Leseprobe Ein tödlicher Jahrmarkt

Kapitel eins

Berkshire – September 1947

Der Bus trudelte die Landstraße entlang, seinem Ziel entgegen. Ich sah meinen Freund Luke Walker nicht an, als ich sprach. Stattdessen blickte ich hinaus auf die frisch abgeernteten Felder.

„Erzählen Sie mir von Ihrem Freund Freddie.“

„Sie werden ihn mögen, Mrs Miller. Er ist immer zu einem Scherz aufgelegt. Als wir in der Ausbildung waren, habe ich mich ständig über ihn kaputtgelacht.“

Wenn wir allein waren, nannte Luke mich bei meinem Vornamen – Martha. In der Öffentlichkeit aber war er sehr darauf bedacht, den nötigen Anstand zu wahren. Schließlich war er der Vikar unseres Dorfes und wir verhielten uns für gewöhnlich korrekt. Vor allem nach dem Besuch, den uns der Bischof im Sommer abgestattet hatte.

„Er klingt nach einem fröhlichen Zeitgenossen.“ Ich sah Lukes schönes Gesicht von der Seite an. „Ich frage mich, ob der Bischof ihn auch besucht, um ihn zu ermahnen, so wie Sie?“

Luke grinste. „Das braucht er nicht. Freddie ist glücklich verheiratet und hat ein Kind, er stellt also keine Gefahr für die ledigen Frauen des Dorfes dar.“

Wir sprachen von einem Vorfall in diesem Jahr, bei dem der Bischof höchstpersönlich in unser Dorf Westleham gekommen war, um Luke und mich zu warnen, was unsere Beziehung betraf. Eine Person aus der Gemeinde hatte ihm berichtet, dass wir uns sehr nahe zu stehen schienen. Näher als angemessen, angesichts seines Berufes, und der Tatsache, dass ich eine verheiratete Frau war  wenn auch eine Frau, die keine Ahnung hatte, wo ihr Mann steckte.

„Ach, wie schön. Wie alt ist das Kind?“

Luke zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Das sollte ich eigentlich wissen. Ich bin ein schlechter Freund. Ich fürchte, aus seinen Briefen weiß ich nur noch, dass sie Janet heißt und dass sie schon Zähne hat, aber noch nicht laufen kann.“

„Dann ist sie also zwischen drei und achtzehn Monaten alt?“ Ich setzte ein Lächeln auf. „Wie wundervoll.“

Obwohl ich aus dem Fenster starrte, konnte ich Lukes Blick auf mir spüren. Es fiel mir schwer, über Kinder zu sprechen, und deshalb klang es stets so, als würde ich sie nicht mögen. Mein Mann Stan und ich waren vor dem Krieg nicht mit Kindern gesegnet. Danach war er kaum lange genug zu Hause gewesen, um mich überhaupt richtig anzusehen, bevor er eines Tages zur Arbeit gegangen und nie zurückgekehrt war.

„Sind wir bald da, Herr Vikar?“, rief Maud Burnett, die in dem Cottage neben meinem lebte, von der Sitzreihe hinter uns.

Um Lukes Augen bildeten sich Lachfältchen, als er sich umdrehte, um Maud anzulächeln. „Das ist das dritte Mal, dass Sie mich das fragen, seit wir Westleham verlassen haben, Mrs Burnett. Und ich bin nicht einmal der, der den Bus fährt!“

„Sie können die Straßenschilder besser lesen als ich“, erwiderte sie. „Meine alten Augen sind nicht mehr das, was sie einmal waren.“

„Das stimmt nun aber wirklich nicht“, widersprach Ruby leise. „Dieser Frau entgeht rein gar nichts.“

„Psst, sei nicht unhöflich.“ Ich warf einen strengen Blick auf die andere Seite des Mittelganges, wo meine Schwester neben meinem Hund Lizzie saß. Ich fühlte mich immer verpflichtet, ihr Verhalten zu maßregeln, auch wenn ich nicht ganz sicher war, warum. Es hatte ohnehin keinen Zweck.

Ruby war das komplette Gegenteil von mir, sowohl vom Aussehen, als auch vom Temperament her. Sie war blond, trug Make-up, arbeitete in einer Fabrik und sagte stets genau das, was sie gerade dachte.

Ich dagegen hätte mich optimistisch als erdbeerblond beschrieben, hatte keine Zeit für Make-up, meine einzige Arbeit war in meinem Garten und ich sprach meistens nur mit meiner Hündin, die meine beste Freundin war. Aber nein, ich korrigierte mich selbst in Gedanken. Das stimmte nicht mehr so ganz. In den letzten Monaten hatte ich hart an meinen Beziehungen gearbeitet und hatte daher jetzt auch einige menschliche Freundschaften.

Ich dachte an das schreckliche Ereignis bei unserer Dorfschau vor zwei Monaten zurück, das überraschenderweise dazu geführt hatte, dass ich mehr Zeit mit den Menschen von Westleham verbrachte. Die Vorsitzende des Westleham-Dorfkomitees, Alice Warren, war zusammengebrochen, als sie gerade das Fest eröffnen wollte. Es stellte sich heraus, dass sie vergiftet worden war, und da mein selbstgemachter Pflaumengin das Letzte war, was sie zu sich genommen hatte, war ich entschlossen, meinen Namen und den Ruf meines Gins reinzuwaschen.

Der Vikar und ich waren zu einem unerwarteten Detektivduo geworden und im Rahmen unserer Ermittlungen hatte ich mich langsam mit meinen Nachbarn angefreundet. Viel zu lange hatte ich mich vollkommen vom Rest des Dorfes abgeschottet, weil ein paar Personen das Gerücht verbreitet hatten, man könne meinen vermissten Mann unter meinen Kartoffeln vergraben finden. Sicher gab es immer noch Leute, die diese lächerliche Geschichte glaubten, aber ich hatte gelernt, mich auf diejenigen zu konzentrieren, die das für Blödsinn hielten und gerne mit mir befreundet waren.

„Noch zwei Meilen.“ Luke zeigte auf ein Straßenschild draußen. „Wir sind bald da, Mrs Burnett.“

„Es fühlt sich immer noch komisch an, die Schilder lesen zu können“, sagte ich. Wir lebten zwar nicht in der Nähe der Küste, aber trotzdem hatte unser Gemeinderat alle Straßenschilder bedeckt  falls die Deutschen einmarschierten und aus irgendeinem Grund beschlossen, das ländliche Berkshire angreifen zu wollen.

„Bert hat diesen Bus schon gefahren, bevor Sie geboren wurden“, sagte Maud. „Er braucht kein Schild, um den Weg nach Winteringham zu finden.“

„Bist du aufgeregt, Martha?“, fragte Ruby.

„Nicht aufgeregt“, antwortete ich. „Nur etwas perplex. Ich verstehe immer noch nicht, warum ich gebeten wurde, den Jahrmarkt zu eröffnen.“

Normalerweise eröffnete der örtliche Adel Dorffeste dieser Art. Ich war doch nur eine Hausfrau aus einem kleinen Dorf. Warum sollte ausgerechnet ich diese Veranstaltung, die vom halben Land besucht wurde, eröffnen?

