Kapitel 1
Der Ballsaal des Duke of Stanford, London 1818
„Hör auf, an deiner Krawatte herumzuzupfen, Richard. Du siehst aus, als würdest du von den Käfern angefressen, die du so gernhast“, sagte Lucien leise.
Richard lachte. „Danke, Luce. Bei dir kann ich immer auf die ungeschönte Wahrheit zählen.“
Luciens Wangen liefen rot an. „Entschuldige.“
Richard bemerkte, dass die Augen seines Zwillingsbruders ständig in Bewegung waren, so als würde er die anwachsende Menge nach etwas absuchen. Oder nach jemandem. Und Richard konnte sich denken, um wen es ging.
„Ich wollte nicht gemein sein, Rich“, sagte Lucien. „Es ist nur …“
„Ich weiß, ich weiß. Es ist eine Last, eine Klette wie mich an deiner Seite zu haben.“ Richard klopfte seinem Bruder die Schulter.
Lucien schnaubte. „Idiot.“
„Dummkopf.“
Beide grinsten. Richard sah sich unter den vielen Menschen um, die den Empfangssaal des Stadthauses des Duke of Stanford füllten. „Warum bin ich nochmal hier?“, fragte er seinen sehr viel besser gekleideten, attraktiveren und geselligeren identischen Zwilling.
Also, theoretisch identisch.
Zu der Brille, die Richard trug, und sein Bruder nicht, war er ein gutes Stück leichter als Lucien, der an Brust und Schultern an Fülle gewonnen hatte, wie Richard es noch nicht geschafft hatte.
Und dann waren da noch die Pickel, die sie beide seit ihrem vierzehnten Lebensjahr geplagt hatten. Luciens waren auf magische Weise mit seinem siebzehnten Geburtstag verschwunden, während Richards gerade erst abflauten.
Ja, identisch, aber unterschiedlich. Richard grinste bei dem Gedanken.
„Du bist wegen der Mädchen hier“, erinnerte ihn Lucien, der es irgendwie schaffte zu sprechen, während er lächelte. Es war eine neugewonnene Fähigkeit und musste in den letzten zwei Jahren auf dem Lehrplan in Eton gestanden haben – in jenen Jahren, die Richard übersprungen hatte, um gleich zur Universität zu gehen. Er schnaubte. „Ja, weil alle Mädchen so beeindruckt waren, als ich – wie hieß sie noch gleich? – auf den Fuß getreten bin.“ Er schnalzte frustriert mit der Zunge. „Zum Teufel! Ich kann mich nicht mal mehr an den Namen des armen Mädchens erinnern.“
„Niemand außer dir erinnert sich an den Vorfall“, sagte Lucien. „Nun, sie vielleicht auch. Ich kann mich auch nicht an ihren Namen erinnern. Du musst aufhören dir einzubilden, niemand könne dich leiden, Rich. Wenn du dir nur ein bisschen Mühe gibst, wirst du schon sehen.“
Richard konnte nicht glauben, dass sein Zwilling so ignorant in Bezug auf die Beleidigungen und hässlichen Spitznamen war. Selbst ein Gedicht über Richard war in dieser Saison kursiert. Er konnte sich nur vorstellen, dass Lucien so wenig davon mitbekam, weil er sich stündlich mehr verliebte und nichts als ein außergewöhnlich schönes Gesicht sehen konnte – ob seine Angebetete nun zugegen war oder nicht.
„Und“, fügte Lucien hinzu, „wenn ein Saal voller schöner Frauen nicht Grund genug ist hier zu sein, dann erinnere dich an das Versprechen, das du Mama gegeben hast.“
„Das war ein Schlag unter die Gürtellinie“, murmelte er. Lucien grinste nur. Leider stimmte es, was sein Bruder gesagt hatte. Wenn Richard ihrer Mutter nicht in einem schwachen Moment versprochen hätte, an einer Saison teilzunehmen, hätte er jetzt durch die Moore streifen und seine bereits eindrucksvolle Käfersammlung erweitern können.
Doch ihre Mutter, Baronin Ramsay, hatte den perfekten Moment gewählt und ihn in die Enge getrieben, gleich nachdem er und Lucien von einem einjährigen Aufenthalt uneingeschränkter Genusssucht auf dem Kontinent zurückgekehrt waren. Leider hatte er kapituliert.
Und nun war er hier. Gott sei Dank näherte sich die Saison ihrem Ende, denn er war sich nicht sicher, wie viel Blödsinn er noch ertragen konnte. Richards Meinung zufolge war eine Londoner Saison mit einem Semester in Eton vergleichbar, nur dass hier noch Mädchen in die Spötteleien über ihn einfielen.
Seufzend überblickte Richard die Menge. Sofort wünschte er, er hätte es nicht getan. Denn direkt vor ihm sah er Sebastian Fanshawe, den Duke of Dowden und Richards Hauptpeiniger aus Eton.
„Großer Gott“, murmelte er und wandte sich so ab, dass der andere ihn vielleicht nicht bemerkte. Seit Richard ihn vor drei Jahren das letzte Mal gesehen hatte, hatte sich Dowden kein Stück verändert. Er war noch immer die Verkörperung männlicher Perfektion, groß, breitschultrig, blond und blauäugig. Und er hatte noch immer denselben gehässigen Verstand und die scharfe Zunge. Es spielte keine Rolle, was Richard sagte oder tat, Dowden würde sich über ihn lustig machen. Und nur sie beide wussten, warum.
Die Namen, Spitzen und selbst das Spottgedicht, das irgendein Idiot über ihn verfasst hatte, störten Richard nicht mehr, seit er die Schule verlassen hatte.
Doch es war eine verdammte Schande, dass Dowden einen so großen Einfluss auf die Damen hatte. Besonders auf eine bestimmte: Miss Celia Trent.
Allein der Gedanke an Miss Trents Namen bereitete Richard ein dumpfes Gefühl in der Magengrube. Es war eine unglückliche Entwicklung mit dem Potenzial, ihn hier, mitten im Ballsaal des Dukes of Stanford, zu beschämen, wenn Richard nicht aufpasste. Er war nicht der Einzige, der auf so körperliche Art auf die sinnliche, beinahe überreife Schönheit dieser Frau reagierte, doch er war der Einzige im Raum, dessen Zwilling wahnsinnig in sie verliebt war. Richard fühlte sich wie ein schmutziger Hund, weil sein Körper so auf die Frau reagierte, die sein Bruder zu heiraten hoffte. Doch er war auch nur ein Mensch in den frühen Jahren seiner Fruchtbarkeit, und angesichts eines solchen Reizes konnte er seinen Körper kaum kontrollieren, oder?
Aber er konnte sein Verhalten kontrollieren. Also benahm er sich respektvoll und reserviert, wenn er dem Objekt seiner Lust und seines Bruders Liebe begegnete.
Nicht, dass er Miss Trent in irgendeiner Weise interessierte. Sie schien eine Abneigung gegen ihn zu hegen, noch bevor sie sich überhaupt begegnet waren.
Lucien beugte sich zu ihm herüber und sagte: „Morgen werde ich mit Celias Vater sprechen.“
Richard stöhnte. „Warum musst du sie unbedingt heiraten, Luce? Nur weil du sie geküsst hast?“
Lucien fauchte ihn an. „Würdest du deinen verdammten Mund halten?“ Er blickte sich um, als würde sich irgendwer für ihre Unterhaltung interessieren. „Du weißt, dass ich seit Wochen darüber nachdenke. Lange vor dem Kuss.“
„Ja, aber übers Heiraten sprichst du erst seit dieser grässlichen Gartenparty vor ein paar Tagen, bei der du …“
„Ja, ja, das hast du bereits erwähnt, danke sehr. Es verhält sich nur so, dass dieser besondere Umstand die Angelegenheit, äh, dringend macht.“
„Warum?“
Lucien verdrehte die Augen. „Du weißt genau, warum.“
„Nein, weiß ich nicht. Es ist ja nicht so, als hättest du sie ruiniert.“ Richard schnaubte. „Sie ruiniert“, wiederholte er. „Wie dämlich und dramatisch das klingt. Hast du je über diesen Ausdruck und seine Bedeutung nachgedacht? Als wäre sie irgendein Gegenstand. Ein Teller, der dir runtergefallen ist und nun ruiniert ist, weil er in Scherben liegt. Es ist nicht so, dass ein Kuss – oder sogar Geschlechtsverkehr – nur ein einziges Mal passieren kann. Wie kann man also eine Frau ruinieren, indem man mit ihr schläft? Ich habe mit erheiternder Regelmäßigkeit Sex, und niemand bezeichnet mich als ruiniert.“
Lucien sah ihn auf ihm bekannte Weise an. Richard konnte seine nächsten Worte beinahe voraussagen: Was stimmt nicht mit dir?
