Leseprobe Ein verwegener Viscount

Kapitel 1

Ich werde sterben, schoss es Barnaby ungläubig durch den Kopf. Er würde in dieser Nacht mitten in einem Unwetter, das über dem Ärmelkanal tobte, sterben, und niemand würde je erfahren, was dem jüngsten Inhaber des Titels ‚Viscount Joslyn‘ zugestoßen war. Er würde einfach spurlos verschwunden sein.

Ein grellsilberner Blitz zuckte über den schwarzen Nachthimmel. Im heftigen Regen blickte Barnaby sich verzweifelt um, versuchte sich zu orientieren, suchte nach etwas, das er benutzen konnte, um sich zu retten. Aber alles, was er sehen konnte, war die wogende See. Es gab kein Land oder Rettungszeichen zu entdecken. Ich werde sterben, dachte er wieder, als die plötzliche Helle wieder verschwand und er allein in der undurchdringlichen Dunkelheit zurückblieb. Er kämpfte darum, sich in dem aufgewühlten Meer über Wasser zu halten, und gestand sich ein, dass die Nachricht von seinem Tod in London durchaus nicht nur mit Trauer aufgenommen werden würde. Und ganz an der Spitze dieser Liste mit Menschen, die ihm keine Träne nachweinen würden, stand sein Cousin Mathew Joslyn, den er erst vor Kurzem kennengelernt hatte.

Mathew war wütend gewesen, dass der Titel, von dem er viele Jahre geglaubt hatte, er werde einmal ihm zufallen, nun plötzlich einem Amerikaner gehören sollte, zusammen mit dem Vermögen und den Ländereien der Joslyns.

„Ein verdammter Kolonist, ein Halbblut … und der soll der neue Viscount Joslyn sein? Das ist eine Beleidigung!“, hatte ihm Mathew bei ihrer ersten Begegnung vor drei Monaten an einem Oktobervormittag in den Londoner Räumen des Notars entgegengeschleudert.

Barnaby machte Mathew keinen Vorwurf daraus, dass er sich ärgerte. An Mathews Stelle hätte er ganz ähnlich empfunden, aber er war nicht bereit, die Beleidigung durchgehen zu lassen.

„Sie irren“, hatte Barnaby gedehnt erwidert.

„Es war meine Großmutter, die zur Hälfte Cherokee war.“ Er lächelte und zeigte dabei seine ausgezeichneten Zähne.

„Aber ich warne Sie – es wäre klug, diese Bezeichnung nicht noch einmal in meiner Hörweite zu äußern. Was den Umstand angeht, dass ich Kolonist bin …“, seine schwarzen Augen blickten spöttisch, während er weitersprach, „ich denke, Sie vergessen, dass Amerika die Unabhängigkeit von Britannien vor mehr als einem Jahrzehnt errungen hat. Ich bin daher Bürger der Vereinigten Staaten.“

„Nun gut“, hatte Mathew ihm knapp entgegnet, wobei in seine Wangen eine leichte Röte gestiegen war, „aber es ist schlicht nicht hinnehmbar, dass jemand wie Sie sich einbildet, er könne so mir nichts dir nichts hier aufkreuzen und die Verwaltung der Ländereien meines Großonkels übernehmen. Gütiger Himmel, Mann, Sie wissen nicht das Geringste darüber, wie man einen Besitz wie Windmere führt. Sie sind kaum mehr als ein hinterwäldlerischer Emporkömmling!“

Barnaby gelang es, sich zu beherrschen, indem er sich sagte, dass es nicht hilfreich wäre, wenn seine erste Tat als Viscount Joslyn darin bestünde, seinen Cousin zu erwürgen. So atmete er tief durch, ließ die Bemerkung durchgehen und antwortete höflich: „Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass ich keineswegs ungebildet bin und seit mehreren Jahren meine eigene Plantage in Virginia führe. Ich räume ein, Green Hill ist nicht so weitläufig wie Windmere – es wird Unterschiede geben, aber ich bin imstande, Windmere zu leiten.“

Mathews Lippen wurden schmal.

„Vielleicht, aber Sie sind ein Narr, wenn Sie sich einbilden, dass jemand mit einer Großmutter, die eine halbe Wil… äh, zum Teil indianisches Blut in den Adern hat, von der guten Gesellschaft ohne Weiteres und mit offenen Armen als Viscount Joslyn aufgenommen wird.“

„Unter Berücksichtigung der Lage in Frankreich sollten Sie sich vermutlich mehr Sorgen wegen der Tatsache machen, dass der Vater meiner Großmutter ein Franzose war“, entgegnete Barnaby. Die entsetzten Mienen der Anwesenden bei dieser neuerlichen Ungeheuerlichkeit sorgten dafür, dass Barnaby sich auf die Innenseiten der Wangen beißen musste, um nicht zu grinsen. Sein Blick glitt durch den hübschen Raum, und da seine Gegner für den Moment zum Schweigen gebracht waren, erhob er sich zu seiner beeindruckenden Größe und ging zur Tür. Seine Hand ruhte bereits auf der Türklinke, als er sich noch einmal zu Mathew umdrehte und leise sagte: „Emporkömmling mag ich sein, aber ich habe nie im Hinterland gelebt, und Sie, Sir, können zur Hölle gehen – und meinetwegen können Sie den verdammten Titel mitnehmen.“

Es war angenehm gewesen, das zu sagen, aber als er jetzt den Kopf bei der nächsten Welle mühsam über Wasser hielt und die Kälte tiefer in seine Knochen drang, versuchte sich Barnaby daran zu erinnern, welche Ereignisse zu der Notlage geführt hatten, in der er sich derzeit befand. Aber sein Verstand fühlte sich irgendwie benommen an, und es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu steuern. Wie eine Schlange, die sich um ihr Opfer wickelt, entzog ihm das eisige Wasser nach und nach alles Leben, und mit jeder Sekunde wurde sein Überlebenswille schwächer.

Es wäre so leicht, so einfach, dachte er, dem Unwetter seinen Willen zu lassen, so leicht, einfach aufzuhören, sich zu wehren und zuzulassen, dass er in die Tiefe gezogen wurde … Eine Welle schlug ihm ins Gesicht, schreckte ihn auf und zerstörte die verführerische Melodie des Todes, die in seinem Kopf erklang.

Mit einem Fluch nahm er seinen Kampf wieder auf, in der Dunkelheit über Wasser zu bleiben – und wenn auch nur ein paar Augenblicke länger. Er kümmerte sich nicht um den brennenden Schmerz an seinem Hinterkopf; er konnte sich vage daran erinnern, dass er sein Messer, das er an seinem Bein verborgen trug, aus der Scheide gezogen hatte. Mithilfe der scharfen Klinge hatte er sich von seinen Stiefeln und seinem schweren Mantel zusammen mit seinem Rock befreit, kurz nachdem er ins Wasser gestürzt war, weil er wusste, die Kleidungsstücke würden sich voll Wasser saugen. Ihr zusätzliches Gewicht würde ihm das Schwimmen unnötig erschweren. Er hatte das Messer noch eine Weile in der Hand behalten, bis er erkannte, dass es ihn behinderte; schweren Herzens hatte er es den Wellen überlassen. Diese Erinnerungen halfen ihm wenig, denn er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er hier im Ärmelkanal gelandet war. Aber seltsam genug, er wusste, er war im Ärmelkanal. Aber wo genau oder wie er hierher gelangt war, konnte er nicht sagen. Sein Verstand war wie leer gefegt – wegen der tödlichen Kälte genauso wie wegen der Wunde an seinem Hinterkopf.

Er runzelte die Stirn. Woher zum Teufel wusste er, dass er eine Wunde hatte? Und wieso konnte er sagen, dass sie blutete? Wieder hatte er keine Antworten, und als sein Kopf unter einer neuen Welle unter Wasser geriet, war der Drang, die Sache zu beenden, die Kälte und den Ärmelkanal gewinnen zu lassen, nahezu unwiderstehlich.

Aber wie seine Freunde oft genug feststellten, er konnte störrisch wie ein Esel sein. Und mit einem kräftigen Schlag seiner langen Beine kam er wieder über Wasser. Er würde es nichts und niemandem leicht machen, ihn umzubringen, das schwor er sich mit einem wilden Grinsen. Ein weiterer Blitz erhellte den schwarzen Himmel, und in dem Augenblick erspähte Barnaby etwas, das sein Herz höher schlagen ließ: Mehrere zusammenhängende Bootsplanken trieben nur etwa zwei Meter von ihm entfernt im Wasser. Er erkannte, dass es Teile vom Boden der Jacht sein mussten, die er zusammen mit allem, was dem verstorbenen siebten Viscount Joslyn gehört hatte, geerbt hatte. Er kämpfte sich bis zu diesem Hoffnungsschimmer, den die Planken darstellten, und bemühte sich um die Erinnerung, wo die Jacht vor Anker gelegen hatte; schließlich hatte er Erfolg: in der Nähe von Eastbourne an der Küste von Sussex. Aber was um alles in der Welt hatte er dort getan?

Er hatte keine Zeit, weiter nachzudenken – seine ganze Konzentration galt dem Überleben – und auch wenn es ihm schien, als brauchte er Stunden dazu, die Planken zu erreichen, streiften seine Finger schon nach wenigen Minuten das glitschige Holz. Er brauchte länger, sich aus dem Wasser zu ziehen, weil die aufgewühlten Wellen und die rutschige, sich wild bewegende Holzfläche seine Bemühungen ein ums andere Mal vereitelten, aber schließlich gelang es ihm doch, sich auf das behelfsmäßige Floß zu hieven.

Um Atem ringend rollte er sich auf den Rücken; der Regen prasselte ihm ins Gesicht, während er in den schwarzen Himmel starrte. Er fror erbärmlich, seine Zähne klapperten, und sein Körper zitterte vor Kälte. Er musste daran denken, dass er die eine Todesart vermutlich nur gegen eine andere eingetauscht hatte. Den Elementen schutzlos ausgeliefert zu sein, würde ihn so sicher umbringen wie die Schlinge des Henkers, aber er würde nicht durch Ertrinken sterben, sagte er sich grimmig. Und das war sein letzter Gedanke, ehe er das Bewusstsein verlor, war in gewisser Weise auch ein Sieg.