„Du bist doch quasi berühmt!“, sagte Ruby aufgeregt. „Oder was meinen Sie, Herr Vikar?“

Der Blick, mit dem Luke mich bedachte, war beunruhigend. Es war eine seltsame Mischung aus elterlichem Stolz und trauriger Resignation. Ich traute mich nicht, ihn zu fragen, warum er mich so ansah. Abgesehen davon, dass ein solches Gespräch sehr schnell in eine unangemessene Richtung gehen würde, wollte ich die Antwort wahrscheinlich gar nicht hören.

„Ja“, sagte er ruhig. „Sie haben vollkommen recht. Ihre Schwester war eine wahre Heldin, als sie den Schurken entlarvt hat, der die arme Mrs Warren getötet hat.“

„Nun ja …“

„Halt!“ Ruby hob eine Hand. „Weißt du nicht mehr, was wir besprochen haben, Martha? Wenn dir jemand ein Kompliment macht, solltest du es annehmen und nicht abtun. Du bist eine aufgeweckte, kluge und schöne Frau. Und es ist leicht nachzuvollziehen, warum jemand den Wunsch haben könnte, eine dieser Qualitäten hervorzuheben.“

Ich wandte den Blick ab und spürte, wie meine Wangen vor Scham erröteten. „Ach Ruby, du bist doch vollkommen voreingenommen.“

Meine Schwester versuchte stets, mir all die Dinge beizubringen, die sich für sie scheinbar ganz natürlich anfühlten  wie man Schminke auftrug, sich auch mit wenig Geld modisch anzog, und vor allem, wie man eine gesunde Menge Selbstwert entwickelte.

„Unsinn!“ Maud drehte sich zu mir um. „Mir graut es bei dem Gedanken, was dieser Teufel als Nächstes getan hätte, wenn Sie ihm nicht diese Falle gestellt hätten!“

Es war zwar mein Plan gewesen, mit dem die Polizei es schließlich geschafft hatte, den Mörder zu fassen, aber ich hatte nur mit Hilfe meiner Freunde überhaupt herausgefunden, wer es war. Meiner Meinung nach hatten wir also alle die gleiche Anerkennung verdient.

Aber wie ich das sah, war egal. Ich war es, die den Jahrmarkt morgen eröffnen würde, niemand sonst. Ich konnte nur hoffen, dass er weniger ereignisreich verlaufen würde als unsere Dorfschau.

***

Wenige Minuten später kam unser Bus im Zentrum von Winteringham an. Genau gegenüber vom örtlichen Pub, dem The Railway Inn, lag der grasbewachsene Dorfplatz. Gerade war er voll mit Menschen, die sich auf die sehnsüchtig erwartete Veranstaltung vorbereiteten, die am nächsten Morgen um elf Uhr beginnen würde.

Eine große Frau löste sich aus der Menge und kam mit bestimmten Schritten in unsere Richtung. Kaum, dass wir den Bus verlassen hatten, begann sie zu rufen. „Mrs Miller? Ich suche Mrs Miller. Mrs Martha Miller?“

Als würde irgendeine andere Mrs Miller aus diesem kleinen Bus aussteigen, der sich soeben stundenlang auf schmalen Wegen durch die britische Einöde geschlängelt hatte. Ruby nahm mir Lizzies Leine aus der Hand und stupste mich in den Rücken. „Dein Publikum wartet schon.“

„Die bin ich“, murmelte ich und hoffte, dass die Frau Rubys Bemerkung nicht gehört hatte.

„Ich bin Annie Raynor.“ Sie nahm meine Hand und schüttelte sie kräftig.

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs Raynor.“

„Miss“, korrigierte sie mich. „Dem Umstand geschuldet, dass ich so viel größer bin als die meisten Männer.“

Das Offensichtliche sprach sie nicht aus. Nach dem Krieg gab es nicht genug Männer für alle ledigen Frauen – egal, ob sie groß, klein, oder irgendetwas dazwischen waren. Annie sah in etwa so alt aus wie ich, und ich beschloss sofort, dass ich sie mochte.

„Das ist meine Schwester Ruby.“ Ich drehte mich um und deutete auf Ruby, die winkte. „Unser Vikar, Mr Luke Walker …“

„Sie müssen auf der Stelle zum Pfarrhaus gehen, Mr Walker.“ Annie zeigte auf ein Haus auf der anderen Seite der Wiese. „Wenn ich richtig informiert bin, kennen Sie unseren Vikar. Er wartet schon auf Sie. Er hat darauf bestanden, dass man Sie auf der Stelle zu ihm nach Hause bringt, wenn Sie eintreffen. Das Pfarrhaus ist direkt hier am Dorfplatz. Ich weiß, das ist eher seltsam, weil es so weit weg von der Kirche ist. Aber das ist sehr praktisch, um Tee und Schnitten für die Pausen während der Cricketspiele zu machen. Wobei die meisten Dörfer in der Umgebung es gar nicht schaffen, eine Mannschaft aufzustellen. Können Sie sich vorstellen, dass sie mich nicht spielen lassen wollen?“

„Wirklich …“

Ich bekam nur ein Wort heraus, bevor Annie weiterplapperte. Ich sah sie nicht einmal Luft holen. „Lächerlich, oder? Während des Krieges haben wir Frauen ja auch alles geschafft, was anfiel! Und jetzt, wo er vorbei ist, erwartet man von uns, dass wir einfach alles wieder so machen wie zuvor. Verstehen die denn nicht, dass sich die Zeiten verändert haben? Die Dinge stehen jetzt eben anders! Nicht wahr, Mrs Miller?“

„Ja …“

„Ich meine, Sie haben eigenhändig einen schrecklichen, verabscheuungswürdigen Mörder gefangen! Als ich in der Zeitung gelesen habe, wie Sie dieses Biest bezwungen haben, war mir sofort klar, dass Sie es sein müssen, die den Jahrmarkt eröffnet. Eine Frau wie Sie, die sich nicht mehr damit zufriedengibt, im Schatten eines Mannes zu leben. Ach du meine Güte, ich muss um Verzeihung bitten. Ich sollte mehr nachdenken, bevor ich spreche. In der Zeitung stand nichts von Ihrem Mann. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie ihn verloren haben, Mrs Miller?“

„So könnte man es ausdrücken.“

Annie sah mich scharf an. „Was soll das bedeuten?“

„Stan, mein Mann, ist in der Tat aus dem Krieg zurückgekommen. Aber vor etwa einem Jahr ist er ganz normal zur Arbeit gegangen und abends nicht mehr heimgekehrt.“

„Ich kann gar nicht glauben, dass eine Frau wie Sie das Rätsel ihres verschwundenen Ehemannes noch nicht aufgeklärt hat. Sicher ist es einfacher, einen ungehorsamen Mann aufzutreiben, als einen Mordfall zu lösen.“

„Wenn der Mann nicht gefunden werden will, ist das leider schwerer, als man denkt.“

„Welch ein Narr.“ Annie schüttelte den Kopf. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wie die Dinge hier organisiert sind.“

„Ich sollte …“ Ich warf einen Blick auf meine Tasche, die auf dem Gehsteig stand.

