Leseprobe Ein ungestümer Herzensbrecher

1. KAPITEL

2. April 1821,

am Stadtrand von Kairo, Ägypten

 

Seiner Mutter war es zu verdanken, dass Rupert Carsington so dunkle Augen hatte und so dunkles Haar wie ein jeder Ägypter – was keineswegs hieß, dass er in der Menschenmenge auf der Brücke nicht aufgefallen wäre. Denn erstens überragte er jeden um Haupteslänge und zweitens wiesen seine Kleider und sein Gebaren ihn als Engländer aus. Den Türken und Ägyptern, die einen Mann gern nach der Güte seines Gewandes beurteilten, dürfte zudem auffallen, dass er nicht von niederer Geburt war.

Damit waren die Einheimischen dem Sohn des Earl of Hargate gegenüber im Vorteil.

Rupert, der vor gerade einmal sechs Wochen in Ägypten eingetroffen war, wusste nämlich noch nicht die unzähligen orientalischen Stämme und Nationalitäten voneinander zu unterscheiden, und den gesellschaftlichen Rang eines Mannes auf den ersten Blick zu bestimmen, vermochte er schon gleich gar nicht.

Aber eine unfaire Partie erkannte er sehr wohl.

Der Soldat war fast so groß wie Rupert und wie ein Kriegsschiff bewaffnet: Drei Messer, zwei Säbel und zwei Pistolen sowie allerlei Munition hingen an seinem breiten Gürtel. Und in der Hand hatte er zudem noch einen schweren Knüppel, mit dem er in recht unfreundlicher Manier vor einem humpelnden und ziemlich übel zugerichteten Gesellen herumfuchtelte.

Soweit Rupert dies sehen konnte, bestand das Vergehen des armen Teufels lediglich darin, zu langsam zu sein. Der Soldat brüllte irgendeine fremdländische Drohung oder einen Fluch. Entsetzt wich der verwahrloste Fellache zurück, taumelte und fiel. Der Soldat holte mit seinem Knüppel aus und zielte auf die Beine des Mannes, der sich indes geschickt zur Seite rollte, sodass der Schlag nur die Brücke traf. Wütend hob der Soldat den Prügel abermals und wollte ihn nun auf den Kopf des Unglücklichen niedersausen lassen.

Da drängte Rupert durch die sich sammelnde Menge, stieß den Soldaten zurück und entriss den Knüppel seinen Händen. Als der Soldat nach einem Messer griff, holte Rupert aus und schlug ihm die Klinge aus der Hand. Bevor sein Gegner noch eine weitere Waffe aus seinem Arsenal zücken konnte, attackierte Rupert ihn erneut. Zwar duckte der Mann sich rasch hinweg, doch der hölzerne Prügel erwischte ihn knapp, aber so empfindlich an der Hüfte, dass er flugs zu Boden ging. Im Fall griff er nach seiner Pistole, doch abermals schwang Rupert den Knüppel. Sein Gegner heulte auf vor Schmerz und ließ die Pistole fallen.

„Lauf!“, rief Rupert dem zerlumpten Lahmen zu, der noch immer am Boden lag und wohl kaum das englische Wort, wohl aber die damit einhergehende Geste verstanden haben musste, rappelte er sich doch geschwind auf und humpelte davon.

Rupert schaute ihm hinterher – etwas zu lange, wie sich zeigen sollte, denn es bahnten sich bereits weitere Soldaten gewaltsam ihren Weg durch die Menge. Im Nu hatten sie Rupert umzingelt.

 

Die Kunde von der Auseinandersetzung auf der Brücke verbreitete sich rasch. Mit einigen malerischen Details versehen, fand sie ihren Weg auch nach El-Esbekieh, einem etwa eine halbe Meile entfernt gelegenen Viertel Kairos, in dem Reisende aus Europa zumeist logierten.

Während der alljährlichen Überschwemmungen im Spätsommer verwandelte der über die Ufer tretende Nil den großen achteckigen, Esbekieh genannten Platz des Viertels in einen See, der von kleinen Barken befahren wurde. Da der Fluss derzeit jedoch niedrig stand, erstreckte sich lediglich eine weite irdene Fläche zwischen den umliegenden Häusern.

In einem dieser Häuser wartete eine mäßig besorgte Daphne Pembroke auf ihren Bruder Miles. Der Tag schwand dahin. Wenn Miles nicht bald käme, würde er nicht mehr eingelassen werden, denn nach Einbruch der Dunkelheit wurden die Tore der Stadt verschlossen. Auch in Zeiten der Pest oder des Aufruhrs blieben sie verschlossen, und beides waren in Kairo regelmäßige Vorkommnisse.

Daphne lauschte indes nur mit halbem Ohr der Ankunft ihres Bruders, widmete sie den Großteil ihrer Aufmerksamkeit doch den Dokumenten, die sie vor sich ausgebreitet hatte.

Darunter waren eine Lithografie des Steins von Rosetta, ein kürzlich erworbener Papyrus sowie eine mit Bleistift und Tinte verfasste Abschrift des Letzteren. Daphne war fast neunundzwanzig Jahre alt und hatte die letzten zehn Jahre mit dem Versuch zugebracht, das Geheimnis der ägyptischen Schrift zu durchdringen.

Als sie das erste Mal Hieroglyphen gesehen hatte, war es um Daphne geschehen gewesen. Sie hatte sich Hals über Kopf, bis über beide Ohren und schier hoffnungslos in sie verliebt. All ihr jugendlicher Forscherdrang war einzig darauf gerichtet gewesen, ihren verschwiegenen kleinen Herzen ihr Geheimnis zu entlocken. Dann war sie für einen Mann entbrannt, der fast dreimal so alt gewesen war wie sie, und hatte ihn geheiratet, weil er a) auf poetische Weise gut aussehend, b) ein Sprachgelehrter und c) Besitzer all der Bücher war, nach denen es sie so sehr gelüstete.

Damals hatte sie geglaubt, sie seien füreinander geschaffen.

Sie war neunzehn gewesen und hatte manches recht verklärt gesehen.

Bald schon hatte sie jedoch eine recht schmerzliche Lektion lernen müssen. Ihr Gatte – brillanter Wissenschaftler, der er war – glaubte ganz so wie weitaus dümmere Männer, dass geistige Anstrengungen dem von Natur aus schwachen Verstand der Frau zu große Mühen abverlangten.

Ihm sei nur an ihrem Wohl gelegen, hatte er behauptet und ihr verboten, die ägyptischen Schriftzeichen zu erforschen. Er meinte, dass es auch männlichen Gelehrten, die des Arabischen, Koptischen, Griechischen, Persischen und Hebräischen mächtig seien, kaum gelingen dürfte, sie in absehbarer Zeit zu entziffern. Was ihm nicht weiter bedauerlich schien, sei die altägyptische Kultur doch eine archaische gewesen und jener des antiken Griechenland weit unterlegen, weshalb die Entschlüsselung der Hieroglyphen gewiss wenig zum Wissen der Menschheit beizutragen habe.

Daphne war die Tochter eines Pfarrers. Sie hatte einen heiligen Schwur abgelegt, ihren Gatten zu lieben, ihn zu ehren und ihm zu gehorchen, und sie mühte sich redlich. Doch als ihr immer deutlicher wurde, dass sie entweder ihre Studien fortsetzen musste oder aber vor Langeweile und Entsagung den Verstand verlieren würde, entschied sie sich, das Schicksal ewiger Verdammnis zu riskieren, und widersetzte sich den Wünschen ihres Gatten. Fortan betrieb sie ihre Studien heimlich.

Vor fünf Jahren war Virgil Pembroke gestorben. Bedauerlicherweise waren die Vorbehalte gegenüber weiblicher Gelehrsamkeit nicht mit ihm zu Grabe getragen worden, weshalb immer noch nur ihr nachsichtiger Bruder und einige wenige Freunde von ihrem Geheimnis wussten. Alle anderen glaubten, dass ihr Bruder Miles das Sprachgenie in der Familie sei.

Wäre er das tatsächlich, hätte er aber keine zweitausend Pfund für den Papyrus gezahlt, mit dem sie sich gerade befasste. Ein Händler namens Vanni Anaz hatte behauptet, dass dieser Papyrus ausführlich die letzte Ruhestätte eines jungen Pharao beschreibe, Name unbekannt – was bislang bei fast allen ägyptischen Königen der Fall war. Die Geschichte war eindeutig eine Ausgeburt romantisch veranlagter orientalischer Fantasie. Kein halbwegs gebildeter Mensch konnte sie auch nur einen Augenblick für bare Münze nehmen. Dennoch schien Miles nicht davon abzubringen, und das verwunderte Daphne sehr.

Er war hinaus nach Gizeh gefahren, um die Chephren-Pyramide noch einmal genauer in Augenschein zu nehmen, denn das, so meinte er, könne ihm vielleicht das Bauprinzip der alten Grabstätten erschließen und ihm dabei helfen, das Grab des namenlosen jungen Pharao samt aller verborgenen Schätze aufzuspüren.