„Ist er tot?“, fragte Jeb Brown ohne viel Umstände über das Kreischen des Windes und die Regensalven hinweg, die gegen die Mauern und Fensterscheiben des besten Zimmers im Gasthaus ‚Zur Krone‘ prasselten. Es war ein hübscher Raum mit hohen Decken und unverputzten Balken, einem Boden aus schimmernden Eichendielen, auf dem hier und da fröhlich bunte Teppiche lagen, dominiert von dem riesigen Bett mit seinem üppigen grünen Seidenhimmel. Ein Feuer in dem gemauerten Kamin spendete orange-goldenes Licht; der weiche gelbe Schein der Kerzen, die Mrs Gilbert, die verwitwete Wirtin des Gasthofs, angezündet hatte, flackerte durch das Gästezimmer und vermittelte trotz des tobenden Sturmes einen Anflug von Behaglichkeit.

Mrs Gilbert, die ihr von vielen grauen Strähnen durchzogenes Haar halb unter einem Musselinhäubchen verborgen trug, schüttelte kurz den Kopf.

„Nein, er ist nicht tot. Halb ertrunken und fast erfroren, aber nicht tot.“

Jeb schaute zu der anderen Person im Raum, einem hochgewachsenen Burschen mit blondem Haar, der Hosen, Stiefel und einen Lederrock über einem weiten langärmeligen Hemd trug. Wenn man weiter als nur auf die Kleidung schaute, ließ sich leicht erkennen, dass die schlanke Gestalt und die fein gezeichneten Züge einer jungen Frau gehörten, die ihr silberblondes Haar mit einem schwarzen Band zu einem Zopf im Nacken zusammengebunden hatte.

„Ich sage Ihnen, Miss Emily, es war pures Glück, dass ich ihn überhaupt entdeckt habe“, sagte Jeb, und sein zerfurchtes Seemannsgesicht verriet seine Verwunderung.

„Bei dem Sturm und allem anderen ist es draußen stockdunkel, und wenn nicht dieser verfluchte Blitz in genau der Sekunde gewesen wäre, als ich in seine Richtung sah, hätte ich ihn nie bemerkt.“ Er schüttelte den Kopf.

„Gut für ihn, dass wir heute Nacht eine Fahrt hatten, sonst hätten wir seine Leiche irgendwann an den Strand gespült gefunden – wenn überhaupt.“

Emily Townsend nickte, kam näher und musterte den Mann, den Jeb aus dem Ärmelkanal gefischt hatte, eindringlich.

„Er hatte wirklich Riesenglück“, erklärte Emily, während ihr Blick über den Fremden wanderte, der während Mrs Gilberts Untersuchung ganz still und stumm dalag. Sein Haar war schwarz und seine Haut so dunkel, dass man ihn fast für dunkelhäutig hätte halten können – bis auf den besorgniserregenden Blauton seiner Lippen. Anhand dessen, was sie erkennen konnte, würde sie sagen, er war ein großer kräftiger Mann – der ihnen allen restlos unbekannt war.

Mrs Gilbert bemerkte halblaut: „Er hatte höllisches Glück, würde ich sagen.“ Sie schaute von ihrer Untersuchung auf und fügte knapp hinzu: „Und wird sich vermutlich gänzlich erholen, ohne einen Schaden davonzutragen.“ Als sie über ihre Schulter schaute, ruhte ihre Hand bereits auf den nun kalten, durchweichten Decken, in die Jeb den Fremden gewickelt hatte, nachdem er ihn an Bord seines Bootes gehievt und ihm die nassen Kleider ausgezogen hatte.

„Miss Emily, Sie müssen nun das Zimmer verlassen“, verlangte sie, „damit Jeb und ich ihm ein Nachthemd überziehen und ihn ins warme Bett stecken können.“

Als Emily zögerte, wurde Mrs Gilberts rundliches Gesicht weich, und sie erklärte: „Ich weiß, Sie haben ein Dutzend Fragen an Jeb, aber bitte gehen Sie jetzt und holen Sie die Flaschen mit dem heißen Wasser, die ich in der Küche liegen habe.“ Emilys Kinn reckte sich eindeutig störrisch, was alle nur zu gut zu deuten wussten, daher verkündete die Wirtin fest: „Es würde sich nicht ziemen, wenn Sie blieben. Bis Sie wieder zurück sind, haben wir ihn warm und behaglich unter der Decke. Und jetzt gehen Sie.“

Emily schnaubte über Mrs Gilberts Entschlossenheit, sie wie eine wohlerzogene junge Dame aus bester Familie und frisch aus dem Schulzimmer zu behandeln. Es stimmte zwar, sie stammte aus einer guten Familie – ihr Vater war bis zu seinem Tod vor sieben Jahren ein wohlhabender Gutsbesitzer gewesen – aber sie war vor Monaten bereits sechsundzwanzig geworden und daher kein Kind mehr. Und, erinnerte sie sich selbst, wenn ich nicht wäre, hätte Jeb heute Nacht keine Schmuggelfahrt von Frankreich hierher unternommen und der Fremde wäre nicht entdeckt und gerettet worden. Sie hatte jedes Recht, hierzubleiben, aber aufgrund früherer Erfahrung wusste sie, es war witzlos, Mrs Gilbert zu widersprechen. Daher verließ sie nur leicht zögernd den Raum. Sie neigte grundsätzlich nicht dazu, lange zu grübeln, sodass sie schon wieder lächelte, als sie die Küche des Gasthofes betrat. Niemand, überlegte sie reuig, als sie die Flaschen mit dem heißen Wasser nahm und den erhitzten Stein, den Flora, die mittlere Gilbert-Tochter, ihr hinhielt, egal welchen Alters oder welchen Ranges, widersprach Mrs Gilbert. Selbst von ihrem eigenen Cousin, dem liederlichen neuen Squire Townsend, wusste man, dass er wie ein Schuljunge das Weite suchte, um einer Standpauke von Mrs Gilbert zu entgehen.

Zu dem Zeitpunkt, als sie wieder ins Gästezimmer kam, war der Fremde züchtig bekleidet – in einem alten Nachthemd, das früher Mrs Gilberts verstorbenem Gatten gehört hatte, lag er unter den Decken. Der heiße Stein wurde zu seinen Füßen unter die Bettdecke geschoben und die Wasserflaschen links und rechts neben ihn. Mrs Gilbert scheuchte Jeb aus dem Raum und sagte mit einem letzten Blick durchs Zimmer zu Emily: „Ich werde Mary nach oben schicken mit warmem Wasser und einem Tuch – dann können Sie die klaffende Wunde an seinem Kopf säubern.“ Mit einem bedeutungsvollen Blick fügte sie hinzu: „Wir haben schon genug Zeit verschwendet – die anderen müssen sich auf den Weg machen.“

Emily öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber Mrs Gilbert hob mahnend einen Finger.

„Ich weiß“, sagte sie, „Sie denken, Sie sollten diejenige sein, die dort unten ist und sich um sie kümmert, aber seien Sie bitte einmal die junge Dame, als die Sie erzogen wurden, und bleiben Sie hier oben außer Sicht. Bitte.“

Emily zögerte.

„Halten Sie die Augen offen nach irgendetwas, das in irgendeiner Weise ungewöhnlich ist“, bat sie schließlich.

„Mein Cousin benimmt sich in letzter Zeit seltsam, und ich denke, er spioniert mir nach.“ Sie holte tief Luft und gestand: „Jede Nacht seit ungefähr einer Woche hat jemand – und ich vermute, es ist mein Cousin – die Klinke an meiner Tür ausprobiert.“ Mrs Gilbert schnappte unwillkürlich nach Luft, und Emily beeilte sich hinzuzufügen: „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich halte die Tür geschlossen und habe stets von innen eine Kommode davorgeschoben – wie Anne es auch tut –, sodass, wer auch immer es ist, unverrichteter Dinge wieder geht. Aber es wäre nicht gut, wenn mein Cousin mein Bett leer fände.“ Sie schluckte.

„Wenn er dahinterkäme, was wir hier treiben …“

Mrs Gilbert wirkte entschieden grimmig.

„Glauben Sie, er hat Sie heute Abend beim Verlassen des Hauses beobachtet und ist Ihnen gefolgt?“

„Nein, eigentlich nicht, aber seit ich heute aus meinem Zimmer geschlüpft bin, habe ich das unangenehme Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung ist.“ Sie schaute zu dem Fremden. „Erst er, und dann …“ Ein Schauer durchlief sie. „Ich fühle mich wie eine dumme Gans, aber ich kann nicht aufhören, die ganze Nacht über meine Schulter zu schauen. Ich habe das Gefühl, als ob jemand mich … uns beobachtet.“

Müde fügte sie hinzu: „Wenn die Tür zu meinem Schlafzimmer mit Gewalt geöffnet werden und Jeffery entdecken würde, dass das Zimmer leer ist, wäre dies der erste Ort, an dem er nach mir suchen würde.“

Mrs Gilberts Lippen wurden schmal.

„Nun, er wird Sie aber nicht hier finden. Wir haben Sie schneller, als eine Katze sich das Ohr lecken kann, wieder auf dem Weg zurück zum Gutshaus.“ Sie tätschelte Emily noch liebevoll die Schulter, dann sagte sie: „Sie machen sich zu viele Sorgen, meine Liebe – das haben Sie immer schon. Das Auftauchen des Fremden hat uns alle erschüttert, aber ich bin sicher, das ist auch schon alles.“ Sie sah sich ein letztes Mal im Raum um, bevor sie erklärte: „Jetzt muss ich aber gehen und nachschauen, ob Jeb und die anderen alles aufgeladen haben und zum Aufbruch bereit sind. Ich schicke Ihnen Mary mit dem Lappen und dem warmen Wasser. Sie kann Ihnen Gesellschaft leisten, während ich weg bin.“

Mrs Gilbert eilte geschäftig aus dem Zimmer, und kurz darauf kam Mary mit den Tüchern und der Schüssel Wasser. Mit siebzehn war Mary die jüngste der fünf Gilbert-Töchter, und ihre blauen Augen waren angesichts der ganzen Aufregung weit aufgerissen, als sie zum Bett trat und den Fremden betrachtete.

„Himmel!“, rief sie, „ist er tot?“, fragte sie und wiederholte damit unbewusst Jebs Frage von zuvor.

Emily lächelte leise und sagte: „Nein. Er sieht nur so aus, aber deine Mutter behauptet, er werde sich erholen.“ Ihr Lächeln wurde ein Grinsen.

„Und wir wissen schließlich alle, dass deine Mutter sich nie irrt.“

Mary grinste zurück.