„Unsinn!“ Annie schnappte sich meinen Arm und riss mich mit sich. „Herr Vikar, kümmern Sie sich um Mrs Millers Sachen. Und dann machen Sie sich auf dem schnellsten Weg auf zum Pfarrhaus! Ihr Freund erwartet Sie direkt nach Ihrer Ankunft.“

Ich schenkte Luke ein Lächeln, als er meine sowie seine eigene Tasche hochhob und sich dem Haus zuwandte, auf das Miss Raynor gezeigt hatte. Ruby winkte mir vergnügt zum Abschied zu. „Ich überlasse dich dann mal Miss Raynors fähigen Händen, Martha. Wir sehen uns später im Pfarrhaus!“

„Ist diese junge Dame wirklich Ihre Schwester?“ Annie hob die Augenbrauen. „Sie sieht Ihnen kein bisschen ähnlich.“

Ich betrachtete Annies Gesicht aufmerksam, konnte aber keine Missbilligung darin erkennen. Manchen Leuten gefiel nicht, wie direkt Ruby auftrat und sich kleidete, oder dass sie Schminke trug und ihr Haar färbte. Aber es schien, als wäre Annie keine besonders voreingenommene Person. Das ergab durchaus Sinn, schließlich war es ihre Idee gewesen, mich den Jahrmarkt eröffnen zu lassen. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass sie das Unmögliche geschafft und diesen Plan durchgesetzt hatte. Und der Earl of Chesden, der Kopf des lokalen Landadels, dessen Familie den Jahrmarkt seit Ewigkeiten eröffnete, konnte es sicher genauso wenig glauben wie ich.

„Doch, Ruby wohnt mit mir in meinem Häuschen in Westleham.“

„Verstehe.“ Annie warf mir einen Blick zu, drückte kurz meinen Arm und trat an den Bordstein heran. Sie sah in beide Richtungen und zog mich dann über die Straße. „Ich zeige Ihnen jetzt, wie wir alles eingerichtet haben. Dann wissen Sie morgen ganz genau, wo Sie alles finden, was Sie brauchen.“

„Alles, was ich brauche?“, wiederholte ich ihre Worte als Frage. Soweit ich wusste, war es einfach nur meine Aufgabe, den Jahrmarkt zu eröffnen. Danach stand es mir frei, zu tun, was ich wollte.

„Sie sind unser Ehrengast, Mrs Miller. Nach der Eröffnung des Jahrmarkts gehört Ihnen alles, was Sie wollen. Wenn Sie gerne eine Tasse Tee hätten, bekommen Sie sie. Ein Stück Kuchen? Bekommen Sie.“

„Ich verstehe nicht.“

„Im Gegensatz zu den anderen Besuchern des Jahrmarkts müssen Sie für nichts bezahlen.“ Sie deutete auf einen Tisch. „Hier können alle, die beim Jahrmarkt etwas ausstellen wollen, die Teilnahmegebühr bezahlen. Edith Davies besetzt diesen Posten. Sie werden sie später sicher noch kennenlernen. Sie ist die Haushälterin des Vikars.“

Mit einer Energie, die ich bewunderte, aber niemals selbst hätte aufbringen können, zog Annie mich über das Dorfgrün. Sie zeigte den eingezäunten Bereich, in dem der Bauer des Dorfes Ponyreiten anbieten würde, die Plätze, wo kleinere Shows stattfinden würden, und zahlreiche Stände für den Verkauf von hausgemachten Waren.

Schließlich deutete sie auf den hölzernen Pfahl, der im Zentrum der satten grünen Wiese stand. „Wir haben natürlich nicht Mai, aber wir wollten trotzdem einen Maibaum aufstellen.“ Annie biss sich auf die Lippe und strahlte zum ersten Mal Unsicherheit aus. „Glauben Sie, dass das ein Problem ist?“

„Ich wüsste nicht, warum. Das ist doch eine sehr beliebte Tradition. Und es gibt bestimmt auch Länder, in denen man noch im Spätsommer Tänze um den Maibaum feiert.“

„Ich hoffe sehr, dass der Jahrmarkt ein Erfolg wird.“ Annie sah mich mit einer gewissen Beklommenheit an. „Ich bin die am besten organisierte Person im ganzen Landkreis, wenn ich das so sagen darf, aber die Männer im Ort würden mich nur zu gerne scheitern sehen.“

Ihre Worte trafen bei mir einen Nerv. „Bei mir in Westleham gibt es auch Männer, denen es gar nicht gefällt, dass ich die Vorsitzende der Dorfschau bin. Aber die meisten Einwohner unterstützen mich ungeachtet meines Geschlechts in meiner Position, wofür ich wirklich sehr dankbar bin.“

„Da haben Sie wirklich Glück, Mrs Miller.“ Annie lächelte mir zu. „Ich fürchte, die meisten Leute in Winteringham warten nur darauf, dass ich diesen Jahrmarkt vollkommen vermassele. Ich bin recht unverblümt, verstehen Sie, und das macht einen nicht gerade beliebt.“

„Wissen Sie“, sagte ich, „vor der Dorfschau glaubten viele der Einwohner von Westleham, ich hätte meinen Ehemann in meinem Garten vergraben – direkt unter meinen Kartoffeln!“

Annie schnappte nach Luft und legte eine Hand auf den Mund, um ihr Kichern zu verbergen. „Das kann nicht wahr sein.“

„Ich fürchte doch.“ Ich tätschelte ihren Arm. „Eine Tratschtante hat das Gerücht in Umlauf gebracht, und die Leute waren nur zu schnell bereit, es wirklich zu glauben. Sie sehen also, ich kann Ihr Gefühl, unbeliebt zu sein, nur zu gut nachempfinden.“

„Gute Güte, wie schrecklich das für Sie gewesen sein muss.“

„Es war keine leichte Zeit“, gab ich zu. „Aber den Mord aufzuklären, hat mir dabei geholfen, mich besser einzufügen.“

„Sie leben noch nicht von Geburt an in Westleham?“

„Nein. Wir sind kurz vor dem Krieg dorthin gezogen. Das heißt, mein Ehemann Stan und ich. Ich wohne jetzt zwar schon zehn Jahre da, aber ich bin immer noch zweifellos eine Außenseiterin.“

„Ich habe mein ganzes Leben in Winteringham verbracht“, sagte Annie. „Manchmal bin ich froh darüber, weil es sehr tröstlich sein kann, seine Nachbarn so gut zu kennen. Aber hin und wieder wünschte ich, ich wäre wenigstens einmal gereist oder hätte etwas anderes, aufregendes getan.“

„Mir geht es ganz genau so. Aber jetzt, da meine Schwester bei mir wohnt, lebe ich durch sie. Ruby tut all die Dinge, zu denen ich gerne die Gelegenheit gehabt hätte. Aber nachdem ich Stan geheiratet hatte, wurde natürlich von mir erwartet, dass ich zu Hause bleibe und die Kinder großziehe.“

Annie hob eine Augenbraue. „Sie haben keine Kinder, oder, Mrs Miller?“

Ich schluckte den Kloß hinunter, der zwangsläufig immer in meiner Kehle auftauchte, wenn ich an meine Kinderlosigkeit dachte. „Nein. Bei Stan und mir ist es nicht passiert, und jetzt wird es das auch nie.“

„Ich muss ja sagen, Ihr Herr Vikar ist eine wirkliche Augenweide.“ Annie lenkte das Gespräch mit einem verschwörerischen Lächeln von dem Thema ab, von dem sie zu merken schien, wie weh es mir tat.