Wenngleich Daphne davon überzeugt war, dass die Pyramiden ihrem Bruder überhaupt nichts erschließen würden, schwieg sie still. Denn wozu ihm den Spaß verderben, wo es ihm doch so viel Freude bereitete, die Pyramiden zu erkunden? Und so hatte sie einfach nur dafür gesorgt, dass er ausreichend Proviant mitnahm, denn er hatte über Nacht in Gizeh bleiben wollen.

Sie hatte das Angebot ausgeschlagen, ihn zu begleiten, war sie doch schon einmal dort gewesen und hatte sich die beiden bereits zugänglichen der drei Pyramiden etwas genauer angesehen. In keiner hatte sie Hieroglyphen entdecken können, wenngleich mancher Besucher so tiefsinnige Gedanken wie ‚Severinus liebt Claudia‘ in den Fels geritzt hatte. Vor allem war sie keineswegs darauf erpicht, sich noch einmal durch die langen, engen, stickig warmen Gänge im Innern der Pyramiden zwängen zu müssen.

Im Augenblick lag ihr jeglicher Gedanke an die Pyramiden ohnehin fern, denn gerade war Daphne zu dem Schluss gekommen, dass Dr. Young das Zeichen mit der Schlinge und den drei kleinen Schweifen falsch gedeutet haben müsse, als ihre Dienerin Lina zur Tür hereinstürmte.

„Es wird ein Blutbad geben!“, rief Lina. „Dummer englischer Hitzkopf, dummer! Blut wird durch die Straßen strömen!“

Sie riss sich den Schleier, den sie zwar verabscheute, aber in der Öffentlichkeit tragen musste, vom Kopf, und zum Vorschein kamen das dunkle Haar und ein Paar haselnussbrauner Augen einer nicht mehr ganz jungen Frau mediterraner Abstammung. Daphne hatte sie auf Malta in ihre Dienste genommen, nachdem ihre englische Zofe sich den Anstrengungen der ausgedehnten Reise nicht gewachsen gezeigt hatte.

Lina sprach nicht nur Englisch, Griechisch, Türkisch und Arabisch, sondern konnte auch ein wenig schreiben und lesen, was in diesem Teil der Welt für eine Frau schier unerhörte Fertigkeiten waren. Andrerseits war sie zutiefst abergläubisch und fatalistisch und neigte dazu, vor jedem hellen Hoffnungsschimmer am Horizont die dunkel dräuende Wolke der Verderbnis zu sehen.

Da sie an Linas theatralisches Gebaren schon gewöhnt war, hob Daphne nur leicht die Brauen. „Welcher Engländer? Was ist passiert?“

„Ein Engländer hat sich mit einem Soldaten des Paschas geprügelt und dem Kerl den Schädel zertrümmert. Man sagt, dass es hundert Soldaten brauchte, um den tobenden Engländer gefangen zu nehmen. Die Türken werden seinen Kopf abschlagen, ihn auf eine Lanze spießen, und damit wird es noch nicht genug sein. Man wird alle Franken bekriegen, vor allem aber die Engländer!“

Anders als die meisten von Linas apokalyptischen Szenarien klang dies erschreckend wahrscheinlich.

Die osmanischen Herrscher Ägyptens würden sich im finstersten Mittelalter sehr wohlgefühlt haben. Prügel, Folter und Enthauptungen waren an der Tagesordnung. Weder Ägypter noch Türken schätzten die „Franken“, wie sie die wenig geliebten Europäer nannten, und das Militär – eine mörderische Horde ägyptischer, türkischer und albanischer Söldner, die Dschingis Khans mongolische Meute wie kichernde Schulmädchen aussehen ließen – war jedem feindlich gesinnt, manchmal sogar ihrem eigenen Befehlshaber Mohammed Ali, dem Pascha von Ägypten.

Daphne war ganz allein – von ihren Dienstboten abgesehen, die aber dummerweise alle fürchterliche Angst vor den Soldaten hatten, und das nicht ohne Grund.

Sie spürte, wie sich Besorgnis in ihr regte, wie schaudernde Furcht und allerlei Fragen sie bestürmten. Äußerlich blieb sie indes ruhig. Ihre Ehe hatte es sie gelehrt, ihre wahren Gefühle zu verbergen.

„Wenn es denn stimmt“, sagte sie. „Wer würde so töricht sein, sich mit einem Soldaten des Paschas anzulegen?“

„Man sagt, der Mann sei noch nicht lange in Kairo“, meinte Lina. „Diese Woche erst sei er aus Alexandria eingetroffen, um für den englischen Generalkonsul zu arbeiten. Man sagt auch, dass er sehr groß und von dunkler Schönheit sein solle. Aber wenn sie seinen Kopf auf eine Lanze spießen und durch die Stadt tragen, dürfte er nicht mehr ganz so schön anzusehen sein.“

Daphne verbannte das Schreckensbild aus ihren Gedanken und sagte forsch: „Der Mann muss sterbensdumm sein. Was uns eigentlich nicht überraschen sollte, pflegt das britische Konsulat doch bevorzugt Verbindungen zu Personen von zweifelhaftem Charakter.“ Sie dachte dabei an Mr. Salt, den englischen Generalkonsul, der hauptsächlich im Lande weilte, um so vieler Antikenschätze wie irgend möglich habhaft zu werden – und dabei keineswegs zimperlich vorging.

Dass er nun auch noch einen rabiaten Dummkopf in seine Dienste genommen hatte, würde vom Militär gewiss als ein willkommener Anlass zur Vergeltung genutzt werden. Kein Europäer würde in Kairo noch sicher sein.

Und Miles – jetzt gerade auf dem Rückweg nach Kairo, blond, blauäugig, hochgewachsen und unverkennbar englisch – gäbe ein geradezu ideales Ziel ab.

Daphne schlug die Augen nieder und sah, wie ihr die Hände zitterten. Beruhige dich, befahl sie sich. Noch ist nichts geschehen. Denk nach.

Wozu hatte sie denn ihren Verstand? Einen ganz vorzüglichen Verstand noch dazu. Es sollte also möglich sein, eine Lösung zu finden.

Angestrengt blickte sie auf eine in Griechisch verfasste Lobpreisung des Ptolemäus und überlegte, was zu tun sei.

Sarah, die Gemahlin des berühmten Entdeckers Giovanni Belzoni, hatte vor einigen Jahren im Gewand eines arabischen Händlers unerkannt eine Moschee besucht, was Frauen und Ungläubigen strikt untersagt war. Mit etwas Glück könnte es auch ihr gelingen, überlegte Daphne, in einer solchen Verkleidung aus Kairo zu entkommen und ihren Bruder rechtzeitig abzufangen. Dann könnten sie ein Boot mieten und stromaufwärts fahren, bis sie außer Gefahr wären.

Just als sie anhob, Lina ihren Plan mitzuteilen, erklang vom Hof her Geschrei.

Lautes Wehklagen übertönte das Stimmengwirr.

Daphne sprang vom Diwan auf und eilte zu dem von Gitterwerk durchwirkten Fenster, Lina dicht an ihrer Seite. Eine kleine Gruppe Ägypter kam die Treppe herauf, die zum Hof führte.

Sie trugen den reglosen Körper von Miles‘ Diener Ahmed.

 

Am nächsten Morgen

In einem prächtigen Haus am anderen Ende der Esbekieh sann der Generalkonsul Seiner Majestät mit gemischten Gefühlen über die Aussicht nach, dass Rupert Carsingtons Kopf auf einer Lanze durch die Stadt paradiert werde.

In den mittlerweile anderthalb Monaten seit seiner Ankunft in Ägypten war es dem vierten Sohn des Earl of Carsington gelungen, vierundzwanzig Gesetze zu brechen und neunmal inhaftiert zu werden. Für die Summe, die Mr. Carsington das Konsulat bereits an Buß- und Bestechungsgeldern gekostet hatte, hätte Mr. Salt einen der Tempel auf der Insel Philae in seine Einzelteile zerlegen und nach England verschiffen lassen können.

Er wusste genau, warum Lord Hargate seinen neunundzwanzigjährigen Sprössling nach Ägypten geschickt hatte. Nicht etwa, wie Seine Lordschaft geschrieben hatte, ‚um den Generalkonsul im Dienst an der Krone zu unterstützen‘.

Nein, einzig deshalb, um jemand anderem Kosten und Verantwortung aufzubürden.

Mr. Salt strich feinen Wüstensand von dem Dokument, das vor ihm lag. „Doch wahrscheinlich sollte man noch dankbar sein“, meinte er zu Beechey, seinem Sekretär. „Das Militär hätte dies zum Anlass nehmen können, uns allesamt abzuschlachten. Stattdessen verlangen sie lediglich ein horrendes Bußgeld und das Doppelte der üblichen Gefälligkeiten.“

Erstaunlicherweise hatten die Kameraden des verletzten Soldaten keineswegs kurzen Prozess mit Carsington gemacht. Dabei hatte er ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt. Wenngleich er – als einer gegen zwanzig – eindeutig in der Unterzahl war, hatte er dreimal versucht zu fliehen und den Soldaten dabei einiges an Verletzungen beigebracht.

Doch in der Stadt war es ruhig geblieben; Lord Hargates ungebärdiger Sohn lebte, erfreute sich noch all seiner Gliedmaßen und fand sich nun in einer von Ratten heimgesuchten Zelle der Zitadelle von Kairo eingekerkert.