„Was?“, fragte er, als Luce ihn nur anstarrte.
„Mutter muss dich auf deinen Kopf fallengelassen haben. Das ist das Einzige, was mir einfällt, um das zu erklären.“
„Außerdem“, fuhr Richard fort und ignorierte die lahme Beleidigung, „habe ich sie gesehen, nachdem du sie geküsst hast. Ich kann dir ganz ohne Mehrdeutigkeit sagen, dass sie nicht ruiniert aussah. Vielleicht solltest du noch ein paar Tage darüber nachdenken.“
„Das möchte ich nicht. Es müssen Dutzende Männer sein, die ihren Vater um ihre Hand bitten.“
Richard wollte fragen, warum das so sei, wo sie doch so offensichtlich ruiniert war, doch er behielt diese wenig hilfreiche Frage für sich. Stattdessen sagte er: „Vielleicht haben ein paar von denen sie auch …“
Ein gefährlicher Blick aus Luciens zusammengekniffenen Augen, und seine restlichen Worte blieben ihm im Halse stecken. Er besänftigte seinen Zwilling lieber. „Selbst wenn hundert Männer um sie werben, ist doch keiner besser geeignet als du. Du hast das Einzige, wonach Trent bei einem Schwiegersohn sucht: Unmengen an Geld. Selbst ich, der den Klatsch und Tratsch in der besseren Gesellschaft einfach ignoriert, weiß, dass dem Mann das Wasser bis zum Hals steht.“ Er grinste. „Wenn Miss Trent dich zurückweist, bittet dich ihr Vater wahrscheinlich selbst um deine Hand.“
„Sehr lustig.“
Richard merkte, dass sein Bruder ihm nicht zuhörte. „Bist du dir sicher, Luce? Du hattest noch kaum die Gelegenheit, die Welt zu entdecken. Unsere Reise war fantastisch, oder?“
„Ja.“
„Nun, meinst du nicht …“
„Ich liebe sie.“ Luciens Stimme klang tief und sicher.
Liebe. Richard verdrehte die Augen und seufzte beim Klang des lächerlichen Wortes. Seiner Überzeugung nach waren Menschen nicht für die Monogamie geschaffen, und er hatte den starken Verdacht, dass es eigentlich Lust war, was sein Bruder fühlte. Selbst wenn er annahm, dass Liebe tatsächlich existierte, bezweifelte er, dass ein Mensch sich in einen anderen verlieben konnte, wenn er nur wenige Minuten in der Woche mit dem Objekt seiner Begierde sprechen durfte. Richard erwog, seinem Bruder zu sagen, dass es nur sein Fortpflanzungstrieb war, der ihn in das Haus von Miss Trents Vater trieb. Doch es ging hier um eine Angelegenheit, bei der seine Mutter ihn zur Vorsicht ermahnt hatte.
„Die Menschen mögen es nicht, wenn man sie mit Enten oder Käfern oder Pferden vergleicht, Richard. Du musst deine Beobachtungen der menschlichen Biologie für jene aufsparen, die sie schätzen und verstehen.“
Lucien gehörte nicht zu Letzteren, also gab es keinen Grund, mit ihm zu diskutieren. Außerdem konnte Richard die Faszination seines Bruders für Celia Trent verstehen – wenn es nicht sogar Liebe war. Bevor er Miss Trent begegnet war, hatte er geglaubt, dass alle gesunden, attraktiven, ungebundenen Frauen unter vierzig im Großen und Ganzen gleich wären. Gleich begehrenswert. Er hatte nie die hartnäckige Fixierung auf eine spezielle Frau erfahren, wie es bei seinem Bruder der Fall war.
Doch ein Blick in Miss Trents wunderbares Gesicht, auf ihren sinnlichen Körper und ihre lebhaften blauen Augen hatte ihn wie jeden anderen Mann – verheiratet oder nicht – in einen gaffenden Idioten verwandelt.
Die Reaktion der männlichen Bevölkerung auf diese Frau war lächerlich, wirklich. So attraktiv Miss Trent auch sein mochte, es gab Dutzende andere Frauen, die unbemerkt blieben, während die adligen Männer scharenweise hinter einer einzigen Frau hergeiferten. Dasselbe hatte er im Tierreich beobachtet. Zumindest in jenem kleinen Teil davon, den er in seinen jungen Jahren bereits studiert hatte. Seiner Meinung nach waren Menschen nicht besser als die Horde Gänse, die in Lessing Hall, dem Landsitz seiner Eltern, herumliefen und alle terrorisierten. Seit Richard sich erinnern konnte, hatten sich die beiden Ganter Wellington und Soult wegen einer fluffigen weißen Gans namens Harriet bekriegt. Die beiden Männchen hatten sich in ihrer Entschlossenheit, Harriet zu bekommen, gegenseitig die Federn ausgerissen und am Ende erschöpft und blutend dagelegen. Währenddessen blieben Dutzende wunderbare Gänse unbeachtet.
Richard ließ seinen Blick durch den Ballsaal schweifen, der sich unter ihnen ausbreitete: Ja, hier lief es genauso. Es waren zwar keine Gänse, sondern Hunderte perfekte junge Frauen, von denen sich die meisten in irgendwelchen Ecken versteckten, während nur eine Handvoll ständig zum Tanzen aufgefordert wurde.
Als Sklave seiner animalischen Triebe, der er war, ertappte sich Richard dabei, wie er den Saal nach Miss Celia Trent absuchte. Er schüttelte seinen Kopf. Wirklich, er war nicht besser als ein Ganter, entschlossen, alle anderen Männchen in seiner Nähe ihrer Federn zu berauben, um Celia Trent zu bekommen.
Nein, sie wird Luciens Frau werden.
Neben ihm seufzte Lucien aufgesetzt. „Versuch, nicht so zu gucken, Rich.“
Richard drehte sich um und blickte in Luciens hellbraune Augen. Sie hatten dieselbe Farbe wie Richards, waren aber nur halb so groß, weil sie nicht durch die Brillengläser vergrößert wurden. Sein Bruder runzelte die Stirn.
„Wie gucke ich denn?“
„So wie jetzt gerade.“
„Es tut mir leid, aber du musst ein bisschen genauer werden, Luce. Ich weiß, dein Vokabular ist begrenzt, aber versuch’s einfach.“
„Du setzt diesen Blick auf, als wenn du die Schwächen der Menschheit aus großer Höhe betrachten würdest.“
Richard schnaubte.
„Es stimmt. Und genau diesen Ausdruck habe ich auf deinem Gesicht gesehen, wenn du Käfer katalogisierst oder Tieren bei der Kopulation zusiehst.“
Richard lachte. „Oh, und welcher Ausdruck ist das?“
Lucien verzog das Gesicht, bis er leicht spöttisch unter halb gesenkten Lidern hervorblickte. Richard musste zugeben, dass es ein Ausdruck war, der in ihm den Wunsch erweckte, seinem Bruder ins Gesicht zu schlagen.
„So sehe ich nicht aus“, sagte er.
„Jetzt nicht. Gerade siehst du verärgert aus und deine Augenbraue macht diese Bewegung.“ Lucien klang eifersüchtig.