„Darauf können Sie Ihre letzte Guinee verwetten.“

Emily nahm das saubere weiße Tuch, tunkte es in die Wasserschüssel und begann behutsam die hässliche Wunde zu säubern, zuckte zusammen, als der Mann unter ihrer Behandlung stöhnte. Nur gut, dass er bewusstlos ist, dachte sie, als sie das Tuch wieder eintunkte und erneut zu reiben begann.

Mary erschauerte, als ein heftiger Windstoß die Wände des Gasthofes erschüttern ließ.

„Ma sagt, es sei ein Wunder, dass er noch lebt. Nicht viele Männer überleben ein unfreiwilliges Bad im Ärmelkanal in einer Nacht wie heute.“

Emily konzentrierte sich auf ihre Aufgabe und nickte, dann antwortete sie: „Ich frage mich nur, was er dort draußen zu suchen hatte. Und wer er ist.“

Mary wurde ganz blass, als ihr ein Gedanke kam.

„Oh, Miss! Glauben Sie, er ist ein Zollfahnder?“

Nachdem sie die Wunde so gut wie möglich gereinigt hatte, ließ Emily den nun blutbefleckten Lappen in die Schüssel fallen und musterte die Züge des Mannes, bemerkte die breite Stirn, die hohen Wangenknochen und den großzügig geschnittenen Mund. Sie hatte nichts, an dem sie ihre Einschätzung festmachen konnte, aber sie war sich ziemlich sicher, dass das Fahnden nach Schmugglern die letzte Beschäftigung wäre, die sie diesem Mann zugetraut hätte. Da war etwas in seinem Gesicht …

Emily schüttelte den Kopf.

„Nein, das denke ich nicht.“ Sie hob die Decken an und schaute auf seine Hand, betrachtete die langen eleganten Finger und die sauberen, sorgfältig manikürten Fingernägel. Sie runzelte die Stirn und sah zu Mary.

„Hat Jeb die Kleider mit hergebracht, die er getragen hat? Oder hat er sie auf dem Boot gelassen?“

Marys hübsches Gesicht wurde lebhaft.

„Sie sind unten am Feuer in dem kleinen Privatsalon auf der Rückseite. Denken Sie, sie können uns verraten, wer er ist?“

Emily bedachte den Fremden mit einem letzten Blick. Er schien ruhiger zu liegen, und der blaue Schimmer seiner Lippen verschwand allmählich. Es gab nichts mehr, was sie jetzt noch für ihn tun konnte. Sie stand auf und sagte: „Ich denke, wir wissen mehr über ihn als jetzt, wenn wir einen Blick auf die Kleidung geworfen haben, die er getragen hat, als Jeb ihn aus dem Wasser gezogen hat.“

Und das stimmte – die Kleidung verriet Emily einiges. Obwohl sie unter dem Salzwasser gelitten hatte, war mühelos zu erkennen, dass das weiße Leinenhemd mit den Rüschen teuer gewesen sein musste und ausgezeichnet gearbeitet war. Die in Altweiß und Hellbraun gemusterte Seidenweste konnte sich nur ein wohlhabender Mann leisten, ebenso wie die ruinierte Taschenuhr an der Goldkette und den kostbaren Uhranhänger. Das Halstuch mit den Wasserflecken war ebenso wie das Hemd von bester Qualität, und die eleganten Hosen gehörten auch eher einem Mann von Stand und Ansehen. Als er ins Wasser gefallen war, nahm sie an, hatte er sich klugerweise Rock und Stiefel ausgezogen, um sich des zusätzlichen Gewichts zu entledigen.

Sie betrachtete die Kleidungsstücke, die über ein paar Stühle vor dem Feuer ausgebreitet lagen, und überlegte, was sie nun wusste. Der Fremde war offenbar ein reicher Mann. Jedenfalls kein Zollfahnder, so viel stand fest.

Emily ließ seine Kleidung zurück und schickte Mary in die Küche, dann ging sie wieder nach oben. Sie nahm neben dem Mann auf einem Stuhl Platz und starrte ihn an, als könnte sie ihn mit purer Willenskraft aufwecken und ihn dazu bringen, ihr zu verraten, wer er war und wie er in den Ärmelkanal geraten war.

Da sie die Tochter des früheren Squires war und ihr ganzes Leben in der Nähe des kleinen Ortes im Cuckmere-Tal verbracht hatte, kannte sie die Bewohner der Gegend genau. Sie verzog die Lippen. Und seit ihr Cousin ihrem Vater nachgefolgt war, hatte sie unseligerweise auch die Bekanntschaft einer Reihe unverschämter junger Tunichtgute und mehrerer Witwen mit fragwürdiger Moral aus London gemacht, aus denen der Freundeskreis ihres Cousins vorzugsweise bestand.

Dieser Mann war ein völlig Fremder, aber er war nicht einfach nur Strandgut, das der Ärmelkanal angespült hatte. Er war wohlhabend, und seine Hände verrieten, dass er der Oberschicht entstammte, vielleicht sogar dem Adel angehörte.

Mit zusammengezogenen Brauen starrte sie ihn weiter an. Es hatte keinen Klatsch darüber gegeben, dass jemand, auf den seine Beschreibung passte, auf irgendeinem der benachbarten Herrenhäuser zu Besuch weilte … Also, wer war er? Und warum war er in einer Nacht mit einem Unwetter wie diesem schiffbrüchig im Ärmelkanal gefunden worden?

Wie um ihre Überlegungen zu unterstreichen, fuhr ein Windstoß schrill pfeifend den Kamin hinab, sodass sie vor Schreck zusammenzuckte. Von ihrer Reaktion belustigt und nachdem sie bemerkt hatte, dass das Feuer heruntergebrannt war, stand sie auf und ging zum Kamin. Mit dem Feuerhaken stocherte sie in der Glut, sodass Funken aufstoben. Von einem Stapel Feuerholz in der Nähe nahm sie ein paar Scheite und legte sie in den Kamin. Erst als das Feuer wieder fröhlich knisternd und hell brannte, war sie zufrieden und nahm auf dem hochlehnigen Polsterstuhl in der Nähe Platz.

Sie schaute zu dem Fremden und sah erfreut, dass seine Wangen leicht gerötet waren und seine Lippen wieder eine normale Farbe aufwiesen. Die Bläue war verschwunden, weil seine Körpertemperatur stieg. Mrs Gilbert hatte recht. Er würde sich erholen.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es dem Fremden gut ging, verdrängte sie ihn aus ihren Gedanken und dachte daran, was Mrs Gilbert und Jeb im Augenblick taten. Und sie fragte sich wieder, ob sie vor vier Jahren die richtige Entscheidung getroffen hatte…

Zu Beginn hatte sie sich dagegen gewehrt, und in den ersten Jahren nach dem Tod ihres Vaters war es ihr auch trotz des Einzugs ihres Cousins mit seinem hohen Geldverbrauch und der damit einhergehenden Belastung des Gutes gelungen, ihre Großtante Cornelia und ihre Stiefmutter Anne abzuschirmen und ihnen ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Nachdem ihr Cousin einen Großteil des ansehnlichen Vermögens, das ihr Vater zusammengetragen hatte, verschwendet hatte und sich darauf verlegt hatte, möglichst viel Geld aus dem Gut abzuziehen, um es an den Spieltischen und in den Bordellen Londons durchzubringen, war ihr keine andere Wahl geblieben.

Da die Küste von Sussex nur wenige Meilen entfernt war, war Emily mit den Geschichten über die Schmuggler der Gegend aufgewachsen, sodass es keine so ungeheuerliche Entscheidung gewesen war. Solange sie sich erinnern konnte, hatte sie sogar von der Köchin und dem Butler, Walker, immer wieder die legendären Erzählungen über die Tapferkeit der Schmuggler und ihre Findigkeit dabei zu hören bekommen, den hilflos überforderten Fahndern und den berittenen Offizieren einmal mehr ein Schnippchen zu schlagen. Wenn sie gerade in milder Stimmung war, hatte sogar ihre Großtante eine haarsträubende Geschichte über die Schmuggler beigesteuert, die ihr Geschäft an der Küste betrieben. Viele Leute in der Gegend waren zwar selbst keine Schmuggler, aber sie waren mit ihnen verwandt oder verbandelt.

Im Alter von zehn Jahren hatte Emily mehrere bekannte Schmuggler beim Namen nennen können und ebenso ein Dutzend oder mehr Dorfbewohner und Knechte, die halfen, das Schmuggelgut bis in die Randbezirke Londons zu transportieren. Ihr Vater hatte auch nichts dabei gefunden, kommentarlos das Päckchen mit Tee, das Fässchen mit französischem Brandy oder den Ballen feinster Seide anzunehmen, die regelmäßig in seinen Ställen auftauchten – meist am Morgen, nachdem mehrere seiner Pferde schlammbedeckt und erschöpft in ihren Stallboxen entdeckt worden waren.

Aus der Einsicht heraus, dass sie irgendetwas tun musste, um sie alle vor der Mittellosigkeit zu bewahren, so letztlich gänzlich auf die Gnade ihres Cousins angewiesen, war es ein leichter Schritt gewesen, sich dem Schmuggel zuzuwenden. Und, gestand sie sich mit zusammengebissenen Zähnen ein, es hatte noch einen Grund gegeben: Ihr kleines Schmuggelunternehmen hatte dafür gesorgt, dass mehrere Dorfbewohner ihr Hab und Gut behielten und nicht ins Armenhaus mussten. Es hatte sie davor bewahrt, obdachlose Bettler zu werden.

Der plötzliche Tod ihres Vaters – ein gebrochenes Genick, als sein Pferd auf einer Jagdgesellschaft in Leicestershire vor einem Zaun gescheut und ihn abgeworfen hatte – hatte die ganze Familie und die Nachbarschaft völlig unerwartet getroffen. Anne, ihre Stiefmutter, nur zwei Jahre älter als sie selbst, war von der Nachricht des Todes ihres Gatten derart am Boden zerstört, dass sie ihr Kind verlor, mit dem sie schwanger war.

