassend, ritt Luc in Richtung Windmere. Inzwischen war es weit nach Mitternacht und die Nacht entschieden kalt. Luc meinte, Regen in der Luft zu riechen – er sehnte sich nach seinem Bett auf Windmere.
In dieser Nacht schien kein Mond, aber er kannte die Strecke und vertraute seinem Reittier, sodass er sein Tempo nicht verlangsamte. Als er aber um eine Wegbiegung kam, schnaubte sein Pferd und scheute. Ein kurzes Stück vor ihnen sah er in dem Licht ihrer Lampen die Umrisse einer verunglückten Kutsche liegen. Der Phaeton lag halb im Graben.
Als er näher kam, konnte Luc im flackernden Licht die beiden Kastanienbraunen erkennen, die ihn mit aufgerichteten Ohren anschauten. Die Pferde gehörten Silas Ordway, und wenn er sich nicht irrte, galt das auch für das Gefährt. Ein flüchtiger Blick auf die scharlachroten Streifen auf den Rädern und auf der Kutsche selbst bestätigte diese Einschätzung.
Beunruhigt hielt Luc an und sprang aus dem Sattel. Es war nicht zu sehen, wann es zu dem Unfall gekommen war, aber Luc wusste, der alte Mann hätte nie seine geliebten Kastanienbraunen einfach so unbewacht auf der Straße stehen lassen.
„Silas!“, rief er, während er zu dem Phaeton lief. Zu seiner Sorge antwortete ihm Silas vom Boden auf der anderen Seite des Phaetons.
„Luc? Sind Sie das, Junge?“
Die Stimme des alten Mannes klang schwach, aber Luc ignorierte die Beunruhigung, die ihn erfasste, und sagte:
„Oui! Ja, ich kümmere mich rasch um die Pferde, dann bin ich gleich bei Ihnen.“
Nachdem er sein Pferd an einem jungen Baum in der Nähe angebunden hatte und mit den Kastanienbraunen ebenso verfahren war, eilte Luc auf die andere Seite des Phaetons. Er fand Silas in halb liegender, halb sitzender Position im Graben; der Ältere hielt sich den rechten Arm.
„Mon Dieu! Mein Gott, was ist geschehen?“
Im blassen Lichtschimmer der Kutschenlampen verzog Silas das Gesicht.
„Irgend so ein verdammter Narr ist von hinten angerast gekommen und hat mich von der Straße gedrängt. Hat meine Räder gestreift und mich einfach so in den Graben geworfen.“ Mit einem gezwungenen Lächeln fügte er hinzu: „Verdammt dämlich in meinem Alter, aber ich scheine mir den Arm gebrochen zu haben.“
Luc stützte den anderen vorsichtig, aber als Silas scharf einatmete, hörte er sogleich auf.
„Wie schlimm ist es?“
„Nicht so schlimm, dass ich vorhätte, hier die ganze Nacht zu liegen“, erwiderte Silas knapp. Mit einem Stirnrunzeln sah er Luc an und brummte: „Schaffen Sie mich hier raus, Junge. Ich bin nicht aus Glas – ich halte ein wenig Herumgeschubse schon aus. Schauen Sie nur, dass es schnell geht.“
„Lassen Sie uns erst etwas wegen des Armes unternehmen“, sagte Luc. Er zog unter seinem Mantel sein Halstuch hervor und benutzte den breiten Leinenstreifen, um den verletzten Arm am Oberkörper des älteren Mannes zu sichern. Zufrieden, dass der Arm nicht verrutschen konnte, hob Luc Silas auf, als sei der andere eine Puppe, und stieg mit ihm auf den Armen aus dem Graben.
Luc schaute sich um und suchte nach einer Stelle, wo er seine Last absetzen konnte. Das Licht der beiden Kutschenlampen drang nicht weit, und sonst herrschte um ihn herum undurchdringliche Dunkelheit.
Sich Lucs Dilemma bewusst, bemerkte Silas:
„Stellen Sie mich hin, Junge. Ich werde nicht ohnmächtig wie eine Frau aus diesen Schundromanen.“ Spöttisch fügte er hinzu: „Ich habe mir den Arm gebrochen, nicht das Bein.“
Luc stellte Silas behutsam ab und wartete, bis der alte Mann wieder sicher auf den Füßen stand, bevor er sagte:
„Jetzt sehen wir mal, ob ich den Phaeton freibekommen kann.“
Silas nickte, und Luc ging zu den Pferden. Es war nicht einfach, aber die Tiere waren kräftig und gut trainiert, sodass sie schließlich unter Lucs Anleitung den Phaeton aus dem Graben und auf die Straße zogen.
Von der Seite trat Silas zu seiner Kutsche und verlangte:
„Helfen Sie mir herauf. Ich kann die Zügel halten, während Sie Ihr Pferd hinten anbinden.“
Luc zögerte, und Silas erklärte:
„Luc, ich kenne meine Tiere. Diese Pferde gehören mir seit ihrer Geburt. Es sind gute, verlässliche Burschen. Sie werden nicht einfach losrennen, sondern bleiben hier stehen, unverrückbar wie Felsen, bis man ihnen sagt, dass sie etwas anderes tun sollen.“
Auf Silas’ Wort vertrauend, sprang Luc vom Phaeton. Ein paar Minuten später hatte Luc den alten Mann auf dem Phaeton sitzen und sein eigenes Pferd hinten angebunden. Er kletterte auf den Kutschbock und nahm Silas die Zügel aus der Hand.
Ihm entgingen die Schmerzfalten um Silas’ Mund nicht und auch nicht seine unnatürliche Blässe. Daher fragte Luc erneut:
„Wie schlimm ist es?“
Silas rang sich ein Lächeln ab.
„Nicht so schlimm wie damals, als ich so dumm war, ein Duell auszutragen, und als Lohn einen Schuss in die Schulter bekommen habe. Wenn Sie mich jetzt bitte nach High Tower bringen könnten, bevor ich mich in Verlegenheit bringe, indem ich das Bewusstsein verliere, wäre ich Ihnen überaus verbunden.“
Luc grinste und setzte die Kastanienbraunen sanft in Bewegung. Er hatte Silas im April in London kennengelernt, und es hatte sowohl sie beide als auch alle, die sie kannten, überrascht, dass sich zwischen ihnen eine Freundschaft entwickelt hatte, obwohl sie so verschieden waren.
