Leseprobe Ein unvergesslicher Earl

Kapitel 1

Rache ist ein süßes Gift

Hertfordshire

Miss Georgianna Eleanor Heyford schnappte überrascht nach Luft, während der Briefbogen mit der elegant geschwungenen Schrift darauf ihren Händen entglitt und auf dem abgetretenen Teppich ihres Wohnzimmers landete.

„Was ist denn? Hast du jetzt endlich Onkel Timothys Geist gesehen?“, zwitscherte ihre jüngste Schwester Annabelle, das Engelsgesicht zu einem Grinsen verzogen. „Ich sagte dir ja, dass ich ihn und Mama auf dem Dachboden singen gehört habe.“

„Es ist kein Geist, Anna. Ich habe die Stelle“, flüsterte Georgianna und presste eine Hand auf ihr pochendes Herz. „Ich habe die Stelle!“

Ihre Schwestern wunderten sich nicht über Georgiannas Begeisterung, doch sie teilten ihre Freude über die Erfüllung eines wunderbaren Traums auch nicht. Denn eine solche Arbeit gehörte sich für junge Damen aus ihren Kreisen eigentlich nicht. Georgianna dagegen lachte noch immer vor Freude. Vor nur einer Stunde hatte sie niedergeschlagen auf ihrem Bett gehockt, voller Verzweiflung, weil sie ihre Familie im Stich gelassen hatte, die doch auf Georgiannas Können und Findigkeit angewiesen war.

Ein wenig ruhiger erklärte sie schließlich: „Ich habe die Stelle bekommen, um die ich so sehnsüchtig gebetet habe.“

Daraufhin richtete sich Tante Thomasina kerzengerade auf dem alten Sofa auf und stellte fest: „Für eine vornehme junge Dame wie dich schickt es sich nicht zu arbeiten. Es ist einfach ungehörig! Ich habe euch Mädchen doch eingeladen, zu mir nach Kent zu ziehen und diesen Ort hier zu verlassen.“ Mit offenkundigem Abscheu blickte sich die Tante in dem Haus um, in dem die Mädchen ihr ganzes Leben verbracht hatten. „Ich weiß wirklich nicht, warum ihr unbedingt hierbleiben wollt! Das Landhaus sollte bei einem Verkauf genug einbringen, um euch und Elizabeth mit einer Mitgift für eine angemessene Partie auszustatten.“

Obwohl ihre Worte Georgianna einen schmerzhaften Stich versetzten, lächelte sie ihre Tante freundlich an.

„Dieser Ort steckt voller Erinnerungen an Mama und Papa, und deswegen wollen wir nicht fort von hier und sie zurücklassen, Tante. Es ist unser Zuhause, das Papa mir anvertraut hat. Und wir werden es nicht aufgeben.“

Tante Thomasina presste die Lippen zusammen. „Arbeiten ist völlig unangemessen für ein Fräulein deines Standes.“

Nachdem sie ihr Missfallen kundgetan hatte, widmete sich Tante Thomasina wieder der Lektüre von Frankenstein. Georgianna unterdrückte ein Stöhnen. Seit ihre Tante vor einigen Jahren Baroness Crawley geworden war, hielt sie alles, was ihre Verwandten taten, für unangemessen. Georgiannas Vater war ein echter Landedelmann und der entfernte Verwandte eines Baronets gewesen. Er hatte allen seinen Kindern beigebracht, dass man arbeiten musste, um sich seine Träume zu erfüllen, und dass es nur Überspanntheit förderte, wenn man zu große Rosinen im Kopf hatte.

Georgianna, der die missfällige Miene ihrer Tante nicht entgangen war, sagte: „Ich bin mir nicht zu gut zum Arbeiten, Tante. Und dieses unglaubliche Angebot wird uns genügend Geld einbringen für die Reparaturarbeiten am Haus, eine volle Speisekammer rund ums Jahr und neue Kleider und Stiefel für alle. Und vielleicht auch weitere Aufträge von vornehmen Herrschaften. Stell dir vor, Tante, vielleicht werde ich ja so berühmt wie die französischen Küchenchefs, die für den Buckingham–Palast oder die Lords und Ladys am Grosvenor Square arbeiten!“

„Du solltest dir diese Flausen aus dem Kopf schlagen und dir lieber einen Mann suchen, der dich ernährt, Georgianna. Ehemänner – das ist es, was ihr Mädchen braucht.“

Georgianna verkniff es sich, die Augen auf diese undamenhafte Weise zu verdrehen, die ihre Tante ständig an ihr zu bemängeln hatte. „Aber Tante, die Welt verändert sich, nur du willst unbedingt in der beschränkten Vergangenheit steckenbleiben.“

Als ihre Tante empört nach Luft schnappte, fuhr Georgianna in gemäßigtem Ton fort: „Ich brauche keinen Ehemann, der mir mein Leben vorschreibt und mich gängelt. Es wäre allerdings etwas ganz anderes, wenn ich mich in einen Mann verliebte, der meine Träume und Leidenschaften teilt.“

Ihre Tante schnaubte abfällig, und die besorgten Mienen ihrer Schwestern versetzten Georgiannas Begeisterung einen weiteren Dämpfer. Sie ging zu der jüngsten und beugte sich zu ihr hinunter.

„Das ist eine gute Sache, Anna“, flüsterte sie und kniff sie in das rundliche Kinn. „Du isst doch auch gerne, was ich koche, besonders meinen Gewürzkuchen mit Rum und die gebratenen Wachteln mit Honig, oder?“

Ihre sechsjährige Schwester nickte mit zitternden Lippen. „Die mag Lizzie ganz besonders“, flüsterte sie.

„Ein sehr wichtiger Gentleman, ein Earl, möchte, dass ich für die Gäste seiner noblen Party koche“, fuhr Georgianna fort. „Sie soll an Bord seiner Segeljacht während einer Fahrt durch den Ärmelkanal stattfinden.“ Mit dramatischem Raunen fügte sie hinzu: „Dieser Gentleman wird mich so fürstlich entlohnen, dass wir Hetty nicht zu essen brauchen.“

Überrascht blickte Anna nach draußen, wo eine Henne neben dem Wassertrog herumpickte. Dann richtete sich ihr allseits bekannter Blick voller eiserner Entschlossenheit wieder auf Georgianna.

