Prolog
Devon, England
Frühjahr 1795
„Warum willst du es mir nicht einfach geben?“, wollte Isabel wissen, die Fäuste hatte sie auf wenig damenhafte Weise in die schmalen Hüften gestemmt. „Es ist ja nicht so, als ob mir das Geld nicht gehörte. Es ist meins! Du hast kein Recht, es zu horten.“
Ein Strahl der Spätnachmittagssonne fiel durch die langen Fenster in der Bibliothek, verwandelte ihr rotes Haar in einen Flammenkranz, und Marcus musste daran denken, wie oft sein siebzehnjähriges Mündel ihn an Feuer erinnerte. Manchmal war sie mehr wie ein nettes, fröhliches kleines Feuer, und ein andermal, wie jetzt zum Beispiel, glich sie trotz ihrer zierlichen Figur einer gefährlichen Flammensäule, die jederzeit in eine Feuersbrunst ausbrechen konnte, die ihn zu verbrennen drohte. Er hatte bereits das Gefühl, als ob seine Haut versengt sei, er befürchtete, dass es heute wohl mit einem Flächenbrand enden würde.
Die Diskussion, wenn man so weit gehen wollte, das hier so zu nennen, fand in der gemütlichen Bibliothek von Sherbrook Hall, Marcus‘ Landsitz in Devon, statt und hatte vor etwa zehn Minuten begonnen, als Isabel in das Haus gestürmt war und verlangt hatte, ihren Vormund zu sehen. Und zwar sofort! Da Miss Isabel ihr ganzes Leben lang auf Sherbrook Hall ein- und ausgegangen war, hatte Thompson, der Butler, die junge Dame unverzüglich und mit perfekter Haltung in die Bibliothek geführt und sich selbst auf die Suche nach dem Hausherrn gemacht. Sobald Marcus den Raum betreten hatte, hatte Isabel ihn mit ihrer Tirade überfallen, während er – zugegeben nicht sonderlich erfolgreich – versucht hatte, einen weiteren Zusammenstoß mit seinem temperamentvollen Mündel zu vermeiden.
„Ich habe jedes Recht“, erwiderte er geduldig. „Ich bin dein Vormund, und als solcher ist es meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass du dein Vermögen nicht verschwendest, ehe du volljährig wirst oder heiratest.“
Isabel stampfte mit dem Fuß auf. „Du weißt sehr wohl“, entgegnete sie hitzig, „dass mein Vater nie beabsichtigt hat, dass du mein Vormund wirst! Onkel James sollte das sein – nicht du!“
Was natürlich stimmte, das musste Marcus zugeben. Isabels Vater Sir George war beinahe siebzig gewesen, als er alle damit verblüfft hatte, dass er eine Frau heiratete, die jung genug war, seine Enkelin zu sein; dann hatte er prompt ein Kind mit ihr gezeugt. Zu Sir Georges Freude war Isabel knapp zehn Monate nach der Hochzeit zur Welt gekommen. Sein Tod im Alter von achtzig Jahren, als Isabel gerade zehn war, war dagegen keine große Überraschung gewesen. Der Tod von Marcus’ eigenem Vater vor ungefähr vier Jahren hatte hingegen alle erschüttert. Mit neunundfünfzig Jahren war der ältere Mr Sherbrook eines Abends bei bester Gesundheit zu Bett gegangen und am folgenden Morgen nicht wieder aufgewacht. Noch immer benommen vor Trauer und unfähig zu glauben, dass es tatsächlich geschehen war, war Marcus Sherbrook von seinem Notar mehrere Wochen später unterrichtet worden, dass er neben dem Vermögen und den Ländereien seines Vaters auch die Vormundschaft über Sir Georges einziges Kind geerbt hatte, die damals dreizehnjährige Isabel. Marcus war entsetzt gewesen, da er wie alle Welt angenommen hatte, dass Sir Georges jüngerer Bruder James ihr Vormund werden würde. Doch dem war nicht so. Zu der Zeit, als das Dokument aufgesetzt worden war, hatte Sir George nicht den Eindruck gehabt, dass sein jüngerer Bruder, der ein Leben als eingefleischter Junggeselle in London führte, einen geeigneten Vormund für seine Tochter abgeben würde. Eine viel bessere Wahl wäre, hatte er gedacht, sein guter Freund und Nachbar Mr Sherbrook. Unseligerweise hatte Sir George nicht zwischen dem jüngeren und dem älteren Mr Sherbrook unterschieden und keinerlei weitergehende Vorkehrungen für den Fall von Mr Sherbrooks Tod getroffen. Obwohl alle wussten, dass Sir George nie beabsichtigt hatte, dass der Sohn seines besten Freundes Isabels Vormund wurde, war genau das eingetreten. Selbst jetzt noch staunte Marcus ungläubig, wenn er daran dachte. Er war damals erst dreiundzwanzig Jahre alt gewesen. Was wusste er über die Vormundschaft über ein junges Mädchen? Nicht viel mehr, überlegte er mit leiser Belustigung, als ich jetzt weiß.
„Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich spreche“, erklärte Isabel, als er beharrlich schwieg. „Du solltest nicht mein Vormund werden.“
„Das will ich einräumen“, erwiderte Marcus schließlich, „aber da dein Vater vor seinem Tod keine anderen Bestimmungen für dein Wohlergehen hinterlassen hat und niemand ahnen konnte, dass mein Vater so unerwartet sterben würde, fürchte ich, sind wir beide miteinander geschlagen.“
Isabel zuckte die Achseln. „Das weiß ich alles, und im Prinzip“, räumte sie widerstrebend ein, während sie sich etwas zu beruhigen schien, „bist du auch gar nicht so schlimm. Ich begreife nur einfach nicht, warum du so stur sein musst, ausgerechnet in dieser Angelegenheit. Schließlich verlange ich ja gar keine so hohe Summe. Dein neuer Zweispänner und das Paar schöner Rappen, die du dir kürzlich gekauft hast, waren teurer als das, worum ich dich heute bitte.“ Ihre Augen wurden schmal. „Und es ist mein Geld, nicht deines.“ Als Marcus weiter nichts sagte, fügte sie hinzu: „Es wäre auch nicht verschwendet.“
„Das ist Ansichtssache“, antwortete er. Sie betrachtete ihn unter finster zusammengezogenen Brauen, und er grinste. „Komm schon“, sagte er, und in seinen kühlen grauen Augen funkelte Belustigung, „du weißt doch, dass ich dir als dein Vormund wenig verweigere, aber es wäre nachlässig von mir, wenn ich dir gestatte, ein kleines Vermögen für ein Pferd auszugeben.“ Er schüttelte den Kopf. „Besonders für dieses Pferd.“
Ihr Temperament flammte wieder auf, und ihre topasfarbenen Augen wurden schmal. „Und was, sag mir bitte, ist an Tempest auszusetzen?“
„An ihm ist nichts auszusetzen. Der Preis, den Leggett für ihn verlangt, ist zwar hoch, aber nicht übertrieben. Ich stimme dir auch zu, dass der Hengst wunderschön ist. Sein Stammbaum ist makellos, und jeder mit einem Auge für gutes Pferdefleisch wäre stolz, ihn sein Eigen zu nennen.“
Ihre finstere Miene heiterte sich sogleich auf, und ein strahlendes Lächeln glitt über ihre schmalen, lebhaften Züge. „Oh, Marcus, er ist doch wirklich ein prächtiger Hengst, nicht wahr?“
Marcus nickte, trotz allem von dem Lächeln behext. „Ja, ist er.“ Sich zur Ordnung rufend, schob er nach: „Aber er ist nichts für dich.“
Das Lächeln verschwand so jäh, als hätte sich eine Gewitterwolke vor die Sonne geschoben. „Und warum nicht?“
„Weil“, erklärte er unverblümt, „du im Augenblick weder über die Körperkraft verfügst noch über die Erfahrung, ein Tier dieser Größe und dieses Temperaments zu kontrollieren.“ Er lächelte leicht. „Du und das Pferd, ihr seid beide jung und untrainiert, sodass ihr euch vermutlich innerhalb einer Woche gegenseitig umbringt.“ Ein empörtes Keuchen war zu hören, und er hob die Hand. „Aber es gibt noch einen Grund, weshalb ich deine jüngste Laune nicht finanzieren werde. Wie oft hast du schon einen verrückten Plan nach dem anderen ausgeheckt, nur um innerhalb von zwei Wochen das Interesse daran wieder zu verlieren? Erinnere dich nur an die Zeit, als du Ziegen züchten wolltest. Oder als du felsenfest davon überzeugt warst, dass du Hühner halten wolltest. Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, haben die Ziegen beinahe den gesamten Rosengarten deiner Tante Agatha bis auf die Wurzeln abgefressen, ehe sie auf den Markt gebracht werden konnten; und was die Hühner angeht … War da nicht etwas mit einem Hahn und dem geschnitzten Treppenpfosten aus Rosenholz auf Denham Manor?“ Ohne auf den Sturm zu achten, der sich in ihren Augen zusammenbraute, fuhr er fort: „Und jetzt sagst du, du wolltest Pferde züchten, aber was ist nächsten Monat oder nächstes Jahr? Und noch etwas gilt es zu bedenken: Was soll mit deinen Pferden geschehen, wenn du nächstes Jahr zur Saison nach London gehst?“ Er schüttelte den Kopf, lächelte sie an. „Ich kenne dich. Spätestens im Sommer wird in deinem Kopf nur noch für Ballkleider und Flitterkram Platz sein, für die Gesellschaften und die Bälle, die du im Frühjahr besuchen wirst, und die Herren, denen du den Kopf verdrehst. Wenn du dann heiratest, wie du das sicher tun wirst, wirst du keine Zeit mehr für die Pferdezucht haben, sondern mit anderem beschäftigt sein. Das Geld für Tempest wäre zum Fenster hinausgeworfen.“
Ihr schlummerndes Temperament erwachte, und ihre kleinen Hände ballten sich zu Fäusten. „Das ist unfair!“, warf sie ihm wütend vor. „Ich war gerade mal elf Jahre alt, als ich die Hühner wollte, und es war nicht meine Schuld, dass der Hahn ins Haus geflogen ist; Papas alter Hund Lucy hat ihn dorthin gejagt“, verteidigte sie sich. „Es stimmt, die Ziegen haben Tante Agathas Rosen letzten Herbst abgefressen, aber es hat den Blumen nur gutgetan. Dieses Jahr kann man nichts mehr davon sehen, was die Ziegen angerichtet haben, die Rosen blühen einfach prächtig. Sogar Tante Agatha hat das gesagt.“ Sie warf ihm einen Blick voller Abneigung zu. „Und es waren auch gar nicht alle Rosen, sondern nur ein paar.“
Marcus ignorierte diesen Ausbruch und sagte: „Ich möchte nur darauf hinweisen, dass du dir in der Vergangenheit nicht unbedingt den Ruf erworben hast, deine Schnapsideen zu Ende zu bringen. Woher soll ich wissen, dass Tempest und dein Vorhaben, Pferde zu züchten, nicht nur ein weiterer Fall von Ziegen in den Rosen und einem Hahn im Haus ist?“
Sie starrte ihn empört an, in ihrer Brust rangen Gekränktheit und Wut miteinander. Warum konnte er nicht begreifen, dass Tempest und das großartige Gestüt, das sie sich im Geiste ausmalte, nichts mit Ziegen und Hühnern zu tun hatten? Ihr verflixter Vormund wusste sehr gut, dass sie Pferde liebte, sie ihr ganzes Leben lang schon geliebt hatte und sehr gut mit ihnen umging. Alle sagten das. Sogar Marcus räumte ein, – wenn er nicht so aufreizend halsstarrig war -, dass sie ein Gespür für Pferde hatte. Es war ungerecht und nicht nett, ihr jetzt die Desaster mit den Ziegen und den Hühnern vorzuhalten. Das waren kindische Ideen gewesen. Inzwischen aber war sie erwachsen und traf reife und wohl überlegte Entscheidungen. Warum nur, oh, warum nur konnte er das nicht erkennen? Warum bestand er darauf, sie als Kind zu sehen? Als Kind, dem man nachsichtig den Kopf tätschelte und das man wieder wegschickte, wenn es einem unbequem wurde?