Luc hatte den schmächtigen alten Gentleman von dem Augenblick an gemocht, in dem er ihm von seinem Cousin Simon Joslyn vorgestellt wurde. Sie waren sich in einer der vornehmen Spielhöllen Londons begegnet, und binnen wenigen Tagen war es in der vergangenen Saison nichts Ungewöhnliches mehr gewesen, Ordway auf Lucs Arm gestützt zu treffen, während der Ältere ihn in der Stadt herumführte und mit allen möglichen Mitgliedern der guten Gesellschaft bekannt machte.
Sie gaben ein seltsames Paar ab, der große schlanke junge Mann von fragwürdiger Herkunft und der alte Herr. Hie und da wurden Brauen hochgezogen, aber als die Saison im Juni zu Ende ging und die gute Gesellschaft sich aufs Land zurückzog, war die Freundschaft zwischen den beiden allgemein bekannt und anerkannt.
Silas’ Landsitz High Tower lag nicht weit von Windmere entfernt, wo Luc wohnte, sodass die Freundschaft der beiden über den Sommer wuchs und gedieh. Der alte Mann lebte zurückgezogen, aber Luc war oft auf High Tower zum Essen und Kartenspielen bis in die Morgenstunden.
Der Phaeton war gut gefedert, und die Fahrt nach High Tower verlief ohne Zwischenfall. Eine einzelne Fackel flackerte neben der Eingangstür, und Luc lenkte die Pferde vor den schmalen Vorbau, der im letzten Jahrhundert zu dem aus der Tudorzeit stammenden Herrenhaus mit dem typischen Fachwerk angebaut worden war.
„Halten Sie die Zügel, ich gehe und wecke den Haushalt.“
Silas brummte.
„Wenn nicht binnen fünf Minuten jemand an der Tür ist, zahle ich der Bande zu viel.“
Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als auch schon die massive Eichentür geöffnet wurde und Silas’ Butler Meacham den Kopf hinaussteckte. Er sah Luc an den Zügeln und seinen Herrn daneben, und seine Augen weiteten sich besorgt.
Er eilte nach draußen und rief:
„Herr! Was ist geschehen?“
„Nichts, was ein Besuch des Arztes nicht richten kann“, erwiderte Silas. „Jetzt hören Sie auf, herumzustehen und mich anzustarren, als sei ich eine Jahrmarktsattraktion. Helfen Sie mir herunter.“
Da Meacham seinem Herrn im Alter nahestand und zudem nicht viel größer war, schaltete sich Luc ein.
„Gestatten Sie, mein Herr.“
Luc gab Silas keine Gelegenheit, darauf etwas zu antworten, hob den alten Mann ohne sonderliche Anstrengung vom Phaeton und stellte ihn vorsichtig auf die Füße.
„Sehr verbunden, mein Junge“, erwiderte Silas. „Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie lange ich dort hätte liegen können, wenn Sie nicht zufällig des Weges gekommen wären. Stehe in Ihrer Schuld. Werde ich nicht vergessen.“
„Denken Sie sich nichts weiter dabei, Sir“, antwortete Luc. Er bot ihm seinen Arm und sagte: „Und jetzt schauen wir, dass wir Sie aus dieser Kälte hier draußen ins Haus schaffen.“
Nachdem ein verschlafener Lakai geschickt worden war, unverzüglich den Arzt zu holen, und ein paar Stallburschen die Pferde weggeführt hatten, brachte Luc den sich heftig auf seinen Arm stützenden alten Herrn nach oben in seine Räume, dicht gefolgt von einem besorgten Meacham.
Mithilfe von Meacham und Silas’ Kammerdiener Brownell wurde Lucs Halstuch behutsam entfernt. Da keine Hoffnung bestand, von Silas’ Kleidung etwas zu retten, wurden sein Rock und Hemd aufgeschnitten, um ihn daraus zu befreien. Obwohl sie sich bemühten, dabei ganz vorsichtig zu sein, war, als sie endlich damit fertig waren, sein Gesicht ganz weiß und angespannt, und er saß halb zusammengesunken auf dem grünen Damastsessel am Kamin. Sein gebrochener Arm war wieder an seinen Oberkörper gebunden, dieses Mal aber mit einem breiten Streifen sauberen Leinens, den Meacham besorgt hatte.
Da ihm Silas’ Gesichtsfarbe gar nicht gefiel, bestellte Luc leise bei Meacham einen Brandy. Binnen wenigen Minuten brachte der Butler das Gewünschte sowie ein paar bauchige Gläser auf einem Silbertablett. Und daneben lag auch noch ein Briefumschlag. Nachdem Silas ein paar Schlucke von dem Brandy genommen hatte, war Luc zufrieden, als er sah, wie etwas Farbe in das Gesicht des Mannes zurückkehrte. Da das Schlimmste überwunden schien, stellte er sein Glas ab und bemerkte:
„Nun, da Sie sicher zu Hause sind, werde ich mich wieder auf den Weg nach Windmere machen.“
Silas nickte.
„Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, mein Junge. Wenn Sie nicht des Weges gekommen wären …“
„Sie hätten das irgendwie geschafft“, entgegnete Luc leichthin. „Wie Sie schon gesagt haben, Sie haben sich den Arm gebrochen, nicht das Bein.“
Silas stieß ein bellendes Lachen aus.
„Wenn ich dreißig Jahre jünger wäre vielleicht. Wären Sie nicht gewesen, fürchte ich, es wäre morgen früh geworden, bevor mich ein Bauer restlos verkühlt und zitternd in dem Graben gefunden hätte.“ Seine Miene wurde ernst. „Es ist draußen bitter kalt heute Nacht. Ich hätte sterben können.“
Um ihn abzulenken, deutete Luc auf den Umschlag auf dem Tablett.
„Ist das nicht ein Brief für Sie?“
Silas, der den Umschlag jetzt erst bemerkte, runzelte die Stirn.
„Vermutlich von meinem Tunichtgut von Neffen – der wieder will, dass ich ihn vor dem Schuldgefängnis rette.“
Luc kannte Stanley Ordway und war mit Silas einer Meinung. Der jüngere Mr. Ordway war mit Jeffery Townsend locker befreundet und schien aus demselben Holz geschnitzt.
Luc nahm den Umschlag und bemerkte die weibliche Handschrift; er grinste.
„Vielleicht auch nicht. Vielleicht ist er von der reizenden Witwe Dobson, die Ihnen in London so eifrig nachgestellt hat.“
Silas schnaubte.
„Ersparen Sie mir das. Jetzt habe ich schon so lange erfolgreich eine Ehe gemieden, da lasse ich mir nicht von einer dummen Gans wie Kitty Dobson Fesseln anlegen.“
Luc reichte ihm den Umschlag und sah Silas’ erfreute Miene, als er die Handschrift erkannte.