„Dann musst du gehen, Georgie. Wir wollen Hetty doch nicht aufessen!“

„Und das Ferkel Midge auch nicht“, fügte die achtjährige Sarah kichernd hinzu. „Obwohl es wahrscheinlich ganz gut schmecken würde.“

Die Mädchen lachten, und Georgianna, erleichtert darüber, dass sie ihnen einige ihrer Sorgen nehmen konnte, strubbelte Annas dunklen Lockenschopf und warf einen Blick auf Elizabeth, die Schwester, die ihr im Alter am nächsten stand und ihre liebste Freundin und Vertraute war.

Mit einer unauffälligen Kopfbewegung gab diese ihr einen Wink, worauf Georgianna aufstand und sich das dunkle, solide Kleid glattstrich. „Ich werde mal nach dem Ragout und dem Brot im Ofen sehen. Würdest du mir dabei helfen, Lizzie?“

Damit verließ sie das Wohnzimmer, gefolgt von ihrer Schwester. Sie stiegen in die große geflieste Küche hinunter, wo ein köstlich duftendes Ragout auf dem Herd brodelte.

„Du kannst da nicht hin, Georgie“, bemerkte ihre Schwester schließlich. „Es ist nicht sicher.“

Georgianna fuhr herum, eine Hand in die Hüfte gestützt, und funkelte ihre Schwester an. „Lizzie! Aber es ist die Chance, die wir so dringend brauchen, das weißt du doch. Wir können nicht –“

„Ist er es?“

Georgiannas Herz machte einen Sprung, und sie stieß einen Seufzer aus. Er, das war Daniel Rutherford, der 14. Earl of Stannis, den ihre Schwester nur deswegen kannte, weil seine ausschweifenden Partys und sein Lotterleben Stadtgespräch waren. Selbst die Lokalblättchen in Hertfordshire berichteten über die Ereignisse in London, und so hatten die Schwestern auch von der grenzenlosen Liederlichkeit des Earls erfahren. Doch trotz seines Rufs als Wüstling galt er mit seinem guten Aussehen und seinem Reichtum in den vornehmen Kreisen als ausgezeichnete Partie. „Ja, ich soll für den Earl of Stannis arbeiten.“

Lizzie lehnte sich mit der Hüfte an die gemauerte Arbeitsplatte. „Was genau hat der Earl in seinem Brief geschrieben?“

„Es war Lord Stannis’ Sekretär, der geschrieben hat. Ich war gar nicht die erste Wahl, als es darum ging, wer bei der Party auf der Jacht des Earls kochen soll. Aber zu meinem Glück wurde der andere Koch krank, und so bekam ich den Auftrag. Ich verlangte dreihundert Pfund und war darauf gefasst zu erklären, warum ich so viel Geld wert bin.“

„Dreihundert Pfund?“, keuchte Lizzie, doch Georgianna lächelte nur. „Mr. Burnell hat meine Forderung anstandslos akzeptiert! Auch wenn ich ziemlich sicher bin, dass ich den verwöhnten Gaumen der Gäste zufriedenstellen kann, ist es doch ein irrwitzig hoher Betrag, und ich habe gar nicht damit gerechnet, dass sie damit einverstanden sein würden. Aber umso besser für uns.“

„Ich weiß, dass wir das Geld dringend brauchen, aber –“, seufzte ihre Schwester.

Georgianna machte einen Schritt auf sie zu und ergriff ihre Hand. „Es gibt kein Aber, Lizzie! Bitte, vertrau mir.“

„Lord Stannis ist ein Lüstling, der jede Frau in sein Bett zu kriegen versucht!“

Georgianna blinzelte verwundert. „Was hat das mit mir zu tun? Ich kannte den Ruf des Earls, schon bevor ich mich auf Mr. Burnells Stellenanzeige gemeldet habe.“

Ihre Schwester schniefte leise und sagte mit verlegenem Grinsen: „Du bist sehr hübsch, Georgie. Was ist, wenn Lord Stannis nun … seinem Ruf als Verführer gerecht wird?“

Georgianna lachte überrascht. „Du vergisst, dass zu einer Verführung zwei gehören.“

„Was weißt du schon davon?“, entgegnete ihre Schwester spöttisch. „Einmal kam der Earl in unser bescheidenes Städtchen Crandell, wo er der Tochter von Squire Goodley die Unschuld raubte und sich dann weigerte, sie zu heiraten. Was ist, wenn er dich ebenso ruiniert?“

„Doch nicht schon wieder dieses dumme Gerücht! Ich bin nicht so töricht, und ich kann gar nicht glauben, dass du mir so wenig Mut und Charakterstärke zutraust.“ Mit einem Anflug von Belustigung fügte sie hinzu: „Ich werde dem Earl wohl auch kaum nahe genug kommen, um ihn auf solche Ideen zu bringen. Als er vor ein paar Jahren angeblich in Crandell war, sind wir ihm jedenfalls nicht begegnet.“

Lizzie reckte das Kinn auf ihre typische trotzige Art. „Es heißt, er sei so höllisch attraktiv, dass sich ihm selbst Damen, die zweimal so alt sind wie er, an den Hals werfen.“

„Ich verspreche, ich werde mich gegen die schreckliche Versuchung wappnen.“

Lizzie blickte sie finster an. „Es wird gemunkelt, nicht weniger als drei Jungfrauen seien von einem bloßen Kuss des Earls schwanger geworden. Es waren die einzigen derartigen Fälle im ganzen Königreich.“

„Das ist ja wirklich erstaunlich“, erwiderte Georgianna trocken, während sie sich insgeheim köstlich über ihre Schwester amüsierte. „Aber irgendwie habe ich den Verdacht, es war vielleicht mehr im Spiel als nur Küssen. Und du solltest aufhören, diese dämlichen Klatschblättchen zu lesen, in denen die seltsamsten Gerüchte verbreitet werden.“