Isabel musste nur in den Spiegel in ihrem Zimmer sehen, um die Antwort auf diese Frage zu finden, überlegte sie betrübt. Sie sah noch aus wie ein Kind. Sie war kaum fünf Fuß groß und war von schlankem, elfengleichem Wuchs. Zu ihrer großen Enttäuschung hatte sie keinen nennenswerten Busen, und es würden vermutlich noch Jahrzehnte vergehen, ehe ihre Familie und ihre Freunde aufhörten, sie als Kind zu betrachten. Es half auch nicht, dass das Schicksal ihr einen roten Lockenschopf beschert hatte und – leider – Sommersprossen auf der Nase, die noch so viel Buttermilch- und Gurkenmasken nicht verschwinden ließen. An der Nase selbst hatte sie nichts auszusetzen; sie war, hatte sie vor ein paar Monaten erst entschieden, eine wirklich nette Nase, zartgeformt und mit einem frechen Aufwärtsschwung an der Spitze. Niemand konnte abstreiten, dass ihre Augen, groß und leuchtend, umrahmt von dichten, wunderbar langen Wimpern, das Schönste an ihr waren. Aber schöne Augen hin oder her, nichts, noch nicht einmal die Tatsache, dass sie das Schulzimmer vor Wochen schon hinter sich gelassen hatte, würde dafür sorgen, dass alle sie in einem anderen Licht sahen, solange ihre Figur der eines zehnjährigen Knaben glich! Besonders nicht Marcus Sherbrook. Mit einem schmerzlichen Ziehen im Herzen erkannte sie, dass sie von ihm als junge Dame gesehen werden wollte. Das würde jedoch nie geschehen – nicht solange sie in diesem jungenhaften Kinderkörper gefangen war, überlegte sie verbittert. Elend erfasste sie. Sie würde nie eine hochgewachsene, stattliche Schönheit sein; sie war dazu verurteilt, ihr Dasein klein, flachbrüstig und sommersprossig zu fristen. Es war alles so ungerecht!
Sie bezwang den Drang, in Tränen auszubrechen, hob ihr Kinn und erklärte mit bewundernswerter Ruhe: „Du hast jedes Recht zu glauben, Tempest sei für mich nicht mehr als eine Laune. Aber wenn, wie du eben gesagt hast, er ein Pferd ist, das zu besitzen jeden stolz machen würde, dann gibt es keinen Grund, ihn nicht zu kaufen. Wenn, wie du glaubst, ich seiner bald schon müde werde, dann sollte er sich doch für einen ähnlichen Preis weiterverkaufen lassen, zu dem ich ihn erworben habe. Dann würde ich kein Geld verlieren.“
Marcus betrachtete sie eine Weile schweigend. Isabel hatte er immer schon nur schwer widerstehen können, und seit sie in den vergangenen Jahren zu einer schönen jungen Frau erblüht war, fiel es ihm zunehmend schwerer, ihr nicht jeden Wunsch zu erfüllen. Er verfluchte diese verdammte Vormundschaft, die dafür sorgte, dass sie sich so oft stritten. Dabei war es nicht immer so gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, da war sie ihm wie ein zutrauliches Kätzchen auf den Fersen gefolgt, und er hatte sich darüber gefreut. Er konnte es nicht erklären, aber seit dem Augenblick, da er sie zum ersten Mal gesehen hatte, als Säugling mit dem roten Haar, das so leuchtete, dass es ihn wunderte, dass er sich die Fingerspitzen nicht verbrannte, wenn er die seidigen Locken berührte, hatte sie in seinem Herzen einen besonderen Platz eingenommen.
Obwohl Isabel in eine reiche und angesehene Familie geboren war, war ihr Leben nicht ganz ohne Probleme verlaufen. Ihre Mutter war bei einem tragischen Unfall schon vor Isabels zweitem Geburtstag verstorben. Trotz eines liebevollen Vaters konnte es nicht leicht für sie gewesen sein, ohne Mutter aufzuwachsen. Sie hatte ihren Vater abgöttisch geliebt; erstaunlicherweise waren die beiden auf Denham Manor glücklich gewesen, zufrieden mit der Gesellschaft des jeweils anderen. Sein Tod hatte sie schwer getroffen. Ihr Onkel Sir James war nicht unfreundlich, aber natürlich konnte er Sir George in ihrem Herzen nicht ersetzen, und seine Gattin, Isabels Tante Agatha … Marcus biss die Zähne zusammen, dass seine Kieferknochen vortraten. Es war eine sich wiederholende Geschichte! Sir James war in die Fußstapfen seines Bruders getreten, und das in mehr als einer Hinsicht. Die Menschen in der Gegend einmal mehr überraschend, hatte er vor zwei Jahren seinem Junggesellendasein den Rücken gekehrt und eine Frau geheiratet, die halb so alt war wie er: Agatha Paley, Isabels Gouvernante.