„Der ist von meiner Nichte Gillian, und sie ist ganz anders als Stanley“, erklärte er und blickte zu Luc. Er öffnete den Umschlag, holte das Blatt Papier heraus und überflog es. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Gute Nachrichten, Sir?“, erkundigte sich Luc.
Silas legte den Brief samt Umschlag auf den Tisch neben sich und nickte. Ein listiger Ausdruck glitt über seine faltigen Züge.
„Genau das, was ich mir erhofft hatte.“
Kapitel 2
Nach seiner Ankunft in Windmere ließ Luc sein Pferd in den Ställen und ging rasch zum Dower House, wo er in den vergangenen Monaten, wenn er hier gewesen war, immer gewohnt hatte. Als er sich dem beeindruckenden Gebäude näherte, seufzte er. Im Dower House zu wohnen war akzeptabel gewesen, als er gerade erst in England eingetroffen war, kurz nach Barnabys und Emilys Hochzeit, mittellos und nur noch gerade so am Leben. Inzwischen hatte er sich voll und ganz von seiner entzündeten Wunde erholt, die er sich bei der Flucht aus einem französischen Gefängnis zugezogen hatte. Dank der Gewogenheit der Glücksgöttin und mit der Hilfe einiger Herren, die es hätten besser wissen müssen, war er mittlerweile auch nicht länger mittellos – genau genommen sogar alles andere als das …
Als er Ende Juni nach der Saison aus London zurückgekehrt war und vorgeschlagen hatte, zwei Zimmer in Mrs. Gilberts Gasthof Krone zu beziehen, waren Barnaby und Emily beide zutiefst gekränkt gewesen und hatten darauf bestanden, dass er davon Abstand nahm.
Mit Augen, die wie Obsidian glitzerten, hatte Barnaby gebrummt:
„Du bist mein Bruder! Ich habe ein verdammtes Haus, das leer steht …“ Nach einer kurzen Pause hatte er weitergesprochen: „Bei Zeus. Ich besitze ein gutes Dutzend Häuser, und du willst dir Zimmer in einem Gasthof mieten?“ Auf seinem auf harsche Weise gut aussehenden Gesicht war seine Verärgerung deutlich zu erkennen gewesen. „Willst du mich absichtlich verletzen oder bist du nur nicht ganz richtig im Kopf?“
Die beiden Halbbrüder hatten äußerlich nicht viel gemein. Nur ihre Größe und das schwarze Haar hatten sie ganz offensichtlich von ihrem Vater geerbt. Ansonsten schlug Barnaby nach seiner Mutter, hatte von ihr und ihren Cherokee-Vorfahren die dunkle Haut und die schwarzen Augen geerbt. Ironischerweise sah Luc, der uneheliche Sohn, den Joslyns viel ähnlicher, er hatte die azurblauen Augen und die aristokratischen Züge der Familie seines Vaters. Während Barnaby eher an einen Kneipenschläger erinnerte und auch über den dazugehörigen Körperbau und die Muskelmasse verfügte, sah Luc wie ein vornehmer Adliger aus, von seiner schlanken Gestalt über die aristokratische Nase zu dem wie gemeißelten Mund. Barnaby galt gemeinhin als beständig, während Luc für sein Draufgängertum und sein Vagabundenleben bekannt war, und sich zudem seinen Lebensunterhalt am Spieltisch verdiente – übrigens sehr zu Barnabys Verärgerung. Barnaby hatte versucht, den Besitz ihres Vaters mit ihm zu teilen, aber Luc hatte auch den unbeugsamen Stolz der Joslyns geerbt und wollte davon nichts wissen. Und so hatte er Barnaby entgegengeschleudert:
„Wenn dein Erzeuger es nicht für nötig befunden hat, mich in seinem Testament zu bedenken, dann werde ich einen Teufel tun und deine Mildtätigkeit annehmen!“ Es war ein alter Streitpunkt zwischen ihnen, und die Jahre hatten nicht geholfen, die Heftigkeit zu mildern.
Luc hätte darauf bestanden, in den Gasthof umzusiedeln, wenn Emily sich nicht mit sorgenvoller Miene vermittelnd eingeschaltet hätte.
„Bitte, Luc“, hatte sie gesagt, „kannst du deinem Bruder nicht bitte erlauben, etwas von seinem Glück mit dir zu teilen? Weder Windmere noch der Titel oder sonst etwas hier kommt direkt von eurem Vater.“ Sie verzog das Gesicht. „Nun, vermutlich könnte man sich darüber streiten, dass, wenn dein Vater nicht gewesen wäre, wer er war, Barnaby nichts von alldem hier geerbt hätte. Aber ich möchte darauf hinaus, dass er Windmere nicht von deinem Vater geerbt hat. Er hat es von seinem Großonkel geerbt.“ Sie lächelte herzlich und fragte sanft: „Wie würdest du dich fühlen, wenn eure Positionen umgekehrt wären? Willst du ihm nicht erlauben, wenigstens ein kleines bisschen für dich zu tun? Oder ist dein Stolz zu groß dafür?“
Luc blickte sie an und musste daran denken, wie gut ihr die Schwangerschaft stand. Das Kind wurde Ende Dezember oder Anfang Januar erwartet, sodass sie gefällig rundlich um die Mitte war und dieses unverkennbare Strahlen besaß, das Schwangeren zu eigen ist. In diesem Augenblick wünschte er sich, er würde sie nicht so gerne haben … oder dass sie nicht so gerissen wäre. Sie hatte das eine Argument gebracht, dem er nichts entgegenzusetzen hatte.
Daher hatte er eingelenkt, ihr ein breites Grinsen geschenkt, das schon viele Frauenherzen hatte höher schlagen lassen, und gemurmelt:
„Ihnen zu Gefallen, Lady Joslyn, werde ich das freundliche Angebot Ihres Gatten annehmen.“
Sie erwiderte das Grinsen.
„Emily, bitte. Jedes Mal, wenn mich jemand Lady Joslyn nennt, ertappe ich mich dabei, wie ich mich nach der Viscountess umsehe und völlig vergesse, dass das ja ich bin.“
„Und eine überaus liebreizende Viscountess noch dazu“, warf Barnaby ein, und die Liebe, die er für sie empfand, war nicht zu übersehen. Sie lächelte ihn an, und in ihren grauen Augen spiegelte sich ihre tiefe Liebe zu ihm.