Elizabeths Miene wurde noch finsterer. „Du bist frech und vorwitzig genug, dass dir seine Verdorbenheit womöglich sogar gefällt.“

„Lizzie!“, rief Georgianna entrüstet. „Du machst dir unnötig Sorgen. Mr. Burnell sagt, mir stehen während der wenigen Tage, in denen ich mich auf der Jacht aufhalte, sechs Küchenhilfen und ein ganzer Schwarm von Dienern zur Verfügung. Da kann ich mir nicht vorstellen, dass der Earl sich ausgerechnet mich aussucht oder ich ihn. Wahrscheinlich weiß Lord Stannis nicht einmal, dass Mr. Burnell mich engagiert hat.“

Seufzend schob sich Lizzie eine Haarsträhne hinters Ohr. „Vermutlich hast du recht. Ein Earl wird sich kaum dazu herablassen, die Bewerbungsschreiben von Köchinnen zu lesen.“

Breit grinsend nahm Georgianna ihre Schwester bei der Hand und zog sie mit zu der Steinbank gegenüber dem großen Fenster. „Seien wir dankbar dafür. Mein Lohn ist ein Vermögen und wird uns sehr weiterhelfen, Lizzie.“

Nach kurzem Zögern antwortete ihre Schwester: „Meinst du nicht, wir sollten das Angebot unserer Tante annehmen und zu ihr nach Kent ziehen? Dann könntest du für die Saison nach London gehen und dir einen Mann suchen.“

Georgianna überlief ein kalter Schauer. Sie entzog Lizzie ihre Hand und ließ sich auf der Bank nieder. Eine Hand fest in ihre Schürze gekrallt, blickte sie ihre Schwester an. „Willst du denn von hier fort und das Haus verkaufen, so wie unsere Tante es vorschlägt?“

Ein undurchschaubarer Ausdruck trat in die blauen Augen ihrer Schwester, bevor sie den Blick senkte. Und plötzlich traf Georgianna die Erkenntnis, dass sie es nicht allein zu entscheiden hatte, ob sie das Haus behielten, das so viele schöne Erinnerungen barg und ihr stets eine tröstliche und vertraute Zuflucht gewesen war. Sie hatte die Pflicht, auch die Wünsche, Hoffnungen und Träume ihrer Schwestern zu berücksichtigen.

„Bitte, Lizzie, ich bin doch nicht so festgefahren in meinen Entscheidungen, dass meine Lieblingsschwester ihre Gedanken und Sorgen nicht mit mir teilen könnte.“

Lizzie sah sich um und ließ ihren Blick auf dem großen Küchentisch ruhen, an dem sie immer mit ihren Eltern gesessen und gelacht und geplaudert hatten, während sie miteinander kochten oder backten.

„Hier sind all die Erinnerungen“, flüsterte Lizzie. „Jeden Morgen beim Aufstehen höre ich Papa mit seiner tiefen Stimme singen und rieche den Duft von Mamas Zimtbrot im Ofen. Und von solchen Erinnerungen gibt es noch viel mehr, Georgie. Ich möchte nicht fort, aber hier zu bleiben wird nicht einfach werden. Das Geld, das Papa uns hinterlassen hat, ist weg, und seit mehr als einem Jahr haben wir schreckliche Geldsorgen. Es ist wirklich ein harter Kampf, und ich kann sehen, wie er dir zusetzt.“

„Der einfachste Weg ist nicht immer der beste“, erwiderte Georgianna und wiederholte damit die Worte, die sie oft von ihrem Vater gehört hatte. „Tante Thomasina meint es gut, aber ich weiß nicht, ob wir beide Ehemänner finden werden, die für uns sorgen, wo wir so wenig vorzuweisen haben. Es wäre besser, sie gäbe uns das Geld zum Leben, anstatt es für hübsche Kleider auszugeben in der Hoffnung, dass uns jemand einen Heiratsantrag macht.“

Eine leise Sehnsucht regte sich in Georgiannas Seele. „Allerdings muss ich gestehen, wenn wir schon heiraten müssen, wäre es das Beste, es geschähe aus Liebe … so wie Mama und Papa. Etwas anderes könnte ich mir nicht vorstellen.“

Ihre Schwester ließ den Kopf an Georgiannas Schulter sinken und sagte: „Es tut mir so leid, dass du nicht glücklich bist.“ Georgiannas Rücken wurde vor Schreck ganz steif. „Woher willst du wissen, dass ich unglücklich bin?“

Ihre Schwester seufzte. „Du widmest uns dein ganzes Leben, Georgie. Niemals redest du über deine eigenen Wünsche, und das finde ich manchmal einfach … traurig.“

„Glaubst du nicht, dass es auch glücklich machen kann, seine Pflicht zu erfüllen?“, entgegnete sie knapp. Sie fühlte sich eigenartig verletzt. „Sprich nicht geringschätzig darüber, wie sehr ich dich und unsere Schwestern liebe, Lizzie!“

„Ich meinte es nicht geringschätzig!“, rief sie. „Ich … ich will nur, dass du glücklich bist. Ein Ehemann … Kinder …“ Ein schmerzlicher Ausdruck zog über Lizzies Züge, und sie wandte den Blick ab.

Plötzlich hatte Georgianna einen Kloß im Hals. „Es tut mir leid. Ich verstehe dich besser, als du denkst. Du wünschst dir eine eigene Familie … und einen Ehemann. Vielleicht Mr. Hayle?“

Lizzie legte bestürzt die Hände an die Wangen. „Bin ich denn so leicht zu durchschauen?“

„Nur weil ich dich gut kenne und du ihn so … verlangend ansiehst.“

Eine entzückende Röte stieg Lizzie in die Wangen. „In der Kirche?“, stöhnte sie.

„Es war bei Mr. Tonkins Picknick letzten Samstag“, erwiderte Georgianna mit leisem Lächeln.