Es war eine furchtbare Zeit gewesen. Nicht nur, dass die kleine Familie den entsetzlichen Verlust von Neffen, Vater und Ehemann zu verkraften hatte, als viel schlimmer erwies sich dessen Nachfolger. Jeffery Townsend, der älteste Sohn des jüngeren Bruders des Squire, hatte sein Erbe mit unpassender Begeisterung angetreten und die Rolle des Familienoberhauptes übernommen. Leider passte sie ihm nicht gut. Der neue Squire unterschied sich von seinem Vorgänger wie der Tag von der Nacht. Jeffery war auf keinen Fall ein Familienmensch und hatte weder die Zeit noch die Geduld für eine mürrische alte Frau, eine in Tränen aufgelöste Witwe, die soeben nicht nur ihren Gatten, sondern auch ihr ungeborenes Kinder verloren hatte, oder für Emily, die ihn voller Argwohn betrachtete. Nur widerstrebend hatte er ihre Anwesenheit in dem schönen Gutshaus hingenommen, in dem die Familie Townsend nun schon über zweihundert Jahre lebte.

Der Fremde rührte sich, stöhnte und riss sie damit aus ihren unangenehmen Erinnerungen. Sie eilte an seine Seite, stellte sich neben ihn, strich ihm eine Strähne vom Salzwasser verkrustetes Haar aus der Stirn.

Sie beobachtete ihn mehrere Sekunden lang, aber sie konnte kein Anzeichen dafür erkennen, dass er bald aufwachen würde. Während sie ihn weiter anstarrte, die dicken schwarzen Brauen, die lachhaft langen Wimpern und das dunkle Gesicht, fragte sie sich wieder, wer er war und warum er auf dem Wasser gewesen war. Hatte er eine Familie, die sich um ihn sorgte? Eine Mutter? Eine Ehefrau? Kinder?

Die Wunde gefiel ihr gar nicht. Es sah für sie so aus, als ob etwas … oder als ob jemand ihn absichtlich mit etwas Schwerem und Hartem auf den Kopf geschlagen hatte. Nicht dass sie eine Expertin wäre, aber in den vier Jahren, seit sie es übernommen hatte, sie alle durch Schmuggel vor Armut und Elend zu bewahren, hatte sie ihren Teil Wunden versorgt und genäht. Manche waren einfach die Folge der Gefahren, die die Seefahrt mit sich brachte; andere stammten aus Zusammenstößen mit den Zollfahndern oder mit der gefährlichen Nolles-Bande, die diesen Teil von Sussex als ihr Hoheitsgebiet ansah. Sie hatte Wunden wie diese schon zuvor gesehen, und die Ursache war in der Regel ein Schlag auf den Hinterkopf.

Faith, die mit achtundzwanzig Jahren die älteste Gilbert-Tochter war, öffnete die Tür und spähte ins Zimmer. Als sie Emily am Bett stehen sah, kam sie herein und stellte sich neben sie.

„Wer auch immer es ist, er sieht gut aus, oder?“

Emily zuckte die Achseln. Sie dachte an ihren Cousin und sagte: „Das allein will nichts heißen. Edel ist, wer Edles tut.“ Sie schaute Faith an.

„Ist deine Mutter wieder zurück?“

„Nein, aber Sam ist gekommen und hat ausgerichtet, dass sie nicht mehr lange braucht.“

„Hat er gesagt, weshalb sie verspätet sind?“ Emily blickte zu der bemalten Porzellanuhr auf dem Kaminsims. Es war bald zwei Uhr morgens.

„Die Ponys müssten inzwischen beladen und auf dem Weg sein.“

„Ich nehme an, es liegt am Sturm, dass sie heute so spät dran sind.“

„Es stürmt immer, Faith“, erwiderte Emily ungeduldig, „das sollte also keinen Unterschied machen.“

„Nun, das stimmt natürlich, aber der Fremde …“

Emily seufzte. Faith hatte ja recht. Der Fremde hatte ihren ganzen Zeitplan durcheinandergebracht. Da sie anders als die Nolles-Bande nicht den einfach zugänglichen Hafen von Cuckmere als Landeplatz nehmen konnten, war ihre unerschrockene kleine Bande darauf angewiesen, ihre Schmuggelwaren den steilen Pfad an den schroffen Kalkwänden der Seven Sisters hinaufzuschaffen. Den bewusstlosen Fremden unversehrt auf diesem Wege ins Dorf zu bringen war beileibe keine leichte Aufgabe gewesen, sondern hatte viel Zeit in Anspruch genommen.

„Möchten Sie, dass ich Ihnen etwas Suppe oder ein heißes Getränk heraufbringe?“, fragte Faith.

Emily schüttelte den Kopf; ohne den Blick von dem Fremden abzuwenden, antwortete sie.

„Ich brauche nichts, danke. Und bis er aufwacht, ist es ohnehin nicht nötig, irgendetwas warm zu machen. Du kannst gehen und deinen Schwestern in der Küche helfen.“

Unsicher musterte Faith sie.

„Miss“, begann sie zögernd, „sollten Sie nicht nach Hause reiten? Sie sind bereits viel länger als sonst vom Herrenhaus fort. Was, wenn der Squire Ihre Abwesenheit bemerkt?“

Mit mehr Zuversicht, als sie eigentlich empfand, erwiderte Emily: „Mach dir keine Sorgen. Mein Cousin wähnt mich sicher in meinem Bett. Ehe ich aufgebrochen bin, habe ich nach ihm gesehen – er war schon recht angetrunken, dank seiner Zecherei mit Mr Ainsworth, seinem geckenhaften Freund, den er entweder mit mir oder Anne verheiratet sehen will.“

Mitfühlend nickte Faith, und da es sonst nichts für sie zu tun gab, ging sie wieder nach unten.

Emily starrte auf die Tür, die sich hinter Faith geschlossen hatte, und seufzte. Im Dorf gab es nur wenige Geheimnisse, sodass allgemein bekannt war, dass Townsend Emily, ihre Großtante und ihre Stiefmutter aus dem Haus haben wollte. Das Testament des Verstorbenen untersagte Jeffery, sie einfach vor die Tür zu setzen, aber wenn er die beiden jüngeren Frauen verheiraten konnte…

Wenn Hochzeit oder Tod es nicht verhinderten, überlegte Emily selbstironisch, dann hatte er sie am Hals – so wie sie ihn. Das Testament des ehemaligen Squires besagte, dass Cornelia, Emily und Anne lebenslanges Wohnrecht im Herrenhaus hatten – es sei denn sie heirateten. Ihre Lippen zuckten. Allerdings würde Jeffery Großtante Cornelia niemals auf diesem Wege loswerden, dachte sie beinahe schadenfroh. In ihrem Alter erwartete niemand von ihr, dass sie The Birches anders als in einem Sarg verließe.

Der alte Squire hatte nicht nur dafür gesorgt, dass die Frauen seiner Familie so lange ein Dach über dem Kopf hatten, wie es nötig war, er hatte auch eine hübsche Summe für sie bestimmt, damit sie nie Not leiden mussten. Der Ausdruck in Emilys Augen wurde härter. Unseligerweise war das Testament ihres Vaters nicht weit genug gegangen. Jeffery hatte in seiner Funktion als Familienoberhaupt und Treuhänder die Gelder verwaltet, sodass sie nun aufgebraucht waren.

Er hatte vielleicht ihr Geld gestohlen, gestand sich Emily grimmig ein, aber er würde sie nicht aus dem Herrenhaus vertreiben. Nur durch Ehe oder Mord würden sie es verlassen. Aber Jeffery war nicht zu Mord bereit, wenigstens jetzt noch nicht, gestand sie sich mit einem Zucken ihrer Lippen ein und musste an Mr Ainsworth denken.

Mr Ainsworth war der letzte in einer ganzen Reihe unpassender Verehrer, die Jeffery angeschleppt und ihnen aufgedrängt hatte, aber Ainsworth war anders – und das machte Emily Sorgen. Großtante Cornelia und ihr war es gelungen, die anderen unverrichteter Dinge ihrer Wege zu schicken, aber Ainsworth erwies sich als schwer zu entmutigen; sie fragte sich, ob er es gewesen war, der in der vergangenen Woche ihre Türklinke ausprobiert hatte.

Ainsworth hatte einen zwingenden Grund, eine Frau zu finden: Sein fünfunddreißigster Geburtstag stand in wenigen Monaten bevor, und wenn er bis dahin nicht mit einer respektablen Frau verheiratet war, würde er ein ansehnliches Vermögen verlieren. Es war allgemein bekannt, dass Ainsworth sich seit einem guten Jahr nach einer Frau umtat, aber da sein Ruf alles andere als gut war, gab es nur wenige respektable Frauen, die seiner Werbung nicht ablehnend gegenüberstanden.

Und dieser abstoßende Kerl, überlegte Emily erbost weiter, ist ein Mann, von dem Jeffery meint, eine von uns sollte ihn heiraten. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Himmel, am liebsten hätten sie den beiden etwas angetan.

Plötzlich verspürte sie ein seltsames Kribbeln im Nacken, und sie schaute zu dem Mann auf dem Bett. Ihr Herz setzte kurz aus, als sie feststellte, dass der Fremde wach war und sie anstarrte.

Sie rang sich ein Lächeln ab und trat ans Bett.

„Sie hatten großes Glück, Sir“, erklärte sie. „Wenn Jeb Sie nicht zufällig entdeckt hätte, fürchte ich, hätten Sie ein schlimmes Ende genommen.“

Augen, dunkel wie die Mitternacht, ruhten auf ihrem Gesicht.

„Wo bin ich?“, fragte er leise. Eine Hand kam blitzschnell unter den Decken hervor und schloss sich wie ein Eisenband um ihr Handgelenk.

„Und wer zur Hölle bist du, Bursche?“

Mit einer Schnelligkeit, die Barnaby bewunderte, erschien ein kleines Messer in der anderen Hand des Jungen, und eine Sekunde später wurde es ihm an die Kehle gehalten. Der Junge lächelte grimmig und sagte leise: „Ich denke, das sollte meine Frage sein. Wer zur Hölle sind Sie?“

Kapitel 2

Sobald sich seine Finger um das schlanke Handgelenk schlossen, hatte Barnaby das unangenehme Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Aber dieses Gefühl verschwand rasch wieder, und es blieb ihm überlassen, die angespannten Züge des Burschen zu mustern. Ein sehr hübscher Junge, überlegte er mit zusammengezogenen Brauen.

Sie starrten einander eine Weile an. Barnabys schwarze Augen bohrten sich förmlich in die grauen des Burschen. Keiner von ihnen gab auch nur einen Zoll nach. Angesichts der kühlen Entschlossenheit im Blick des Jüngeren entschied Barnaby schließlich, unter Berücksichtigung seines unfreiwilligen Bades im Ärmelkanal sei es vielleicht klug, nicht herauszufinden, wie geschickt der Junge mit einem Messer war.