An sich eine gefällige Lösung, hielt es ihn doch von weiterem Ungemach ab, doch konnte man ihn dort natürlich nicht ewig schmoren lassen.

Der Earl of Hargate war ein sehr mächtiger Mann, dem es leichtfallen dürfte, Mr. Salt in irgendeinen gottverlassenen, altertümerlosen Winkel der Welt versetzen zu lassen.

Aber Carsington freizubekommen … Gütiger Gott! Der Konsul besah noch einmal die Zahlen auf dem vorliegenden Dokument. „Müssen wir all diese Leute wirklich bezahlen?“, fragte er kläglich.

„Ich fürchte ja, Sir“, erwiderte sein Sekretär. „Der Pascha hat herausgefunden, dass Mr. Carsingtons Vater ein bedeutender englischer Lord ist.“

Mohammed Ali war ein ungebildeter, des Lesens und Schreibens nicht mächtiger Mann, aber dumm war er nicht. Nachdem man ihm Machiavellis Il Principe vorgelesen hatte, befand der Pascha von Ägypten: „Der könnte noch einiges von mir lernen.“

Etwas, das Mohammed Ali beneidenswert gut konnte – außer seine meuchelnde Armee wiederholt zum Sieg zu führen –, war zählen. Und er hatte gut durchgezählt und war zu der aberwitzigen Summe gelangt, die für die Freilassung eines Sohnes eines bedeutenden englischen Lords zu zahlen sei.

Zahlte Mr. Salt diese Summe, würde sein rasch dahinschwindendes Budget nicht reichen, die Ausgrabungskosten zu tragen – und sowie er sich von der Ausgrabungsstätte zurückzog, würden die Franzosen dort plündern.

Kümmerte er sich aber nicht um Carsingtons Freilassung, könnte Mr. Salt sich schon bald als Botschafter auf der antarktischen Halbinsel wiederfinden.

„Ich will nachdenken“, sprach der Konsul.

Sein Sekretär trat hinaus.

Fünf Minuten später kam er wieder herein.

„Was denn nun schon wieder?“, fragte Mr. Salt. „Hat Mr. Carsington die Zitadelle in die Luft gesprengt? Ist er mit der Lieblingsfrau des Paschas durchgebrannt?“

„Mrs. Pembroke, Sir“, meldete sein Sekretär. „In einer Angelegenheit von großer Dringlichkeit, wie sie sagt.“

„Ah ja … Archdales verwitwete Schwester“, meinte der Konsul. „Gewiss Weltbewegendes. Vielleicht hat er ja einen Vokal entdeckt. Ich kann kaum an mich halten vor Begeisterung.“

Obwohl Mr. Salt nur am Erwerb der prächtigsten Kunstschätze des alten Ägyptens interessiert schien, hatte er auch gelehrte Interessen und selbst schon den einen oder anderen Versuch unternommen, die vertrackte Hieroglyphenschrift zu entziffern. Heute war er indes nicht in der rechten Stimmung.

Gerade war er von einem viel zu kurzen Urlaub in der ländlichen Umgebung zurückgekehrt, mitten hinein in ein neuerliches Carsington-Fiasko. Rasch hatte ihn wieder der Strudel steter finanzieller Nöte erfasst, und da fiel es ihm verständlicherweise schwer, Mrs. Pembroke mit gelehrter Gleichgültigkeit zu begegnen.

Dass sie von Kopf bis Fuß in tiefe Trauer gehüllt war – und dass, obwohl ihr ältlicher Ehemann doch schon seit über fünf Jahren tot war! –, vermochte des Konsuls Stimmung auch nicht gerade zu heben. Sie erinnerte ihn an eine obskure Schattengestalt, wie er sie mal auf dem Wandfries eines Königsgrabs gesehen hatte.

Andererseits hatte der verstorbene Mr. Pembroke alles, das er besessen hatte, seiner jungen Gemahlin hinterlassen, und alles schloss beträchtlichen Landbesitz und ein noch beträchtlicheres Vermögen ein.

Gelang es Mr. Salt, ein wenig Begeisterung vorzutäuschen, über was immer sie glaubte, das Archdale entziffert habe, wäre sie vielleicht geneigt, einen Teil ihres Vermögens in eine Ausgrabung zu investieren.

Als sie eintrat, setzte Mr. Salt ein herzliches Willkommenslächeln auf und trat vor, um sie zu begrüßen.

„Meine liebe, geschätzte Mrs. Pembroke“, sagte er. „Wie schön, dass Sie vorbeischauen! Welch eine Ehre! Gestatten Sie, dass ich Ihnen eine Erfrischung anbiete.“

„Nein, danke.“ Sie schlug den Witwenschleier zurück, und zum Vorschein kam ihr blasses, herzförmiges Gesicht; die auffällig grünen Augen waren dunkel umschattet. „Für derlei Nettigkeiten bleibt uns keine Zeit. Ich brauche Ihre Hilfe – mein Bruder ist entführt worden.“

 

Ahmed war nicht tot. Allerdings war er ziemlich übel zugerichtet worden und zusammengebrochen, sowie er El-Esbekieh erreicht hatte.

Erst lange nach Sonnenuntergang hatte er gestern wieder genügend Kraft zu sprechen gehabt und war selbst dann kaum zu verstehen gewesen. Als Daphne seine Worte endlich begriffen hatte, war es zu spät gewesen, noch etwas zu unternehmen, denn nachts befanden sich die Straßen Kairos in Händen von Verbrechern und der Polizei, die auf sie Jagd machte.

Da Europäer in bedrängter Lage sich zudem nicht an einen einheimischen Beamten, sondern an ihren Konsul zu wenden hatten, Mr. Salt und sein Sekretär gestern jedoch nicht anzutreffen gewesen waren, hatte Daphne die ganze Nacht lang unverrichteter Dinge ausharren müssen.

Nun war sie an Leib und Seele erschöpft und kurz davor, Zustände zu bekommen. Dem durfte sie nicht nachgeben. Frauen, die Zustände bekamen, wurden von Männern zwar beschwichtigt und vertröstet, ihr aber sollte man zuhören. Wollte sie, dass etwas für sie unternommen wurde, musste sie zunächst einmal ernst genommen werden.

Nachdem sie sichtlich erschüttert ihr Anliegen vorgebracht hatte, ließ sie sich von Mr. Salt auf den schattigen Portikus hinausführen, von dem aus man in den Garten blickte. Sie trank von dem starken schwarzen Kaffee, den ein Diener herbeibrachte, und wartete, bis sie sich wieder gefasst hatte.

Dann erzählte sie die Geschichte, wie erbeten, von Anfang an.

Ihr Bruder war samt Dienerschaft gestern früh aus Gizeh zurückgekehrt. Kurz nachdem Miles in der Altstadt von Kairo die Fähre verlassen hatte, hatten einige Männer, die sich als Polizisten ausgaben, ihn abgeführt. Als Ahmed ihnen folgen wollte, um herauszufinden, wohin sie seinen Herrn brachten, wurde auch er ergriffen. Die vermeintlichen Polizisten schleppten Ahmed vor die Tore der Stadt, verprügelten ihn und ließen ihn bewusstlos liegen.

„Ich verstehe nicht, warum sie Ahmed zusammenschlugen und ihn dann einfach dort liegen ließen“, sagte Daphne. „Er glaubt, dass es gar keine Polizisten waren, und die Vermutung liegt nahe. Denn wären es wirklich Hüter des Gesetzes gewesen, warum haben sie Ahmed dann nicht zusammen mit Miles auf die Wache gebracht? Ganz abgesehen davon, dass mein Bruder sich unmöglich irgendeines Verbrechens schuldig gemacht haben kann.“

„Gewiss wird es sich als ein dummes Missverständnis erweisen“, meinte Mr. Salt. „Manche dieser kleinen Beamten nehmen etwas vorschnell Anstoß an Kleinigkeiten. Auch sind nicht alle so ehrlich, wie es wünschenswert wäre. Aber dennoch besteht kein Grund zur Sorge. Wenn Mr. Archdale inhaftiert wurde, können Sie gewiss sein, dass ich von den Behörden noch im Laufe des Tages informiert werde.“

„Ich glaube aber nicht, dass er verhaftet wurde“, erwiderte Daphne und erhob die Stimme. „Ich glaube, dass er entführt wurde!“

„Aber nein, beruhigen Sie sich doch. Bestimmt hat irgendein Amtsträger es nur mal wieder auf ein bisschen Geld abgesehen. Dergleichen passiert ja andauernd“, fügte er bitter hinzu. „Die scheinen zu glauben, dass wir Goldesel sind.“

„Wären sie bloß hinter Geld her, warum haben sie Ahmed nicht einfach mit der Forderung zu mir geschickt?“, fragte Daphne. „Warum ihn erst bewusstlos schlagen? Das ist unlogisch“, befand sie und wedelte ungeduldig mit der Hand, als wolle sie alles unlogische Denken aus der Unterhaltung fernhalten. „Ich glaube, dass man den Diener zusammengeschlagen hat, damit er den Vorfall nicht gleich melden kann. Und während Sie mich hier zu beschwichtigen suchen, dürfte die Spur meines Bruders stetig kälter werden.“