Marcus hatte Miss Paley nie gemocht, noch nicht einmal, als seine Mutter ihn davon zu überzeugen suchte, dass sie eine hervorragende Gouvernante sei und genau das, was Isabel brauchte. Zu der Zeit, als sie angestellt worden war, hatte er sie für zu streng gehalten, zu kalt und zu gefühllos für jemanden wie Isabel, aber zu seinem großen Bedauern hatte er seiner Mutter erlaubt, seine Einwände zu übergehen. Sie hatten sich nicht sonderlich gut verstanden: Isabel, spontan und lebhaft, und Miss Paley, kalt und unnahbar. Er hatte gewusst, dass Isabel sehr unglücklich war, aber ehe er die Sache ändern konnte, hatte Miss Paley ihm den Wind aus den Segeln genommen und Sir James geheiratet. Er fragte sich immer noch, wie sie das geschafft hatte, aber das war eigentlich auch gar nicht wichtig. Wichtig hingegen war, dass die frühere Miss Paley nun Lady Agatha und damit Isabels Tante war. Die frühere Gouvernante sorgte dafür, dass alle wussten, sie war jetzt die Herrin von Denham Manor. Seine Miene wurde weich, als er in Isabels Gesicht schaute. Armes kleines Ding. Unter Agathas kalter Hand zu leben konnte nicht angenehm sein.
Er schnitt eine Grimasse. Wer war er schon, Isabel etwas zu verweigern, das sie glücklich machte? Wie sie gesagt hatte, wenn sie das Interesse verlor, konnte der Hengst wieder verkauft werden. Er machte sich jedoch Sorgen wegen der Gefahr. Tempest – Sturmwind – war ein passender Name; der zweijährige Hengst war groß und kräftig. Marcus hatte ihn selbst angesehen, als er von Isabels Interesse an ihm erfahren hatte. Er war beeindruckt gewesen, als Leggett, ein Mann, der für seine hervorragenden Pferde bekannt war, den prächtigen Kastanienbraunen mit der beinahe weißen Mähne, Schweif und Socken aus dem Stall geführt hatte. Falls Isabel das Tier nicht zuerst gesehen hätte, hätte er ihn auf der Stelle für sich erstanden. An der Qualität des Hengstes gab es nichts auszusetzen, ebenso wenig wie an seinem Stammbaum oder dem Kaufpreis. Und Isabel hatte recht; das Pferd konnte jederzeit wieder verkauft werden, falls ihre Begeisterung erlahmte. Er holte tief Luft und hoffte, keinen Fehler zu machen.
Ihre Augen ängstlich auf Marcus‘ dunkle Züge gerichtet, spürte Isabel Verzweiflung in sich aufwallen. Er würde Nein sagen. Das wusste sie. Weder sich geschlagen geben noch geduldig warten waren ihre vorrangigen Wesenszüge, sodass sie sich in ihr aufflammendes Temperament rettete. „Wenn ich mein Geld für ein verfluchtes Pferd verschwenden will, so ist das mein gutes Recht“, erklärte sie erzürnt. „Außerdem bist du ein gemeines Biest, und ich hasse dich! Hörst du? Ich hasse dich! Oh! Ich kann den Zeitpunkt gar nicht erwarten, an dem ich nicht länger dein Mündel bin und nicht mehr mit einem so knauserigen Geizkragen wie dir zu tun haben muss.“
Die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, schluckte er herunter, sein eigenes Temperament regte sich, sodass er scharf erwiderte: „Glaub mir, du kleine Hexe, ich lebe für den Augenblick, da du mir nicht länger wie ein Mühlstein um den Hals hängst. Und ebenso für den Tag, da ich von dieser grässlichen Vormundschaft befreit bin.“ Grimmig fügte er hinzu: „Aber bis du volljährig wirst oder heiratest, bin ich dein Vormund und Hüter deines Vermögens.“
„Nun gut, das werden wir ja sehen!“, höhnte sie, unfähig, sich zu beherrschen. „Dir würde es nur recht geschehen, wenn ich den erstbesten Mann heiratete, der mir über den Weg läuft, einzig dir zum Trotz.“
„Wenn du einen Mann finden kannst, der verrückt genug ist, sich eine scharfzüngige kleine Hexe wie dich aufzuhalsen, dann schüttele ich ihm die Hand und wünsche ihm von Herzen Glück“, entgegnete er aufgebracht, ehe er nachdenken konnte. Als die Worte seinen Mund verlassen hatten, wollte er sie am liebsten zurückholen, aber der Schaden war bereits angerichtet.
„Scharfzüngig? Wie kannst du es nur wagen!“ Hastig wischte sie sich Tränen aus den Augen. „Das wird dir noch leidtun“, versprach sie ihm und lief zur Tür, die aus der Bibliothek führte. „Du wirst schon noch sehen. Es wird dir leidtun.“
Sie riss die Tür auf und rannte fort.
Schweigen senkte sich über den Raum wie ein Donnerschlag, und Marcus schaute verblüfft auf die offene Tür, durch die Isabel verschwunden war. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihr nachzulaufen und ihr zu sagen, dass sie das blöde Pferd haben könne, und dem Entschluss, sie nicht sehen zu lassen, wie leicht sie ihn manipulieren konnte, stand er wie angewurzelt da.
Er holte tief Luft, schüttelte den Kopf. Isabel konnte leicht in die Luft gehen, aber manchmal, wie gerade jetzt, war der Umgang mit ihr wie der Versuch, mit einem Tornado zurande zu kommen. Sie rauschte heran ohne Vorwarnung, versengte alles, was ihr im Weg war, und dann – puff! – stürmte sie wieder fort, um irgendwo anders Unruhe zu stiften.
Während Marcus noch dastand und blindlings ins Nichts starrte, trat eine attraktive, hochgewachsene Frau in einem gestreiften taubengrauen Kleid, das mit schwarzer Litze besetzt war und einen eng geschnittenen Rock hatte, ins Zimmer. Ihr schwarzes, von Silber durchzogenes Haar war zu einem eleganten Knoten im Nacken aufgesteckt, und um ihren Hals trug sie eine Kette aus schwarzen Jettperlen.