Die Sache war damit entschieden, aber als er in dieser Oktobernacht ins Dower House schlüpfte, wusste er, ob er nun Barnabys und Emilys Gefühle damit verletzte oder nicht, er würde sich ein eigenes Heim suchen müssen. Lautlos stieg er die Treppe zu seinem Schlafzimmer hoch und seufzte wieder. Das Dower House war einfach zu groß für einen Junggesellen wie ihn.
Wenigstens, dachte er mit einem Lächeln, war es ihm gelungen, sich der Dienstboten zu entledigen, die Barnaby als für Lucs Bequemlichkeit notwendig erachtete. Walker, Mrs. Spalding, Jane und Sally, zuvor Emilys Bedienstete auf The Birches, arbeiteten nun alle auf Windmere für Barnaby und Emily. Walker ersetzte den verbrecherischen Butler Peckham, der mit Nolles unter einer Decke gesteckt hatte, und Mrs. Spalding hatte die Pflichten ihrer Schwester Mrs. Eason übernommen, der Köchin, die sich entschieden hatte, die großzügige Pension von Barnaby anzunehmen und zu ihrer Tochter in die Nähe von Brighton zu ziehen. Von den ursprünglichen Dienstboten hatte Luc nur Alice behalten, früher Spülmagd, inzwischen Köchin und Haushälterin, und den jungen Hinton, der seine Doppelrolle als Kammerdiener und Butler bestens ausfüllte. Trotz der Größe des Anwesens kamen sie so bestens zurecht, da Luc nur ein paar Räume nutzte.
Als er sein Zimmer erreichte, bemerkte er billigend, dass Hinton ein paar Kerzen für ihn auf dem Kaminsims hatte brennen lassen. Ein kleines Feuer glomm auf dem Rost des gemauerten Kamins und hielt die Oktoberkälte in Schach. In dem flackernden Licht von Flammen und Kerzen zog sich Luc rasch aus.
Nachdem er die Kerzen gelöscht hatte, schlüpfte er nackt wie am Tag seiner Geburt unter die Decken und seufzte zufrieden, als er mit den Füßen gegen den warmen Stein stieß, den Alice dort hingelegt hatte. Er war es eigentlich gewohnt, auf sich selbst gestellt zu sein, außer wenn er auf Green Hills, der Plantage der Familie in Virginia, weilte, aber inzwischen hatte er sich an die Annehmlichkeiten gewöhnt, die Alice und Hinton ihm boten. Er hatte schon vor Wochen beschlossen, dass er, wenn er das Dower House verließ, die beiden mitnehmen würde. Dank der Unbesonnenheit und Leichtfertigkeit gewisser Herren, unter denen auch einige durchaus bekannte Aristokraten waren, waren seine Taschen gefüllt, und zudem hatte er einen Teil des Geldes investiert. Er grinste. Mon Dieu! Er war ja fast respektabel.
Obwohl es spät war, konnte er nicht einschlafen, und im schwachen Licht, das das ersterbende Feuer spendete, starrte Luc auf die Schatten, die gemächlich über den Betthimmel glitten. Es war ein durchaus interessanter Abend gewesen. Der junge Harlan würde morgen mit schmerzendem Kopf aufwachen und sich bestimmt über sein Glück wundern. Seine Lippen zuckten. Sich Jeffery Townsend zum Feind zu machen, war gewiss nicht klug, aber es kümmerte ihn nicht wirklich, was Emilys Cousin über ihn dachte.
Silas’ Verletzung sorgte ihn, und wenn er herausfinden könnte, wer den alten Mann von der Straße und in den Graben abgedrängt hatte, würde es ihm durchaus Freude bereiten, mit demjenigen ein ernstes Wörtchen zu reden. Es war nicht hinnehmbar, erst durch Rücksichtslosigkeit einen Unfall zu verursachen und nachher einfach weiterzufahren, ohne einen Blick zurück. Nachfragen im Dorf würden vielleicht einen Hinweis zutage fördern.
Luc runzelte die Stirn, er musste an den Brief von Silas’ Nichte denken. Bis zu diesem Abend war ihm nicht bewusst gewesen, dass Silas eine Nichte hatte, aber wenn sie auch nur im Entferntesten wie der Neffe des alten Mannes war, bedeutete ihre Nachricht für Silas nichts Gutes. Silas hatte nie und mit keinem Wort zuvor eine Nichte erwähnt, daher lag wohl auf der Hand, dass die Frau wenig Interesse an ihrem Onkel zu haben schien. Warum also schrieb sie ihm jetzt? Er hoffte, dass Silas’ Freude darüber, von ihr zu hören, am Ende nicht in Kummer und Sorge umschlug.
Er musste gähnen. Ich muss mit Emily und Cornelia sprechen, dachte er, bevor er einschlief. Sie werden über die geheimnisvolle Nichte Bescheid wissen.
Als er am nächsten Morgen in den Frühstückssalon von Windmere schlenderte, freute sich Luc, Emily und Cornelia dort anzutreffen, die noch bei ihrem Kaffee saßen. Beide Damen waren entzückt, ihn zu sehen. Nachdem er sich seinen Teller mit blutigem Lendenbraten, Rührei, einer Schüssel Apfelsoße mit viel Zimt und mehreren mit Rosinen gespickten Hefebrötchen gefüllt hatte, setzte er sich zu den Damen.
Es waren noch gut zwei Monate bis zur Geburt des Kindes, und Emilys Schwangerschaft entwickelte sich wie erhofft, sodass ihr runder Bauch und ihr vollerer Busen kaum zu übersehen waren. An diesem regnerischen kühlen Morgen war ihr silberblondes Haar zu einem Knoten im Nacken aufgesteckt, und sie sah ganz reizend aus, als sie ihn anlächelte. Barnaby, überlegte Luc voller Zuneigung und ohne Neid, kann sich glücklich schätzen. Und ich mich auch, rief er sich in Erinnerung, dass er mein Bruder ist.
Auf dem Platz gegenüber von Emily saß Cornelia und schenkte ihm ein Lächeln, so freundlich wie ein Frühlingstag. Cornelia, fand er, sah heute besonders hübsch aus, in ihrem Kleid in einem Farbton, der an Rosenknospen erinnerte mit einem Besatz aus cremefarbener Spitze. Emilys Großtante hatte im August ihren neunzigsten Geburtstag gefeiert, aber das lebhafte Funkeln in ihren haselnussbraunen Augen strafte ihr Alter Lügen. Und bis auf ein paar Locken an ihren Wangen und einem Pony über der Stirn, trug sie ihr graues Haar nach hinten frisiert. Diese Frisur betonte ihre elegant geformten Wangenknochen, die sie in ihrer Jugend zu einer wunderschönen Frau gemacht hatten, und die feinen Wangen und das wohlgeformte Kinn verhalfen ihr auch im Alter zu Attraktivität, ebenso wie diese großen, durchdringend blickenden Augen. Für eine Frau groß, ging sie immer noch so aufrecht wie eine Zwanzigjährige. Cornelias einziges Zugeständnis an ihr Alter war ihr geschnitzter Gehstock. Luc grinste. Sie konnte den, wenn es notwendig wurde, sehr geschickt einsetzen.