„Die Spur?“, wiederholte der Konsul verdutzt. „Sie nehmen hoffentlich nicht ernstlich an, dass Mr. Archdale einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Wer würde denn für die Entführung eines harmlosen Gelehrten Kopf und Kragen riskieren?“

„Wenn Ihnen darauf keine plausible Antwort einfällt, wie sollte das dann mir gelingen? Schließlich sind Sie seit sechs Jahren Generalkonsul von Ägypten, ich hingegen bin gerade erst drei Monate hier“, erwiderte sie. „Viel sinnvoller, als über die Motive zu spekulieren, wäre es doch, die Verantwortlichen ausfindig zu machen und sie nach ihren Motiven zu fragen, finden Sie nicht auch? Und ich glaube, wir sollten uns beeilen.“

„Meine liebe Mrs. Pembroke, ich möchte Sie daran erinnern, dass wir nicht in England sind“, sagte der Konsul. „Es gibt hier keine findigen Ermittler wie in der Bow Street. Die hiesige Polizei dürfte größtenteils aus begnadigten Dieben bestehen. Ich selbst bin von meinen zahlreichen Pflichten leider unabkömmlich, ebenso mein Sekretär. Keiner meiner Gesandten hält sich derzeit auch nur in der Nähe von Kairo auf. Wie Sie sehen, sind wir für die Arbeit, die von uns erwartet wird, auf das Betrüblichste unterbesetzt und unterfinanziert. Wir sind alle so vielbeschäftigt, dass uns kaum eine freie Minute bleibt, einen vernünftigen Gedanken zu fassen.“

Er hielt ganz kurz inne und fügte hinzu: „Das heißt also, alle – außer einem.“

 

Zwei Stunden später 

Da Daphne von Kopf bis Fuß verhüllt und ihr Gesicht verschleiert war, hatte sie gänzlich vergessen, wie deutlich ihre Kleider dennoch verkündeten: „Europäerin, weiblich“. Bis sie die Zitadelle betrat und sich der Männer bewusst wurde, die sie anstarrten, dann beiseite sahen und miteinander tuschelten, wäre ihr nicht einmal der Gedanke gekommen, sie könne nicht willkommen sein.

Doch sagte sie sich, dass a) Frauen hierzulande ohnehin nicht allzu oft willkommen waren und b) die Meinung dieser Männer nichts zur Sache tat. Außer ihrer Dienerin Lina und dem Konsulatssekretär Mr. Beechey begleitete sie zudem – ganz offiziell – der Scheich der Provinz. Gemeinsam folgten sie dem Gefängniswärter eine ausgetretene Treppe hinab, die sie in immer tiefere Dunkelheit führte, derweil die Luft stetig übler und beklemmender wurde.

Als sie unten angelangt waren, setzte der Gestank Daphne dermaßen zu, dass sie wünschte, nicht darauf bestanden zu haben mitzukommen. Sie bräuchte gar nicht hier zu sein und hätte es Mr. Beechey überlassen sollen, die Angelegenheit zu regeln.

Aber wie hätte sie klar denken können, wenn doch jede Minute, die untätig verrann, Miles nur in noch größere Gefahr brachte?

Sie brauchte Hilfe, und anscheinend wurde ihre einzig verfügbare Aussicht auf Hilfe in diesem Kerker verwahrt, der so tief war, dass er während der Überschwemmungen unter Wasser stehen dürfte. Ob das eine der hiesigen Folterpraktiken war? Würde man den Gefangenen hier unten angekettet lassen, bis er ertrank? Wurde Miles womöglich an einem solchen Ort gefangen gehalten?

Kurz erschauderte sie, verdrängte das Schreckensbild dann allerdings rasch aus ihren Gedanken und straffte die Schultern.

Neben ihr versuchte Lina leise murmelnd, das Böse zu bannen.

Die Männer schwenkten Fackeln, die das Dunkel jedoch kaum durchdrangen. Und nichts konnte die zum Schneiden dicke, widerlich stinkende Luft durchdringen.

„Freut euch, Ingleezi“, rief der Wärter. „Seht, wer hier kommt – nicht nur eine, sondern zwei Frauen!“

Ketten rasselten. Eine dunkle Gestalt erhob sich. Eine sehr große dunkle Gestalt. In der Dunkelheit konnte Daphne sein Gesicht nicht ausmachen. Sie war umgeben von Beschützern und hatte keinerlei Grund zur Besorgnis, und doch schlug ihr Herz auf einmal schneller, ihre Haut prickelte, und ihr ganzer Körper bebte in ungewisser Erwartung.

„Mr. Beechey“, sagte sie, und ihre Stimme klang nicht so fest, wie sie es sich gewünscht hätte, „sind Sie sicher, dass dies der Mann ist, den ich suche?“

Eine beachtlich tiefe Stimme – ganz eindeutig nicht die von Mr. Beechey – antwortete ihr lachend: „Das käme ganz darauf an, wofür Sie mich brauchen, Madam.“

2. KAPITEL

Eine englische Stimme zu hören – eine englische Frauenstimme – war angenehmer, als Rupert sich jemals hätte träumen lassen.

Er hatte sich entsetzlich zu langweilen begonnen, doch der weibliche Wohlklang hob seine Stimmung sogleich.

Da sich seine Augen lange schon an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wusste er, welche der Frauen gesprochen hatte, denn obwohl beide verschleiert waren, trug doch nur die größere europäische Kleidung. Auch wusste er, dass sie nicht nur Engländerin, sondern eine Dame war. Die gepflegte Modulierung ihrer klaren, melodischen Stimme – wenngleich sie im Augenblick etwas unsicher klang – hatte ihm das verraten.

Ob sie alt oder jung war, hübsch oder nicht, wusste er allerdings nicht zu sagen. Und natürlich war er sich bewusst, dass man sich der Gestalt einer Frau nie ganz gewiss sein konnte, bevor man sie nicht nackt gesehen hatte. Aber wie es schien, war alles dran und am rechten Platz, und wenn sie es die steile Treppe hinabgeschafft hatte, konnte sie auch nicht gänzlich hinfällig sein.

„Mrs. Pembroke, dürfte ich Ihnen Rupert Carsington vorstellen?“, sagte Mr. Beechey. „Mr. Carsington, Mrs. Pembroke hat sich großzügig bereitgefunden, für Ihre Freilassung zu zahlen.“

„Das ist wirklich zu gütig von Ihnen, Madam.“

„Keineswegs“, entgegnete sie schroff. „Ich kaufe Sie.“

„Was Sie nicht sagen. Ich hatte ja gehört, dass die Türken nicht zimperlich seien, aber nie hätte ich mir träumen lassen, dass sie mich in die Sklaverei verkaufen würden. Tja, man lernt doch nie aus, wie es so schön …“

„Ich kaufe lediglich Ihre Dienste“, unterbrach sie ihn kühl.

„Ah ja, verstehe. Und welcher Dienste genau bedürfen Sie?“

Rupert hörte, wie sie tief Luft holte.

Bevor sie etwas erwidern konnte, kam Mr. Beechey ihr diplomatisch zuvor: „Ein außerdienstlicher Einsatz, Sir. Mr. Salt hat Sie von Ihren regulären Pflichten im Konsulat entbunden, damit Sie Mrs. Pembroke helfen können, ihren Bruder zu finden.“

„Wenn Sie nichts weiter suchen als einen Bruder, gebe ich Ihnen gern einen ab“, meinte Rupert. „Ich habe vier – und allesamt wahre Heilige, wie Ihnen jedermann gern versichern kann.“

Die Dame wandte sich ungehalten an Mr. Beechey: „Sind Sie sicher, dass dieser Mann wirklich der einzige Ihrer Leute ist, den Sie entbehren können?“

„Wie haben Sie es angestellt, Ihres Bruders verlustig zu gehen?“, fragte Rupert interessiert. „Meiner Erfahrung nach ein aussichtsloses Unterfangen. Wohin ich auch gehe, läuft mir einer meiner Brüder über den Weg – nur hier nicht. Wahrscheinlich einer der Gründe, warum ich mich auf das Angebot meines Vaters überhaupt eingelassen habe. Zumal es ja noch schlimmer hätte kommen können, als er mich in sein Arbeitszimmer beorderte – schließlich hat er Alistair vor drei Jahren angedroht: ‚Heirate eine Erbin, oder sorge selbst für deinen Unterhalt!‘ Ganz so schlimm sollte es bei mir nicht kommen, zu mir sagte er lediglich: ‚Warum bist du nicht ein braver Junge und gehst nach Ägypten, um deiner Cousine Tryphena noch ein paar Steine mit dieser Bilderschrift drauf zu suchen?‘ Ein paar Steine und was war es noch gleich? Diese braunen zusammengerollten … Dingens. Papierreis oder so.“

Papyrus, Plural Papyri“, belehrte ihn die melodische Stimme durch hörbar zusammengebissene Zähne. „Ein lateinisches Wort altgriechischen Ursprungs. Ein Papier, das keineswegs aus Reis gemacht ist, Sir, sondern aus einer am Nil heimischen Schilfpflanze. Was Sie meinten, sind zudem keine ‚Dingens‘, sondern wertvolle Dokumente des alten Ägyptens.“ Sie hielt kurz inne und fragte dann, etwas besänftigt und leicht verwundert: „Sagten Sie Tryphena? Sie meinen nicht zufällig Tryphena Saunders?“

„Doch, meine Cousine, deren Steckenpferd diese komische Bilderschrift ist.“

„Hieroglyphen“, sagte Mrs. Pembroke. „Deren Entzifferung … egal. Ihnen ihre Bedeutung zu erklären wäre zweifellos vergebliche Mühe.“

Köstlich war das Seidenrascheln ihrer Röcke, als sie sich brüsk abwandte.