Als sie den bestürzten und verblüfften Ausdruck auf seinem gutgeschnittenen Gesicht sah, lächelte sie. Mit belustigtem Verständnis fragte sie: „Isabel?“
Marcus lächelte flüchtig. „Wer sonst? Sie hat sich partout in den Kopf gesetzt, das Pferd zu kaufen, aber ich habe nicht das Gefühl, dass das klug wäre.“ Er schüttelte den Kopf. „Trotzdem wollte ich ihr gerade sagen, dass sie es meinetwegen haben könnte, als sie mich heruntergeputzt hat, dass ich das so bald nicht vergessen werde, ehe sie aus dem Raum gestürmt ist.“ Er schaute seine Mutter hilflos an. „Was soll ich nur mit ihr tun? Ich weiß nicht, wie man sich als Vormund für jemanden wie Isabel verhalten soll.“
Mrs Sherbrook nahm auf einem Sofa vor dem Kamin aus schwarzem Marmor Platz und arrangierte ihre Röcke, dann sagte sie: „Gib ihr etwas Zeit, bis ihre Wut verraucht ist. Dann, da bin ich sicher, wird sie, wenn du mit ihr sprichst, mit sich reden lassen, und ihr könnt euch versöhnen. Du kennst doch Isabels Wutanfälle und weißt, dass sie nie lange dauern. Später ist sie immer zerknirscht.“
Marcus wirkte nicht überzeugt. „Ich weiß nicht. Sie war sehr zornig.“
„Das mag sein, aber da sie ein liebes Kind …“ Bei dem ungläubigen Schnauben ihres Sohnes verbesserte sie sich: „… meist ein liebes Kind ist, wirst du nächstes Mal, wenn du sie siehst, feststellen, dass es nicht mehr als ein Sturm im Wasserglas war, sodass du den ganzen Vorfall getrost vergessen kannst.“
Wenn Mrs Sherbrook gewusst hätte, wie gekränkt und wütend Isabel in Wahrheit war, wäre sie weit weniger gelassen gewesen. Isabel wischte sich Tränen des Zorns aus den Augen, während sie die breite Eingangstreppe von Sherbrook Hall hinablief und die Zügel ihres Pferdes dem Stallburschen abnahm, der es für sie gehalten hatte. Mit einer geschmeidigen Bewegung saß sie auf und drückte dem überraschten Wallach die Fersen in die Flanken, sodass er in einen schnellen Galopp verfiel. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob jemand vielleicht das Pech hatte, ihr entgegenzukommen, preschte sie in halsbrecherischem Tempo über die lange Auffahrt, die von Sherbrook Hall zur Straße führte. Als sie die erreichte, kam sie wieder zur Vernunft und zügelte das Pferd zu einer gemäßigteren Gangart. Im schwindenden Aprilsonnenschein ritt sie so nach Denham Manor.
Ich bin also eine scharfzüngige kleine Hexe, erinnerte sie sich empört. Und kein Mann will mich heiraten, ja? Ihre Lippen wurden schmal. Das werden wir ja sehen!
In ihrem Kopf überschlugen sich die Pläne, wie sie Mr Marcus Sherbrook am besten zeigen könnte, wie sehr er sich in ihr getäuscht hatte und wie falsch seine Einschätzung war. Auf Denham Manor angekommen, warf sie dem Pferdeburschen, der aus den Ställen kam, die Zügel zu und schwang sich aus dem Sattel. Da sie nicht gerade jetzt, wo sie innerlich noch zu verletzt war, Tante Agatha oder ihrem Onkel Sir James begegnen wollte, schlug sie den Weg zum See ein, der an der Grenze zwischen Denham und dem benachbarten Landsitz von Lord Manning lag.
Sie ging oft zu dem See, um spazieren zu gehen, besonders wenn sie wütend oder aufgewühlt war; etwas an der glatten blauen Wasserfläche und dem grünen Wald mit den hie und da kunstvoll arrangierten Blumenpflanzungen und Büschen, die dem Uferverlauf folgten, vermochte sie zu trösten und zu beruhigen.
Sie trat aus dem Wald und bemerkte ein kleines Boot auf dem Wasser; da sie unglücklich war und daher im Augenblick bestimmt keine angenehme Gesellschaft machte sie kehrt und wollte gerade wieder zwischen die Bäume treten, als eine Männerstimme ihren Namen rief.
Sie erkannte Hugh Manning, Lord Mannings jüngsten Sohn, und winkte ihm halbherzig zu. Er ruderte in Richtung Ufer auf der Denham‘schen Seite des Sees. Bis zum vergangenen Winter hatte sie Hugh praktisch nicht gekannt; er hatte seine Heimat noch vor dem Tod ihres Vaters verlassen und war nach Indien gesegelt, um eine Karriere bei der East India Trading Company zu beginnen. Seine Heimkehr nach England für einen längeren Aufenthalt, ehe er wieder an seinen Posten in Bombay zurückkehrte, hatte die ganze Gegend in Aufruhr versetzt. In den Wochen nach seiner Ankunft hatte es zahllose Gesellschaften und Partys zu seinen Ehren gegeben, bei denen alle gespannt seinen Erzählungen aus dem fernen, geheimnisvollen Land Indien lauschten. Isabel fand seine Gesellschaft angenehm, sodass sie sich – auch wegen der engen Freundschaft zwischen ihrem Onkel und Hughs Vater – rasch mit ihm anfreundete. Auch wenn Hugh beinahe schon dreißig war, war ihr der Umstand, dass er ein netter, charmanter junger Mann war, nicht entgangen, und sie verstand gut, weshalb die Tochter des Squires ihn mit seiner braun gebrannten Haut, seinen blonden Haaren und den dunkelblauen Augen für sehr gut aussehend hielt.
Seit Januar war Hugh durch England gereist und erst vor etwa einer Woche heimgekommen, um sich in den nächsten Tagen nach Indien einzuschiffen und zu seinem Posten in Bombay zurückzukehren. Isabel wusste, dass Lord Manning der Abreise kummervoll entgegensah; es würden vermutlich Jahre vergehen, ehe Hugh wieder nach England kommen konnte, sodass Lord Manning fürchtete, er würde seinen jüngsten Sohn am Ende gar nicht wiedersehen. Das hatte er letzte Woche gesagt, als er zum Dinner nach Denham Manor eingeladen war.