„Wenn Sie das sagen“, erwiderte ich vorsichtig. Annie war mir zwar sehr sympathisch, aber trotzdem sollte sie besser nicht wissen, dass ich stärkere Gefühle für Luke hegte als reine Freundschaft. Wir bewegten uns vielleicht mit rasanter Geschwindigkeit auf die Fünfziger zu und Filmstars trennten sich mittlerweile mit alarmierender Häufigkeit von ihren Ehepartnern, aber hier auf dem Land in Berkshire war alles immer noch schön beim Alten. Wenn man heiratete, war das ein Bund fürs Leben.

„Warten Sie, bis Sie unseren sehen.“ Annie lächelte mir noch einmal zu. „Das ist wohl keine sehr christliche Aussage von mir, aber wo Ihr Vikar Edward dem Achten ähnelt, hat unserer mehr etwas von Henry dem Achten!“

„Nur hoffentlich mit weniger Ehefrauen?“

Annie wurde abgelenkt, als ihr eine Frau zuwinkte. Sie stand hinter einer tiefen Mauer um das Gebäude, das Annie vorhin als Pfarrhaus identifiziert hatte. „Oje, ich hoffe, sie hat mich nicht gehört.“

„Bringen Sie Mrs Miller herein“, rief die Frau. „Wir servieren gerade den Tee.“

„Wir sind sofort da, Doris!“ Annie sah mich mit einem Grinsen an. „Ich glaube, sie hat mich wirklich nicht gehört. Doris ist eine Gute. Der Vikar eigentlich auch, obwohl es nicht gelogen wäre, zu sagen, dass er genauso breit wie lang ist. Aber seine Predigten sind wirklich sehr aufschlussreich.“

Annie führte mich über den Dorfplatz zum Gartentor des Pfarrhauses. Es sah aus, als wäre es erst vor Kurzem gestrichen worden, in einem modernen Dunkelgrün. Die Treppe war makellos gefegt.

„Mrs Butler ist eine sehr anspruchsvolle Hausfrau“, bemerkte ich.

„Oh ja, sie hat es gern, wenn alles ordentlich ist“, bestätigte Annie. „Sie war schon immer so, aber seit sie das Kind bekommen hat, ist es noch stärker geworden. Ich weiß nicht, warum sie überhaupt eine Haushälterin hat, sie macht die meiste Hausarbeit selbst.“

Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Wie alt ist das Kind?“

„Janet ist … Nun, wenn ich mich recht erinnere, wurde sie um Ostern herum geboren. Dann wäre sie jetzt also etwa fünf Monate alt, glaube ich.“ Annie zuckte mit den Schultern und öffnete die Tür. „Doris wird es Ihnen sicher erzählen. Sie ist furchtbar stolz auf die Kleine. Nun kommen Sie, wir gehen hinein. Es gibt sicher Kuchen und Doris bäckt ganz ausgezeichnet.“

***

Annie öffnete eine Tür auf der linken Seite des Flurs und gab den Blick auf einen großen, einladenden Salon frei. Ich hatte allerdings kaum Zeit, festzustellen, wie schön das Zimmer war, bevor Luke meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Er saß in einem Sessel mit hoher Lehne und auf seinem Schoß befand sich das schönste Baby, das ich je gesehen hatte.

Janet hatte dunkle Haare, blaue Augen und rosa Wangen. Sie sah zu mir und lächelte mich an. Unwillkürlich lächelte ich zurück.

„Sie ist reizend, oder, Martha?“, fragte Ruby.

„Oh ja“, stimmte ich zu. „Das süßeste kleine Mädchen, das ich je gesehen habe.“

„Sie beide dürfen uns gerne öfter besuchen!“, rief Doris strahlend, offensichtlich zufrieden. „Janet ist unser ganzer Stolz, nicht wahr, Freddie?“

„Ja, Liebes.“ Der Vikar klopfte auf den Stuhl neben sich. „Ich habe den Platz hier für unseren Ehrengast freigehalten. Kommen Sie, Mrs Miller, setzen Sie sich, Doris wird Ihnen einen Tee und ein Stück Kuchen bringen.“

Ich setzte mich neben Freddie und sah gebannt zu, wie Luke Janet auf seinem Bein auf und ab hüpfen ließ und das Mädchen vor Lachen zum Quietschen brachte.

„Hier, bitte schön.“ Doris reichte mir eine Tasse Tee und stellte einen Teller mit einem gigantischen Stück Kuchen auf den Beistelltisch neben meinem Platz. „Was halten Sie von unserem kleinen Jahrmarkt? Annie hat eine wahre Leistung vollbracht, oder nicht?“

„Das hat sie.“ Ich nickte. „Ich bin beeindruckt.“

Doris war so schmal wie ihr Mann breit war. Sie hatte schlaffes mausbraunes Haar und lange Gliedmaßen, die mich an ein frisch geborenes, ungelenkes Fohlen erinnerten. Freddie Butler dagegen hatte helles Haar und ein rundes, freundliches Gesicht. Um seine grünen Augen lagen Lachfältchen und ich erinnerte mich, dass Luke von dem Sinn für Humor seines Freundes geschwärmt hatte.

„Also, Mrs Miller“, begann Freddie. „Ich würde zu gerne hören, wie sie aus meinem guten Freund hier, der sogar seine Probleme damit hatte, einen Busplan zu lesen, einen erstklassigen Detektiv gemacht haben.“

„Ich glaube nicht, dass ich ganz so inkompetent war.“ Luke lehnte sich vor, damit Janet an sein Haar herankam, und sie ergriff es mit ihren dicken Fäustchen. Er schüttelte den Kopf, was die Kleine wieder zum Lachen brachte. Sie hatte wirklich ein bemerkenswert fröhliches Temperament.

„Seien wir doch ehrlich“, sagte Freddie jovial, „als du an der Universität angekommen bist, hattest du sogar Schwierigkeiten damit, dir alleine die Schuhe zuzubinden.“

„Freddie, das stimmt doch nicht!“, protestierte Luke mit einem Seitenblick auf mich. „Wenn du so weitermachst, wird Mrs Miller noch denken, ich sei ein absoluter Hochstapler. Bisher hält sie mich noch für einen recht aufgeräumten Kerl.“

„Jetzt weiß ich nicht, ob ich lieber die Geschichte von eurer Mordaufklärung hören will, oder davon erzähle, wie du versucht hast, dir Frühstückseier zu kochen.“ Freddie strich sich über das Kinn, als wäre das eine wirklich schwere Entscheidung.

„Also wirklich, Freddie.“

Doris schüttelte den Kopf. „Ihr Jungs bleibt auch immer gleich. Eure Geschichten sind bestimmt alle maßlos übertrieben.“

„Oh nein, meine Liebe“, sagte Freddie. „Wenn überhaupt, dann untertreiben wir.“

In diesem Moment wurde die Haustür krachend geöffnet. Doris sprang mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck auf. „Das ist sicher meine Nichte Helen. Sie hat immer noch nicht ganz gelernt, wie man eine Tür leise auf oder zu macht.“

Nach einem kurzen Gespräch im Flüsterton im Flur kehrte Doris in den Salon zurück und wechselte einen vielsagenden Blick mit Freddie. „Helen wird uns keine Gesellschaft leisten. Sie legt sich vor dem Abendessen noch etwas hin.“

Freddie presste die Lippen zusammen. Alle gute Laune war aus seinem Gesicht verschwunden und sein Ausdruck konnte nur als grimmig beschrieben werden. Man musste kein Detektiv sein, um zu verstehen, dass etwas an Doris’ und Freddies Beziehung mit Helen seltsam war.