Luc nahm neben Cornelia Platz und fragte:
„Wo ist mein Bruder heute Morgen?“ Er lächelte erst die eine, dann die andere Frau an und bemerkte halblaut:
„Dass er zwei so reizende Damen einfach sich selbst überlässt, weckt in mir Zweifel bezüglich unserer Verwandtschaft.“
Cornelia lachte leise und klopfte ihm auf den Arm.
„Das ist ein bisschen stark aufgetragen, junger Mann. Mein Spiegel lügt nicht, und ich sehe schon seit mindestens fünfzig Jahren nicht mehr reizend aus.“
Luc hob ihre faltige Hand, die auf seinem Arm ruhte. Er hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken und sagte:
„Da bin ich anderer Ansicht, Madame – Ihr Spiegel lügt, und wenn es nicht einen schrecklichen Skandal entfesseln würde, würde ich Sie ohne viel Federlesens von hier entführen.“
Sichtlich erfreut erwiderte Cornelia:
„Und wenn ich fünfzig Jahre jünger wäre, würde ich das vielleicht sogar zulassen.“
Luc grinste sie an und antwortete ihr:
„Madame, Sie könnten mich nicht davon abhalten.“
Emily räusperte sich. Sie bedachte Luc mit einem spöttischen Blick und sagte:
„Wenn du damit fertig bist, mit meiner Tante zu flirten, würde es dich vielleicht interessieren zu erfahren, wohin dein Bruder gegangen ist.“
„Ah, oui. Danach habe ich gefragt, oder?“
„Er ist mit Worley fort, um sich eine alte Scheune anzusehen, die auf dem Land steht, das Bauer Calkin gepachtet hat“, erzählte Emily. „Wenn man Calkin Glauben schenkt, hat der Sturm letzte Woche das Dach so schlimm beschädigt, dass nur ein völlig neues Dach das Gemäuer regenfest machen wird. Da Calkin als Nörgler bekannt ist, hat Barnaby beschlossen, sich selbst ein Bild von dem Zustand zu machen, bevor er die Kosten bewilligt. Es kann auch sein, dass eine einfache Ausbesserung vollauf reicht.“
Luc schaute nach draußen in den Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte.
„Nicht unbedingt ein Tag, den ich mir für einen Ausritt mit meinem Verwalter ausgesucht hätte.“
„Barnaby ist niemand, der sich von ein wenig schlechtem Wetter abschrecken ließe – oder einer Aufgabe, die erledigt werden muss“, bemerkte sie mit einem Lächeln.
Luc pflichtete ihr bei. Barnaby nahm seine Pflichten als Gutsherr ernst, gleichgültig, ob es um eine riesige Plantage wie in Virginia ging oder Windmere hier in England. Einen Augenblick lang fragte Luc sich, ob er selbst auch so ein guter Landbesitzer wäre, dann tat er den Gedanken mit einem Achselzucken ab. Es war viel besser, wenn er frei war und sich nicht mit Verpflichtungen und Leuten, die von ihm abhängig waren, herumschlagen musste. Er sagte sich, er mochte sein Leben, wie es war, und er war nicht für ein Leben als Gutsbesitzer gemacht – egal, ob das Gut groß oder klein war.
Doch der Gedanke nagte an ihm, dass er vielleicht nicht so schlecht darin wäre. Vom Alter von zwölf Jahren an, als er nach Green Hill in Virginia gekommen war, hatte er bei der Feldarbeit geholfen, und auf all seinen ziellosen Wanderungen war er sich nie zu schade gewesen, sich mit seiner Hände Arbeit über Wasser zu halten, wenn ihn das Kartenglück im Stich ließ. Er neidete Barnaby nicht sein Land oder sein Vermögen oder seine Ehefrau, aber ihm kam der Gedanke, dass es vielleicht doch nicht das Gefängnis wäre, das er sich immer vorgestellt hatte, wenn er sein eigenes Land und ein Heim besäße. War es möglich, dass er mit dem Alter milde wurde? Mist! Hoffentlich nicht!
Stirnrunzelnd stach er seine Gabel in das Fleisch auf seinem Teller. Emily, die seinen Gesichtsausdruck sah, fragte:
„Ist etwas nicht in Ordnung? Ist etwas geschehen?“
Luc schüttelte den Kopf.
„Non, alles bestens.“ Dann kam er gleich auf den Kern seines Anliegens zu sprechen und sagte: „Leider kann ich nicht das Gleiche von meinem Freund Ordway behaupten. Jemand hat ihn gestern Nacht in seinem Phaeton von der Straße gedrängt und mit gebrochenem Arm im Graben liegen lassen.“
Beide Damen waren entsetzt und hatten viele Fragen zu Mr. Ordways Gesundheitszustand, sodass Luc sich beeilte, ihnen zu versichern:
„Kein Grund zur Sorge. Ich bin nicht lange nach dem Zwischenfall vorbeigekommen und konnte ihn gut nach High Tower bringen. Ich bin geblieben, bis sein Arm gerichtet war und er in seinem Bett lag und eine Dosis Laudanum genommen hatte.“
„Dem Himmel sei Dank, dass du ihn gefunden hast“, sagte Emily.
Cornelia bemerkte mit der gewohnten Knappheit:
„Vielleicht hat dein spätes Heimkommen doch seine guten Seiten.“
Luc lachte.
„In diesem Fall, ja. Aber ich wüsste gerne mehr über Silas’ Nichte.“
Die beiden Frauen wechselten einen Blick.
„Welche?“, fragte Cornelia. „Er hat zwei, Mrs. Easley und Mrs. Dashwood.“
„Ich kenne ihren Nachnamen nicht, aber ich glaube ihr Vorname lautet ,Gillian‘.“
„Das wird dann Gillian Dashwood sein, seine jüngere Nichte. Mrs. Easley ist die ältere der beiden“, teilte ihm Cornelia mit. Sie sah Luc eindringlich an und fragte ihn:
„Warum erkundigst du dich nach Mrs. Dashwood?“
Luc war weder der Blickwechsel noch die Andeutung von Missbilligung in Cornelias Stimme entgangen.