Als er das Ufer erreichte, sprang Hugh leichtfüßig aus dem Boot. Nachdem er es weit genug an Land gezogen hatte, dass es nicht einfach abtreiben konnte, drehte er sich um und lächelte Isabel an.
„Heute ist ein schöner Tag, nicht wahr?“, sagte er. Er schaute zum blauen Himmel hoch und fügte wehmütig hinzu: „Es gibt nichts, das sich mit einem Aprilhimmel in England vergleichen ließe. Ich denke, was mir in Indien am meisten fehlt, ist ein Himmel in genau diesem Blauton.“ Er atmete tief ein. „Und der Geruch des englischen Frühlings – der Blütenduft von Osterglocken, Rosen und Flieder.“
Sie fühlte sich noch so gekränkt von ihrem Zusammenstoß mit Marcus, dass Isabel eigentlich gar keine Gesellschaft wollte, aber als Hugh vorschlug, dass sie sich auf eine der steinernen Bänke in der Nähe setzen könnten, war sie einverstanden.
Isabel brauchte nicht lange, um an seiner Miene und anhand seiner Bemerkungen zu erkennen, dass Hugh Manning beinahe ebenso unglücklich war wie sie. Eine steile Falte erschien zwischen ihren Brauen, und sie fragte: „Möchtest du nicht nach Indien zurückkehren? Ich dachte eigentlich, du freutest dich darauf.“
Den Blick auf den See gerichtet antwortete er: „Ich würde lieber zur Armee und gegen die Franzosen kämpfen“, erklärte er. „Da der Krieg auf dem Kontinent nicht so gut verläuft, benötigt England alle kampfestüchtigen Männer, die zur Verfügung stehen.“
Isabel starrte ihn verwundert an. „Mir war gar nicht bewusst, dass du zum Heer wolltest.“
„Heer, Marine, das ist völlig egal“, erwiderte er gleichgültig. Und fast finster fügte er hinzu: „Ich will ehrlich sein, Izzy. Mir sagt die Aussicht, nach Bombay zurückzufahren, nicht sonderlich zu. Wenigstens böte mir das Militär Abenteuer. Ach, was gäbe ich nicht dafür, bei Hoods Flotte auf dem Mittelmeer dabei zu sein!“ Er warf ihr einen unglücklichen Blick zu. „Du kannst dir kaum vorstellen, wie langweilig das Leben in Indien sein kann, sobald sich der erste Reiz des Exotischen abgenutzt hat. Es ist immer dasselbe, Tag für Tag. Ich hätte gerne etwas Aufregung.“
„Ich denke, in einem Land zu leben, wo man auf Elefanten reiten kann und Affen und Tiger durch die Landschaft streifen zu sehen, wäre aufregend genug.“
Er zuckte die Achseln. „Oh, sicher gibt es Affen, und ich bin allgemein mit meinem Los durchaus auch zufrieden, aber ich hatte eigentlich gehofft …“ Er holte tief Luft. „Ich hatte gehofft, als verheirateter Mann mit meiner Frau zurückzukehren. In Bombay war ich erfolgreich, und ich verfüge nun über die Mittel, eine Frau und eine Familie in angemessenem Stil und Komfort zu unterhalten.“ Hugh lachte bitter. „Ich hatte alles geplant: Ich wollte heimkommen, eine Braut finden und mit meiner Frau an meiner Seite nach Indien zurücksegeln, um eine Familie zu gründen. Stattdessen steche ich nun in weniger als drei Tagen allein in See.“
Isabel zuckte bei seinen Worten zusammen, starrte Hugh mit großen Augen an. Hatte das Schicksal ihr hier genau die Gelegenheit geschickt, auf die sie gewartet hatte? Die Gelegenheit, nicht nur Marcus zu zeigen, wie sehr er sich irrte, sondern auch ein für alle Mal einem Heim zu entkommen, das für sie kein Zuhause mehr war, einer Frau, deren einziges Bestreben darin zu bestehen schien, sie unglücklich zu machen. „H-hast du niemanden gefunden, der dir gefällt?“, zwang sie sich, ihn zu fragen.
Seine Augen weiter auf das gegenüberliegende Seeufer gerichtet, sagte er: „Es gab da eine junge Dame … Sie ist der Grund, weswegen ich so lange weg war. Ich habe um ihre Hand angehalten, aber ihr Vater hat mich abgelehnt.“
„Aber warum denn?“, rief Isabel, um seinetwillen empört. „Du hast ihm doch sicher deine Lage erklärt, oder? Und ihm gesagt, dass du Baron Mannings Sohn bist.“
„Oh, sicher, das habe ich“, erwiderte er, „aber Mr Halford wollte nicht, dass seine Tochter lebendig in Indien begraben ist. Er hat bereits einen netten Herrn aus der Gegend für sie ausgesucht, der einmal einen Titel erben wird.“
„Und sie? Was ist mit ihr?“
„Welchen Unterschied macht das denn schon?“, erkundigte er sich scharf. „Ihr Vater hat Nein gesagt, und Roseanne will sich ihm nicht widersetzen.“
Ihr empfindsames Herz zog sich aus Mitgefühl für ihn zusammen; sie spürte seinen Schmerz und schob ihre Hand in seine. „Das tut mir leid, Hugh“, erklärte sie leise.