Beechey eilte ihr hinterher. „Madam, verzeihen Sie vielmals, dass ich Sie an einem so unerfreulichen Ort aufhalte. Doch muss ich Sie bitten, zu bedenken …“

„Dieser Mann“, unterbrach sie ihn leise, doch unmissverständlich, „ist ein Idiot.“

„Ja, Madam, aber jemand anderen haben wir nicht.“

„Ich mag wohl dumm sein“, mischte Rupert sich ein, „aber dafür bin ich unwiderstehlich.“

„Ach, du liebe Güte, eingebildet ist er auch noch“, murmelte sie.

„Ein dummer Flegel“, fuhr er fort, „der aber wunderbar leicht zu handhaben ist.“

Sie schwieg und wandte sich dann wieder an Beechey. „Und Sie sind ganz sicher, dass Sie niemand anderen haben?“

„Absolut. Nicht zwischen hier und Philae.“

Philae musste ganz schön weit weg sein, dachte Rupert, wenn die Dame sogar in den Kerkern von Kairo um Hilfe ersuchte. „Und bärig stark bin ich auch“, fügte er munter hinzu. „Ich könnte Sie leicht mit einer Hand hochheben und Ihre Dienerin mit der anderen noch dazu.“

„Er hat ein sonniges Gemüt, Madam“, meinte Beechey hörbar verzweifelt. „Das muss man ihm lassen. Ist es nicht beeindruckend, wie ihn selbst an diesem furchtbaren Ort nicht der Mut verlässt?“

Folgsam begann Rupert wacker und vergnügt zu pfeifen.

„Er weiß es offensichtlich nicht besser“, meinte sie.

„Unter den gegebenen Umständen kann Furchtlosigkeit von großem Vorteil sein“, sagte Beechey. „Bei den Türken verschafft das Respekt.“

Die Dame murmelte etwas Unverständliches. Dann wandte sie sich an den Türken, der sie begleitet hatte – anscheinend jemand von Bedeutung, mit einem riesigen Turban –, und sagte etwas in einer dieser orientalischen Sprachen, die Rupert nicht verstand. Der Mann mit dem Riesenturban schnalzte recht missbilligend mit der Zunge. Die Dame redete auf ihn ein, doch er schien wenig beeindruckt. Und so ging es fort.

„Was sagt sie?“, rief Rupert dazwischen.

Beechey meinte, sie sprächen zu schnell, als dass er ihnen folgen könne.

Die Dienerin trat an Rupert heran. „Meine Herrin feilscht um Sie. Wie schade, dass Sie so schwer von Begriff sind. Als wir kamen, war sie bereit, fast den vollen Preis für Sie zu zahlen, aber nun sagt Sie, so viel seien Sie nicht wert.“

„Wie viel wollte man denn für mich haben?“

„Alles in allem dreihundert Beutel“, erwiderte sie. „Ein weißes Sklavenmädchen – das Teuerste, was der Sklavenmarkt zu bieten hat – kostet nur zweihundert Beutel.“

„Und was macht das in Pfund, Shilling und Pence?“, fragte Rupert.

„Mehr als zweitausend englische Pfund.“

Rupert stieß einen leisen Pfiff aus. „Ganz schön teuer.“

„Das findet meine Herrin auch“, sagte die Dienerin. „Zumal sie glaubt, dass Sie zu nichts nutze seien. Auf eine Lanze gespießt, könnte Ihr Kopf die Bürger von Kairo zwar eine Weile amüsieren, aber damit hätte es sich auch schon. Sie erklärt dem Scheich gerade, dass es in England ebenso viele Lords gibt wie Scheichs in Ägypten, und nur der älteste Sohn eines Lords sei wertvoll, und Sie seien einer der jüngeren. Sie glaubt, dass Ihr Vater Sie fortgeschickt hat, weil Sie ein Dummkopf sind.“

„Alle Achtung“, meinte er lachend. „Wie trefflich erkannt – obwohl wir uns gerade erst getroffen haben, noch dazu im Dunkeln. Welch außerordentlich schlaue Frau.“

Der turbantragende Würdenträger stimmte eine lange Tirade an, die englische Dame wandte sich schulterzuckend ab und ging davon.

Der Preis war aberwitzig; niemand, der noch ganz bei Verstand war, würde diese Summe zahlen, nicht einmal Lord Hargate. Und doch war Rupert enttäuscht, sie gehen zu sehen.

Ihren Bruder zu suchen könnte ja ganz interessant sein. Zumindest interessanter, als im Sand zu buddeln und nach alten Steinen zu suchen, und gewiss unterhaltsamer, als irgendwelche Papyri aus den Händen vermodernder Mumien zu entwenden. Ja, er kannte besagtes Wort sehr wohl, hatte er es doch unzählige Male schon von Tryphena zu hören bekommen. Er hatte es nur deshalb falsch gesagt, weil er auf Mrs. Pembrokes Reaktion gespannt gewesen war – und die hatte sich als höchst erheiternd erwiesen.

Aber nun würde er wohl nie erfahren, wie die Dame aussah.

Die Dienerin machte sich auf, ihrer Herrin zu folgen. Beechey schüttelte den Kopf und schloss sich ihnen an.

Der Scheich rief etwas Unverständliches.

Und dann trat Mrs. Pembroke aus dem Dunkel. Ruperts Herz tat einen kleinen, aber unmissverständlichen Sprung.

 

Daphne wartete nicht ab, bis man Mr. Carsington freigelassen hatte. Nachdem man sich auf den Preis geeinigt hatte, überließ sie es Mr. Beechey, die Einzelheiten zu regeln und die üblichen Gefälligkeiten zu entrichten – das Bakschisch, das die meisten Geschäfte im Osmanischen Reich erheblich erleichterte.

Sie konnte es kaum erwarten, der Zitadelle zu entkommen. Ihr war schlecht, und sie ärgerte sich, überhaupt so lange mit dem Scheich verhandelt zu haben. Erst die ernüchternde Entdeckung, auf welch einem Dummkopf all ihre Hoffnungen ruhen sollten, und wie sich dann auch noch dieser Würdenträger aufspielte, der wahrscheinlich nicht mal seinen eigenen Namen schreiben konnte …

Fast hätte sie die Beherrschung verloren.

Ihr Bruder steckte in Schwierigkeiten – verschollen, verletzt, möglicherweise tot –, und alle Männer, die sie bislang um Hilfe angegangen war, hatten ihre Sorge abgetan, sich über sie lustig gemacht oder versucht, ihr Steine in den Weg zu legen. Vor Wut und Enttäuschung hätte sie am liebsten geweint.

Vor allem aber wollte sie fort – fort aus der Zitadelle und diesem stinkenden Kerkerloch und all diesen dummen, gleichgültigen Männern.

Als sie endlich aus der Festung hinaus ins Freie trat, saugte sie gierig die schon heiße Luft des späten Morgens in sich auf.

„Wissen Sie, warum man ihn dort eingesperrt hat, Herrin – so tief unter der Erde und in Ketten?“, fragte Lina, als sie sie eingeholt hatte.

„Gewiss“, sagte Daphne. „Mr. Salt meinte, dass Mr. Carsington der Mann sei, der gestern den türkischen Soldaten angegriffen hat. Ein geistloser, unbeherrschter Barbar.“

Ungeduldig eilte sie dem Tor der Zitadelle zu, vor dem ihre Esel und Eselstreiber auf sie warteten. „Ich kann nur hoffen, dass die anderen Söhne tatsächlich wahre Heilige sind, wie von diesem hier behauptet“, fuhr sie gereizt fort. „Das könnte Lord und Lady Hargate für ihren Kummer entschädigen …“ Jäh hielt sie inne. „Oh, was habe ich nur getan?“

Daphne blieb so unvermittelt stehen, dass Lina auf sie prallte.

Nachdem sie ihre Schleier wieder entwirrt hatten, sagte Daphne: „Wir müssen Mr. Salt sofort mitteilen, dass wir Mr. Carsingtons Dienste nicht bedürfen.“

„Aber Sie haben ihn doch eben gekauft“, wandte Lina ein.

„Ich war nicht ganz bei Verstand“, sagte Daphne. „Es hat dort unten so elend gestunken, und die Ratten waren recht dreist. Dann wollte der Scheich mir auch noch Angst machen, und Mr. Carsington mit seinem impertinenten ‚Papierreis‘ und ‚Dingens‘! Ich befand mich in bedrängter Lage, aber niemand könnte für meine Zwecke weniger geeignet sein als er. Wir haben es mit Verbrechern zu tun, dessen bin ich mir sicher. Die Aufgabe verlangt einen kühlen, berechnenden Verstand. Einen zweiten Belzoni bräuchte ich: einen Mann, der weiß, wann es der Überredung, auch der Arglist bedarf und wann der Gewalt.“

„Als Mr. Beechey Sie vorhin zum Scheich geführt hat, habe ich die Wachen belauscht“, meinte Lina. „Kein Gefängnis könne diesen Engländer aufhalten, sagten sie. Er sei flink und clever und gänzlich ohne Furcht. Deshalb hat man ihn im tiefsten Kerker von Kairo angekettet.“

„Wer gänzlich ohne Furcht ist, muss entweder sehr dumm oder verrückt sein“, befand Daphne.