Er lockerte seinen Griff und sagte: „Verzeihung. Ich fürchte, ich bin im Moment nicht ganz auf der Höhe.“

Schwer atmend trat Emily – der Vorsicht gehorchend – ein paar Schritte zurück. Ihr Messer behielt sie in der Hand und erwiderte gelassen: „Allerdings, da stimme ich Ihnen zu – besonders wenn das Ihre Art und Weise ist, jemanden zu begrüßen, der Ihnen helfen will.“

Der Junge war unverschämt, aber Barnaby gefiel seine Unerschrockenheit. Während er sein Gegenüber musterte, wurde das Gefühl wieder stärker, dass er etwas übersah, dass etwas nicht stimmte. Da er nicht erkennen konnte, wo es herrührte, schob er es einfach den Nachwehen des Überstandenen zu und fragte wieder: „Wo bin ich?“

„Im besten Gästezimmer in der Krone.“

Er bedachte sie mit einem ungeduldigen Blick.

„Und wo befindet sich diese Krone?“

„In Broadhaven.“

Er sah sie aus zusammengekniffenen Augen an, und Emily fügte rasch hinzu: „Es ist ein kleines Dorf nicht weit von Alfriston in Sussex. Wir liegen ein paar Meilen landeinwärts von der Küste.“

Barnaby erkannte den Namen wieder und entspannte sich ein wenig. Die Ereignisse der Nacht waren verschwommen, aber er erinnerte sich daran, dass man ihm gesagt hatte, Windmere, der Familiensitz der Joslyns, befände sich in der Nähe des Dorfes Broadhaven. Seine Erinnerung war alles andere als klar, aber er nahm an, dass er auf dem Weg nach Windmere gewesen war, bevor er im Ärmelkanal gelandet war.

„Und jemand namens ‚Jeb‘ hat mich aus dem Wasser gezogen?“

Emily nickte. Er hörte sich nicht wie ein Engländer an; wenn er sprach, hatte sein Tonfall etwas Weiches, Melodisches, das sie anziehend fand. Sie runzelte die Stirn, dachte nach und versuchte es einzuordnen. Es war kein französischer und auch kein spanischer Akzent … Gerüchte, die sie neulich gehört hatte, schossen ihr durch den Kopf, und sie erklärte atemlos:

„Sie sind der Amerikaner!“

Das Geräusch lauter Stimmen und Getöse von unten lenkte sie ab und verhinderte, dass Barnaby darauf antwortete. Die grauen Augen des Burschen wurden groß, und sein bereits blasser Teint wurde eine Schattierung fahler, während er sich zur Tür umdrehte und sich sichtlich wappnete.

Die Reaktion des Burschen gefiel Barnaby gar nicht, ebenso wenig wie der Lärm einer gewaltsamen Auseinandersetzung, der zu ihnen drang; mühsam versuchte er sich aufzusetzen. Ein jäher heftiger Schmerz fuhr ihm über den Hinterkopf, er stöhnte und ließ sich wieder in die Kissen sinken. Leicht schwindelig und von der Angst beherrscht, er müsse sich gleich übergeben, rang Barnaby darum, seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen.

Schritte erklangen auf der Treppe, und eine Sekunde später wurde die Tür aufgestoßen. Es war Flora, die mittlere Tochter des Hauses, die mit geröteten Wangen und grimmiger und zugleich ängstlicher Miene ins Zimmer stürzte.

„Er ist hier!“, rief sie und warf hinter sich die schwere Eichentür ins Schloss, ehe sie sich zu Emily umdrehte und sie anschaute.

„Meine Schwestern und Sam können ihn nur ein paar Minuten aufhalten. Sie müssen gehen. Jetzt sofort.“

Rasch steckte Emily ihr Messer zurück in ihren Stiefel und ging zum einzigen Fenster auf der gegenüberliegenden Zimmerseite. Nach unten war es ein Stück, da der Raum im ersten Stock lag, aber ihr blieb nichts anderes übrig.

Flora packte sie am Arm und rief: „Nicht da entlang! Hier. Öffnen Sie den Schrank. Auf der Rückseite ist eine versteckte Tür – dann können Sie über den Geheimgang entkommen. Aber jetzt schnell!“

Weil sie von unten die Schreie von Floras Schwestern hörte und das Krachen von Möbeln, riss Emily die Türen des massiven Schrankes an der Wand gegenüber von dem Bett auf und verschwand darin. Dicht hinter ihr war Flora, während Emily sich durch Decken und anderes Zeug wühlte, das sich über die Jahre in dem Möbelstück angesammelt hatte, sagte Flora: „Greifen Sie an der Rückseite nach oben, da ist ein kleiner Riegel. Ziehen Sie daran, dann öffnet sich die Tür nach außen. Aber seien Sie vorsichtig, dass Sie nicht die Treppe hinunterfallen.“

Mit bebenden Fingern fand Emily den Riegel und wäre trotz Floras Warnung beinahe die schmalen engen Stufen hinuntergestolpert, die sich plötzlich vor ihren Füßen auftaten, als die verborgene Tür aufschwang.

Beide Frauen erstarrten, als die Geräusche eines verzweifelten Kampfes näher kamen. Anhand des Fluchens und Geschreis ließ sich erkennen, dass der Kampfschauplatz sich an den Fuß der Treppe verlagert hatte. Ihnen blieben nur noch Sekunden.

Flora schob Emily praktisch die versteckten Stufen hinunter.

„Jetzt machen Sie, schnell!“, zischte sie.

„Er darf Sie hier keinesfalls finden.“ Als Emily verschwunden war, schloss Flora die Geheimtür wieder und zog die Decken an ihren Platz zurück. Mit einer geübten Bewegung, die Barnaby verriet, dass sie das mehr als einmal getan hatte, verschloss Flora schließlich wieder den Schrank.

Floras Schwestern hatten mit Sams tatkräftiger Unterstützung ihr Bestes gegeben, aber sie waren keine ebenbürtigen Gegner für einen ausgewachsenen Mann, besonders wenn der zudem wütend war. Flora hatte sich gerade erst umgedreht, als es laut an die Zimmertür klopfte.

„Emily“, rief eine zornige Männerstimme, „ich weiß, dass du da drin bist. Mach auf. Mach die Tür auf, sage ich.“

Flora schaute zu Barnaby. Sie legte sich einen Finger auf die Lippen, und als er nickte, holte sie tief Luft, rückte ihr Musselinhäubchen zurecht und ging mit ruhigen Schritten zur Tür.

Emily fand sich in undurchdringlicher Dunkelheit wieder; sie war sich nicht sicher, wie es ihr gelang, die fremde Treppe unversehrt hinabzusteigen. Sie stützte sich mit beiden Händen an den Holzwänden rechts und links von ihr ab und stolperte so mehr schlecht als recht die engen gewundenen Stufen nach unten. Unten angekommen stand sie eine Sekunde unentschieden da und wusste nicht, wie sie weiter vorgehen sollte. In der pechschwarzen Finsternis tastete sie mit den Händen um sich – soweit sie es sagen konnte, befand sie sich in einem sehr schmalen Raum mit hölzernen Wänden auf drei Seiten und hinter ihr die Treppe. Ihr fiel wieder ein, wie sich die Geheimtür im Schrank öffnen ließ, daher hob sie die Arme und fuhr oben über die Wand vor ihr. Ihr Herz machte einen Satz, als ihre Finger den Riegel fanden. Sie zog daran und hätte sich fast im Gesicht verletzt, als die Tür nach innen aufschwang.

Der Sturm packte sie mit voller Wucht, sobald sie hinaustrat. Regen prasselte auf sie herab, und der Wind pfiff schrill, während sie die Tür zuzog. Es gab ein Klicken, als der Riegel wieder einrastete, und sie war allein in der Dunkelheit.

Sie benötigte einen Moment, um sich zu orientieren, aber das schwache Licht der Kerzen, die im Hauptzimmer des Gasthofes brannten, verriet ihr, dass sie seitlich des Hauses stand, und dass die Ställe hinter ihr lagen. Sie kämpfte sich durch den Wind und den Regen, rannte zu den Stallungen und saß einen Moment später auf einem der Pferde der Krone und ritt nach Hause.

Es war ein schwieriges Vorankommen, da das Unwetter die Straße in eine Schlammwüste verwandelt hatte und die Dunkelheit im Zusammenspiel mit Wind und Regen es weiter erschwerte, den Weg zu finden, aber schließlich lenkte Emily das erschöpfte Pferd auf die gewundene Auffahrt, die zu ihrem Zuhause führte, The Birches. Sie schwang sich aus dem Sattel, band die Zügel um den Sattelknauf und sandte das Tier mit einem Klaps aufs Hinterteil wieder in Richtung Gasthof.

Ihr Cousin hatte viele ihrer alten vertrauenswürdigen Dienstboten durch seine eigenen Leute ersetzt, die ihm gegenüber loyal waren. Besonders der neue Stallmeister Kelsey, den er vor ein paar Monaten eingestellt hatte, gefiel Emily gar nicht, sodass sie entschieden hatte, ihr Treiben besser vor ihm geheim zu halten. Sie hörte auf, ihre eigenen Pferde zu benutzen, und hatte Vorkehrungen mit Mrs Gilbert getroffen, dass Sam ihr in den Nächten ein Tier brachte, wenn sie eine Lieferung zu betreuen hatten. Wenn sie mit ihrer Arbeit fertig waren, begleitete Sam sie immer bis kurz vor das Herrenhaus und nahm dann ihr Pferd mit zurück. Heute war das nicht möglich gewesen.

Sie verbot sich, darüber nachzugrübeln, was wohl gerade im Augenblick in der Krone geschah, und konzentrierte sich lieber darauf zu erreichen, weswegen Flora und die anderen sich in die Bresche warfen. Wenn ihr Cousin nach The Birches heimkam, musste sie zu Hause sein und in ihrem Bett liegen. Ihre Lippen zuckten. Sie brauchte auch eine harmlose Erklärung dafür, weshalb er sie nicht genau dort gefunden hatte, als er heute Nacht offenbar nach ihr gesehen hatte.