Noch einmal stöhnte Lizzie theatralisch auf und grub die Zähne in ihre volle Unterlippe. „Ich finde ihn so wundervoll, Georgianna. Aber er bemerkt mich gar nicht.“

„Mr. Hayle mag dich sehr. Aber er weiß eben, dass du keine Mitgift zu erwarten hast und über keinerlei Verbindungen verfügst. Weil er sehr ehrgeizig ist, muss er an solche Dinge denken.“

Ihre Schwester zuckte zusammen. „Musst du so … so gnadenlos ehrlich sein?“

„Ja, Lizzie. Damit du verstehst, was ich mir für dich und uns alle erhoffe. Stell dir nur vor, welche Möglichkeiten sich bieten würden, wenn ich bei den vornehmen Damen und Herren in Mode käme. Dann könnte ich viel Geld dafür verlangen, dass ich bei ihren Bällen, Gartenpartys und den wilden Festen auf ihren Jachten für das Essen sorge, und für dich, Sarah und Anna eine anständige Mitgift verdienen. Und falls eine von euch nicht heiraten möchte, kann sie sich von dem Geld einen Herzenswunsch erfüllen.“

Lizzie dachte einen Augenblick lang nach. „Hat unsere Tante gesagt, welche Mitgift sie uns geben würde, falls wir mit ihr nach Kent und London ziehen?“

„Nein“, antwortete Georgianna mit einem kleinen Seufzer. „Wenn es überhaupt eine Mitgift gibt, wird sie nur klein sein. Die Tante hofft, dass ihre mageren Beziehungen dabei helfen, dir und mir eine gute Partie zu verschaffen.“

Lizzie bedeckte das Gesicht mit den Händen, ihr ganzer Körper wirkte angespannt.

Georgianna legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. „Es wird schon klappen, und wir werden so viel sparen, wie wir können, und selbst für unsere Zukunft sorgen.“

„Ich –“

„Die Welt verändert sich, Lizzie. Sogar in einigen Ländern auf dem Kontinent dürfen Frauen mittlerweile Eigentum besitzen und ohne die Erlaubnis ihres Vaters oder Ehegatten ein Bankkonto eröffnen. Du wirst weiter deine Kindergeschichten schreiben, und ich bin davon überzeugt, dass du sie eines Tages auch veröffentlichen wirst, und zwar unter deinem eigenen Namen und nicht unter einem Pseudonym. Dann werden wir die für ihren Esprit und ihre Fähigkeiten berühmten Heyford–Schwestern sein. Fast wie die Schwestern Brontë.“

Lizzie lachte wehmütig, doch in ihre Augen trat ein Ausdruck von Entschlossenheit. „Daran kannst auch nur du glauben, Georgie.“

„Ich könnte mir denken, dass mein Name eines Tages in aller Munde sein wird, und dass viele von meinen Speisen schwärmen werden. Mit meiner Kochkunst werde ich ein Vermögen machen und sogar ein Buch – oder mehrere – darüber schreiben. Dann werde ich berühmter sein als Charles Elmé Francatelli“, erklärte sie und deutete auf sein Buch The Modern Cook, das auf dem großen, ramponierten Eichentisch lag.

Lizzies Augen funkelten. „Du willst berühmter werden als Mr. Francatelli? Ist das dein einziger Ehrgeiz?“ Sie verengte die Augen. „Mir macht es mehr Sorgen, du könntest dich mit dem Earl einlassen und dadurch so berühmt werden wie die Schauspielerin, die ganz London mit ihren Liebesaffären mit dem Prinzen von Wales und einem Earl in Atem hält!“

„Wenn man bedenkt, welcher Reiz von der High Society ausgeht, ist es verständlich, dass sie sich mit dem einen oder anderen mächtigen Adligen eingelassen hat.“

Die angebliche Mätresse des Prinzen hatte sich nicht daran gestört, dass ihr Ruf beschmutzt war, sondern vergnügt ein Leben nach ihrem Geschmack geführt. Georgianna fand, die Dame sei zu bewundern und sollte nicht als abschreckendes Beispiel dienen.

Lizzie lächelte, und Georgianna war froh, dass ihre Schwester nicht mehr ganz so angespannt wirkte.

„Ach, bitte versprich mir, dass du dich sehr vorsehen wirst. Ich mache mir schreckliche Sorgen, dass du den Verlockungen der feinen Gesellschaft erliegen könntest, wenn du das Angebot des Earls annimmst. Schließlich hat uns Tante Thomasina davor gewarnt, dass von dieser luxuriösen Glitzerwelt ein Zauber ausgeht, der schon so manchen ins Verderben gestürzt hat.“

„Jemand wie Lord Stannis mit seinem Reichtum oder seinem angeblich überwältigenden Charme kann mir nichts anhaben. Aber ich bin davon überzeugt, ich kann eine hervorragende Köchin werden und damit unser Leben verbessern, Lizzie … Glaubst du das auch?“

Ihre Schwester drehte sich zu ihr um und blickte sie nachdenklich an. „Ja, das glaube ich“, sagte sie schließlich. „Du bist eine wunderbare Köchin und so unglaublich einfallsreich.“

Georgiannas Herz wurde vor Erleichterung ganz weit. „Danke, Lizzie“, sagte sie lächelnd.

Ihre Schwester zog die Nase kraus. „Ein Teil von mir wäre gerne mit dir auf dieser Jacht. Ich sehe förmlich vor mir, wie der schlanke Rumpf durch die Wellen gleitet. Ich höre die Geigen, die an Deck einen Walzer spielen, und das Lachen der Gäste und schmecke den Champagner und die herrlichen Speisen, die du zubereiten wirst. Denk dir nur, ein großer Ball mitten auf dem Wasser unter dem sternbedeckten Himmel. Und die Roben der Damen – ach, die werden sicher überwältigend aussehen!“

Georgianna wurde ganz aufgeregt. „Du könntest doch mitkommen, Lizzie.“

„Mich freiwillig in den Sündenpfuhl dieses Wüstlings begeben? Meine liebe Georgianna, ich mag ja zuweilen sprunghaft und leichtsinnig sein, aber so dumm bin ich nicht.“

Georgianna lachte über die Zimperlichkeit ihrer Schwester und bemühte sich, ihr plötzlich wild pochendes Herz zu ignorieren. Schließlich hatte sie nichts zu befürchten, und schon gar nicht von einem Mann, dessen schlechter Ruf auf Gerüchten beruhte.