Lina tippte sich an den Kopf. „Sie haben da oben doch genug für sechs Männer, Herrin. Sie brauchen keinen Mann mit viel Verstand, sondern einen mit viel Mut und starken Muskeln.“

Daphne wusste nicht, wie es um Mr. Carsingtons Muskeln bestellt war. Mehr als eine große, schemenhafte Gestalt hatte sie im Dunkel nicht ausmachen können. Doch während sie mit dem Scheich um ihn feilschte, war sie sich seiner Gegenwart stets bewusst gewesen. Sie hatte seine Stimme hinter sich wahrgenommen, ein tiefes Murmeln, in dem ein leises Lachen mitschwang, obwohl er wahrlich nichts zu lachen hatte. Zu ihren Füßen hatte sie die Ratten herumhuschen gehört. Den Gestank hatte sie noch immer in der Nase. Und sie wusste, dass die Wärter nicht zimperlich waren.

Während sie mit dem Scheich verhandelt hatte, waren ihre Gedanken immer wieder zu dem Gefangenen geschweift. Vierundzwanzig Stunden hatte er schon dort unten zugebracht, im Dunkeln und im Ungewissen über sein Schicksal. Er wusste nicht, ob seine Häscher ihn auspeitschen oder foltern und verstümmeln würden, ob seine Freunde ihn hier jemals fänden oder ob er dort unten allein sterben müsste.

Vielleicht stand Miles gerade dieselben Qualen aus.

Ihr Magen zog sich zusammen.

„Ich fühle mich schmutzig“, sagte sie. „Ich brauche ein Bad. Und bis Mr. Beechey und der Scheich ihre bürokratischen Rituale beendet haben, dürfte noch eine ganze Weile vergehen.“

 

Die Bäder waren ein sündiger Luxus, den Daphne schon bald nach ihrer Ankunft in Ägypten entdeckt hatte. In den gekachelten Hallen des Frauenbades blieb die Welt mit all ihren Sorgen außen vor. Hier konnte man sich verwöhnen und umsorgen lassen und dem Gelächter und Geplauder der anderen Frauen lauschen.

Selbst heute hatten die Bäder ihre wundersame Wirkung nicht verfehlt. Als Daphne das Bad verließ, fühlte sie sich ruhiger und konnte wieder klarer denken. Sie war sehr wohl in der Lage, Miles zu finden, sagte sie sich, als sie auf ihren Esel stieg. Sie brauchte lediglich einen Mann, der tat, was sie nicht tun konnte. In diesem Fall galt – wie Lina ganz richtig bemerkt hatte: Je größer, desto besser. Und Mr. Carsington überragte die meisten Männer um Haupteslänge. Stark musste er zudem sein, hatte er die Auseinandersetzung mit den Soldaten doch unversehrt überstanden. Mr. Carsington bräuchte nur ein wenig mehr Verstand – aber damit konnte Daphne ihm aushelfen.

Dank der findigen Eselstreiber, die sie in halsbrecherischem Tempo an Kamelen, Pferden, Händlern und Bettlern vorbei durch die engen, belebten Gassen lotsten, waren sie schon bald wieder in El-Esbekieh.

Vor dem Tor ihres Hauses stiegen sie ab. Daphne überließ es Lina, die Eselstreiber zu bezahlen, und verschwand in den schattigen Arkaden entlang des Hofes. Als sie die Treppe fast erreicht hatte, löste sich eine große Gestalt aus dem Schatten, und eine tiefe Stimme, die sie sogleich wiedererkannte, meinte empört: „Zwanzig Pfund?“

Wie angewurzelt blieb sie stehen. Ihr Herz setzte kurz aus und schlug dann weitaus weniger ruhig weiter.

Schattig war es hier, aber keineswegs so dunkel wie im Kerker der Zitadelle.

Selbst durch ihren Witwenschleier hindurch konnte sie ihn deutlich sehen. Er war groß und hatte breite Schultern, wie sie bereits im Dunkel hatte ausmachen können. Wie ausgesprochen gut er aussah, war ihr zuvor jedoch entgangen.

Schwarze Brauen wölbten sich über dunklen Augen, die sie über eine lange Nase hinweg lachend anblickten. Auch um seine allzu sinnlichen Lippen spielte ein Lächeln.

Begierde flackerte jäh in ihr auf, versengte ihre mühsam erlangte, ruhige Selbstgewissheit und ließ sie so verlegen werden wie das unsichere Schulmädchen, das sie einst gewesen war.

Doch wie Virgil ihr wiederholt zu verstehen gegeben hatte, war sie schon immer nicht so schüchtern gewesen, wie sich schickte. Und so besah sie sich auch den Rest: Rock, Weste, Hose – allesamt vorzüglich geschneidert. Hemd und Krawattentuch makellos gestärkt. Ein Blick genügte, ihrem inneren Auge ein recht anschauliches Bild des schlanken, doch kraftvollen Körpers einzubrennen, den die wie angegossen sitzenden Kleider eher betonten als verhüllten.

Der Mund wurde ihr trocken, ihr Verstand ließ sie im Stich, und einen Augenblick lang wusste sie weder ein noch aus. Aber eben nur einen Augenblick. Sowie ihr Verstand sich zurückmeldete und ihre Zunge sich löste, sagte sie: „Mr. Carsington.“

„Zwanzig Pfund“, wiederholte er. „Drei Beutel – darauf haben Sie mich heruntergehandelt. In den Bädern wurde mir gesagt, dass dies der Marktpreis für einen Eunuchen ist.“

„Ja, für einen der besseren Eunuchen“, erwiderte Daphne. „Ich hatte Sie so bald nicht erwartet. Und ein Bad haben Sie auch genommen, wie wunderbar.“ Im Geiste sah sie ihn vor sich, nur mit einem mahzam – einem türkischen Handtuch – um die Hüften …

Sie verbot sich diesen Gedanken. Sofort. Vielleicht hätte sie in den Bädern nicht rauchen sollen, auch nicht aus Höflichkeit. Es hinterließ einen schlechten Nachgeschmack und machte einen wirr im Kopf. Sie hätte auch nicht dem anzüglichen Geplauder der Frauen lauschen sollen, hatte es ihren eingeräucherten Verstand doch auf allerlei unanständige Gedanken gebracht.

Gemeinhin nahm sie Männer gar nicht zur Kenntnis, es sei denn als Hindernisse, die es zu umgehen galt, denn ihrer Erfahrung nach waren Männer vor allem hinderlich.

Sie ging an ihm vorbei die Treppe hinauf. „Ist das nicht erstaunlich, Lina? Normalerweise brauchen die Türken für jede kleinste Verhandlung schon Stunden. Ich hätte nicht zu hoffen gewagt, dass wir vor morgen noch in die Gänge kämen.“

„Der Scheich hätte die Verhandlungen gewiss ganz gern ein wenig ausgedehnt“, meinte Mr. Carsington, „aber Sie hatten ihn doch sehr erschöpft.“

„Das Gefängnis war entsetzlich“, ließ Lina ihn wissen, derweil sie Daphne die Stufen hinauffolgte. „Um den Gestank loszuwerden, sind wir in die Bäder gegangen. Wir haben geraucht, uns mit den anderen Frauen unterhalten, unanständige Witze gehört. Jetzt ist uns ein bisschen flau im Kopf.“

„Geraucht?“, fragte er. „Unanständige Witze? Ausgezeichnet. Ich wusste, dass dies unterhaltsamer würde, als alte Steine auszugraben.“

 

Rupert sah Mrs. Pembroke mit einem brüskierten Rascheln ihrer schwarzen Seidenröcke die Treppe hinauf im Haus verschwinden. Dem Scheich hatte sie auf ebenso berückende Weise die kalte Schulter gezeigt.

Weil er sie so unterhaltsam gefunden hatte, war Rupert sehr erfreut gewesen, als er erfuhr, dass sie mitnichten in Tryphenas Alter war (sprich alt genug, um seine Mutter zu sein). Beechey hatte erzählt, dass der vermisste Miles Archdale ein junger Altertumsforscher Anfang dreißig und seine verwitwete Schwester wohl ein paar Jahre jünger sei.

Zudem hatte Rupert erfahren, dass die Pest, welche ihn in Alexandria festgehalten hatte, die beiden in Kairo festgesetzt hatte. Wäre die Quarantäne nicht kürzlich erst aufgehoben worden, würden Mr. Archdale und seine Schwester schon längst in Theben sein, wo Archdale, nach Aussagen des Sekretärs, seine Erkenntnisse bezüglich der Hieroglyphenschrift an den Grabbauten Oberägyptens verifizieren wollte.