Ihre Schritte wurden schneller, schließlich begann sie zu laufen, bemerkte kaum etwas von dem strömenden Regen oder dem Wind, der in den kahlen Ästen der Birken pfiff, die die eine halbe Meile lange Auffahrt säumten. Der Squire durfte nie erfahren, was sie trieben, weil Emily keinen Augenblick bezweifelte, dass er, weit entfernt davon, entrüstet zu sein, vielmehr das kleine Unternehmen an sich reißen und den Löwenanteil des Profits für sich beanspruchen würde. Die Dorfbewohner, Mrs Gilbert und ihre Töchter, der Hufschmied, Jeb und all die anderen – all jene, die so verzweifelt auf das Geld angewiesen waren, das der Schmuggel ihnen einbrachte – würden fast leer ausgehen.

Die Fackeln zu beiden Seiten des Haupteingangs des weitläufigen Gebäudes leuchteten einladend, aber Emily eilte zur Seite des Hauses. Wenn sie die Eingangstür gewählt hätte, hätte Walker, ihr alter Butler, sie sicher unverzüglich außer Sicht geschafft, aber sie wollte ihn nicht unnötig weiter hineinziehen, als sie das bereits getan hatte. Und Flora und die anderen…

Schuldgefühle drohten sie zu überwältigen. Hatte sie das Richtige getan, als sie sie einfach dem Zorn ihres Cousins ausgeliefert hatte, der ihn unweigerlich erfassen würde, wenn er entdeckte, dass seine Beute ihm entwischt war? Sie erinnerte sich daran, dass es zu ihrem Schutz geschehen war, dass sie geflohen war, aber das erleichterte ihr Gewissen nicht. Müde und erschöpft gestand sie sich ein, dass zu viele Leute darauf angewiesen waren, von ihr in Sicherheit gebracht zu werden, als dass sie hätte bleiben dürfen. Aber es hätte ihr gefallen, Jeffery entgegenzutreten und ihm klar und unmissverständlich zu sagen, was sie von ihm hielt – und von seinem Freund Mr Ainsworth.

Bis auf die Haut durchnässt, mit klappernden Zähnen und um Luft ringend stand Emily schließlich vor dem Wandspalier auf der Rückseite des Hauses. Den Stacheln der Kletterrose geschickt ausweichend, die in wenigen Monaten über und über mit duftenden rosa Blüten übersät sein würde, stieg sie müde zu dem Fenster empor, durch das sie vor Stunden das Haus verlassen hatte.

Sie zog das unverschlossene Fenster auf und schwang die Beine dankbar ins Zimmer. Als die wohlige Wärme des Feuers im Kamin sie einhüllte, musste sie wieder an ihre Gefährten denken, die sie hatte zurücklassen müssen. Es blieb ihr nur zu hoffen, dass ihr vermaledeiter Cousin ihnen keinen ernsthaften Schaden zugefügt hatte. Während sie sich ihrer nassen Kleider entledigte, biss sie die Zähne zusammen. Bei Gott, wenn er einem von ihnen etwas getan hatte, würde sie es ihm heimzahlen.

Squire Townsend hatte den Gilbert-Töchtern oder Sam nichts getan, andersherum war das jedoch nicht der Fall. Die Verteidiger im Wirtshaus waren wild entschlossen gewesen. Faith hatte Townsend einen Krug Ale auf dem Kopf zerschlagen und ihm dabei einen Schnitt über seinem rechten Auge verpasst, und Molly, die Nächstälteste, hatte überaus wirkungsvoll den Besen einzusetzen gewusst. Der Squire würde noch mehrere Tage humpeln, als Folge des Sturzes, nachdem sie ihm den Stiel zwischen die Beine gerammt hatte. Und Sam hatte schließlich, um allem die Krone aufzusetzen, ihn in den Oberschenkel gebissen, so fest, dass es geblutet hatte. Harriet und Mary hatten ihn mit mehreren schweren Zinnkrügen beworfen, und als es Townsend schließlich doch gelang, ihre Abwehrreihe zu durchbrechen und die Stufen zu erklimmen, hatte er zusätzlich zu seinen anderen Verletzungen auch noch eine beeindruckende Prellung im Gesicht und Blut am Kinn.

Es war ein maßlos wütender und übel zugerichteter Herr, der in das Zimmer stürmte, nur Sekunden, nachdem Emily in dem Schrank verschwunden war. Sein früher einmal makellos geknotetes Halstuch hing schief, sein dunkelblauer Rock und die zuvor in ungetrübtem Altweiß gemusterte Seidenweste waren mit Blut- und Aleflecken übersät. Seine kastanienbraunen Locken waren hoffnungslos zerzaust.

Sobald Flora die Tür geöffnet hatte, humpelte er ins Zimmer, blickte sich wild um und, da er nur Flora in der Raummitte und den dunkelhäutigen Fremden im Bett entdecken konnte, fragte er barsch:

„Wo ist sie? Ich weiß, dass sie hier irgendwo ist. Emily, komm sofort heraus.“

Faith und Molly waren dicht hinter Townsend; die Hände in die Hüften gestemmt, erkundigte sich Faith:

„Wie können Sie es wagen, sich gewaltsam Zutritt zu dem Zimmer eines Herrn zu verschaffen, der um Haaresbreite dem Tode entronnen ist? Warten Sie, bis der Konstabler davon hört.“

Townsend drehte sich zu seinen Peinigern um und fuhr sie an:

„Ich denke, du bist es, Faith, die den Konstabler fürchten sollte.“ Seine Stimme wurde vor Wut lauter.

„Du und Molly und die anderen, ihr habt mich angegriffen. Ich werde euch alle vor den Richter bringen, und dann werden wir ja sehen, wie euch das gefällt.“

„Ich bin sicher, es liegt ein Missverständnis vor“, erwiderte Flora ruhig.

„Und wenn meine Schwestern Sie angegriffen haben – eine maßlose Übertreibung, da bin ich mir sicher –, dann gab es vermutlich einen guten Grund dafür.“

Townsends Gesicht verfärbte sich dunkelrot.

„Willst du etwa mein Wort anzweifeln? Darf ich dich daran erinnern, Flora, dass ich hier der Squire bin? Es wäre nur klug, mir den schuldigen Respekt zu erweisen.“

Barnaby, der die Szene mit großem Interesse verfolgt hatte, hatte das Gefühl, es sei an der Zeit, sich bemerkbar zu machen, und erklärte gelassen: „Wenn Sie sich vielleicht mehr wie ein Squire aufführten statt wie ein Kneipenschläger, würden Sie gewiss etwas … äh, angemessenen Respekt ernten.“

Townsends wütender Blick fand einen neuen Gegner.

„Wer zur Hölle sind Sie?“

Da er nun einmal Amerikaner war und daher Titel und die Privilegien des Adels verachtete, hatte Barnaby sein neu erworbener Titel nicht sonderlich beeindruckt, aber in dieser Situation, das erkannte er, konnte er sich als äußerst nützlich erweisen. Ohne sich um den Schwindel, den die Bewegung ihm bescherte, zu kümmern, setzte er sich im Bett auf und erklärte kühl: „Ich bin Joslyn, der … äh, achte Viscount Joslyn. Und Sie sind …?“

Townsend schnappte nach Luft und machte einen Schritt zurück.

„Was Sie nicht sagen!“

Aus dem Augenwinkel sah Barnaby Floras erstaunte Miene, und seine Lippen zuckten. Hinter Townsend starrten ihn Faith und Molly mit offenen Mündern an; Barnaby wusste nicht, ob er belustigt oder verärgert sein sollte angesichts der Reaktion, die ein schlichter Titel hervorrief. Er entschied, die ganze Situation hatte viel von einer Farce, weswegen er die Belustigung wählte, aber nicht über Townsend…

Mathews Reaktion, wenn er beleidigt war (was in Barnabys Gegenwart oft der Fall war), nachahmend, hob Barnaby arrogant die Brauen und verzog das Gesicht, als röche er verdorbenen Fisch, und sagte:

„Doch, das sage ich allerdings. Und wer zum Teufel sind Sie, dass Sie es wagen, meine Identität in Zweifel zu ziehen?“

Flora, die sich von ihrem Schrecken erholt hatte, erklärte mit schadenfroh blitzenden Augen: „Mylord, erlauben Sie mir, Ihnen Squire Townsend vorzustellen. Er lebt ganz in der Nähe auf The Birches – nicht weit von Windmere.“

Mit der Erkenntnis, um wen es sich bei dem Fremden handelte, erlosch die zornige Röte auf Townsends hübschem Gesicht. Trotz seines mitgenommenen Äußeren lächelte er verbindlich, machte eine geübte Verneigung und stellte fest: „Wie Flora schon sagte, ich bin der Squire der Gegend. Jeffery Townsend – wir sind Nachbarn. Auch wenn ich wünschte, die Umstände wären anders, es ist mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mylord.“ Er richtete sich wieder auf und fügte hinzu:

„Ich entschuldige mich ganz aufrichtig für mein unpassendes Eindringen, aber, wissen Sie, ich suche meine Cousine Emily.“ Er blickte sich im Zimmer um, als erwarte er, dass Emily plötzlich erscheinen würde. Er drehte sich wieder zu Barnaby um und sagte: „Ich weiß aus verlässlicher Quelle, dass meine Cousine hier irgendwo ist.“

„Sie denken, ich verstecke sie hier irgendwo?“, erkundigte sich Barnaby ungläubig, während im Geiste seine Gedanken wirr durcheinanderschossen. Der Bursche war ein junges Mädchen? Emily?

Townsend wusste nicht, was er glauben sollte, aber er war felsenfest davon überzeugt, dass Emily in dieser Nacht in der Krone gewesen war und die vermaledeite Gilbert-Sippe sie irgendwo hier versteckte. Das hatte Kelsey ihm verraten. Unten hatte es keinerlei Anzeichen für Emilys Anwesenheit gegeben; er wusste genau, wie stolz Mrs Gilbert auf ihr bestes Gästezimmer war und wie sehr sie Emily schätzte und liebte, weswegen dieses Zimmer das wahrscheinlichste Versteck gewesen war. Das wüste Handgemenge, in das die Gilbert-Hexen und dieser Satansbraten Sam ihn verwickelt hatten, bekräftigte seine Überzeugung, dass Emily sich in genau diesem Zimmer irgendwo verbarg.

Als er hereingekommen war, war Jeffery davon überzeugt gewesen, seine Beute zu entdecken und seine verdammt unverfrorene Cousine endlich einmal da zu haben, wo er sie schon lange haben wollte: im Nachteil ihm gegenüber. Sie würde ihm keine plausible Erklärung bieten können, die hinreichend begründete, weshalb sie sich zu so später Stunde in der Nacht im besten Gästezimmer des Gasthofes aufhielt. Besonders wenn sie angeblich seelenruhig in ihrem Bett zu Hause schlief.