Wie verdorben konnte ein Mann schon sein? Das ist doch Blödsinn und hat nicht das Geringste mit mir zu tun.

Und dennoch konnte Georgianna das Gefühl von Nervosität nicht ignorieren, das sich in ihrem Bauch zusammenballte.

Kapitel 2

So also leben die Reichen und Mächtigen, dachte Georgianna. Sie stand oder besser gesagt, versteckte sich, in einer Ecke des großen Decks, wo man sie nicht so leicht entdecken konnte. Denn eigentlich hätte sie beim restlichen Küchenpersonal in der großen, luxuriösen Bordküche unter Deck sein sollen.

Doch entgegen ihrer üblichen korrekten Art hatte sie es sich nicht verkneifen können, sich kurz auf dem Schiff umzusehen. Die Größe und Schönheit der Jacht hatten ihr die Sprache verschlagen, als sie vor einigen Stunden in Dover an Bord gegangen war. Voller Stolz hatte ihr Mr. Burnell erklärt, dass es sich um eine Kutterjacht handelte, die vor wenigen Jahren im Auftrag des Earl of Stannis am River Clyde gebaut worden war.

Georgianna fand alles an dem Schiff überwältigend. Die Besatzung trug eine speziell angefertigte Uniform in Dunkelblau und Grau, wie sie festgestellt hatte, als einer der Matrosen ihr Gepäck an Bord brachte und sie zu ihrer kleinen, doch geschmackvoll eingerichteten Kajüte führte. Das Schiff besaß einen Mast mit mehreren Segeln, was es ihm erlaubte, sich nahe an der Küste zu halten und jede leichte Brise auszunutzen.

„Jetzt aber schnell zurück in die Küche“, ermahnte sich Georgianna mit einem wehmütigen Seufzer. Der Abend war einfach zu grandios.

Die letzte Viertelstunde hatte sie damit verbracht, das bunte Treiben der illustren Gäste zu beobachten, die sich auf der Luxusjacht vergnügten. Bisher hatte man ihr noch nicht mitgeteilt, wohin die Reise gehen würde, doch offensichtlich befanden sie sich im Ärmelkanal, und die sich entfernenden Lichter markierten die Küste der Insel Guernsey. Dort hatten sie kurz angelegt, und einige der Seeleute waren mit einem kleinen Beiboot an Land gerudert, um eine Vielzahl von Köstlichkeiten an Bord zu holen, darunter Hummer, Langusten, Käse und weitere Zutaten, mit denen Georgianna noch nie gekocht hatte. Und jetzt freute sie sich darauf, die exquisiten Speisen zuzubereiten.

Rasch ließ sie ihre Helfer alles einräumen und änderte das für den Abend geplante Menü, sodass die am schnellsten verderblichen Zutaten zuerst verbraucht wurden. Auch einige Kisten Wein wurden an Bord gebracht, doch den Champagner tauchte man in einer speziellen gepolsterten Vorrichtung in die kalten Fluten von La Manche oder, wie Georgianna es kannte, den Ärmelkanal. Da es auf der Jacht keinen Kühlraum gab, konnten weder Eiscreme noch Sorbets zubereitet werden.

„Aber Lord Ferguson“, hörte sie plötzlich von irgendwo unter ihr eine schrille Stimme. „Lassen Sie mich runter!“

Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und vorbeugte, bemerkte sie einen Herrn, der eine Dame hochgehoben hatte und festhielt und … Du lieber Himmel, der Mann küsste sie ja leidenschaftlich auf den Mund! Doch ein solches Benehmen schien hier an der Tagesordnung zu sein, denn niemand regte sich darüber auf.

Georgianna stellte fest, dass fast sämtliche Damen sehr auffällig gekleidet waren. Einige hatten sich mit Perücken und zarten Gesichtsmasken verkleidet, während andere ihre Identität in diesem prachtvollen und luxuriösen Ambiente nicht verbargen. Doch allesamt wirkten sie elegant und überaus anmutig. Trotz der Kühle und der frischen Brise lachten die Damen und Herren und drehten sich im Tanz, als befänden sie sich in einem Londoner Ballsaal.

Über den Köpfen waren Schnüre mit Lampions gespannt, und ein Streichquartett spielte immer wieder einen Walzer, der den Gästen die Gelegenheit gab, besonders eng zu tanzen. Niemanden schien das leichte Schwanken des Schiffs zu stören, das sich seinen Weg durch die erstaunlich ruhige See bahnte. Der Anblick der Paare, die eng umschlungen tanzten und sich dabei zuweilen sogar küssten, stieß Georgianna nicht ab, sondern weckte in ihr ein Gefühl des Verlangens, das von ihrem Bauch ausgehend durch ihre Adern strömte.

Wenn ich mich einmal für einen Weg entschieden habe, darf ich mich nicht nach einem anderen sehnen …

Sie löste den Blick von den tanzenden Paaren und sah den Dienern zu, die sich mit Silbertabletts voller Köstlichkeiten geschickt durch die Menge schlängelten. Aufmerksam beobachtete Georgianna, wie die Gäste ihre Törtchen, Hummerklößchen, Krabbencanapés und Gewürzkuchen mit Rum verspeisten. Inmitten der verführerischen Augenaufschläge und der leisen Seufzer wurde das Essen zu einer weiteren Sinnesfreude.

Georgianna musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht vor Freude zu jauchzen. Beim Anblick der angenehm überraschten Gäste wäre sie auch am liebsten herumgetanzt, und als sie hörte, dass einige von ihnen „Mein Kompliment an den Küchenchef“ flüsterten, ging ihr das Herz auf.