„Warum habe ich den Eindruck, dass du Mrs. Gillian Dashwood nicht sonderlich schätzt?“
Cornelia verzog das Gesicht.
„Es gibt keinen Weg, das in schöne Worte zu packen: Ihr Ehemann Charles Dashwood wurde diesen August vor zwei Jahren ermordet, und es gibt guten Grund für den Verdacht, dass sie es getan hat.“
Emily beugte sich vor und fügte rasch hinzu:
„Es sind alles Gerüchte, das musst du wissen. Sie wurde nie verhaftet oder so, aber viele Leute glauben, dass sie ihn umgebracht hat.“
„Sie wurde nur deswegen nie verhaftet, weil niemand die Waffe finden konnte, mit der ihr Ehemann erstochen wurde“, merkte Cornelia grimmig an. Sie sah Luc an und fuhr fort: „Sie wurde neben seiner Leiche sitzend gefunden und blutete aus einer Wunde an der Schläfe. Man glaubt allgemein, dass sie und ihr Gatte einen heftigen Streit hatten, und dass Dashwood sie geschlagen hat, bevor sie ihn erstochen hat. War ein schrecklicher Skandal.“ Ein angewiderter Ausdruck flog über Cornelias Gesicht. „Das alles hat sich in der Jagdhütte des Duke of Welbourne in Hampshire zugetragen – bei einer seiner berüchtigten Orgien. Abgesehen von dem Verdacht, für den Tod ihres Gemahls verantwortlich zu sein, wirft das die Frage auf, wie es wohl um Mrs. Dashwoods Moral bestellt ist, wenn sie an einer solchen Gesellschaft überhaupt teilgenommen hat. Die Partys von Welbourne in der Jagdhütte sind legendär für die Ausschweifungen und beschämenden Vorfälle – keine anständige Frau, wenigstens keine, der etwas an ihrem Ruf liegt, würde sich auch nur in der Nähe einer solchen Gesellschaft antreffen lassen.“
„Mon Dieu!“, rief Luc. „Kein Wunder, dass Silas sie mir gegenüber zuvor nicht erwähnt hat. Der Arme.“
Cornelia zuckte die Achseln.
„Ich gebe gerne zu, dass dein Freund mit seinem verdorbenen Neffen und dieser Mrs. Dashwood nicht unbedingt mit anständigen Verwandten gesegnet ist. Aber andererseits auch nicht so verwunderlich, wenn man bedenkt, dass sie Halbgeschwister sind, wenn ich mich recht erinnere. Ordways älterer Bruder war Witwer und hatte schon ein Kind, eben Stanley, als er erneut geheiratet hat, Mrs. Dashwoods Mutter. Es ist wirklich betrüblich, dass sie ihm nichts als Kummer bereiten.“ Sie zögerte, dann fügte sie nicht unfreundlich hinzu: „Vielleicht erntet er aber auch nur, was er gesät hat.“
Luc schaute sie scharf an.
„Was meinst du damit?“
Sie seufzte.
„Die Umstände, unter denen Ordway in den Besitz von High Tower gekommen ist. Das hat damals einen ganz schönen Skandal verursacht – besonders wegen dessen, was danach geschehen ist.“
Emily wirkte verwundert und sagte:
„Ich habe nie irgendetwas davon oder über ihn gehört, außer dass er seine eigene Gesellschaft schätzt und ihm nicht viel am Umgang mit seinen Nachbarn liegt. Ich denke, ich kann die gesellschaftlichen Anlässe, bei denen ich ihn gesehen habe, an den Fingern einer Hand abzählen.“ Sie lächelte Luc an. „Aber er scheint nett zu sein.“
„Das ist er“, sagte Luc entschlossen und dachte an die Freundlichkeit, die er ihm in London erwiesen hatte.
„Ich sage nicht, dass er nicht ein vollkommen respektabler Gentleman ist“, räumte Cornelia ein. „Allerdings …“ Sie blickte Emily an. „Der Grund, weswegen du nie etwas davon gehört hast, liegt vermutlich darin begründet, dass es vor mehr als vierzig Jahren geschehen ist – lange vor deiner Geburt. Nach einer so langen Zeit erinnern sich nicht mehr viele Leute an den Skandal.“
„Welchen Skandal?“, wollte Luc wissen.
„Erst muss ich etwas über die früheren Besitzer von High Tower erzählen“, begann Cornelia. „Vor ungefähr vierzig Jahren gehörte High Tower wie schon seit Generationen einer Familie namens Bramhall. Die Familie war angesehen und genoss einen ausgezeichneten Ruf in der Gegend. Damals waren Robert Bramhall, selbst ein Einzelkind, und seine Gattin Mary die Besitzer von High Tower. Sie waren viele Jahre lang kinderlos, und alle haben sich für die beiden gefreut, als Mary schließlich einen Jungen – Edward – auf die Welt brachte. Robert war überglücklich, wie Mary natürlich auch.“ Sie kniff die Lippen zusammen. „Unseligerweise haben sie ihm alles erlaubt, ihm jeden Wunsch erfüllt, sodass Edward zu einem verzogenen, eigensinnigen jungen Mann heranwuchs – wild und zügellos, ein Junge, der von einer Klemme in die nächste geriet. Als er einundzwanzig war, sind seine Eltern beide gestorben, sodass er Herr nicht nur über High Tower wurde, sondern auch über ein ansehnliches Vermögen.“ Sie seufzte. „Er hat auf niemanden gehört, der versucht hat, ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen oder ihn auf den rechten Weg zu bringen. Er hat rücksichtslos getrunken und gespielt. Vier oder fünf Jahre später hat er sich eines Abends mit Silas Ordway an einen Spieltisch gesetzt. Als der Abend vorüber war, besaß Ordway High Tower – mit allem, was dazugehörte. Edward war praktisch mittellos.“
Luc rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl umher. Was geschehen war, war bedauerlich, aber da er selbst schon oft hohe Einsätze gewonnen hatte und natürlich wusste, dass beträchtliche Vermögenswerte mit einer Karte den Besitzer wechseln konnten, fand er nicht, dass man Ordway die Schuld für Bramhalls Dummheit geben konnte. Spiele und zahle war die Regel, der sich alle unterwarfen, die an einem Spieltisch Platz nahmen.