Schon seit Monaten hatte er den Verdacht, dass sie etwas im Schilde führte, aber bislang war er nicht in der Lage gewesen herauszufinden, was genau es war. Trotz des Spions, den er auf sie angesetzt hatte; darüber hinaus, dass seine Cousine in bestimmten Nächten heimlich das Haus verließ und in der Krone verschwand, hatte er nichts herausgefunden. Unsicher, ob Kelsey einfach unfähig war oder, was wahrscheinlicher war, Informationen absichtlich zurückhielt, hatte er sich kurz entschlossen hierher auf den Weg gemacht, als er gehört hatte, dass sie sich wieder davongeschlichen hatte. Von Wut und Ungeduld getrieben wollte er sie auf frischer Tat ertappen und zur Rede stellen.

Ein Liebhaber schien ihm der wahrscheinlichste Grund hinter ihren geheimen Ausflügen zur Krone, aber Jeffery wollte einfach kein Grund dafür einfallen, warum sie daraus so ein Geheimnis machen sollte. Der Himmel wusste, er würde einen Verehrer mit offenen Armen empfangen – ob nun respektabel oder nicht. Jeder, wirklich jeder, der ihn von dieser Plage von Cousine befreien würde, wäre ihm willkommen.

Einen Mann im Bett zu finden war daher keine große Überraschung gewesen, aber seine Identität verblüffte ihn; Jeffery konnte sich nicht erklären, welche Rolle der Viscount in den Vorgängen des Abends spielte. Wie alle Mitglieder der guten Gesellschaft kannte auch er die Geschichte von Mathew Joslyns unerwartetem Pech letztes Frühjahr, als die Nachricht von der Existenz des amerikanischen Erben bekannt geworden war. Jeffery war wie alle anderen neugierig auf den neuen Viscount gewesen, aber bislang hatten ihre Pfade sich nicht gekreuzt.

Townsend glaubte keinen Augenblick, dass der Viscount der Grund für Emilys nächtliche Ausflüge war: Schließlich hatte sie sich schon lange vor der Ankunft des neuen Viscounts in England im Oktober aus The Birches davongeschlichen. Da er aber niemand war, der sich eine günstige Gelegenheit, sein Ziel zu erreichen, ungenutzt durch die Finger gleiten ließ, überlegte Jeffery, wie er wohl diese unselige Wendung der Ereignisse zu seinem Vorteil nutzen könne.

Er warf Joslyn einen nachdenklichen Blick zu. Zwar war momentan von Emily weder etwas zu sehen noch zu hören, aber er würde beim Grab seiner Mutter schwören, dass sie heute Nacht hier gewesen war. Und falls, aus welchen Gründen auch immer, Emily mit dem Viscount zusammen gewesen war, wäre sie rettungslos kompromittiert. Gütiger Himmel, der Mann befand sich praktisch nackt in dem Bett unmittelbar vor ihm, und es war nicht viel Fantasie nötig, sich Emily neben ihm vorzustellen. Hm…

Jeffery betrachtete den Viscount erneut. Es war allgemein bekannt, dass die Joslyns insgesamt gut betucht waren, und der neue Viscount war der reichste von allen … Visionen von atemberaubendem Reichtum stiegen vor seinem geistigen Auge auf, und er begann schon einen Plan zu schmieden, wie er seine lästige Cousine am leichtesten loswerden und einen Teil des Joslyn-Goldes in seine Finger bekommen könnte.

Barnaby gefiel der berechnende Schimmer in Townsends Augen gar nicht.

„Sie sind uneingeladen in mein Zimmer eingedrungen. Wie Sie sich mit eigenen Augen haben überzeugen können, gibt es hier keine ‚Emily‘. Ich schlage vor, Sie gehen jetzt.“

Normalerweise hätte Jeffery sich größte Mühe gegeben, sich bei dem neuen Viscount lieb Kind zu machen, aber der Gedanke, einen Teil von dem Joslyn-Gold zu erhalten, machte ihn kühn.

„Ich entschuldige mich für die Umstände unserer Begegnung“, erklärte Jeffery, „aber ich darf mich dadurch nicht davon abhalten lassen, den Aufenthaltsort meiner Cousine zu entdecken.“ Sein Blick fiel auf den großen Schrank, und sein Herz hüpfte vor Freude. Es war ein breiter Schrank, groß genug, einen ausgewachsenen Mann zu beherbergen, ganz zu schweigen von einem Leichtgewicht wie Emily.

In der Überzeugung, genau zu wissen, wo seine Cousine sich versteckte, ging er rasch mit ausholenden Schritten zu dem Möbelstück und überraschte damit alle. Er riss die beiden Türhälften auf. Das Innere war bis auf die Decken leer – was Jeffery mit Verlegenheit und Missfallen zur Kenntnis nahm.

Rot geworden schlug er die Türen wieder zu und trat zurück. Er erwiderte den spöttischen Blick des Viscounts und erklärte halblaut:

„Nun, sie hätte sich darin verstecken können.“

Gegen die pochenden Schmerzen in seinem Kopf und die wellenartig aufsteigende Übelkeit ankämpfend, sagte Barnaby:

„Wenn Sie nicht blind sind, ist es offenkundig, dass Ihre Cousine nicht hier ist.“

Emily nicht im Schrank zu finden war ein Rückschlag gewesen, aber von der Idee in Versuchung geführt, eine Verbindung zwischen Emily und dem Viscount herbeizuführen, trieb er die Sache weiter.

„Vielleicht nicht im Moment, aber woher soll ich wissen, dass sie nicht hier war, ehe ich das Zimmer betreten habe?“ Er bedachte Flora mit einem missbilligenden Blick.

„Die Gilberts haben sicherlich ihr Bestes gegeben, mich daran zu hindern, mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen.“

Unfähig, sich weiter gegen den Schwindel zu wehren, ließ sich Barnaby wieder in die Kissen sinken, schloss die Augen und fragte müde:

„Sind Sie eigentlich immer so rüde oder sind Sie nur schwachsinnig?“

Jeden äußeren Anschein von Höflichkeit fallen lassend fuhr Townsend ihn an: „Verdammt! Ich wusste es doch, sie war hier! Sie verstecken sie vor mir.“

„Schämen Sie sich!“, rief Flora.

„Seiner Lordschaft geht es nicht gut, und Sie belästigen ihn mit Miss Emily.“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu und fragte wütend: „Vielleicht würden Sie gerne unterm Bett nachsehen? Oder warum nicht gleich Seine Lordschaft aus dem Bett werfen und die Decke ausschütteln?“ Mit zusammengebissenen Zähnen erklärte sie langsam und deutlich:

„Miss Emily ist nicht hier.“

Jefferys Zuversicht fiel in sich zusammen. Konnte Kelsey sich geirrt haben? Hatte er am Ende einfach nur einen schrecklichen Fehler gemacht? Aber Instinkt und eine gehörige Portion Sturheit sagten ihm, dass er recht hatte: Emily war hier gewesen. Unfähig, auf einen Grund zu kommen, weswegen sich Lord Joslyn auf die Seite der Gilberts schlagen sollte, und da von Emily weit und breit nichts zu sehen war, sagte ihm sein gesunder Menschenverstand, dass ein kluger Mann jetzt den geordneten Rückzug antreten würde.

Jeffery schaute sehnsüchtig auf das große Bett, in dem Joslyn lag. Er war stark in Versuchung geführt, Flora auf die Probe zu stellen und selbst unter dem Bett nachzusehen, aber er war nicht so mutig – besonders, nachdem er sich mit dem Schrank schon lächerlich gemacht hatte.

Erbittert und trotzig sagte Jeffery: „Ich entschuldige mich, Mylord. Offensichtlich liegt ein Missverständnis vor.“

Barnaby öffnete die Augen und erwiderte halblaut:

„Offensichtlich.“

Schritte auf der Treppe kündeten von einem Neuankömmling; Barnaby hob den Kopf und fragte sich, wer wohl als Nächstes die Bühne dieser Farce betreten würde. Eine kleine rundliche Frau mit roten Apfelbäckchen und einem ordentlichen Musselinhäubchen, unter dem ein paar graue Haarsträhnen hervorlugten, segelte in den Raum. Die Hände in die Hüften gestemmt blieb sie auf der Türschwelle stehen und schaute sich um. Barnaby legte sich zurück in die Kissen, bereit, das Schauspiel weiterzuverfolgen.

„Da verlasse ich einmal das Haus, um eine kranke Nachbarin zu besuchen“, verkündete die eben Eingetroffene in nüchternem Ton, „und was muss ich bei meiner Rückkehr entdecken? Der Gastraum unten liegt in Scherben, und hier oben drängt sich alles in diesem Gästezimmer!“ Sie deutete mit dem Finger auf die drei jungen Frauen und verlangte:

„Nach unten mit euch – ich will, dass das Durcheinander da unten beseitigt ist, bis ich hier fertig bin.“

Die drei Angesprochenen verschwanden wie von Zauberhand. Ihre hellblauen Augen richteten sich auf Townsend, und Barnaby empfand beinahe so etwas wie Mitleid für ihn.

„Und Sie, Squire? Was soll das alles bedeuten? Mary und Harriet haben mich davon unterrichtet, dass Sie der Grund für die Zerstörung seien, die ich vorfinden musste. Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?“

Unter diesem unverwandten Blick fühlte sich Jefferys Halstuch mit einem Mal so eng an, dass er meinte, es schnürte ihm die Luft ab.

„Ah, ich versichere Ihnen, es war alles ein ganz furchtbares Missverständnis, Mrs Gilbert“, antwortete er recht lahm.

Ihre Brauen hoben sich.

„Wirklich? Vielleicht würden Sie es mir gerne erläutern?“

Jeffery, der sich daran erinnerte, dass er hier der Squire war, sagte mit Nachdruck: „Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass Emily heute Nacht hier war. Ich bin gekommen, persönlich nachzusehen, welchen Unfug sie treibt.“

„Und Sie denken, das gibt Ihnen das Recht, meinen Gasthof zu verwüsten, in ein Privatzimmer einzudringen und den Gentleman zu stören, der es gemietet hat?“ Mrs Gilbert schnaubte abfällig.

„Und wer, bitte, ist diese ‚zuverlässige Quelle‘?“

Mit rot angelaufenem Gesicht versetzte Jeffery: „Das geht Sie nichts an!“

Mrs Gilbert kam weiter ins Zimmer und blieb erst stehen, als sie dicht vor Townsend angekommen war.