Sie musste einen Weg finden, um diesen Erfolg zu ihrem Vorteil zu nutzen. Plötzlich spürte sie ein Kribbeln auf der Haut, als starre sie jemand an. Was natürlich Unsinn war, denn schließlich konnte man Blicke nicht fühlen. Doch als sie sich umschaute, bemerkte sie einen Herrn, der, den Wind im Rücken, am Bugspriet stand und tatsächlich sie ansah.

Ihr Herz machte einen Sprung, doch äußerlich ließ sich Georgianna nichts anmerken. Es bestand kein Zweifel daran, dass dieser groß gewachsene, breitschultrige Mann sie ausgesprochen dreist fixierte.

Im Schein der Laternen sah sie, dass sein von der leichten Brise zerzaustes Haar dunkelblond war und er klassisch schöne Züge besaß. Doch sein auffallendstes Merkmal waren die scharfen smaragdgrünen Augen. Vielleicht wäre es Georgianna gelungen, ihre Aufmerksamkeit von ihm zu lösen, hätte er nur nicht so geheimnisvoll gewirkt in seiner schwarzen, nur von einer silbernen Weste belebten Kleidung. Der Fremde zog genüsslich an seiner Zigarre und stieß den Rauch aus, während er sie mit leicht blasierter Lässigkeit betrachtete.

Was gibt es da zu glotzen?

Die dunklen, geschwungenen Augenbrauen verzogen sich fragend, dann umspielte ein leichtes, doch unverkennbar sinnliches Lächeln seine Lippen. Für einen Augenblick wurde ihr ganz schwach, und Georgianna zog sich weiter in den Schatten zurück, froh darüber, dass nur eine schmale Mondsichel am samtigen Nachthimmel stand. Doch der Unbekannte wandte seinen Blick noch immer nicht ab, sondern ließ ihn prüfend über ihr Gesicht und hinunter über ihre kurvige Figur wandern. Dabei hatte sie sich so viel Mühe gegeben, um die Aufmerksamkeit der Männer nicht auf sich zu ziehen. Doch selbst das schlichte, weit geschnittene Kleid konnte ihre schmale Taille und die keck vorstehenden Brüste nicht verbergen.

Unter seinem stetigen Blick verschränkte sie die Hände so fest, dass sie schmerzten.

Jetzt schau doch endlich weg, Georgianna!

Da erschien eine Dame in einem leuchtend roten Kleid mit tiefem Dekolleté und warf sich dem Herrn in die Arme, der daraufhin widerstrebend seinen Blick von Georgianna löste. Die atmete erleichtert auf, drehte sich wie befreit um und lief hinunter in die Bordküche, wo ihr Platz war.

Kurz darauf kam ein junger Diener die Treppe heruntergetrampelt und sagte ungehalten: „Da gibt es eine Bestellung für ein Menü, das nicht auf der Karte steht. Sie kommt von Mylords Lady persönlich, und es wird gewünscht, dass das Essen umgehend in seine Kabine gebracht wird.“

Er klang ein wenig verärgert, denn die Geliebte des Earls galt beim Personal als äußerst schwer zufriedenzustellen. Georgianna warf einen Blick auf die Bestellung und seufzte erleichtert, weil es sich um gehobene, aber leicht zuzubereitende Speisen handelte. Räucherlachs und gefüllte Gurken waren ebenso unkompliziert wie die karamellisierten Pilztörtchen, und auch wenn die Krabben–Tartines ein wenig länger brauchten, ließ sich alles recht schnell zubereiten. „Das schaffe ich in einer Stunde. Reichen Sie weiter die Erdbeertörtchen, den Gewürzkuchen und die Krabben–Canapés herum.“

Die netten, tüchtigen Küchenhilfen machten sich an die Arbeit, während Georgianna sich ihre Schürze umband, die Kochmütze aufsetzte und sich mit den Häppchen für die Geliebte des Earls befasste. Dabei versuchte sie, nicht mehr an den herausfordernden Blick des unbekannten Herrn zu denken.

***

„Ach, Stannis, das war so herrlich! Du hättest mir kein schöneres Geburtstagsgeschenk machen können. Von diesem Fest auf deiner Jacht werden die Leute bestimmt noch monate-, wenn nicht jahrelang reden!“, quietschte Lady Johanna Wimpole, während sie zu Daniel hinüberlief und ihren zierlichen Körper auf seinem Schoß platzierte.

„Selbst der Duke of Beswick hat mir ein Kompliment zu meinem neuen Schmuck gemacht. Dabei würde dieser gut aussehende Halunke niemals etwas so Schönes spendieren“, fuhr Johanna fort, ohne Daniels Miene aus den Augen zu lassen. Doch falls sie gehofft hatte, seine Eifersucht zu erregen, tat er ihr den Gefallen nicht, worauf sie ein niedliches Schmollmündchen zog und dabei das neue Diamantcollier an ihrem Hals befingerte.

„Dein Geschmack ist wie immer tadellos, mein Schatz. Da ist es kein Wunder, dass der Duke mich bewundert hat … und das Collier. Seine Durchlaucht hat sogar zweimal mit mir getanzt.“

„Er konnte gar nicht anders, weil du so schön bist“, murmelte Daniel und drückte seine Lippen auf die zarte Haut an ihrer Kehle, wo der Puls schlug.

Pflichtgemäß neigte sie den schlanken Hals, seufzte zufrieden und schmiegte sich noch ein wenig enger an ihn.