„Und das ist der Skandal? Dass Ordway High Tower von Bramhall in einem Kartenspiel gewonnen hat?“, fragte Luc. „Ordway kann man keinen Vorwurf daraus machen, dass er gewonnen hat.“ Verteidigend fügte er hinzu: „Es war nicht Ordways Schuld, dass dieser Edward ein Narr war.“
Cornelia nickte.
„Das stimmt natürlich. Dass High Tower durch Edwards Leichtsinn verloren ging, hat niemanden überrascht. Es war etwas, womit alle früher oder später gerechnet hatten. Was hingegen niemand erwartet hatte, war, dass er sich umbringen würde, indem er sich von dem Turm stürzte, der dem Anwesen seinen Namen gegeben hat – an dem Tag, an dem Ordway gekommen ist, um High Tower zu übernehmen.“
Emily schnappte nach Luft und schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund.
Luc wich zurück, er war entsetzt.
„Mon Dieu! Wie furchtbar.“
„Allerdings“, stimmte ihm Cornelia zu. „Dass Edward High Tower verloren hatte, war an und für sich schon ein Skandal, aber es war nicht das erste und bestimmt auch nicht das letzte Mal, dass ein leichtfertiger junger Mann das Heim seiner Familie am Spieltisch verloren hatte. Aber dass er sich auf so schreckliche Weise umgebracht hat …“ Sie zuckte die Achseln. „Nun, man kann es sich vorstellen. Und auch wenn es nicht Ordways Schuld war, gab es doch genügend Leute in der Gegend, die ihn für Bramhalls Tod verantwortlich gemacht haben. Und manch einer findet wohl auch, dass Ordway seinen Neffen und seine Nichte verdient hat.“
„Und du?“, fragte Luc.
Cornelia schüttelte den Kopf.
„Nein. Wenn man schon so lange lebt wie ich, erkennt man, dass manchen Leuten einfach nicht zu helfen ist; dass sie vor die Hunde gehen, auf welche Weise auch immer. Ich glaube, dass Edward so jemand war. Wenn nicht Ordway High Tower gewonnen hätte, dann ein anderer.“
Cornelias Worte vermochten den unangenehmen Nachgeschmack in seinem Mund nicht zu vertreiben, und da er den Appetit verloren hatte, schob Luc seinen Teller zur Seite und überlegte, dass er vermutlich nie wieder blutig gebratene Lende würde essen können. Oder sich an einen Spieltisch setzen. Er verzog das Gesicht. Wer war hier jetzt der Narr? Er bestritt seinen Lebensunterhalt mit Spielen.
„Warum hast du dich nach Gillian Dashwood erkundigt?“, fragte Emily, die eigentlich nur das Gespräch auf ein anderes, weniger bedrückendes Thema bringen wollte.
„Gestern war ein Brief von ihr da, als wir in der Nacht in High Tower eingetroffen sind“, antwortete Luc, dankbar für den Themenwechsel.
„Hm. Ich frage mich, warum sie ihm wohl geschrieben hat“, überlegte Cornelia. „Das Letzte, was wir gehört haben, war, dass sie irgendwo in Surrey mit Mrs. Easley lebt.“
„Mit der anderen Nichte?“
Cornelia nickte.
„Ja. Sophia Easley muss inzwischen über dreißig Jahre alt sein. Und wenn ich mich recht entsinne, war ihr Ehemann wesentlich älter als sie und zudem ein Spieler, nicht viel anders als Bramhall oder auch Charles Dashwood. Wie auch immer, als Easley starb, ließ er sie mittellos zurück. Glücklicherweise konnte ihr Mrs. Dashwood eine Stelle bieten und hat sie bei sich aufgenommen.“ Cornelia dachte einen Augenblick nach. „Obwohl ich mir sicher bin, dass auch Silas ihr bei sich ein Heim geboten hätte, wenn Mrs. Dashwood es nicht getan hätte.“ Sie wirkte nachdenklich. „Ich kann mir denken, dass Stanley und die beiden Nichten eines Tages High Tower erben werden, wenn Silas einmal stirbt.“
War es möglich, fragte sich Luc zynisch, dass Mrs. Dashwoods Nachricht an Silas in Vorgriff auf den Tag geschrieben worden war, an dem sie erben würde? Versuchte sie, den alten Mann für sich einzunehmen, um sicherzugehen, dass sie tatsächlich erbte? Die Witwe Dashwood wurde ihm immer unsympathischer. Ein paar Minuten später verabschiedete sich Luc von den Damen.
Der leichte Regen wandelte sich in einen ausgewachsenen Sturm, und als Luc am Nachmittag in der Bibliothek vom Dower House am Fenster stand und hinausblickte, entschied er, seinen Besuch bei Silas aufzuschieben, den er sich eigentlich vorgenommen hatte. Am nächsten Tag wäre auch noch früh genug, um nach Silas zu sehen … und vielleicht mehr über Mrs. Dashwood in Erfahrung zu bringen.
Es war spät am Sonntagnachmittag, als der Regen endlich nachließ und es nur noch einzelne Schauer gab. Wegen des Wetters entschied er sich für seinen Phaeton, den er vergangenen Sommer nach einer besonders gewinnträchtigen Nacht erstanden hatte. Kurz darauf hatte er von Barnaby die beiden Rappen gekauft, echte Rappen, die kein einziges helles Haar in ihrem Fell aufwiesen. Barnaby hatte gelacht, als Luc sich für die beiden entschieden hatte.
„Irgendwie überrascht es mich nicht, dass du sie willst“, hatte Barnaby erklärt. Als Luc ihn fragend ansah, hatte er erklärt: „Ich habe gehört, wie die beiden mit ‚schwarz wie der Teufel selbst‘ beschrieben wurden … passend, findest du nicht, um Lucifers Gefährt zu ziehen?“
Nicht im Mindesten verstimmt, hatte Luc die beiden Rappen sofort Devil und Demon getauft. Mit lachenden blauen Augen hatte er erklärt:
„Sie werden meinen Ruf nur untermauern.“ Als Barnaby weiter skeptisch wirkte, hatte er hinzugefügt: „Welcher Spieler könnte schon der Versuchung widerstehen, mit einem Mann zu spielen, der Pferde so schwarz wie die tiefste Nacht fährt, die auch noch Devil und Demon heißen, und dessen Geschick beim Spiel ihm den Beinamen Lucifer eingetragen hat?“ Er lachte laut auf. „Mon Dieu. Das könnte ich selbst ja nicht.“
Lucs Freude über Devil und Demon hatte nicht nachgelassen in den Monaten, seit er sie erworben hatte, und als die beiden kraftvollen Tiere den Phaeton über die schlammigen Straßen zwischen Windmere und High Tower zogen, grinste er und gratulierte sich erneut zu seiner Wahl. Als High Tower in Sicht kam, verblasste sein zufriedenes Grinsen jedoch. Unwillkürlich glitt sein Blick zu dem mit Zinnen versehenen Turm, dem der Besitz seinen Namen verdankte … und von dem sich der glücklose Edward gestürzt hatte.