Richard schnaubte. Das Einzige, was er konnte und sein perfekter Bruder noch nicht gemeistert hatte, war, seine Augenbrauen unabhängig voneinander zu bewegen. Man könnte meinen, dass seine Beliebtheit, seine sportliche Erscheinung und sein Titel Earl of Davenport genug für Richards um wenige Minuten älteren Zwilling wären. Aber nein, Lucien wollte auch Richards Augenbrauenfähigkeiten.
„Ich merke gerade, dass dieser Ausdruck nur eine Verteidigungshaltung deinerseits ist, wenn du nervös bist“, fuhr Lucien mit der Sicherheit eines Menschen fort, der Richard beinahe ebenso gut kannte, wie er sich selbst. „Doch damit siehst du aus wie ein richtig arroganter, misstrauischer …“
„Was?“, fragte er, als sein Bruder plötzlich schwieg. Als Lucien nicht antwortete, folgte Richard seinem Blick.
Lady Stephanie Powell und Miss Celia Trent hatten sich in Szene gesetzt, sodass sein Bruder und all die jungen Kerle sie besser beobachten konnten, von denen die meisten zu diesen Veranstaltungen so spät wie möglich erschienen. Richard wusste, dass die jungen Frauen sich eher für seinen Bruder als für ihn zur Schau stellten, doch er genoss den Anblick nichtsdestotrotz.
Miss Trents Sanduhrfigur, ihre ultramarinblauen Augen und ihre nerzfarbenen Haare bildeten einen attraktiven Kontrast zur blonden Schlankheit ihrer Freundin.
„Lächle“, zischte Lucien, als sie vorne in der Reihe standen und er sich über die Hand ihrer Gastgeberin beugte.
„Guten Abend, Euer Gnaden“, sagte Lucien mit der sanften, kultivierten Erwachsenenstimme, die Richard noch nicht besaß.
„Guten Abend, Ma’am“, echote Richard, wobei seine Stimme mitten in seinem Satz aus drei Worten brach.
„Viscount Redvers.“ Die Duchess sagte seinen Namen mit einem belustigten Ausdruck in ihren schönen Augen. Ihr Blick war auf Richards Krawatte gerichtet.
Sieht sie wirklich so schlimm aus?
Als sie den Spießrutenlauf der Begrüßung hinter sich hatten, näherten sie sich einer Szene, die ihn stark an die Beschreibungen erinnerte, die er über Gladiatorenkämpfe im alten Rom gelesen hatte.
„Verdammt noch mal“, murmelte er, während sie sich ihren Weg durch die Menge bahnten. „Warum öffnet niemand eine Tür?“
„Der Regent wird erwartet“, erklärte Lucien.
Selbst Richard, der quasi in einem Keller lebte – eigentlich wohnte er in einer Wohnung in der Nähe der Sidney Street – wusste, dass der Regent eine krankhafte Angst vor Frischluft hatte.
„Davenport, alter Junge“, rief irgendwer vor Lucien.
„Beaky“, antwortete dieser und grinste seinen besten Freund an.
„Hallo, Redvers. Dich hatte ich hier nicht erwartet“, sagte Viscount Beakman.
„Ich musste ihn mit einer verdammten Mistgabel hierhertreiben“, sagte Lucien und blickte in die Richtung, wo er Miss Trent zuletzt gesehen hatte. Doch es war unmöglich, mehr als eine Wand von Menschen zu sehen, von denen keiner Celia Trent war.
„Darf ich dich einen kleinen Moment entführen, Davenport? Ich muss dich etwas fragen.“
Lucien runzelte die Stirn. „Etwas fragen?“
Beaky sah Richard bedeutungsvoll an. „Du weißt schon.“
„Ah ja. Das.“, sagte Lucien, als er begriff. Er warf einen letzten, sehnenden Blick in den Ballsaal. „Aber ich habe nicht viel Zeit.“
„Nein, nein, es dauert nur eine Minute. Gehen wir in den Kartenraum. Hier kann man ja kaum seine eigenen Gedanken hören.“
Luce legte seine Hand auf Richards Schulter. „Geh hier nicht weg, sobald ich fort bin“, warnte er und schob sich dann zwischen die unendlich vielen Menschen.
Richard seufzte. Das war der Anfang eines weiteren langen, ermüdenden Abends.
***
Celia beobachtete, wie die beiden Brüder die Begrüßung hinter sich brachten und dann in der Menge verschwanden.
„Es ist schwer zu glauben, dass sie tatsächlich Zwillinge sind“, sagte Stephanie zu Celia, ohne dabei die Stimme zu senken. Millie Bowles, die auf Steffs anderer Seite stand, kicherte und beugte sich zu ihnen hinüber. Sie bedeckte ihren Mund mit ihrem Fächer, hob aber gleichzeitig ihre Stimme. „Es ist schwer zu glauben, dass sie überhaupt Brüder sind. Von identischen Zwillingen ganz zu schweigen.“
„Oh, seht mal, da ist Phyllida Singleton“, sagte Steff. Ihre wunderbaren grünen Augen fixierten ein schlankes, dunkelhaariges Mädchen, das gerade einige der anderen unansehnlichen, verarmten oder anderweitig unbeliebten Mauerblümchen begrüßte, die sich in einer Ecke versammelt hatten.
„Ist das dasselbe abgetragene gelbe Ballkleid, das sie bereits auf den Bällen der Kittridges, Oldhams und Actons getragen hat?“, fragte Millie mit einem begierigen Grinsen.
„Ich bezweifle, dass sie drei gleiche abgetragene gelbe Ballkleider besitzt“, sagte Celia gehässig, wofür sie einen verletzten Blick von Millie und einen anerkennenden von Steff erntete.
„Was ist heute Abend mit dir los, Ceelie?“, fragte Steff. „Du bist ziemlich schlecht gelaunt.“
„Nichts.“ Das klang zu knapp, also fügte sie hinzu: „Ich habe nur kein Interesse daran, über Leute zu reden, die keines Augenblicks meiner Zeit würdig sind. Wie Phyllida Singleton.“
Ihre Worte sorgten für mehr Gekicher, und sie wusste, dass ihre verbale Attacke ihren Weg zu Phyllida finden würde, bevor der Abend vorbei war. Nun, so sei es eben. Die unglückliche Person sollte über jede Aufmerksamkeit froh sein, auch wenn es eine grausame war. Ein kleiner Teil von Celias Verstand schämte sich dieser gemeinen Gedanken und Worte, aber sie schob ihre Zweifel mit geübter Brutalität beiseite.
Celia ließ die anderen beiden Frauen ihre Krallen an Phyllida wetzen. Sie hatte ein vertrautes Paar breite Schultern und einen blonden Kopf entdeckt, Lord Davenport jedoch sofort wieder aus den Augen verloren, als er in Richtung des Kartenzimmers verschwand und seinen Bruder allein stehenließ. Etwas an dem Anblick Richard Redvers’, der einfach nur dastand, ließ sie mit den Zähnen knirschen. Statt besorgt oder selbstbewusst auszusehen, beobachtete er die Menge im Ballsaal von seiner überdurchschnittlichen Größe aus mit der Zuversicht eines Generals, der auf ein erobertes Schlachtfeld hinabsieht.
Interessierte es diesen Mann nicht, dass er der Gegenstand so vieler Witze in der besseren Gesellschaft war?
Lily Kendall gesellte sich zu ihnen. „Habt ihr gesehen, wen Lord Davenport wieder mitgebracht hat?“
„Wir haben’s schon gesehen“, bestätigte Millie.
„Warum tut er das nur?“, murmelte Lily. „Ich habe in meinem Leben noch nie so einen Lappen gesehen.“
„Auf Lady Warnockes Ball hat er Maria Trevallion zum Tanz aufgefordert, und dem armen Ding fiel keine Ausrede ein. Er ist auf ihren Rock getreten und hat den größten Teil des Saums abgerissen, wobei auch ein Teil des Rocks verlustig gegangen ist.“
„Ich hörte, er hätte so viel davon abgerissen, dass sie beinahe nackt war.“ Sie schnatterten über den bereits breitgetretenen Zwischenfall.