„Ich kann nicht bleiben“, flüsterte er liebevoll. „Ich habe noch etwas zu erledigen.“

Sie gab ihm einen spielerischen Klaps auf die Schulter. „Ach, Daniel, nicht doch! Wo ich mir einen so aufregenden Höhepunkt des Festes für uns ausgedacht habe.“

Er schob sie sanft von seinen Knien. „Ich muss mit Beswick und Moncrieff über einige gute Investitionsmöglichkeiten reden.“

Er wusste, seine Freunde warteten auf ihn, und obwohl er in einige halbseidene Unternehmungen verstrickt war und sein Geld mit vollen Händen auszugeben pflegte, ließ sich Daniel niemals durch Vergnügungen von seinen Geschäften ablenken. Doch das wussten nur diejenigen, die ihn gut kannten. Auch Johanna hätte es wissen müssen; schließlich war sie seit fast einem Jahr seine Geliebte.

„Das kann doch bestimmt warten“, sagte sie, warf ihre blonde Mähne in den Nacken und blickte ihn unter ihren langen, dichten Wimpern hervor an. „Der Duke war sehr beschäftigt, als ich herunterkam, und der Marquess erwähnte, dass ihr euch erst morgen früh treffen wollt.“

„Ich muss noch ein paar Börsenberichte lesen“, entgegnete er, erheitert über ihr Schmollen.

„Es ist erst kurz nach Mitternacht, und die Gäste tanzen noch unter dem Sternenhimmel. Ich wollte bei jedem Tanz in deinen Armen liegen, aber da hast du mich auch schon enttäuscht.“

„Hab Mitleid mit meinen Füßen“, raunte er ihr zu. „Du weißt doch, ich wollte nur einmal tanzen.“

Johanna fuhr mit ihrem makellos manikürten Finger über seine Wange. „Dann verpasst du aber die Überraschung, die ich mir für dich ausgedacht habe. Sie ist ganz besonders verrucht.“

„Ach ja?“, erwiderte Daniel, dem ihr sinnlicher Ton und das Glitzern in ihren hellblauen Augen nicht entgangen war.

Den Mund nahe an seinem Ohr flüsterte sie: „Lady Bonnie und Lady Delilah werden auch bald zu uns stoßen.“

Sein Schwanz, der erst vor wenigen Stunden durch ihre entzückenden Lippen völlig erschöpft worden war, regte sich erneut. „Ich bin ganz Ohr, meine Süße.“

Seine Geliebte stieß ein helles, perlendes Lachen aus. „Bekomme ich die ganze Nacht?“

„Höchstens eine Stunde.“

Seufzend ließ sie sich von seinem Schoß gleiten. „Ich kenne doch deinen Appetit, mein Liebster. Da brauche ich mindestens zwei Stunden.“

Daniel lächelte, ließ sich jedoch auf kein Versprechen ein. Sein träger, lüsterner Blick folgte ihr, als sie mit betont sinnlichem Schwung ihrer wohlgeformten Hüften zur Tür tänzelte. Dort sagte sie über die Schulter gewandt: „Ich habe der Köchin bestellen lassen, sie soll uns ein paar von den Häppchen schicken, die du so magst. Und dazu eine Karaffe mit Whisky. Du musst unbedingt diesen Gewürzkuchen probieren. Unsere Gäste sind ganz hin und weg davon. Ich habe mir sagen lassen, das Geheimnis sei der Rum darin. Und jetzt gehe ich meine Damen holen. Erwarte uns im Bett … am besten nackt.“

Als er eine Augenbraue hochzog, schenkte sie ihm ein breites Lächeln, bevor sie mit einem besonders sinnlichen Hüftschwung aus dem Zimmer stolzierte. Lächelnd dachte er an ihr kapriziöses Naturell, ihre spitze Zunge und ihren wachen Geist, den sie häufig gegen diejenigen einsetzte, die ihr missfielen. Dann erhob er sich und begann, seine Kleider abzulegen, voller Vorfreude auf die erotischen Freuden, die ihn erwarteten. Er fragte sich, wer von den Gästen wohl Lady Delilah und Lady Bonnie sein mochten. Vielleicht waren es Künstlernamen, oder es handelte sich um hochgestellte Damen, die sich im Schutz ihrer Maske ein paar Tage lang ihren ausschweifenden Vergnügungen hingaben.

Nachlässig ließ er die Kleidungsstücke zu Boden fallen und ging ins Badezimmer, das er mit einer praktischen Dusche hatte ausstatten lassen. Er drehte den Hahn auf und trat unter den eiskalten Wasserstrahl. Aus einer Kabine in der Nähe drangen Musik und Gelächter durch die hölzernen Wände, gefolgt von einem spitzen Lustschrei und gedämpftem Stöhnen. Daniel musste lächeln, als er sich vorstellte, was diese Laute zu bedeuten hatten und was die Klatschblätter in einigen Tagen über ihn schreiben würden. Schließlich war er eines der bevorzugten Opfer ihrer Skandalgeschichten.

Er spülte sich die Seife ab, schloss die Augen und blieb so lange unter der kalten Dusche stehen, bis sein Körper ganz taub wurde und aller Schweiß und der Geruch nach zahllosen Parfums von seiner Haut gewaschen war. Dabei dachte er über die Pflichten nach, die ihn bei seiner Rückkehr in die Stadt erwarteten. In wenigen Wochen war der Geburtstag seiner Großmutter – oder Nana, wie er sie liebevoll nannte. Er liebte sie innig, und auch wenn er ihren größten Wunsch – den nach Enkelkindern – nicht erfüllen konnte, so wollte er doch wenigstens eine Geburtstagsfeier ausrichten, die ihr gefallen würde, inklusive der erlesensten Speisen und einer privaten Opernaufführung vor handverlesenen Gästen. Vielleicht würde er sogar mit der Dame tanzen, die sie als genau die richtige Ehefrau für ihn ausgesucht hatte.

Er schnalzte unwillig mit der Zunge, als er an die ständige Drängelei von Nana und seiner Mutter dachte, die wollten, dass er sich bald eine Braut suchte. Er konnte gar nicht verstehen, warum sie so versessen darauf waren; schließlich war er erst achtundzwanzig. Aber er würde sich nicht zu einer Ehe drängen lassen, sondern sein Junggesellendasein unbeschwert genießen, bis er vierzig war.

Und kein verdammtes Jahr früher.