Kapitel zwei

„Sie ist wirklich schön“, sagte ich, als Luke und ich am nächsten Morgen mit Lizzie die ruhige Hauptstraße Winteringhams entlang spazierten.

„Janet ist ein Schatz.“ Er nickte und sah gleichzeitig sehnsüchtig und vergnügt aus.

„Ich meinte Helen.“

„Oh.“ Luke wandte sich zu mir, als müsste er meine Stimmung genau abschätzen, bevor er antwortete. „Ja, das ist sie. Von dem wenigen, was wir bisher gesehen haben, scheint ihre Persönlichkeit ihrem Aussehen aber nicht ganz gerecht zu werden.“

Da mochte ich nicht widersprechen. Helen Kennedy konnte es zwar in Sachen Schönheit mit Vivien Leigh aufnehmen, aber in ihrer Art hatte sie mehr mit Scarlet O’Hara gemeinsam. „Vielleicht hatte sie gestern nur einen schlechten Tag. Du weißt doch, wie Teenager sind.“

Luke hob eine Augenbraue, sagte aber nichts weiter. Weder zu Doris’ Nichte, noch dazu, dass unser gemeinsames Wissen über Teenager so eingeschränkt war, dass es auf eine Postkarte gepasst hätte. „Wie geht es den Nerven?“, fragte er stattdessen.

„Schrecklich.“ Ich legte eine Hand auf den Bauch. „Ich glaube nicht, dass ich ein Frühstück runterkriege, egal, wie fantastisch Doris kocht.“

„Wie schade.“ Luke grinste mich fröhlich an. „Dann muss ich wohl deine Portion mitessen. Wir wollen doch kein Essen verschwenden, oder?“

Wie immer hatte Luke viel mehr Appetit, wenn er nicht den Kochkünsten seiner Haushälterin ausgeliefert war. Das, was Gertrude Felton ihm im Pfarrhaus vorsetzte, war ebenso ungenießbar wie ihr Verhalten.

Ich wollte einen lässigen Kommentar abgeben, dass ein zusätzliches Frühstück seiner Linie auch nicht schaden würde, aber ich fand nicht die richtigen Worte dafür. Alles, was ich mir überlegte, klang viel zu vertraut. Ruby hatte natürlich keine solchen Probleme, wenn sie mit Luke sprach, die beiden neckten sich gnadenlos. Ihre Beziehung war so ausgelassen und zutraulich wie die von Geschwistern. Also noch etwas, was Ruby besser konnte als ich. Auch wenn es ihr wohl leichter fallen dürfte, in Lukes Gegenwart entspannt zu sein, weil sie nicht dieselben Gefühle für ihn hegte wie ich.

„Ich hoffe, Mrs Garrett und Mrs Burnett werden im Pub gut behandelt.“

Der Pub von Winteringham, The Railway Inn, hatte ein striktes Tierverbot, weshalb Freddie und Doris freundlicherweise angeboten hatten, Ruby, Lizzie und mich bei sich aufzunehmen. Und da Luke Freddies langjähriger Freund war, stand es von vornherein außer Frage, dass er woanders schlafen würde.

„Es ist dort sicher vollkommen angemessen.“

Ich konnte mir gut ausmalen, wie Ada und Maud sich ein Zimmer teilten. Zweifellos hatten sie bis tief in die Nacht über ihre neue Umgebung und die Leute von Winteringham getratscht. Die beiden waren bei der Aufklärung der Morde in unserem eigenen Dorf Westleham eine große Hilfe gewesen, weil sie einfach alles über alles und jeden wussten.

„Es war sehr nett von Miss Raynor, mir das Startgeld zu erlassen, um mit Lizzie an der Hundeschau teilzunehmen, meinst du nicht?“

„Doch“, murmelte Luke abwesend. „Hör mal, Martha, dürfte ich dir eine Frage stellen?“

Er blieb stehen und sah mich so eindringlich an, dass ich merkte, wie ich rot anlief. „Was denn?“

„Inspektor Robertson“, begann er. „Das heißt, Ben. Er ist in letzter Zeit oft bei dir zu Besuch.“

Es war keine Frage, auch wenn er es so aussprach. Seine Stimme hob sich sogar bei dem letzten Wort.

„Ja.“

„Aber er besucht gar nicht dich, oder?“

Lukes ernster Blick und sein leichtes Stirnrunzeln ließen es wirken, als wäre ihm die Antwort auf diese Frage enorm wichtig. Mein Herz hämmerte in meiner Brust und mein Mund wurde trockener als der Bach in Westleham im August.

„Er geht mit Ruby aus.“

Luke atmete tief aus – mir war gar nicht aufgefallen, dass er die Luft angehalten hatte. „Ja. Natürlich, das ergibt Sinn.“

„Mehr, als wenn er mich besuchen würde?“ Ich konnte mir die Erwiderung nicht verkneifen.

Er blinzelte, als wäre die Antwort offensichtlich. „Martha, du bist nun einmal verheiratet.“

Ich wandte den Blick von ihm ab und ging weiter. „Er ist auch vom Alter näher an Ruby als an mir.“

„Du hast mich jetzt für eine ganze Weile glauben lassen, dass er dich aufsuchen würde.“

Ich fasste all meinen Mut zusammen und gab ihm eine ehrliche Erwiderung. „So war es einfacher. Das musst du einsehen, Luke.“

Es war schon schwer genug, meine Gefühle für Luke im Zaum zu halten, wenn ich ihn sah. Als wir eng zusammenarbeiteten, um Alice Warrens Tod aufzuklären, war es nahezu unmöglich. Das Letzte, was einer von uns brauchte, war noch ein Besuch des Bischofs wegen unserer zu engen Beziehung.

„Nun, es hat nicht lange gehalten“, sagte er leichthin. „Auch der größte Trottel bräuchte nur wenige Augenblicke in Bens Gesellschaft zu verbringen, um zu sehen, wie verliebt er in Ruby ist.“

Es war zwecklos, weiterhin so zu tun, als könnte die Schwärmerei des Inspektors ebenso gut mir gelten wie Ruby. Es stimmte nicht und Luke war auch kein Narr. Und, mehr als alles andere, wollte ich einfach nur Zeit mit dem gut aussehenden Vikar verbringen – in der Hoffnung, dass er mich eines Tages genau so ansehen würde wie Ben Ruby ansah. Aber das war ein hoffnungsloses Unterfangen.

Eine Bewegung auf der anderen Straßenseite zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich griff nach Lukes Ärmel und blieb erneut stehen. „Ist das nicht Helen?“

Er folgte meinem Blick und nickte. „Wer ist das bei ihr?“

„Das kann ich nicht sehen“, zischte ich. „Du bist viel größer als ich. Siehst du etwas?“

Er reckte den Hals und lugte zu Helen hinüber, die an der Straßenecke stand. Ein Männerhut ragte über die hohe Hecke neben ihr, aber mehr konnten wir von der Person nicht erkennen.