Celia beobachtete den Mann, um den es ging. Offenbar starrte er blicklos auf die Tanzfläche. Seine dicken Brillengläser glitzerten im Licht mehrerer Hundert Kerzen und gaben ihm den Anschein, als wäre er aufrecht stehend eingeschlafen.
Objektiv betrachtet, sah Richard aus wie sein Bruder, doch seine Erscheinung entsprach der von Lucien Redvers in einem verzerrenden Spiegel. Pickel hatte er auch noch, obwohl sie bemerkt hatte, dass sie bereits weniger wurden. Er war ebenso groß wie sein Bruder, aber schlaksig – zu schlank –, und seine Kleidung war eine Schande – zerknittert und ohne jeden Stil.
Seine Lippen erschienen dünner als die von Lord Davenport, der einen vollen, sinnlichen Mund hatte – einen Mund, dessentwegen sich mehr als nur eine junge Dame in den Schlaf geseufzt hatte. Celia nahm an, dass es an dem merkwürdigen Grinsen lag, das Richard immer zu tragen schien.
Er stand ganz allein da, unbeeindruckt von den Menschenmassen, die um ihn herumspülten, wie die hereinbrechende Flut die Felsen am Strand umfloss.
Darum beneidete Celia ihn – um die Fähigkeit, sich in seiner Haut wohlzufühlen. Wenn sie ganz allein dort stehen würde, hätte sie mittlerweile wahrscheinlich einen Ausschlag entwickelt. Darum unternahm sie jede Anstrengung, um niemals in seine Lage zu geraten.
Beinahe, als hätte er ihre Gedanken gehört, drehte er sich in ihre Richtung. Sein Ausdruck war arrogant und verächtlich, als würde er einen seiner Käfer betrachten. Nein, doch nicht, korrigierte sie sich. Denn wenn er das täte, würde er wahrscheinlich interessiert aussehen. Stattdessen betrachtete er sie, als wäre sie eine Schmeißfliege oder irgendein anderes lästiges Insekt, das keine Sekunde seiner Zeit verdiente.
Vielleicht hat er mit seiner Einschätzung recht, Celia. Was ist von deinem Aussehen abgesehen denn schon Interessantes an dir?
Ah, touché, gratulierte sie ihrer inneren Stimme, die jeden ihrer Gedanken und jede ihrer Taten kritisierte.
„Glaubst du, er ist ein Einfaltspinsel?“, fragte Millie in ihrer durchdringenden Stimme.
„Wenn du nicht leiser sprichst, wird er denken, du seist an ihm interessiert, und dann wirst du seine nächste Tanzpartnerin sein“, sagte Celia kühl.
Millie errötete, doch die anderen lachten.
„Was denn, tut er dir plötzlich leid?“, fragte Steff. Ihr Blick schoss zu Lucien, der gerade wieder aus dem Kartenzimmer auftauchte.
„Nein, aber das heißt nicht, dass ich mich selbst zum Gesprächsthema machen möchte.“
Millie stiegen Tränen in die Augen. Ihr Kinn zitterte wegen der Kritik.
Celia wollte nicht mehr über Richard Redvers reden. Eigentlich wollte sie den Mann sogar vergessen.
Nein, was du vergessen möchtest, ist dein schauderhaftes Verhalten ihm gegenüber in den letzten Monaten.
Schön. Das würde ich auch gern vergessen. Aber es war nicht meine Absicht, dass es jedermanns Lieblingsvergnügen wurde, sich über Richard Redvers lustig zu machen.
Es war vielleicht nicht deine Absicht, aber du hast alles dafür getan, dass es so gekommen ist.
Celia war es leid, sich mit ihrem Gewissen herumzustreiten, einem geprügelten, verletzten, unterernährten Ding, das sich zu sterben weigerte, so schlecht sie es auch behandelte. Außerdem war diese Anklage nicht gerecht. Celia hatte vielleicht die Gerüchte gestreut und die Spitzen gesät, aber es war Sebastian gewesen, der sie sich ausgedacht hatte.
Der Duke of Dowden hat vielleicht angefangen, aber du hast das Feuer geschürt, Celia.
Eine weitere Wahrheit.
Sebastian war rücksichtslos gewesen. Seine Kommentare, Bemerkungen und Gerüchte waren gemein und grausam gewesen und hatten sich wie ein Buschfeuer verbreitet. Er war so gut darin, seine Lügen zu verschleiern, dass kaum jemand sie zu ihm zurückverfolgen konnte. Oder zu ihr. Zumindest hoffte Celia, dass niemand außer Steff und Sebastian sie je mit den Grausamkeiten dieser Saison in Verbindung brachte. Zum Teil hatte Celia aus demselben Grund wie alle mitgemacht: um nicht selbst zum Ziel von Sebastians messerscharfem Verstand zu werden. Doch wichtiger war, dass sie alles tat, was Sebastian von ihr verlangte, weil sie wusste, dass er sie zerstören konnte. Er hatte ihr gesagt, dass er es tun würde.
„Du möchtest die Countess of Davenport werden, Mädchen, du musst es nicht leugnen. Doch selbst mit diesem Gesicht wirst du den jungen Earl nicht ohne Hilfe an Land ziehen können. Du wirst Einladungen zu den besten Veranstaltungen benötigen.“ Sebastian hatte ihr ein Lächeln geschenkt, das seinerseits sehr gewinnend gewesen war.
Doch war es nicht auch in der Natur so? Waren die schönsten Geschöpfe nicht auch oft die tödlichsten?
Celia hatte sein angenehmes, völlig ausdrucksloses Lächeln erwidert. „Was lässt dich glauben, dass ich allein nicht an derartige Einladungen komme?“
Der Duke hatte gegrinst und dabei seine spitzen Eckzähne gezeigt. „Oh mein liebes, süßes, unschuldiges Mädchen. Es wäre so einfach, dafür zu sorgen, dass der einzige Ballsaal, den du je von innen siehst, ein öffentlicher Tanzraum ist.“
Celia war zu entsetzt gewesen, um etwas zu erwidern.
„Plustere dich nicht auf, meine Liebe. Ich werde dir den Zugang zu jeder wichtigen Veranstaltung garantieren. Im Gegenzug möchte ich nur ein wenig Hilfe.“
„Ich verstehe nicht. Was könnte ich schon tun, um dir zu helfen?“
„Du kannst tun, was immer ich dir sage.“
Und das war der Anfang gewesen. Celia war Teil von Sebastians innerem Kreis geworden, und es war eine Position, die geachtet, aber nicht besonders bequem war. Man brauchte einen langen Löffel, um mit einem so gefährlichen Mann zu speisen. Selbst seine ehemaligen Mätressen litten Gerüchten zufolge, nachdem er sie verlassen hatte. Der Duke of Dowden war reich und großartig und war in den letzten fünf Jahren allen hoffnungsvollen Müttern aus dem Weg gegangen.
Und aus irgendwelchen Gründen, die Celia nie hinterfragt hatte, hasste er Richard Redvers.
Sobald Celia Sebastians Forderungen zugestimmt hatte – nicht, dass sie je die Wahl gehabt hätte –, hatte er sein Versprechen eingehalten und ihr Einladungen zu Bällen, Partys und anderen Veranstaltungen besorgt, die sie ohne seine Verbindungen nie bekommen hätte. Und alles, was sie dafür hatte tun müssen, war ein wenig Unfug zu verbreiten.
Und selbst ein wenig zu erfinden – vergiss das nicht.
Celia zuckte zusammen, als sie sich an die böse „Ode an einen Abscheulichen“ erinnerte, die sie geschrieben hatte und aus der deutlich hervorging, wer der Abscheuliche war. Außer Sebastian wusste nur Steff, wer sie verfasst hatte, und auch nur aus Versehen. Celia hätte der listigen Schönheit niemals irgendetwas Privates anvertrauen sollen. Sie wusste, dass Lady Stephanie aus zwei Gründen mit ihr befreundet war, und keiner davon hatte damit zu tun, dass sie Celias Gesellschaft schätzte. Erstens wollte sie mit der einzigen Frau gesehen werden, die es an äußerlicher Schönheit mit ihr aufnehmen konnte. Und zweitens war sie Sebastians Cousine und tat, was immer er wollte.