Plötzlich drang ein leises Geräusch durch das allgemeine Stimmengewirr. Er trat aus dem Badezimmer, nahm ein dickes weißes Handtuch vom Haken und trocknete sich damit ab. Dann schlang er ein zweites Tuch um seine Taille und tappte auf bloßen Füßen in sein Zimmer, eigenartig lustlos bei dem Gedanken an die Damen, die seine Geliebte für ihre gemeinsamen Liebesspielchen ausgewählt hatte.

Vermutlich, so dachte Daniel, hatte Johanna in letzter Zeit einen gewissen Überdruss bei ihm gespürt und versuchte nun, durch erotische Fantasien die Missstimmung zu beheben. Stirnrunzelnd dachte er, dass das seltsame Gefühl, das ihn ergriffen hatte, tiefer ging als bloße Langeweile … Es schien, als breite sich in seinem Inneren eine Leere aus, die ihm völlig neu war und darauf wartete, dass er sie mit etwas füllte … irgendetwas. Als er sich früher am Abend inmitten des bunten Festgetriebes an Deck aufgehalten hatte, war ihm einsam zumute gewesen. All der glitzernde Luxus hatte ihn kalt gelassen, und die Lichter und Farben waren zu dunklen Schatten verblasst. Seit wann das so war, wusste er nicht genau, aber leicht belustigt dachte Daniel, dass er möglicherweise an Ennui litt.

Vielleicht hatte Johanna ja recht, und eine Nacht voller Sinnlichkeit und ausschweifendem Sex war genau das, was er brauchte. Als Daniel ins Zimmer trat, stutzte er beim Anblick einer Dame, die ein Tablett balancierte. Darauf befanden sich Häppchen, gebratene Ente mit Preiselbeersauce und der Rum–Gewürzkuchen, von dem seine Gäste anscheinend so begeistert waren. Sie stellte das Tablett auf den Rosenholztisch an dem kleinen Öfchen, das seine Kabine heizte, und betrachtete dann die prachtvolle Ausstattung des Raums.

Das ist sie.

Die Dame, die vor einer Weile die Gäste an Deck mit sehnsuchtsvollem Blick beobachtet hatte. Es war schon eigenartig, wie sehr sie seine Aufmerksamkeit fesselte. Eine weiche Haarsträhne klebte an ihrer schweißbedeckten Stirn, die Wangen waren vor Anstrengung gerötet. Ihr hochgeschlossenes dunkelblaues Kleid war nicht der letzte Schrei, aber sie bewegte sich voller Anmut wie eine echte Dame. Er konnte sich kaum an ihrer üppigen Figur sattsehen, und bei näherem Hinsehen bemerkte er, dass ihr Teint makellos war. Ihr zu einem schlichten Chignon frisiertes Haar war kastanienrot mit von der Sonne ausgeblichenen helleren Strähnen. Sie trug keine Maske, und ihr Anblick traf ihn mitten ins Herz. Ihr Gesicht war vielleicht nicht von klassischer Schönheit, doch es strahlte eine unglaubliche Charakterstärke aus.

„Welche von beiden sind Sie … Delilah oder Bonnie?“

Sie fuhr herum und griff sich vor Schreck mit der Hand an die Kehle. „Sie!“

Sie hatte ihn wiedererkannt. Ihre Augen waren von einem exquisiten Goldbraun, fast wie der Whisky in der Kristallkaraffe, die sie in der Hand hielt.

„Sie sind ja nackt!“, keuchte sie und stellte die Karaffe auf den Tisch.

Die leicht katzenhaften Augen wurden ganz groß, und ihr Blick wanderte gemächlich über seine bloße Brust, um auf dem geknoteten Handtuch an seinem Bauch zu verharren. Bei diesem Blick, so voller Unschuld und Faszination zugleich, regte sich auf der Stelle sein Glied. Als sie es bemerkte, entfuhr ihr ein erstickter Schrei, was ein raues, erregtes Lachen in ihm auslöste. Hastig löste sie den Blick von seiner Taille, und ihre Lippen öffneten sich, doch sie schien kein Wort herauszubringen. Eine sanfte Röte überzog ihre Wangen, und ihre Augen glitzerten in plötzlicher Erkenntnis.

Aha, dir gefällt also auch, was du siehst.

Daniel fand es erregend, welche Wirkung sein Körper auf sie ausübte. Mit langsamen Schritten ging er auf sie zu und amüsierte sich darüber, dass sie zurückwich, bis sie mit dem Rücken an die Kabinenwand stieß. Sie errötete noch tiefer, als sie ihm entgegenblickte.

„Lässt du dich gerne jagen?“, murmelte er, neugierig darauf, welche Sexspielchen sie bevorzugte.

Er hoffte so sehr, sie wäre der verdorbene, hemmungslose Typ. Ein wonniger, üppiger Körper wie der ihre war für Liebesfreuden wie geschaffen, und beim Anblick ihres sinnlichen Mundes drängten sich ihm erregende Fantasien auf, in denen sich ihre Lippen um seinen Schwanz schlossen.

„Jagen?“, krächzte sie und leckte sich über besagte Lippen.

Es war keine besonders verführerische Geste, und dennoch pochte sein Schwanz vor Erregung wie nie zuvor. Doch Daniel kämpfte dagegen an, bis sein hämmernder Herzschlag sich wieder normalisiert hatte.

Wer bist du?

Daniel umfasste mit einer Hand ihren Hinterkopf, während er mit dem Daumen der anderen sacht über ihre Kehle strich, wo der Puls nur so raste. Dann hob er leicht ihr Kinn an, sodass er ihr in die Augen sehen konnte. „Ja“, sagte er, „wie hast du’s gerne im Bett? Soll ich dich jagen, fangen, mir über die Schulter legen, aufs Bett werfen und durchvögeln? Oder magst du es lieber zärtlich und genüsslich … wie ein langsames Katz-und-Maus-Spiel? Heute Nacht will ich dir all deine Wünsche erfüllen. Du brauchst mir nur zu sagen, was du möchtest.“