„Ich fürchte nicht.“

„Warum flüstern wir?“

Luke räusperte sich. „Das Ganze wirkt doch irgendwie verstohlen, oder nicht?“

„Was war das?“ Ich machte einen Schritt auf den Bordstein zu, als könnte ich so besser erkennen, was geschah. „Was hat er ihr da gerade gegeben?“

„Geld.“ Luke sagte das Wort knapp, drehte sich dann zu mir und stupste mich an. „Gehen wir am besten weiter und benehmen uns ganz normal.“

Nach dem, was wir gerade gesehen hatten, fiel es mir sehr schwer, so zu tun, als würden wir nur einen ganz normalen Morgenspaziergang mit Lizzie machen, aber ich gab mein Bestes. Luke hob den Hut, als uns Helen auf der anderen Seite der schmalen Straße entgegenkam.

„Guten Morgen, Miss Kennedy.“

„Morgen, Herr Vikar“, erwiderte sie mit einem Lächeln, das man nur als durchtrieben beschreiben konnte.

Ich drehte mich um und beobachtete, wie sie zurück zum Pfarrhaus ging. Sie wechselte die Straßenseite und ich verlor sie aus den Augen, als sie den Vorgarten durchquerte.

„Und, was hältst du davon?“

„Ich versuche, eine gute, harmlose Erklärung für das, was wir gerade gesehen haben, zu finden.“ Lukes schönes Gesicht war vor Sorge angespannt. „Aber es gelingt mir nicht.“

„Das sah nach ganz schön viel Geld aus.“

„Sie hat es sofort gefaltet und in die Handtasche gesteckt. Aber die Tatsache allein, dass es Scheine und keine Münzen waren, verrät uns ja schon, dass es mehr Geld ist, als ein Mädchen in ihrem Alter durch ordentliche Arbeit verdienen könnte.“

„O Gott, Luke, glaubst du, sie tut etwas Illegales? Oder Unmoralisches?“

Er verzog das Gesicht. „Darüber sollten wir besser gar nicht nachdenken, oder? Ich kann aber nicht so tun, als hätte ich das nicht gesehen. Ich werde etwas zu Freddie sagen müssen.“

„Vielleicht könntest du zuerst mit ihr sprechen?“

Wir kamen an der Straßenecke an und gingen, ohne uns absprechen zu müssen, zu der Stelle, an der der Unbekannte gestanden hatte, als er Helen das Geld gab.

„Ich frage mich, wer das war.“ Luke warf einen Blick die Straße hinunter, aber sie lag so leer da, wie bevor wir Helen gesehen hatten. „Ich weiß nicht, ob ich der Richtige bin, um mit ihr zu reden. Ich bin mit ihrem Onkel befreundet und habe sie gestern zum ersten Mal getroffen.“

Ich schüttelte den Kopf, als ich seinen fragenden Blick sah. „Schau mich nicht an. Ich werde gar nicht erst versuchen, mit ihr zu reden. Ich habe keinerlei Erfahrung mit Mädchen in diesem Alter. Hast du nicht auf der Vikarsschule, oder wie man das auch nennt, gelernt, mit Schäfchen in jedem Alter zu sprechen?“

„Du hast bei unserem ersten Fall mit Florence Noble gesprochen und sie schnell dazu gebracht, ihre geheime Beziehung mit dem Bauernjungen zuzugeben.“

Ich musste bei seinen Worten lachen. „Unser erster Fall?“

„Es passiert schon wieder“, sagte er und die Aufregung in seiner Stimme war unüberhörbar. „Merkst du es nicht, Martha?“

„Ich sage dir, was hier passiert“, erwiderte ich. „Wir führen jetzt erst einmal Lizzie fertig aus. Dann gehen wir zurück zum Pfarrhaus, um zu frühstücken und uns für den Jahrmarkt fertig zu machen.“

Er sah mich enttäuscht an und zuckte mit den Schultern. Als wir an dem Ort vorbeigingen, an dem der geheimnisvolle Mann gestanden hatte, hörte ich Luke flüstern: „Du hast Unrecht, Martha Miller. Etwas geht in diesem Dorf vor sich.“

Ich war so schon nervös genug, wenn ich darüber nachdachte, den Jahrmarkt zu eröffnen. Da musste ich mir nicht auch noch den Kopf darüber zerbrechen, warum irgendein Mann Helen Kennedy eine Handvoll Geld überreicht hatte. Das ging uns nichts an. Wir waren nur für ein Wochenende hier. Ich hoffte, dass das, was wir da beobachtet hatten, vollkommen harmlos war, und Luke sich darin irrte, irgendetwas würde in Winteringham nicht stimmen.

***

Ruby stand ganz vorn in der Menschenmenge und beobachtete, wie ich mich darauf vorbereitete, den Jahrmarkt zu eröffnen. Auf ihrem Gesicht leuchtete eine Emotion, die ich nur als Stolz beschreiben konnte.

„Und nun möchte ich es nicht weiter hinauszögern und Ihnen unseren diesjährigen Ehrengast vorstellen: Mrs Martha Miller!“, verkündete Annie laut, ohne das Megafon in ihrer Hand überhaupt zu brauchen.

Die Menge begann zu applaudieren. Ich musste gar nicht erst zu Ruby oder Luke sehen, um zu wissen, dass die lauten Jubelrufe von ihnen kamen. Für einen Augenblick verschwamm meine Sicht vor Dankbarkeit und Verlegenheit. Ich blinzelte schnell und atmete tief durch.

„Ich möchte Miss Raynor und dem Komitee dafür danken, dass sie mich in ihr wunderschönes Dorf eingeladen haben. Es ist mir Privileg und Ehre zugleich, hier in Winteringham zu sein und diesen Jahrmarkt zu eröffnen. Wie Sie alle wissen, ist er das wichtigste und angesehenste Ereignis des Jahres in Berkshire. Und da er stets am ersten Septemberwochenende stattfindet, wird er auch als Zeichen für das Ende des Sommers angesehen – auch wenn man das gar nicht denken würde, bei dem wunderschönen Sonnenschein, mit dem wir heute gesegnet wurden!“ Ich sah zu Annie, die mir eine gigantische Textilschere überreichte.

„Nach Ihnen, Mrs Miller“, sagte sie mit vor Aufregung leuchtenden Augen.

Ich machte einige Schritte zu dem roten Band, das vor dem Eingang zum Dorfplatz hing. Ich hob die Schere, bereit, zu schneiden. „Ich erkläre den Jahrmarkt von Winteringham für eröffnet!“

Ich zerschnitt die Schleife. Die Bänder fielen zur Seite und ein Jubeln stieg von der Menge der Menschen auf, die darauf warteten, ihre Eintrittskarten zu kaufen. Annie schob mich an Edith Davies vorbei, der Haushälterin des Pfarrhauses, die den Einlass machte.

„Sie haben es geschafft!“ Annie legte ihr Klemmbrett und Megafon vor sich auf den Boden und zog mich unvermittelt in ihre Arme.