Hinsichtlich seines Verschwindens war Beechey der Ansicht, dass Archdale sich wahrscheinlich nur ein wenig vergnüge und schon wieder auftauchen werde – was man indes der Schwester nicht sagen könne –, doch der Generalkonsul sei sich sicher, dass Ahmed gelogen hatte.

Kairo bot Vergnügungen für jeden Geschmack, und Männer ‚verschwanden‘ manchmal tagelang in Bordellen und Opiumhöhlen. So gewiss auch Archdale. Sein Diener dürfte, nachdem er zu viel Haschisch geraucht hatte, mit jemand aneinandergeraten und verdroschen worden sein.

Rupert solle Mrs. Pembroke jedoch bloß nichts davon wissen lassen. Er solle sie beschwichtigen.

„Sie sollten sich bei den Wachen erkundigen“, hatte Beechey gemeint. „Ich rate Ihnen zudem, den Diener unter vier Augen zu befragen. Wenn Sie Archdale aufgespürt haben, oder wenn er – was wahrscheinlicher ist – von selbst wieder aufgetaucht ist, denken Sie sich eine plausible Geschichte aus, die Sie ihr erzählen können. Ich möchte eindringlich betonen, wie wichtig es ist, mit den beiden herzliches Einvernehmen zu wahren, sind sie doch sowohl wissenschaftlich als auch finanziell von erheblichem Interesse für uns. Mr. Salt vertraut darauf, dass Sie äußerste Diskretion, Takt und Umsicht walten lassen.“

Rupert hatte verständig genickt und sich dabei gefragt, ob auch Beechey etwas zu viel Haschisch geraucht hatte.

Bei nüchterner Betrachtung war Rupert Carsington nämlich eindeutig der falsche Mann, wenn eine Aufgabe Diskretion, Takt und Umsicht verlangte. Das war sogar Rupert klar, und eigentlich würde er das kleine Missverständnis kurz geklärt haben, aber ihm gefiel, wie Mrs. Pembroke brüskiert mit ihren Röcken raschelte, und er wüsste gar zu gern, wie sie unter ihrem Schleier aussah. Und so hielt er ausnahmsweise mal den Mund und versuchte recht taktvoll und diskret zu wirken.

Das würde er allerdings nicht lange durchhalten können, so viel war gewiss.

Er folgte der Dienerin die Treppe hinauf ins Haus und ließ sich von ihr durch verwinkelte Gänge und Gemächer führen, die stets etwas höher oder niedriger lagen als das vorherige, bis sie endlich in einen weitläufigen Raum mit hoher Decke gelangten.

Der hintere Teil des Zimmers war etwas erhöht, mit türkischen Teppichen ausgelegt und an drei Seiten von einer niedrigen Sitzbank mit Kissen umgeben. In der Mitte stand ein großer, ebenfalls niedriger Tisch, auf dem sich Bücher und Papiere stapelten. An der Wand auf einem schmalen Regalbrett standen zahlreiche kleine Holzfiguren aufgereiht.

Mrs. Pembroke warf einen kurzen Blick auf den Tisch, sank dann davor auf den Knien nieder und begann aufgeregt in den Papierstapeln zu kramen.

„Herrin, was ist?“, fragte Lina.

„So habe ich es nicht zurückgelassen“, sagte Mrs. Pembroke.

„Woher wollen Sie das so genau wissen?“, meinte Rupert.

„Weil ich an dem neuen Papyrus gearbeitet habe“, erwiderte sie. „Ich ordne meine Unterlagen auf eine bestimmte Weise an. Rechts der Papyrus, in der Mitte die Abschrift, darunter die Zeichentabelle, hier die Inschrift des Rosettasteins, daneben das koptische Wörterbuch, da die Grammatik. Ich habe eine ganz bestimmte Ordnung. Ohne Ordnung geht es nicht. Wenn man nicht systematisch vorgeht, ist es aussichtslos.“ Sie sprach immer lauter. „Der Papyrus und die Abschrift fehlen. All die Arbeit … die Mühe, die ich mir gemacht habe …“

Sie erhob sich, etwas unsicher auf den Beinen. „Wo sind eigentlich die Dienstboten?“

„Schauen Sie nach den Dienstboten“, sagte er zu Lina, und zu Mrs. Pembroke: „Beruhigen Sie sich. Zählen Sie bis zehn.“

Sie sah ihn an – oder schien zumindest ihr Gesicht in seine ungefähre Richtung zu wenden.

„Legen Sie den eigentlich nie ab?“, fragte er gereizt. „Er muss wirklich bemerkenswert gewesen sein, der verschiedene Gemahl, um so viel Trauer zu verdienen.“ Er deutete auf die schwarze Seide und den dichten Schleier. „Da drunter muss es heißer als im Hades sein. Kein Wunder, dass Sie so von Sinnen sind.“

Einen Moment verharrte sie reglos, dann schlug sie jäh den Schleier zurück.

Und Rupert war, als habe ihm jemand einen heftigen Hieb auf den Kopf versetzt.

„Tja“, sagte er, als er wieder sprechen konnte. „Nun ja.“ Und dachte, dass sie es vielleicht doch etwas langsamer hätten angehen sollen.

Er sah grüne, unglaublich grüne, dunkel umschattete Augen und hohe Wangenknochen, ein herzförmiges Gesicht und milchig weiße Haut, umrahmt von dunkelrot seidigem Haar. Sie war nicht hübsch, nicht gewöhnlich hübsch. Und schön war sie eigentlich auch nicht, zumindest nicht nach englischen Maßstäben. Sie war jenseits dessen, was man für gewöhnlich als schön bezeichnet hätte.

Unter Tryphenas zahlreichen Büchern über Ägypten befanden sich auch die bislang erschienenen Bände der Description de l‘Égypte. Rupert meinte, dieses Gesicht in irgendeiner Farbreproduktion einer Grabausmalung gesehen zu haben. Er erinnerte sich genau: eine rothaarige Frau, nackt – bis auf den goldenen Halsreif –, die Arme himmelwärts gestreckt.

Nackt wäre nicht schlecht, dachte er, verriet sein Kennerblick ihm doch, dass die Figur der schwarz verhüllten Dame ebenso beachtlich wäre wie ihr Gesicht.

Einer temperamentvollen Gottheit gleich, warf sie den Schleier gereizt zu Boden.

Lina kam herbeigeeilt. „Sie sind fort!“, rief sie. „Alle!“

„Das ist ja interessant“, befand Rupert und drehte sich wieder zu Mrs. Pembroke um. Ihr Gesicht war kreidebleich. Teufel auch, wollte sie etwa ohnmächtig werden? Die einzige weibliche Unart, die ihm noch unerträglicher war als das Weinen, war die Ohnmacht.

„Wir dachten ja, dass Ihr Bruder in einem Bordell verschollen sei“, sagte er, „aber diese Neuigkeit gibt uns doch zu denken. Vielleicht haben wir uns ja getäuscht.“

Ihr blasses Gesicht errötete heftig, und ihre grünen Augen funkelten. „Ein Bordell?“

„Ein Haus von zweifelhaftem Ruf“, klärte er sie auf. „Wo Männer Frauen dafür bezahlen, das zu tun, was die meisten Frauen nur bereit zu tun sind, wenn man sie heiratet, und manchmal nicht einmal dann.“

„Ich weiß, was ein Bordell ist“, erwiderte sie.

„Im Vergleich zu den Bordellen in Kairo sollen die in Paris anscheinend wie Quäkerschulen daherkommen“, fuhr er fort. „Nicht, dass ich dies mit Gewissheit bestätigen könnte. Um ganz ehrlich zu sein, so sind meine Erinnerungen an Paris etwas verschwommen.“

Finster sah sie ihn an. „Ihre Erinnerungen an Paris sind hier nicht von Interesse.“

„Ich wollte nur verdeutlichen, wie groß die Versuchung sein könnte“, meinte er. „Nur ein Heiliger – wie beispielsweise einer meiner Brüder – könnte ihr widerstehen. Und da ich nicht weiß, wie es um Ihren Bruder bestellt ist …“

„Da haben Sie einfach angenommen, dass Miles sich mit Prostituierten und Tänzerinnen vergnügen würde.“

„Ganz zu schweigen von Haschisch und Opium, weshalb wir annahmen, dass er wohl ein wenig die Zeit vergessen hat.“

„Verstehe“, sagte sie. „Man hat Sie abbeordert, um mich abzulenken, bis Miles wieder zu Hause auftauchte.“

„Ja, so wurde es mir erklärt. Eigentlich schien alles ganz einfach. Ein verschwundener Bruder – dafür hatten wir wie gesagt eine einfache Erklärung gefunden. Aber nun ist auch noch eine Papyrusrolle verschwunden sowie die Dienstboten. Langsam wird es kompliziert.“

„Ich verstehe nicht, wie Diebe hier hereinkommen konnten“, meinte Lina erstaunt. „Als wir kamen, war Wadid wie immer auf seinem Posten.“

„Der Bursche, der draußen auf der steinernen Bank hockte?“, fragte Rupert. „Der schien mir tief im Gebet versunken.“

Herrin und Dienerin wechselten einen kurzen Blick.

„Ich werde mit ihm sprechen“, sagte Lina und ging hinaus.