Also war Steff Celias Busenfreundin geworden, und seitdem warteten die beiden lächelnd mit einem andauernden Büfett grausamen Klatsches auf. Hatte Celia Richard Redvers, Phyllida Singleton und Dutzende andere auf dem Altar ihres eigenen Ehrgeizes geopfert?
Du weißt, dass du genau das getan hast, Celia.
Aber ich werde alles wieder gutmachen, wenn Richard und ich Bruder und Schwester sind.
Und wie das?
Ich werde ihn modern kleiden und ihn Frauen vorstellen, die keine Mauerblümchen sind. Es gibt Dutzende Dinge, die ich tun kann, um ihm zu helfen.
Ihr Gewissen lachte herzhaft, während Celia schweigend schmollte.
„Wie ich hörte, ist er ziemlich brillant und hat zwei Jahre früher als üblich mit der Universität angefangen.“ Millies schrille Stimme durchdrang ihre unbequemen Gedanken.
„Er lernt, um Pfarrer zu werden“, sagte Steff mit einem abfälligen Schniefen.
„Nein, er ist einer von denen, die herumlaufen und Käfer sammeln.“
„Igitt!“ Alle vier erschauderten vor Ekel.
„Käfer!“, kreischte Millie. Entweder das Wort selbst oder Millies durchdringende Stimme zog den Blick der betreffenden Person auf die Mädchen.
„Oh nein, er sieht uns an“, fauchte Lily Kendall.
Es hatte den Anschein, doch dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Phyllida Singleton, die sich ihm mit einem weiteren langweilig aussehenden Mädchen im Schlepptau näherte. Redvers schien zum Leben zu erwachen. Ein seltenes Lächeln verwandelte seine normalerweise unergründlichen Züge und ließ ihn beinahe so gut aussehen wie seinen Bruder.
„Seht, er will Phyllida Singleton zum Tanz auffordern“, sagte Millie, die einen Hang dazu hatte, das Offensichtliche auszusprechen.
„Das tut er immer. Sie passen perfekt zusammen. Eine alte Jungfer und ihr bebrillter Verehrer“, sagte Steff. Die anderen lachten, doch Celia stimmte nicht mit ein. Stattdessen stieg Wut in ihr auf, während sie die beiden betrachtete. Wenn Richard Redvers nur ein Fünkchen Verstand hatte, würde er London verlassen und nie wieder an einer Veranstaltung der besseren Gesellschaft teilnehmen. Und wenn er verschwand, könnte Celia aufhören. Sie könnte einfach aufhören.
Doch er war stur und dumm und arrogant und bestand darauf zu bleiben. Und so wurde sie zu immer größeren Grausamkeiten getrieben. Sie wollte, dass es aufhörte, und zwar bald, sonst würde sie wahnsinnig werden.
Bitte, lieber Gott, bitte mach, dass Lucien mir heute Abend irgendein Zeichen gibt … einen Hinweis … und lass diese grässliche Saison bald enden.
Wenn ich du wäre, Celia, wäre ich nicht so erpicht darauf, die Aufmerksamkeit des Allmächtigen auf mich zu lenken.
Wieder musste Celia zugeben, dass diese moralischen Warnungen begründet waren. Angesichts ihres Verhaltens war es wahrscheinlicher, dass sie anstelle göttlichen Segens strafende Blitze auf sich herabbeschwor.
Alle vier sahen schweigend zu, wie Richard Redvers das einfach gekleidete Mauerblümchen zur Tanzfläche führte. An den Ort, an dem Celia jetzt sein sollte. Doch sie hatte absichtlich die meisten Tänze auf ihrer Karte für Lucien freigehalten, der normalerweise gleich zwei Tänze mit ihr beanspruchte. Doch nicht heute Abend.
Nein, heute Abend war er ganz unbekümmert ins Kartenzimmer marschiert und hatte sie hiergelassen. Hier, wo sie seinen Bruder und Phyllida Singleton beobachten konnte, die sich prächtig amüsierten. Sie mochten unbeliebt sein, doch selbst ein Idiot konnte sehen, dass diese beiden Außenseiter sich sicher und geliebt fühlten. Keiner von ihnen musste je fürchten, dass er nach Hause kam und all seine Besitztümer auf der Straße wiederfinden würde.
Celia spürte den kupfernen Geschmack von Blut und hörte auf, auf ihrer Wange zu kauen. Sie zwang sich, ruhig zu atmen und sich zu entspannen.
Der Luxus der Entspannung ist dir nicht vergönnt, meine liebe Celia. Du musst dich um die Dinge kümmern, bevor es zu spät ist.
Was soll ich denn tun? Lord Davenport eins über den Kopf ziehen und ihn zum nächsten Pfarrer schleifen?
Bei der Vorstellung zuckten ihre Lippen. Doch das Lächeln war von kurzer Dauer. Sie hatte ihren ohnehin fragwürdigen Ruf aufs Spiel gesetzt, indem sie Lucien erlaubt hatte, sie nicht nur ein, sondern drei Mal allein zu sehen. Der junge Earl war bei den ersten beiden Gelegenheiten ein perfekter Gentleman gewesen und hatte nichts weiter getan, als ihre Hand zu halten. Dieses Verhalten hatte Celia dazu gebracht, sich beim letzten Mal, als sie beide allein gewesen waren, auf ihn zu stürzen. Selbst dann hatte er noch versucht, ein Gentleman zu sein. „Ich möchte deinen Ruf nicht beschädigen“, hatte er protestiert – wenn auch nicht übermäßig nachdrücklich –, bevor er kapituliert und sie geküsst hatte.
Küssen war eine Fähigkeit, die Celia sorgsam verfeinert hatte, und als sie mit ihm fertig war, glaubte er, dass es seine Zunge gewesen war, die zuerst in ihrem Mund war, und seine Hände, die über ihren Körper gestrichen waren wie marodierende Wikinger.
Wäre ein Pfarrer mit einer entsprechenden Lizenz auf der Gartenparty der Lorings zugegen gewesen, hätte Lord Davenport sie wohl auf der Stelle geheiratet. Leider waren nur seine Schuld und seine reumütigen Entschuldigungen dort gewesen. Und so war Celia gezwungen zu warten, zu warten und zu warten.
Währenddessen war es mit den Finanzen ihres Vaters steil bergab gegangen. Er hatte ihr vor nicht allzu langer Zeit geraten, sich besser einen reichen Ehemann zu angeln, bevor er im Schuldturm landete. Zu Hause – einer heruntergekommenen Ansammlung von Zimmern, die er seit sechs Monaten gemietet hatte – wurde es immer schlimmer. Sie hatten nur noch Henson und ein Mädchen, um ihnen aufzuwarten. Und die arme alte Molly Henson blieb nur, weil sie nicht wusste, wohin sie sonst sollte.
Und genau dieses Problem wirst auch du bald haben.
Davenport musste einfach um ihre Hand anhalten, und er musste es bald tun. Celia hatte vor beinahe sechs Wochen den Samen gelegt, doch seitdem war nicht viel Zeit gewesen, das zarte Pflänzchen in seinem schwerfälligen Männerhirn zu pflegen. Und es zehrte an ihren Nerven, dass Steff immer zugegen war, wenn Celia ein wenig Zeit mit Lucien hatte.
Steff war schön, reich und hatte alle Verbindungen, die Celia fehlten. Sie hatte die bewundernden Blicke gesehen, die Lucien ihrer besten Freundin hin und wieder zuwarf.
Ihre innere Stimme lachte bei den Worten beste und Freundin in Bezug auf Steff, die die hinterhältigste, selbstsüchtigste und hübscheste Person war, die sie kannte.
Also mit anderen Worten fast wie du.