Ich zwang mich, mich zu entspannen. Nach einer eher distanzierten Kindheit hatte Ruby schnell gelernt, zärtlich mit den Menschen umzugehen, die ihr am Herzen lagen. Mir dagegen fiel es weiterhin schwer, Zuneigung sowohl zu erhalten als auch auszudrücken – selbst meiner eigenen Schwester gegenüber. „Ich glaube nicht, dass ich schon jemals so nervös war.“

„Niemand hier würde auf die Idee kommen, dass Sie nicht regelmäßig solche Reden halten“, versicherte Annie mir. „Sie haben sich ganz fantastisch geschlagen. Der Jahrmarkt ist eröffnet, die Sonne scheint – was soll jetzt noch schiefgehen können?“

„Absolut nichts.“ Ich lächelte meine neu gewonnene Freundin an. Dann drehten wir uns beide um und sahen zu, wie die Leute auf die Wiese strömten und sich direkt auf die Stände links und rechts des Eingangs verteilten.

Ihre Worte ließen mich an Lukes störrische Meinung am Morgen zurückdenken, dass irgendetwas in Winteringham faul sei. Ich hoffte weiterhin, dass er einfach nur übertrieb, aber ich konnte das unangenehme Kribbeln, das mir den Rücken herunterlief, nicht unterdrücken. Luke hatte recht. Etwas an dem Geld, das Helen erhalten hatte, und ihrem klammheimlichen Treffen mit dem Unbekannten löste ein ungutes Gefühl in mir aus.

Hinter uns befand sich ein großes Festzelt, in dem Tee und Kaffee serviert wurden. Die Einwohner, die den Jahrmarkt organisiert hatten, hatten drinnen Stühle und Tische aufgestellt. So konnten die Besucher sich ausruhen und ihre Getränke in Ruhe genießen, bevor sie sich wieder aufmachten, um sich das Unterhaltungsprogramm anzusehen oder etwas von dem hausgemachten Angebot zu kaufen.

„Kommen Sie alleine klar, während ich nachsehe, ob alle haben, was sie brauchen?“

„Natürlich.“ Ich nickte.

Annie eilte davon und ich warf einen Blick auf die Einwohner um mich herum. Die Besucher des Jahrmarkts lächelten und riefen sich aufgeregt Dinge zu, während sich erwartungsvolle Spannung wie eine behagliche Decke über die Dorfwiese legte.

„Halten Sie diese Dirne von meinem Laden fern!“

Ich blinzelte, als die schrille Stimme scharf durch das fröhliche Summen um mich herum schnitt. Als ich mich umsah, konnte ich direkt zuordnen, zu wem die Stimme gehörte. Ein großer Mann mit roten Haaren, einem Schnurrbart und Koteletten deutete drohend mit dem Finger auf Doris Butler.

Ich eilte hinüber und lächelte Doris beruhigend zu. Die hatte die Hände schützend auf die Ohren der kleinen Janet gelegt.

„Gibt es hier ein Problem?“

Der Mann stach mit dem Finger gefährlich nah an Doris’ Nase in die Luft. „Allerdings! Die Nichte dieser Frau ist eine Gefahr für die Männer in diesem Ort! Ich habe soeben die unschöne Erfahrung gemacht, sie und meinen Assistenten in einer äußerst kompromittierenden Lage in meinem Laden zu erwischen!“

„Können wir nicht wie vernünftige Erwachsene und in einer normalen Lautstärke darüber reden?“, flehte Doris.

„Kenneth hat zu arbeiten“, wetterte der Mann weiter. „Ich wollte nur noch einmal nachsehen, ob er genug Wechselgeld hat, bevor ich meine Frau zum Fest bringe. Aber was ich stattdessen gesehen habe … nun … war genug, um einem die Haare weiß werden zu lassen.“

Doris’ Gesicht leuchtete in einem dunkleren Rotton als das Band, mit dem ich den Jahrmarkt eröffnet hatte. „Ich werde mit ihr sprechen.“

„Sie braucht mehr als nur eine Standpauke.“ Der Mann schüttelte vollkommen angewidert den Kopf. „Vor weniger als einer halben Stunde hat sie im Pub mit Robert geturtelt. Dieses Mädchen macht uns nichts als Ärger, seit sie wieder im Dorf ist.“

„Das ist doch nicht ganz fair, Mr Simpson. Helen …“

„Diese junge Dame sollte sich dringend entweder Arbeit oder einen Mann suchen.“ Er starrte Doris wütend an. „Wahrscheinlich eher Letzteres, so weit, wie ihr Rock über ihrem Knie war, als ich sie und Kenneth erwischt habe. Das ist einfach unschicklich, Mrs Butler. Und das noch dazu, wo ihr Mann doch der Vikar ist!“

Die arme Doris sah aus, als sei sie kurz davor, in Tränen auszubrechen, als er davonstürmte. Sie lehnte sich herunter, um ihrem Baby einen Kuss zu geben. „Keine Angst, mein Liebling, der schreckliche Mann ist jetzt weg.“

Janet sah nicht im Geringsten verstört aus und strahlte zu ihrer Mutter hoch. Ich unterdrückte ein Seufzen. Hier handelte es sich eindeutig um eine Familienangelegenheit, die mich eigentlich überhaupt nichts anging. Aber ich fühlte mich verpflichtet, zu erzählen, was ich heute Morgen gesehen hatte.

„Bitte denken Sie nicht, dass ich mich einmischen möchte“, fing ich an. „Ich wollte es eigentlich erst später ansprechen. Beziehungsweise, ich wollte eigentlich gar nichts sagen, aber Luke …“

Doris setzte Janet zurück in den Kinderwagen und deckte sie zu, auch wenn es gar nicht kalt war und das Mädchen schon einen warmen pinkfarbenen Strampelanzug trug.

„Sagen Sie einfach, was Sie beschäftigt, Mrs Miller. Wie Sie sich nach diesem Ausbruch unseres Metzgers sicher denken können, gibt es in Bezug auf meine Nichte kaum noch etwas, das mich schockieren würde.“

„Als der Herr Vikar und ich heute Morgen Lizzie ausgeführt haben, sahen wir, wie Helen mit einem Mann sprach. Das heißt, den Mann haben wir nicht gesehen. Er war hinter einer Hecke.“

„Woher wissen Sie dann, dass es ein Mann war?“ Trotz ihrer Worte zuvor war klar, dass Doris für ihre Nichte einstehen würde.

„Sein Hut hat über der Hecke herausgeguckt. Ich fürchte, er hat ihr eine recht große Menge Geld überreicht.“

„Das ist doch nichts, wovor man sich schämen muss“, sagte Doris fröhlich. „Offensichtlich hat Helen eine Arbeit und hat ihre Bezahlung erhalten.“

Es hatte keinen Sinn, Doris auf die Ungereimtheiten in ihrer Behauptung hinzuweisen. Zum einen war das Geld an einer Straßenecke überreicht worden, früh am Morgen, und an keinem Arbeitsplatz. Zum anderen hatte sich Doris selbst am Abend zuvor erst beschwert, dass Helen den ganzen Tag nichts anderes tat, als im Bett zu liegen.

„Natürlich“, sagte ich also einfach. Meine Pflicht war erfüllt. Ich hatte Doris erzählt, was Luke und ich gesehen hatten. Was sie mit dieser Information anfing, lag an ihr und Freddie. „Soll ich uns vielleicht einen Tee besorgen?“

Doris sah mich mit einem Ausdruck purer Erleichterung an. „Das wäre sehr nett. Vielen Dank, Mrs Miller.“

Auf dem Weg zum Zelt fragte ich mich unwillkürlich, wer der Mann war, mit dem Helen gesprochen hatte. Könnte es der Assistent des Metzgers, Kenneth, sein? Oder der Robert, mit dem sie laut dem Metzger, Mr Simpson, im Pub gesprochen hatte. Oder vielleicht ein ganz anderer?