„Sie irren, Sir“, sagte sie.

„Jede ‚Quelle‘, die bösartige Lügen über die liebe Miss Emily verbreitet und der Grund ist, weshalb meine Gäste gestört werden und mein Gasthof Schaden nimmt, geht mich eindeutig etwas an.“

Darauf bedacht, möglichst rasch zu entkommen, und da er sich mehr und mehr wie ein Narr vorkam, erklärte Jeffery beinahe kleinlaut: „Ich werde allen Schaden zahlen, und bei Seiner Lordschaft habe ich mich bereits entschuldigt.“

Mrs Gilbert blickte zu Barnaby, der seinerseits lächelte und eine Hand hob. Er konnte einen Anflug von Belustigung über ihre Züge huschen sehen, ehe sie sich wieder zu dem Squire umdrehte.

Mit einem energischen Blick für Townsend sagte sie: „Nun gut. Ich werde morgen Nachmittag eine Rechnung für Sie fertig haben und erwarte, dass sie in Gänze beglichen wird.“ Sie machte einen Schritt nach hinten.

„Und nun würde ich es begrüßen, wenn Sie den Raum verließen, ehe ich mich gezwungen sehe, den Konstabler zu holen und mich offiziell über Sie zu beschweren.“

Barnaby beobachtete, wie Jeffery darum rang, seinen Zorn zu zügeln, angesichts dieser neuerlichen Beleidigung. Es war haarscharf, aber am Ende nickte der Squire knapp und verbeugte sich so gefasst wie unter den Umständen möglich in Barnabys Richtung, begab sich zur Tür und ging – mit verständlicher Hast.

Nachdem er weg war, schloss Mrs Gilbert die Tür und verriegelte sie. Freundlich lächelnd kam sie zu Barnaby und stellte sich neben das Bett.

„Wir sind also Lord, ja?“, fragte sie leichthin.

„Äh, ja, ich fürchte, das entspricht den Tatsachen“, erwiderte Barnaby. Mit leicht geröteten Wangen verkündete er: „Viscount Joslyn.“

Mrs Gilbert nickte.

„Ah, ja, der Amerikaner. Wir haben gehört, dass jemand aus Amerika den Titel geerbt hat.“ Sie lachte.

„Mr Mathew war ziemlich wütend, das kann ich Ihnen versichern.“

„Dessen bin ich mir wohl bewusst“, erwiderte Barnaby trocken.

„Er hat sich größte Mühe gegeben, dafür zu sorgen, dass ich mir über seine Gefühle keine Illusionen mache.“

Mrs Gilbert lächelte.

„Ach, kümmern Sie sich nicht um Mr Mathews arrogante Art. Im Grunde seines Wesens ist er ein anständiger Kerl – manchmal ein wenig anmaßend, aber wenn er seine Enttäuschung erst einmal überwunden hat, wird er Ihnen ein guter Freund sein.“ Ihre Lippen wurden schmal.

„Im Gegensatz zu dem hohlköpfigen Geck, der gerade den Raum verlassen hat.“

Er stimmte ihr bezüglich des Squires zu, aber an ihrer Einschätzung seines Cousins hegte er Zweifel. Bislang war ihm Mathew wenig freundschaftlich erschienen – ganz im Gegenteil. Und er glaubte auch nicht, dass Mathew ihm irgendwann in näherer Zukunft die Hand zur Freundschaft reichen würde – wenn überhaupt jemals. Was ihn kein bisschen störte. Bis zu seiner Ankunft in London im Oktober hatte er nie einen der Joslyns zu Gesicht bekommen. Genau genommen hatte er nur eine sehr vage Idee bezüglich des englischen Zweiges der Familie – soweit es ihn anging, konnte die ganze Bande zum Henker gehen. Sie hatten jedenfalls nichts getan, um in ihm wärmere Gefühle für sie zu wecken. Er schnitt eine Grimasse. Die Schuld lag allerdings nicht nur bei ihnen, sondern auch bei ihm; er hatte zugelassen, dass er sich über sie ärgerte, und hatte im Gegenzug sein Möglichstes getan, sie gegen sich aufzubringen.

Weil sie seine Grimasse sah, fragte Mrs Gilbert: „Haben Sie Schmerzen? Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann?“

Barnaby schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht, als sich das Zimmer um ihn zu drehen begann.

„Nein“, antwortete er, „es geht mir gut. Mir ist nur ein wenig schwindelig.“ Er lächelte charmant.

„Sie und Ihre Familie haben mir bereits einen großen Gefallen getan, und dafür bin ich dankbar. Ich schulde Ihnen mein Leben.“

Ein Windstoß fuhr kreischend um die massiven Steinwände des Gasthauses, und Regen prasselte laut gegen die Fensterscheiben, erinnerte sie beide an den Sturm, der draußen immer noch tobte.

Interessiert erkundigte sie sich: „Wie kam es eigentlich, dass Sie bei diesem Wetter auf See waren? Jeb hat gesagt, er wäre vor Schreck fast umgefallen, als er sie in den Wellen entdeckt hat.“

„Niemand wäre glücklicher als ich, wenn ich sagen könnte, warum ich auf dem Ärmelkanal war oder wie ich dorthin gekommen bin“, erwiderte Barnaby. „Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich London verlassen habe und vorhatte, kurz in Eastbourne Halt zu machen, weil man mir gesagt hatte, dort läge die Jacht von Joslyn vor Anker.“

Sie musterte sein Gesicht eine lange Zeit, und Barnaby stand kurz davor, sich unter ihrer Musterung zu winden, als sie den Blick schließlich senkte und sich an den Decken auf seinem Bett zu schaffen machen begann.

„Nun, es war gewiss keine Nacht zum Segeln, das kann ich Ihnen verraten“, bemerkte sie.

„Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu.“ Er betrachtete sie eingehend und sagte vorsichtig: „Es ist keine Nacht, in der Mensch oder Tier unterwegs sein sollten, und bestimmt nicht auf dem Meer draußen. Das macht mich neugierig auf den Grund, wie es geschehen konnte, dass Ihr Jeb dort war, im rechten Moment, um meinen Hals zu retten. Was hatte er eigentlich dort draußen zu suchen?“

Sie schaute hoch und lächelte leise. „Nach all dem, was heute Nacht passiert ist, ist es der Umstand, dass Jeb draußen war, der Ihre Neugier weckt?“

„Das und das als Bursche verkleidete Mädchen, Emily, zusammen mit ihrem wundersamen Abgang durch den Schrank“, antwortete er, ein belustigtes Glitzern in den schwarzen Augen.

„Ah so. Und dabei hatte ich so gehofft, Sie seien noch bewusstlos gewesen bei Miss Emilys Verschwinden“, stellte sie voller Bedauern fest.

Barnaby lachte.

„Nein, wir hatten uns einander noch nicht abschließend bekannt gemacht, als Flora, glaube ich heißt sie, ins Zimmer geplatzt ist mit der Nachricht, dass der Squire unten sei.“

Mrs Gilbert nickte.

„Ja, Flora, meine mittlere Tochter ist die vernünftigste – obwohl sie natürlich alle brave Mädchen sind.“ Mit leisem Stolz erklärte sie: „Ich habe fünf Töchter – Faith, die Älteste, und Molly, die ihr im Alter am nächsten ist, waren die beiden anderen hier oben bei Flora, als ich eingetroffen bin. Harriet und Mary, meine beiden Jüngsten, haben mich unten erwartet, als ich heimgekommen bin, und mich gewarnt, was geschehen ist.“

Ein leises Klopfen an der Tür erklang, worauf Mrs Gilbert den Kopf in die Richtung wandte.

„Ja?“, fragte sie.

„Ich bin es, Ma“, antwortete Flora durch die Tür. „Ich habe etwas heiße Brühe für Seine Lordschaft.“

Mrs Gilbert schmunzelte und sagte zu Barnaby gewandt: „Ich denke, es ist eher Neugier als reine Freundlichkeit, was hinter Floras Eintreffen steht.“ Sie durchquerte das Zimmer und entriegelte die Tür, um sie dann zu öffnen. Flora kam herein, ein großes Zinntablett mit mehreren Gegenständen in den Händen. Mrs Gilbert schloss die Tür hinter ihrer Tochter wieder und sagte: „Stell es auf das kleine Tischchen neben dem Bett Seiner Lordschaft.“

Flora tat mehr als das. Nachdem das Tablett auf dem Tischchen stand, türmte sie Kissen hinter Barnabys Rücken auf und bot ihm dann eine Tasse mit der stärkenden Brühe an. Mit einem ermutigenden Lächeln sagte sie: „Das hier wird dafür sorgen, dass es Ihnen rasch wieder besser geht.“

Zu seiner eigenen Überraschung stimmte das. Es war mehr als nur Brühe; kleine Stückchen Hähnchenfleisch und Karotte, Kohl und Zwiebeln schwammen in der salzigen heißen Flüssigkeit, die Barnaby dankbar trank. Er war, stellte er fest, hungrig und leerte die Suppentasse mit ein paar langen Zügen, dazu aß er eine dicke Scheibe Brot.

Flora füllte ihm die Tasse erneut aus der grünen Porzellanterrine, die sie mitgebracht hatte, und reichte ihm mehr Brot; nachdem er zwei weitere Tassen Suppe und eine weitere Scheibe Brot verzehrt hatte, war sein schlimmster Hunger gestillt. Von ihrem Tablett nahm Flora Wein und Ale, bot ihm beides an, und er entschied sich für einen Krug Ale.

Essen und Trinken hatten ihn nicht nur gestärkt, auch der Schwindel hatte nachgelassen, wenn er auch noch nicht ganz verschwunden war. Er lächelte den beiden Frauen zu und sagte: „Danke. Zum ersten Mal, seit ich mich heute Nacht im Wasser treibend auf dem Ärmelkanal wiedergefunden habe, habe ich das Gefühl, als würde ich tatsächlich überleben.“

„Was uns wieder zu dem Punkt zurückbringt, was Sie überhaupt dort draußen zu suchen hatten“, erklärte Mrs Gilbert, die Augen auf sein Gesicht gerichtet.

„Nein“, sagte Barnaby milde, nicht willens, sich vom Thema ablenken zu lassen, „es bringt uns zu Miss Emily zurück und was sie hier in Jungenkleidern getan hat, und was Jeb heute dort draußen auf dem Meer zu schaffen hatte.“