Mrs. Pembroke wandte sich von Rupert ab und wieder dem geplünderten Tisch zu. Sie kniete sich davor und schob eines der Bücher ein wenig nach links. Von einem Stück Papier schüttelte sie Sand und legte es unter das Buch. Sie hob Stifte und Schreibfedern auf und räumte sie ordentlich beiseite. Das wütende Funkeln war aus ihren Augen verschwunden und die Zornesröte aus ihren Wangen gewichen, wodurch ihr Gesicht noch bleicher und die Schatten unter ihren Augen noch dunkler wirkten als zuvor.

Rupert kam auf einmal ein Bild aus lang vergangener Zeit in den Sinn: seine Cousine Maria, als sie ihre Puppen beweinte, nachdem Rupert und ihre Brüder damit Schießübungen gemacht hatten.

Weil er keine Schwestern hatte, war er weinende Mädchen nicht gewöhnt. Es hatte ihn schier zur Verzweiflung getrieben. Nachdem er ihr angeboten hatte, die lädierten Puppenleiber wieder zusammenzukleben, hatte die kleine Maria ihm eine der Puppenleichen so heftig um die Ohren gehauen, dass er ein blaues Auge bekommen hatte. Welch eine Erleichterung! Körperliche Züchtigung war ihm weitaus lieber als verwirrende Gefühle.

Die dunklen Schatten unter Mrs. Pembrokes Augen und ihr leichenblasses Gesicht hatten in etwa dieselbe Wirkung auf ihn wie die Tränen seiner Cousine. Und diesmal hatte er sich wirklich nichts zuschulden kommen lassen. Er hatte dem Bruder dieser Dame nichts getan – seines Wissens kannte er diesen Burschen gar nicht. Und ihren kostbaren Papyrus hatte er ganz gewiss nicht angerührt. Er hatte also keinerlei Grund, sich so … seltsam zu fühlen.

Vielleicht hatte er ja was Falsches gegessen. Den Fraß im Gefängnis zum Beispiel. Oder ihn hatte doch die Pest gestreift.

„Und das Ding ist wirklich weg?“, vergewisserte er sich. „Nicht nur verlegt oder irgendwo zwischen den anderen Papieren?“

„Ich würde einen Papyrus wohl kaum mit anderen Papieren verwechseln.“

„Tja, ich wüsste schon gern, warum man wegen eines Papyrus solche Umstände macht“, meinte er. „Unterwegs bin ich von sechs verschiedenen Händlern aufgehalten worden, die mir alte Papierrollen unter die Nase hielten. Man kann an keinem Kaffeehaus mehr vorbeigehen, ohne dass irgendein aufgewecktes Kerlchen herausgesprungen kommt, um einem irgendwelche Papyri anzubieten. Nebst Schwestern, Töchtern und Nebenfrauen, natürlich allesamt Jungfrauen – geprüft und garantiert.“

Sie ließ sich auf die Fersen sinken und sah ihn an. „Mr. Carsington, wir sollten etwas klarstellen.“

„Nicht, dass es mich interessieren würde, ob das stimmt“, fuhr er fort. „Ich habe noch nie verstanden, warum um Jungfrauen so großes Aufhebens gemacht wird. Meiner Ansicht nach ist eine erfahrene Frau doch viel …“

„Ihre Ansicht interessiert nicht“, unterbrach sie ihn. „Sie sind nicht zum Denken hier. Sie sind hier, um Ihre Muskeln spielen zu lassen. Denken tue ich. Ist das klar?“

Zumindest war ihm klar, dass sie zu echauffieren ein treffliches Mittel war, um den Tränenfluss aufzuhalten. Ihre Augen funkelten wieder, und ihr Gesicht, wenngleich immer noch blass, wirkte keineswegs mehr so angespannt und leichenbleich.

„Glasklar“, sagte Rupert.

„Gut.“ Sie deutete auf den Diwan. „Bitte setzen Sie sich. Ich muss Ihnen jetzt einiges sagen, und es ist recht ermüdend, ständig zu Ihnen aufschauen zu müssen. Sie können Ihre Schuhe ruhig anlassen. Es ist so umständlich, wenn man sich europäisch kleidet, und ich verstehe sowieso nicht, warum man sich im Orient die Mühe macht, seine Schuhe auszuziehen, wo doch ohnehin alles von einer feinen Sandschicht überzogen wird, ohne dass wir auch nur irgendetwas dagegen tun könnten.“

Er setzte sich, klopfte eines der Kissen auf und lehnte sich zurück. Als sie ihm gegenüber Platz nahm, fiel ihm indes auf, dass sie sehr wohl ihre Schuhe ausgezogen hatte, und bevor sie ihre Beine unter ihren Röcken verschwinden ließ, erhaschte er einen Blick auf ihre schmalen bestrumpften Füße.

Er bezweifelte, dass sie das absichtlich getan hatte, denn so eine Frau schien sie überhaupt nicht zu sein. Aber ihre beinah nackten Füße reizten ihn dennoch, und schon setzten die üblichen Regungen ein.

Kaum hatte sie den Mund aufgemacht, um ihm zu sagen, was sie meinte, ihm sagen zu müssen, und kaum hatte er angefangen, sich ihre Beine knöchelaufwärts auszumalen, kam Lina herbeigeeilt, den frohgemuten Burschen im Schlepptau, dem Rupert unten im Hof zugewinkt hatte.

„Berauscht!“, empörte sich die Dienerin. „Sehen Sie ihn sich an!“

Alle schauten sie Wadid an. Er lächelte und grüßte mit einem Salam.

„Den ganzen Tag hat er Haschisch geraucht – oder vielleicht war es auch Opium“, fuhr Lina fort. „Es war in seinen Tabak gemischt. Genau weiß ich es nicht, weil ein Parfüm den Geruch überdeckte. Aber ganz offensichtlich schwebt Wadid im siebten Himmel und kann uns nicht weiterhelfen.“

Rupert stand auf, stellte sich dicht vor den Torwächter und spähte in seine halb geschlossenen Augen. Wadid nickte lächelnd und sagte etwas in einem unverständlichen Singsang.

Als Rupert ihn bei den Armen packte und einen Moment hoch in die Luft hob, riss Wadid die Augen weit auf. Rupert schüttelte ihn einmal kräftig durch und ließ ihn dann wieder sinken.

Sprachlos starrte Wadid ihn an. Sein Mund ging auf und zu.

„Sagen Sie ihm, beim nächsten Mal werfe ich ihn aus dem Fenster“, sagte Rupert. „Und wenn er seine Flugkünste nicht sogleich unter Beweis stellen will, sollte er jetzt ein paar Fragen beantworten.“

Lina redete rasch auf ihn ein. Wadid stammelte ein paar Erwiderungen und warf hin und wieder einen furchtsamen Blick auf Rupert.

„Er sagt: Recht vielen Dank, lieber Herr“, verkündete Lina. „Ihm ist nun schon viel klarer im Kopf.“

„Dachte ich mir doch“, meinte Rupert und sah Mrs. Pembroke fragend an.

Ihre bemerkenswert grünen Augen waren ebenfalls weit aufgerissen. Ihr Mund, zuvor schmal und missbilligend, stand offen. Die prüde Miene hatte anscheinend nur als eine Art Korsett fungiert. Nun, davon befreit, waren ihre Lippen weich und füllig.

Am liebsten hätte er auch sie geschwind hochgehoben und ihr so außergewöhnliches Gesicht dem seinen ganz nah gebracht und sich vergewissert, wie weich ihre Lippen …

Aber so dumm war er dann doch wieder nicht.

„Wollten Sie ihm nicht ein paar Fragen stellen?“, meinte er.

Sie blinzelte, wandte sich dann an Wadid und setzte mit einem wahren Wortschwall fremder Sprache zur Befragung an.

Wadid antwortete zögerlich.

Während es so hin und her ging, begab Rupert sich auf die Suche nach Kaffee.

Nachdem er sich in dem Gewirr der Gänge und Stufen ein paar Mal verlaufen hatte, fand er schließlich im Erdgeschoss etwas, das wie eine Küche aussah.

Der Raum schien in großer Eile verlassen worden zu sein. Rupert sah eine Schüssel mit Kichererbsen, die halb zerstampft waren. Hölzerne Gerätschaften lagen auf dem Boden, auf einem flachen Stein ein Teigballen. Auf dem Feuerrost ein Topf.

Das silberne Kaffeeservice mit den kleinen, henkellosen Tassen fand er, doch nirgends eine Spur von Kaffee.

Er trat in einen Nebenraum, der wie eine Speisekammer aussah, und fing an, Dosen und Gläser zu öffnen. Auf einmal bemerkte er eine leichte Bewegung. Hörte ein leises Rascheln. Ratten?

Rupert sah sich um. In einer dunklen Ecke standen einige große, hohe Tontöpfe. Dazwischen lugte ein Stück blauen Stoffs hervor.

Mit wenigen Schritten durchmaß er die Kammer. Der hinter den Töpfen Lauernde schoss aus seinem Versteck hervor und versuchte davonzuhuschen, aber Rupert bekam ihn am Hemdzipfel zu fassen. „Nicht so schnell, Bürschchen“, sagte er. „Erst wollen wir mal nett miteinander plaudern.“