Celia konnte die Anschuldigung nicht zurückweisen. Ihr Kopf pochte, sodass ihr Sichtfeld verschwamm. Sie zwang sich zu einer gelangweilten Miene, während sie mit dem scharfen Blick eines Raubvogels die Menge absuchte. Sie versuchte sich zu überzeugen, dass all das – die unaufhörlichen Bälle mit denselben Menschen, den kaum verschleierten Beleidigungen, die sich alle gegenseitig an den Kopf warfen, selbst diejenigen, die man für Freunde hielt, und die ständige, erdrückende Angst, dass man beginnen würde, die gesellschaftliche Leiter hinabzurutschen, ohne etwas dagegen tun zu können –, nicht nur notwendig, sondern vergnüglich war. Doch es wurde jeden Tag schwieriger, die Lügen, Grausamkeiten und Doppelzüngigkeiten aufrechtzuerhalten.
Dies war ihre zweite Saison, und Celia hatte erkannt, dass es ein kurzer Weg war von dort, wo sie stand, bis zu der Ecke, in der Phyllida Singleton mit all den anderen Ungewollten lauerte. Der einzige Weg, nicht Phyllida zu werden, bestand darin sicherzustellen, dass jemand anders diese Position einnahm. Es war grausam und unschön, doch so lief es in der besseren Gesellschaft.
Drei junge Männer forderten sie zum Tanz auf, doch Celia entschuldigte sich mit einer vagen Ausrede. Bald schon wirbelten Steff und Millie mit ihren Partnern übers Parkett, gleich neben Richard und Phyllida. Letztere wirbelten nicht direkt. Celia sah, wie der ungelenke Richard auf Phyllidas Zehen trat. Es musste wehgetan haben, aber Phyllida lächelte ihn nur an und sagte etwas, das ihn zum Lachen brachte.
Celia musste zugeben, dass Richard Redvers bedeutend besser aussah – sehr viel mehr wie sein wunderbarer, goldener Zwilling – wenn er so lächelte.
Sie nahm an, dass der Glorienschein um Lucien Redvers zum großen Teil ein Produkt seines Geldes und seiner Position war, und nicht daher rührte, dass er sich äußerlich von seinem Bruder unterschied. Als der jüngere Sohn eines Earls würde Richard nur ein Taschengeld bekommen, während Lucien all das schöne Geld, den Grundbesitz und den Status erben würde, der mit dem Davenport-Titel einherging.
Celia kniff die Augen zusammen und beobachtete die beiden sorglosen Mauerblümchen, die lachten und tanzten, während sie unbeachtet und vernachlässigt am Rande stand.
Wie konnten sie es wagen, derart herumzustolzieren, während sie schmollend an der Seite stand? Wenn sie einander so gernhatten, warum hielt Richard dann nicht um die Hand der Frau an, deren Spitzname das Küken war? Wenn sie …
„Was macht denn die Schöne der Saison hier so ganz allein?“ Beim Klang von Sebastians sanfter, kühler Stimme zuckte sie zusammen.
„Hallo, Sebastian.“ Sie reichte ihm ihre Hand, und er beugte sich darüber.
„Wo ist dein Verehrer?“
Sebastian war groß. Einen guten Kopf größer als die meisten hier. Mit einem überheblichen Grinsen sah er sich im Saal um.
„Lässt er dich stehen?“ Sein Blick blieb an etwas auf der Tanzfläche haften, und Celia wusste, was es war, noch bevor er sprach. „Ah, der Abscheuliche und das Küken.“
Celia zuckte zusammen, als sie die Namen hörte, die beide ihrer Fantasie entstammten. Seine Lippen zuckten, und er sah Celia neugierig an. „Keine Sorge, Schätzchen. Dein kleiner Lord geht dir nicht aus dem Weg. Davenport muss nur dem armen Beaky aushelfen.“ Er legte seinen Kopf schief. „Aber wie wäre es, wenn ich den kleinen Lord zu dir brächte und ihn dir zu Füßen legte?“
Celia schluckte ihren Selbsthass hinunter und lächelte ihn an. Sie hoffte, dass ihre Miene eher gelangweilt als verzweifelt aussah.
„Das würdest du tun? Das wäre wunderbar, Sebastian.“
Kichernd wandte er sich wieder der Tanzfläche zu. „Gerade habe ich eine höchst amüsante Idee, wo ich hier so stehe. Eine … verschlagene Idee. Etwas, das dieser Saison ein wahrhaft schändliches Ende bereiten wird.“
Celia schluckte. „Schändlich?“, fragte sie und versuchte, unbekümmert zu klingen, erstickte aber beinahe an der Angst, die sie bei seinen Worten überkam. Was im Namen alles Unheiligen hatte er sich nun wieder ausgedacht? Die nächsten Worte musste sie aus ihrem Mund zwingen. „Erzähl, Sebastian.“
Wenn Celia Jahre später an diese Unterhaltung zurückdachte, war sie entsetzt darüber, wie schnell ein Leben sich ändern konnte. Damals wusste sie es noch nicht, aber genau dieser Moment, der nur wenige Sekunden dauerte, markierte eine wichtige Gabelung auf ihrem Lebensweg. Celia konnte zwar nicht wissen, ob der andere Weg – der, auf dem sie Sebastian seinen Wunsch abgeschlagen hätte – besser gewesen wäre, doch bald würde sie erfahren, dass er kaum schlimmer hätte sein können, als der Weg, für den sie sich entschieden hatte.
Kapitel 2
Zehn Jahre später
Richard las den Satz noch einmal: „Antonia ist mit dem Duke of Dowden verlobt.“ Dann sah er von seinem Brief auf. Sein Gehirn – eigentlich das beweglichste Organ von allen – kämpfte mit den einfachen Worten.
„Was ist los, Dickie-Liebling?“, fragte Lady Honoria Simms und fuhr mit ihren Fingernägeln an seiner nackten Seite empor, als er nicht sofort antwortete.
„Hm?“, machte er, faltete den Brief zusammen und warf ihn auf den Nachttisch, bevor er sich wieder ihr zuwandte.
Nach ihrer letzten Runde ausgiebigen Bettsports hatten sie sich ausgeruht – erholt, um genau zu sein. Dann war Honeys Zofe erschienen und hatte Luciens Brief gebracht.
„Du siehst merkwürdig aus.“ Sie schnaubte. „Merkwürdiger als ohnehin schon. Ich hoffe, es gibt keine schlechten Neuigkeiten?“
Richard umfasste ihre volle Brust, strich abwesend mit seinem Daumen über ihren Nippel, bis er hart wurde, und nahm ihn dann zwischen seine Lippen. Was hatten Brüste nur an sich, dass er seinen Mund auf jeden nackten Nippel pressen wollte, den er zu Gesicht bekam?
Honey stöhnte unter seinem Nuckeln und Saugen und bog ihren Rücken durch.
„Oh!“, keuchte sie und entzog sich ihm, als er kurz davor war zu vergessen, was er gerade gelesen hatte. Er entließ ihre pralle Knospe mit einem nassen Ploppen aus seinem Mund und sah sie stirnrunzelnd an. „Was ist?“
„Deine Brille.“
„Hm?“
„Deine Brille ist kalt, Richard. Nimm sie ab.“
„Nein.“ Er wandte sich wieder ihrem Nippel zu und strich erneut mit seinem Daumen darüber.
Sie lachte, und er konnte die Erschütterung in ihrem Körper unter seiner Hand spüren. „Du bist wirklich der merkwürdigste Mann, der mir je begegnet ist.“
Das hatte er schon hundertmal gehört. „Ich möchte deinen Körper und was ich damit anstelle sehen“, erklärte er, auch wenn er das ebenfalls schon gesagt hatte.
„Das weiß ich. Glaub mir, ich erinnere mich daran, wie sehr du mich ansehen möchtest.“
Richards Mund verzog sich zu einem Lächeln. Er war nicht gut darin, den Subtext einer Unterhaltung zu erfassen, doch ihm war klar, dass sie sich auf das eine Mal bezog, als sie zu viel Wein getrunken und ihm erlaubt hatte, ihren Körper mit seiner besten Lupe zu erkunden. „Ich nehme meine Brille ab, wenn du mir wieder erlaubst, das Vergrößerungsglas zu benutzen“, bot er ohne viel Hoffnung an.