Er hatte dem Turm, der an das Herrenhaus grenzte, nie sonderlich viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber an diesem Nachmittag betrachtete er ihn mit anderen Augen. Zur Zeit der Normannen erbaut, erhob sich der steinerne Turm vier Stockwerke hoch, und während er seinen Blick über ihn wandern ließ, schüttelte er den Kopf. Er konnte nicht verhindern sich vorzustellen, wie Edward sich hinabstürzte. Sacristi, Herr im Himmel! Sich einen solchen Tod zu wählen …
Als er vor dem Turm vorbeiging, ertappte er sich dabei, wie er auf das Kopfsteinpflaster schaute, als rechnete er damit, Reste von Blutflecken zu sehen. Verärgert über sich selbst schob er seine trüben Gedanken beiseite, und nachdem er unter dem schützenden Portikus stand, reichte er seine Zügel dem Stallburschen, der herbeigerannt kam.
Meacham öffnete auf sein Klopfen hin die Tür. Ein breites Lächeln ließ sein faltiges Gesicht aufstrahlen.
„Mister Luc!“, begrüßte er ihn. „Mr. Ordway wollte Ihnen gerade eine Einladung zum Abendessen schicken lassen.“ Aus seinen blassblauen Augen leuchtete echte Freude, als er hinzufügte: „Wir hatten einen aufregenden Vormittag, und Ihre Ankunft wird Mr. Ordways Stimmung nur weiter aufhellen.“
Damit nahm er Lucs Mantel, wischte über den Biberhut und die Lederhandschuhe und sagte:
„Gehen Sie nur – Sie kennen ja den Weg. Mr. Ordway und die anderen sind im vorderen Salon.“
Luc hob seine Augenbrauen.
„Die anderen?“
Meacham lächelte.
„Ja, aber ich werde Mr. Ordway nicht die Überraschung verderben. Gehen Sie. Gehen Sie nur und sehen Sie selbst. Mr. Ordway ist außer sich vor Freude über ihr Eintreffen.“
Die ‚anderen‘ konnten Nachbarn sein, die zu Besuch gekommen waren, aber er bezweifelte das. Mit demselben Scharfsinn, den er am Spieltisch an den Tag legte, erkannte Luc, dass er um die Identität von Silas’ Gästen bereits wusste. Seine Kiefermuskeln mahlten, und mit entschlossenen Schritten durchquerte er die Halle und begab sich zu dem vorderen Salon.
Luc trat ein und war nicht überrascht, zwei Frauen auf dem in Creme- und Rosttönen bezogenen Satinsofa am Feuer zu sehen. Seinen gebrochenen Arm in einer schwarzen Seidenschlinge, thronte Silas auf einem der beiden grünen Samtsessel mit hohen Lehnen direkt gegenüber dem Sofa. Ein Tablett mit Erfrischungen stand auf einem niedrigen Tischchen zwischen ihnen. Es war eine gemütliche Szene, die sich ihm bot, die liebende Verwandtschaft am Feuer vereint, aber Lucs Blick war hart und abschätzend, als er die Frauen studierte.
Eine der beiden war eine gut aussehende Frau mit einer Junofigur und rotem Haar, ungefähr Anfang dreißig. Luc nahm an, dass es sich bei ihr um die ältere Nichte Mrs. Easley handelte. Und nach einer flüchtigen Musterung glitt sein Blick weiter zu der anderen Frau, die direkt neben ihr saß.
Gillian Dashwood war nicht das, was er erwartet hatte. Eine braunäugige Waldelfe, das war sein erster Gedanke. Sie war klein und zierlich und hatte trotz der straff nach hinten frisierten und zu einem der strengsten Knoten, den er je gesehen hatte, aufgesteckten dunklen Haare eines der hübschesten Gesichter, das er je gesehen hatte. Die Frisur betonte ihre katzenartigen Augen mit den dichten schwarzen Wimpern, die gerade kleine Nase und das erstaunlich feste Kinn. Starrsinnig, entschied er mit Blick auf dieses Kinn. Wenn ihre Kinnpartie auf Sturheit hinwies, dann sprach dieser volle rosige Mund hingegen von … Leidenschaft, befand Luc, und in ihm regte sich etwas, und ein gewisser Teil seiner Anatomie rührte sich. Ein entzückendes kleines Ding, entschied er, das nicht im Geringsten wie eine Mörderin aussah – was sie nur umso gefährlicher machte.
„Luc!“, rief Silas erfreut und riss Luc aus seiner Betrachtung von Mrs. Dashwood. „Was für ein glücklicher Zufall, dass Sie heute Nachmittag zu Besuch kommen.“ Mit einem Lächeln fügte er hinzu, als Luc zu ihm trat: „Ich wollte gerade jemanden mit einer Einladung zum Abendessen zu Ihnen schicken.“
Das Lächeln seines älteren Freundes erwidernd, sagte Luc:
„Das hat mir Meacham schon mitgeteilt.“
„Er hat mir aber nicht meine Überraschung verdorben, oder?“, erkundigte sich Silas besorgt.
Luc schüttelte den Kopf.
„Nicht wenn Sie meinen, dass er mir die Namen Ihrer reizenden Gäste verraten hätte“, erwiderte er mit einem Lächeln in Richtung der beiden Damen.
„Ausgezeichnet! Und jetzt, bevor mir jemand doch noch die Überraschung ruiniert, lassen Sie mich Ihnen meine beiden Nichten vorstellen: Mrs. Sophia Easley und Mrs. Gillian Dashwood.“ Seine Zuneigung war unverkennbar, als er hinzufügte: „Meine Lieben, das hier ist mein guter Freund Luc Joslyn.“
Luc verneigte sich vor den beiden Frauen und begrüßte sie höflich. Mit sardonischem Vergnügen lächelte er und bemerkte, dass Mrs. Dashwood nicht entzückter war, ihn kennenzulernen, als er sie, das zeigte ihre kühle Erwiderung seines Grußes. Nachdem die Vorstellung beendet war, lächelte Silas strahlend.
„Sie sind zu einem ausgedehnten Besuch gekommen. Ist das nicht großartig?“