Meine Hoffnung war es gewesen, dass Luke mit seiner Meinung zu Winteringham unrecht gehabt hätte, aber sein Gespür war wohl doch besser als meins. Etwas Beunruhigendes hatte vom Dorf Besitz ergriffen, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass es von nun an nur noch schlimmer werden würde.

***

Doris und ich tranken unseren Tee gemeinsam, bevor sich unsere Wege wieder trennten. Ich wollte Ruby suchen und vor der Hundeschau noch einmal mit Lizzie Gassi gehen. Doris dagegen hatte die Absicht, mit Freddie über Helen zu sprechen.

„Martha, da bist du ja!“, rief Ruby. „Es sind unglaublich viele Leute hier. Miss Raynor ist bestimmt begeistert.“

„Ich habe sie seit der Eröffnung nicht mehr gesehen.“ Ich lehnte mich Ruby entgegen. „Da hat sich gerade eine ganz schreckliche Szene zwischen dem Metzger und Doris abgespielt.“

„Was ist passiert?“

Ich erzählte Ruby, was vorgefallen war, inklusive dessen, was Luke und ich am Morgen gesehen hatten. „Doris und Freddie tun mir fürchterlich leid. Sie scheinen wirklich nette Leute zu sein, aber das arme Mädchen ist völlig außer Kontrolle geraten.“

„Sie ist noch sehr jung“, sagte Ruby. „Vielleicht ist sie gerade nur in einer rebellischen Phase. Wo sind eigentlich ihre Eltern?“

„Eine sehr gute Frage.“ Ich tätschelte Lizzie den Kopf. „Ich habe nicht gehört, dass irgendjemand Helens Eltern erwähnt hätte. Aber sie muss bis vor Kurzem bei ihnen gewohnt haben, denn der Metzger hat gesagt, sie würde Ärger verursachen, seit sie wieder im Dorf sei.“

„Ich frage mich, warum sie überhaupt hierhergezogen ist. Winteringham ist nicht gerade ein Ort, der vor Leben nur so strotzt, oder?“

„Na ja, das ist Westleham auch nicht, und trotzdem hast du dich dazu entschieden, zu mir zu ziehen.“

Ruby sah mich streng an. „Du weißt genau, wie schlimm es war, bei unseren Eltern zu wohnen. Außerdem ist Westleham viel näher an London als der Ort, aus dem wir stammen.“

„Mir ist klar, dass du mein Angebot zur Untermiete deshalb angenommen hast, weil du unseren Eltern entkommen und näher an London sein wolltest.“ Ich sah zu Boden.

„Aber Martha, du weißt doch auch, dass das nicht die ganze Geschichte ist.“ Ruby griff nach meiner Hand und drückte sie fest. „Das waren vielleicht meine Beweggründe, nach Westleham zu ziehen, aber da wusste ich noch nicht, dass das die beste Entscheidung meines Lebens sein würde. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass es ein Segen ist, dich als Schwester zu haben, bis du es mir endlich glaubst?“

„Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde“, sagte ich und überraschte mich selbst damit, dass ich so untypisch offen mit meinen Gefühlen war.

„Und das wirst du auch nie herausfinden müssen.“ Ruby hakte sich bei mir unter. „Und jetzt lass uns Lizzie noch einmal ausführen, bevor sie jeden einzelnen Preis einheimst, den es bei dieser Schau zu gewinnen gibt.“

Wir kamen an Freddie vorbei, der in ein lebhaftes Gespräch mit dem Metzger vertieft war, winkten Ada und Maud zu, die an einem der vielen Kuchenstände standen, und lachten über Luke, der versuchte, Janet mit Eiscreme zu füttern.

Als wir um die Ecke des Zeltes bogen, zog Lizzie plötzlich an ihrer Leine. Dann setzte sie sich abrupt hin, legte den Kopf zurück und jaulte.

„Was in aller Welt?“ Ruby sah mich erstaunt an.

„Ich weiß auch nicht, was sie hat“, erwiderte ich, ebenso verwirrt wie Ruby. „Erst zieht sie so heftig an ihrer Leine, dass sie sich fast losreißt, und jetzt das.“

Ruby kniete sich hin und streichelte Lizzies Kopf, als diese nicht aufhörte, zu heulen. „Was ist los, Liebling? Bist du auf eine Wespe getreten?“

Das Fell in Lizzies Nacken war zu einem festen roten Kamm aufgesträubt, und ich sah, dass ihre Flanken zitterten. Ich war nicht sicher, ob Ruby recht hatte, und Lizzie verletzt war, oder ob etwas anderes vor sich ging. In all den Jahren, die ich Lizzie besaß, hatte sie sich noch nie so benommen.

Ich stellte mich vor Lizzie und zog sanft an der Leine. „Komm, Süße, Zeit fürs Geschäft.“

Lizzie, die sonst immer gehorsam war, beachtete mich überhaupt nicht. Die Nase in die Luft gereckt, jaulte sie ununterbrochen, so laut, dass es mich wunderte, dass noch keine Menschen um das Zelt strömten, um zu sehen, was los war.

„Vielleicht ist irgendwo hinter dem Zelt noch ein anderes Tier?“, fragte Ruby mit zweifelnder Miene.

Lizzie liebte es, Eichhörnchen zu jagen, und wenn wir an einer Stelle vorbeikamen, an der einmal ein Fuchs gewesen war, musste ich sie stets in den Garten verbannen, bis ich die große Eisenwanne wieder hervorgekramt hatte und ihr ein Bad geben konnte. Aber dass ein Tier sie dazu bringen würde, sich so zu verhalten, ergab keinen Sinn.

„Vielleicht sollten wir einfach zum Fest zurück.“ Aber noch während ich den Satz sagte, gewann meine Neugier und der Wunsch, herauszufinden, was Lizzie so verstört hatte. Ich reichte Ruby die Leine und ging an der Seite des Zeltes entlang, auf die Rückseite zu.

Ich bog um die Ecke und starrte auf die Wiese. Meine Knie wurden weich und ich streckte die Hand aus, obwohl da nichts war, an dem ich mich festhalten konnte, sollten meine Beine unter mir nachgeben.

„Martha?“

„Hol einen Arzt“, rief ich zurück. „Und die Polizei. Sofort! Was du auch tust, komm keinen Schritt näher.“

Ich war stolz, wie ruhig meine Stimme klang, obwohl ich am ganzen Leib zitterte. Jetzt, da ich Lizzie nicht mehr hörte, wurde mir erst bewusst, wie allein und verängstigt ich mich fühlte.

Vor mir auf der Erde lag Helen Kennedy rücklings da, ihre herrlichen dunklen Locken fächerten sich um ihre Schultern. Ihr Gesicht sah so friedlich aus, dass man fast glauben könnte, sie würde nur ein Nickerchen machen.

Abgesehen von dem Messer mit schwarzem Griff, das in ihrem Bauch steckt. Helen schlief nicht – sie war tot.