„Ich bin keiner deiner Käfer, Richard.“
Das war sie tatsächlich nicht. Honoria Simms war eine üppige, liebenswürdige, reiche Witwe, die ihrem vierzigsten Geburtstag ins Auge sah und unter endlosen Bedenken litt. Richard nutzte ihre altersbedingte Ängstlichkeit wieder und wieder schamlos aus, um sich unerhörte Freiheiten mit ihrem großartigen Körper herauszunehmen. Er sollte sich wegen seiner fehlenden Gewissensbisse schuldig fühlen, tat er aber nicht.
„Ich glaube, du kamst ohne ein Gewissen auf die Welt – besonders, wenn es um Frauen geht“, hatte Lucien mehr als einmal gesagt. Richard schüttelte den Gedanken an seinen Bruder ab und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Honeys vernachlässigter Brust zu. Gott, sie war ein wunderbares Exemplar der weiblichen Spezies. Richard fand es faszinierend, dass ihr fortgeschrittenes Alter – sie war weit über die fruchtbaren Jahre einer Frau hinaus – seinem Fortpflanzungsorgan völlig egal war. Es war enthusiastisch wie eh und je, seiner Pflicht nachzukommen.
Nach Jahren hingebungsvollen und sorgfältigen Studiums war er zu dem Schluss gekommen, dass die menschliche sexuelle Begierde nicht ausschließlich dem Verlangen der Natur oder dem Arterhaltungstrieb folgte. Nein, tatsächlich …
„Was stand in dem Brief?“ Honeys Stimme unterbrach ihn bei seiner Hypothese.
„Hm?“, murmelte er und ließ seine Hand an ihrem Körper hinuntergleiten, bis er ihre Hüfte erreichte. Er schob ihre Beine auseinander und wandte sich jenem Teil ihrer Anatomie zu, mit dem sie ihn selbst mit seiner Brille auf der Nase spielen ließ.
Richard senkte seinen Mund und inhalierte ihren femininen Duft. Ihre Wirkung auf seinen Körper fand er gleichermaßen erregend und faszinierend.
„Glaub nicht, dass du meine Frage einfach ignorieren kannst, indem du … Ah! Mein Gott, Richard!“
Er berührte sie kaum merklich mit seiner Zunge. Sie erschauderte, sagte aber dann: „Richard. Was stand in dem Brief?“ Sie konnte sehr hartnäckig sein. Er seufzte und blickte widerwillig auf. Dann musste er sie eben mit seinen Fingern liebkosen. Erst einmal.
„Meine Schwester wird heiraten“, sagte er und stellte wieder einmal fest, dass ihr Schamhaar mehrere Schattierungen dunkler war als das auf ihrem Kopf. Das erinnerte ihn an ihre letzte Meinungsverschiedenheit, die entstanden war, nachdem er unschuldig, wenn auch nicht besonders klug, vorgeschlagen hatte, dass sie ihm erlaubte, sie zu rasieren. Als sie gefragt hatte, wie er auf eine so exotische Idee gekommen war, hatte er ihr die Wahrheit gesagt: dass er die Dienste einer Prostituierten in Anspruch genommen hatte, die rasiert gewesen war. Diese Erfahrung hatte er sehr erhellend gefunden.
Statt es ihm zu erlauben – alles im Namen der Wissenschaft, natürlich –, hatte sie ihn umgehend aus ihrem gemütlichen kleinen Stadthaus hinausgeworfen, auch wenn es mitten in der Nacht gewesen und Schneeregen vom Himmel gefallen war. Und dann hatte sie sich geweigert, ihn wiederzusehen. Sie hatte erst eingelenkt, als sie erfuhr, dass ihre Erzfeindin aus Pariser Kreisen, Mrs. Andrew Martin, Richard zu einem privaten Dinner eingeladen hatte.
„Richard.“
„Hm?“ Er kannte diesen Ton. Die Menschen benutzten ihn, wenn sie seinen Namen bereits mehr als einmal gesagt hatten, und er nicht reagierte. Richard teilte ihre Locken und entblößte diesen faszinierendsten Teil ihres Körpers seinen Blicken.
„Ja, was sagtest du?“, fiel ihm gerade noch ein zu fragen.
„Ich fragte, ob du anlässlich der Hochzeit nach Hause fahren wirst?“
Er liebte es, Frauen zu betrachten. Es war eine Art Manie von ihm geworden – das hatte zumindest Lucien gesagt, als er Richard das letzte Mal in Wien besucht hatte.
„Richard!“
Er fuhr auf. „Was?“
„Die Hochzeit. Wirst du hinfahren?“
„Oh, ja“, antwortete er und senkte seinen Mund in der Hoffnung, dass das diese Flut von Fragen aufhalten würde. Es klappte. Doch während Honey unter seinen sachkundigen Berührungen stöhnte und sich wand, ging ihm ihre Frage im Kopf herum.
Würde er nach Hause fahren? Natürlich. Er konnte die Hochzeit seiner kleinen Schwester nicht verpassen. Und ebenso wenig konnte er den letzten Brief seiner Mutter ignorieren.
Richard liebte seine Mutter, Baroness Ramsay, mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt – sogar mehr als seinen Zwillingsbruder. In vielerlei Hinsicht war sie eine weibliche Version seiner selbst. Oder besser gesagt war er eine männliche Version ihrer selbst, denn schließlich war er aus ihr hervorgegangen. Keiner von ihnen beiden kam gut mit Fremden zurecht oder genoss gesellschaftliche Veranstaltungen. Doch selbst seine Mutter war mit ihrer Liebe zu politischer Geschichte und Philosophie besser für Unterhaltungen mit anderen gerüstet als er. Wenn die Leute erfuhren, dass er Naturforscher war – und worauf er sich dabei spezialisiert hatte – verhielten sie sich merkwürdig und beschämt.
Und dann kritisierten sie noch seine Art, die Menschen zu betrachten, als würde er sie visuell sezieren. Nun, an seinem Gesicht konnte er wohl kaum etwas ändern, nicht wahr? Außerdem, war eine visuelle Sektion nicht besser als eine tatsächliche?
Lady Simms warf ihm ihre Hüften entgegen und wies ihn so darauf hin, dass seine Gedanken sich wohl in die falsche Richtung bewegt hatten. Es sah ihm überhaupt nicht ähnlich, sich ablenken zu lassen, während er sich seiner Lieblingsbeschäftigung widmete.
Zuhause.
Das Wort wand sich in seine Gedanken wie eine Schlange, so sehr er es auch zu verdrängen suchte. Konnte ein Mann einen Ort wirklich als Zuhause bezeichnen, wenn er die Gelegenheiten, zu denen er bisher dorthin zurückgekehrt war, an einer Hand abzählen konnte? Er war in den letzten zehn Jahren immer nur kurz dort gewesen. Richard schob den Gedanken beiseite. Es spielte keine Rolle. Er würde nach England reisen.
Sobald er diesen Entschluss gefasst hatte, widmete er sich wieder der vor seinen Händen liegenden Aufgabe. Oder eher vor seinem Mund. Lady Honoria vergrub ihre Finger in seinem Haar und zog so fest daran, dass er geschworen hätte, gehört zu haben, wie einzelne Strähnen an den Wurzeln ausgerissen wurden.
„Mein Gott, Richard!“
Er lächelte, nun, da alle Gedanken an seine Familie, an England, Hochzeiten und Zuhause an ihren jeweiligen Orten in seinem Gedächtnis verstaut waren.
***
Das wütende Klingeln einer Glocke riss Celia aus dem Schlaf.
Man hätte denken können, dass sie sich nach einem Jahr bei Lady Yancy an den schrillen, unangenehmen Klang der Knechtschaft gewöhnt hatte. Doch jedes Mal schlug ihr das Herz bis zum Hals. Ihre Füße bewegten sich bereits, bevor ihr Blick komplett scharf war. Es war töricht gewesen, ein Nickerchen zu versuchen, doch sie war letzte Nacht zu lange aufgeblieben und hatte die Bücher aus der Bibliothek gelesen, der Lady Yancy angehörte. Celia war es nicht erlaubt, sich selbst über die Mitgliedschaft ihrer Arbeitgeberin Bücher auszuleihen, doch wann immer noch ein wenig Platz auf ihrer Karte war, tat sie es trotzdem. Und dann las sie den Roman so schnell sie konnte, damit sie ihn nicht zur Hälfte gelesen zurückgeben musste, wenn die Bücher ihrer Arbeitgeberin fällig wurden.