Seine Finger schlossen sich um ihre, und er sah sie an. „Danke, Izzy. Du bist die Einzige, der ich von Roseanne erzählt habe.“ Er strich ihr eine ungebärdige Locke aus der Stirn. „Wusstest du, dass sie auch rotes Haar hat? Nicht so dunkel wie deines, und ihre Augen sind blau … wie der englische Himmel.“
Er runzelte die Stirn, als ihm zum ersten Mal die Tränenspuren auf ihren Wangen auffielen. „Was ist das denn hier?“, fragte er. „Hast du geweint? Wer hat dich unglücklich gemacht? Ich werde ihn in die Mangel nehmen, wenn du willst.“
Sie schüttelte den Kopf. „Es ist nicht wichtig.“
„Doch!“, widersprach Hugh sanft. „Ich mag es nicht, wenn meine kleine Freundin betrübt ist. Was kann ich tun, damit du wieder froh wirst?“
Die Worte kamen aus ihrem Mund, ehe sie länger darüber nachdenken konnte. „Du könntest mich heiraten und mit nach Indien nehmen.“
Hugh starrte sie verblüfft an. „Dich heiraten! Wer hat dir denn den Floh ins Ohr gesetzt?“
Sie schaute weg und sagte steif: „Ach, egal. Ich hätte nichts sagen sollen.“
„Aber das hast du. Warum?“, fragte er nach und sah sie an, als habe er sie noch nie zuvor gesehen.
„Weil du eine Frau haben willst und ich es einfach nicht länger ertrage, von Tante Agatha wie ein Kind behandelt zu werden. Und Marcus …!“ Angst und Zorn brodelten in ihr, und sie rief: „Ach, wie sehr wünschte ich mir, ich wäre Tausende Meilen weg von hier!“ Sie blickte ihm in die Augen, erklärte voller Verzweiflung: „Wenn wir heirateten, bekämen wir beide, was wir wollen.“
Eine Weile starrten sie einander an, Hugh dachte an die vielen einsamen Jahre in Indien ohne die Vorzüge, eine Ehefrau an seiner Seite zu haben. Und Isabel beachtete die Stimme in ihrem Kopf nicht weiter, die ihr zuschrie, dass sie vorschnell und unüberlegt handelte – genau, wie Marcus es ihr immer wieder vorhielt. Na und, was kümmert mich das, dachte sie schmerzlich. In England hält mich nichts.
„Bist du dir sicher?“, fragte Hugh. Er wusste, dass er diese Unterhaltung nicht fortsetzen sollte, konnte sich aber nicht beherrschen. Das hier war Irrsinn. Es gab viele Gründe, weshalb er einfach aufstehen und weggehen sollte, aber er blieb, wo er war. Isabel wäre nicht die Ehefrau seines Herzens, aber er würde sie gut behandeln – und wer konnte das schon wissen, ob mit der Zeit sogar Liebe zwischen ihnen wachsen würde? Aber auch wenn das nicht der Fall war, so würden sie einander stets achten, das sollte doch gewiss reichen. Sonst lagen Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte der Einsamkeit in Indien vor ihm.
Mit besorgter Miene fragte er: „Was ist mit deiner Tante und deinem Onkel? Was werden sie dazu sagen?“
Sie erwiderte seinen Blick fest. „Sie werden sagen, dass ich zu jung bin. Dass ich nicht weiß, was ich will.“
„Oh, dann“, erwiderte er, „wird es ohnehin nicht gehen.“
„Aber ja!“, widersprach Isabel heftig. „Es ist doch egal, was sie denken. Sobald wir erst einmal verheiratet sind, kann Marc… können sie nichts mehr dagegen tun.“ Sie schaute ihn flehentlich an. „Oh, bitte, Hugh. Ich verspreche, ich werde dir eine gute Frau sein. Bitte!“
In ihren goldfarbenen Augen verloren, geriet Hughs Vernunft ins Hintertreffen. Sie war ein einnehmendes kleines Ding. Er mochte sie sehr. Er stellte sich seinen leeren Bungalow in Indien vor, sah die Jahre sich öde vor ihm erstrecken, nur Arbeit und wieder Arbeit. Isabel konnte das ändern. Es gäbe vielleicht sogar Kinder…
Seine Entscheidung war gefallen; Hugh stand auf und ging vor ihr auf und ab. „Wenn deine Tante und dein Onkel nicht einverstanden sind, werden wir durchbrennen müssen. Wir können uns in London mit einer Sondererlaubnis trauen lassen, noch ehe mein Schiff ausläuft.“ Er sah sie unsicher an. „Ich weiß nicht, ob ich auf demselben Schiff die Passage für dich buchen kann; ich aber muss auf diesem Schiff fahren; die Gesellschaft erwartet mich zu einem bestimmten Datum zurück, deshalb kann ich meine Abreise nicht aufschieben. Es könnte daher sein“, warnte er sie, „dass du mit deiner Zofe mehrere Wochen lang in London bleiben musst, ehe ein Schiff nach Indien segelt. Du könntest im Stadthaus meines Vaters bleiben; er hat immer die notwendigsten Diener dort, die sich um dich kümmern würden.“ Er machte eine Pause. „Das ist keine schlechte Idee. Ich kann alle Papiere unterzeichnen und meinen Anwalt beauftragen, das Notwendige in die Wege zu leiten. Du hast dann Zeit, alles einzukaufen, was du noch brauchst. Ich werde dir eine Liste schreiben.“ Er sah sie zweifelnd mit seinen blauen Augen an. „Ich habe vor, morgen früh gleich nach Tagesanbruch aufzubrechen. Wenn du das hier wirklich willst, musst du packen und heimlich aus dem Haus schlüpfen. Wir treffen uns am Tor von Denham Manor. Bis jemand bemerkt, dass du fort bist, sind wir längst auf dem Weg nach London.“
Von dem Wissen beinahe überwältigt, mit einem Streich von allem befreit zu sein, was sie unglücklich machte, nickte Isabel. Die unverhoffte Aussicht, ins ferne Indien zu reisen, echte Tiger zu sehen, Elefanten und wer weiß was für seltsame Wesen, raubte ihr schier den Atem. Sie sprang auf und warf Hugh ihre Arme um den Hals. „Ich verspreche, ich werde dir eine gute Frau sein, sodass du diesen Moment nie bereuen wirst“, versprach sie leidenschaftlich. Den kleinen Stich in der Gegend ihres Herzens, als ihr ein Bild von Marcus‘ gutgeschnittenen Zügen durch den Kopf schoss, ignorierend umarmte sie Hugh fester und schob das Bild entschlossen beiseite. „Ich schwöre es.“
Hugh holte tief Luft. „Nun, dann, meine Liebe, scheint es, als ob wir, bevor wir wesentlich älter sind, Mann und Frau sein werden – und auf dem Weg nach Indien!“
Kapitel 1
Devon, England
Frühling 1808
„Diese Frau!“, entfuhr es Marcus Sherbrook aufgebracht, während er missgestimmt in der Bibliothek von Sherbrook Hall auf und ab lief.