Lady Yancys Haus war ein schmucker kleiner Bungalow an der Hauptstraße in Harrogate. Der aktuelle Marquess of Yancy hatte ihn für seine Mutter gekauft. Celia wusste, dass er Harrogate gewählt hatte, weil es so weit wie möglich von Yancy House in London entfernt war, wo zur Zeit der pompöse Marquess, seine habgierige Frau und ihre sechs abscheulichen Kinder wohnten.
Celia nahm an, dass er seine Mutter gern noch weiter in den Norden verbannt hätte – vielleicht nach John O’Groats – doch die alte Dame war standhaft geblieben.
Als Celia die Tür zum Wohnzimmer öffnete, sah sie, dass Lady Yancy Gesellschaft hatte.
„Oh, ich bitte um Verzeihung, Mylady. Ich wusste nicht, dass Ihr Besuch habt“, sagte Celia.
„Deshalb habe ich Sie herbestellt. Kommen Sie her, Pelham“, befahl die Witwe. „Das hier ist Lady Morton. Sie hat mich eingeladen, die Weihnachtsferien in Eastbourne zu verbringen.“
Celia knickste tief vor der Adligen, die sie durch ein stark ziseliertes Vergrößerungsglas betrachtete. Die tiefen Furchen um ihren missmutigen Mund verrieten Celia, dass diese Miene ihre übliche war.
„Es ist mir eine Ehre, Mylady“, murmelte Celia.
Lady Morton schnaubte und ließ langsam ihr Augenglas sinken. „Sie ist tatsächlich so hübsch, wie du gesagt hast, Lenora.“
Es entstand eine lange Pause, und Celia bemerkte, dass die beiden älteren Damen sie anstarrten.
„Äh, danke, Mylady.“
Lady Morton tippte sich mit dem Griff ihres Augenglases an ihr ziemlich prominentes Kinn. „Pelham, sagten Sie?“
„Ja, Mylady.“
„Sie kommen mir bekannt vor. Sind Sie mit den Shropshire-Pelhams verwandt?“
„Nein, Mylady, ich fürchte nicht.“
„Ich habe das Gefühl, Sie schon einmal gesehen zu haben.“
„Wir sind uns noch nie begegnet“, sagte Celia. „Sicher würde ich mich daran erinnern“, konnte sie nicht widerstehen hinzuzufügen. Bei dieser letzten Bemerkung verengten sich Lady Mortons harte graue Augen, als würde sie eine versteckte Bedeutung darin vermuten. Ihr Blick schweifte über Celias einfaches braunes Morgenkleid. „Ja, wirklich außergewöhnlich hübsch.“
„Sie kam zu mir, nachdem sie den Haushalt von Bernadette Ingram verlassen hat“, sagte Lady Yancy.
Lady Morton zog die Augenbrauen hoch. „Tatsächlich. Ich kann mir vorstellen, was dort passiert ist.“
Mrs. Ingram, eine ortsansässige Dame, hatte sechs Söhne im Alter zwischen vierzehn und fünfundzwanzig. Die Ingram-Männer waren berüchtigt für ihre wandernden Augen und Hände. Und die Arbeit als Gesellschafterin für ihre ziemlich geistlose Mutter war eine der schlimmsten, die sie in den letzten zehn Jahren gehabt hatte. Jederzeit waren mindestens zwei der Ingram-Männer anwesend gewesen und hatten Celia belästigt. Erst als der neunzehnjährige William Celia an der Tür zum Wohnzimmer festgehalten hatte, während sich seine Mutter auf der anderen Seite befand, hatte diese die Situation zur Gänze erfasst. Obwohl der Zwischenfall zweifellos nicht Celias Schuld war, gab man ihr eine Woche, um eine neue Stelle zu finden.
„Sie war nicht lange dort“, sagte Lady Yancy.
Elf. Endlose. Monate.
„Das kann ich mir auch nicht vorstellen, Lenna.“
Celia stieg die Hitze ins Gesicht, während die beiden über sie sprachen, als wäre sie ein Gegenstand. Obwohl das eigentlich nichts Neues war.
„Hm.“ Lady Morton schien Celia aus ihren Gedanken zu verbannen und wandte sich wieder an ihre Freundin. „Ich würde es sehr begrüßen, wenn du mitkommen und mir helfen würdest, Lenna. Du weißt, wie viel Arbeit diese Dinge verursachen können, und ich fürchte, von Seiten der lieben Antonia können wir nicht viel Hilfe erwarten – nicht mit Lady Ramsay als Mutter.“
Bei diesem Namen fuhr Celias Kopf hoch.
Lady Yancy kicherte. „Großer Gott, nein. Sie ist eine dieser merkwürdigen, modernen jungen Frauen, die darauf bestehen, sich mit Männersachen zu beschäftigen.“ Sie schürzte die Lippen. „Da gab es doch einen Skandal, wenn ich mich recht erinnere.“
„In der Tat. Die Kleine hat Davenport geheiratet, als sie siebzehn und er jenseits der Siebzig war. Schenkte ihm die beiden Jungen und heiratete zehn Jahre später den Neffen.“
Die Augen der beiden alten Damen glitzerten begierig angesichts dieses wunderbaren, wenn auch uralten Klatsches.
„Und dann ist da noch Lady Amelia. Erinnerst du dich an unsere gemeinsame Saison?“ Sie keckerten wie Hexen.
Celia fragte sich, wann ihr Debüt gewesen sein mochte. Sicher unter der Herrschaft George II.
„Auf jeden Fall“, sagte Lady Morton, sobald sie sich wieder gefasst hatte, „bin ich sicher, dass ich deine Hilfe gebrauchen kann, wenn wir einer Meute junger Leute gegenüberstehen, die nichts als ihr Vergnügen im Sinn haben.“
Die beiden Frauen unterhielten sich weiter, während Celia unsicher im Raum stand.
„Sehr schön, Moira“, sagte Lady Yancy einige Zeit später. „Das klingt hervorragend. Ich bin seit Jahren bei keiner Hausparty mehr gewesen – und schon gar nicht bei einer Hochzeit.“
„Es ist schrecklich, wie du dich selbst vergräbst“, tadelte Lady Morton. „Du solltest öfter rausgehen.“
Lady Yancys Blick richtete sich auf Celia. „Sie bekommen endlich die Gelegenheit, sich Ihre Brötchen zu verdienen, Pelham.“
Celia zögerte. Bevor sie den Mut verlor, fragte sie: „Darf ich nach den Namen des glücklichen Paars fragen?“
Lady Morton schien auf die zweifache Größe anzuwachsen. „Mein Neffe ist Sebastian Fanshawe, der Duke of Dowden. Er ist der älteste Sohn meiner lieben verstorbenen Schwester Fanny. Er wird das Ramsay-Mädchen heiraten, Miss Antonia Redvers. Die Hochzeit wird an Weihnachten auf dem Landsitz der Ramsays stattfinden.“
Die Worte trafen sie wie kleine Fausthiebe, die ihr die Luft aus der Lunge prügelten.
„An Weihnachten? Das ist ja merkwürdig“, sagte Lady Yancy, deren Stimme aus weiter Ferne zu Celia durchdrang.
Redvers. Der Name hallte in ihrem Kopf nach. Sicher musste es irgendeine andere Redvers sein?
„Pelham? Pelham?“
Celia bemerkte, dass die beiden älteren Damen sie merkwürdig ansahen. „Stimmt etwas nicht?“, fragte Lady Yancy.
„Es ist alles in Ordnung, Mylady.“ Celia lächelte gezwungen. „Eine weihnachtliche Hausparty. Und eine Hochzeit“, sagte sie schwach. „Das klingt so wunderbar.“