Seine Mutter blickte von ihrer Stickarbeit auf, ein leises Lächeln lag auf ihren Lippen. „Ich nehme an, du sprichst von Isabel Manning?“ Auf sein knappes Nicken hin erkundigte sie sich: „Was hat die arme Isabel diesmal angestellt, um dich derart aufzubringen?“
Marcus unterbrach seine Wanderung vor einem der langen Fenster der Bibliothek, starrte auf den tadellos gepflegten Rasen, den Park und die Gärten, den Wald. Der April war meist ein herrlicher Monat in England, und dieser April erwies sich als keine Ausnahme. Die Rosen knospten, manche blühten sogar schon; Stiefmütterchen in dunklem Lila, leuchtendem Gelb und strahlendem Blau und Weiß wandten ihre Blüten der Sonne zu. Und in der Ferne konnte er die weißen und rosa Blütenwolken an den Apfelbäumen im Obstgarten sehen.
Es war ein heiterer, beruhigender Anblick, ein Anblick, wie er dem Besitz eines wohlhabenden Gentleman gut anstand; eine sorgfältig geplante Gartenanlage in frischem Frühjahrsgrün mit Bäumen, die sich bis zu den welligen Hügeln Devons erstreckten. Gewöhnlich verspürte er Stolz und Zufriedenheit bei dem Anblick, aber nicht heute. Heute war es Isabel gelungen, einmal mehr sein geordnetes Leben durcheinanderzubringen, und er wünschte sich nicht zum ersten Male, dass sie, nachdem sie vor dreizehn Jahren mit Hugh Manning durchgebrannt und nach Indien gegangen war, so vernünftig gewesen wäre, dortzubleiben.
Marcus ballte seine Hände zu Fäusten, als ihn die Erinnerung an einen bohrenden Schmerz durchzuckte. Er wollte nie wieder solche Qualen erleiden wie damals, als er begriffen hatte, dass es stimmte: Isabel war mit Hugh Manning durchgebrannt und hatte ihn geheiratet. Er war benommen gewesen, hatte es nicht glauben können, als er die Neuigkeit von einem erregten Sir James erfahren hatte, aber als die Wahrheit bekannt wurde, war etwas tief in ihm geschrumpft und gestorben, ein Gefühl, das so zart und zerbrechlich war, dass er es zuvor gar nicht bemerkt hatte. Später dann war die Wut gekommen, und mehrere Monate nach ihrer Heirat hatte er Isabel sogar gehasst und sie in die Hölle gewünscht. Schließlich aber hatte er sich beruhigt, und seine Vernunft war zurückgekehrt. Nachdem er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, rief er sich ins Gedächtnis, wie sehr er diese Vormundschaft verabscheut hatte; im Laufe der Zeit hatte er sich selbst sogar davon überzeugen können, dass er mit der Entwicklung der Dinge zufrieden war. Sein lästiges Mündel war sicher mit einem ehrenhaften Mann verheiratet; die Verwaltung ihres Vermögens lag in Hughs fähigen Händen, und sie lebten fast um die halbe Welt entfernt von ihm. Wo sie verdammt noch mal hätte bleiben sollen, dachte er bitter.
Marcus zuckte gleich darauf zusammen. Das war nicht fair, und er wusste es. Man könnte fast glauben, dass er sich in den zehn Jahren, die seit Hughs Tod und Isabels Heimkehr nach Devon mit ihrem zweijährigen Sohn an der Hand vergangen waren, damit abgefunden hätte, dass sie direkt unter seiner Nase lebte. Doch das hatte er nicht. Er hatte fast sofort festgestellt, dass es am leichtesten für ihn war, mit Isabels störender Anwesenheit in der Nachbarschaft fertig zu werden, wenn er sie einfach ignorierte. Das war nicht schwer zu bewerkstelligen. Bei jeder gesellschaftlichen Veranstaltung, an der sie beide teilnahmen, zog sich Marcus, nachdem er der Höflichkeit Genüge getan hatte – und Marcus war immer höflich -, in das Kartenzimmer zurück, das für die Herren reserviert war. Er tauchte erst dann wieder daraus auf, wenn es Zeit wurde, sich von seinen Gastgebern zu verabschieden, und wenn seine Mutter ihn begleitete, was oft der Fall war, sie nach Hause zu bringen. Er war zudem sehr gut darin geworden, kleine Gesellschaften zu meiden, bei denen er Hughs Witwe begegnen musste. Dabei konnte er sein Verhalten selbst nicht erklären, aber er war sich durchaus des Umstandes bewusst, dass es etwas mit der klaffenden Wunde zu tun hatte, die ihre Eheschließung ihm zugefügt hatte. Verblüfft von der Heftigkeit des Schmerzes war er entschlossen, alles zu tun, um so etwas nie wieder zu fühlen, was bedeutete, dass er Isabel so weit aus seinem wohlgeordneten Leben fernhielt, wie es ihm nur möglich war.
Isabel Manning aus dem Weg zu gehen war ihm so zur Gewohnheit geworden, und es war dabei hilfreich, dass er oft nicht in der Gegend war, manchmal war er Wochen oder sogar Monate fort. Anders als Isabel, deren Bewegungsfreiheit eingeschränkt war, nicht nur durch die simple Tatsache, dass sie eine Frau war, sondern auch dadurch, dass ihr Sohn sie brauchte, konnte Marcus kommen und gehen, wie es ihm beliebte, – was er auch tat. Er fühlte sich in seinem Zuhause wohl, aber er reiste auch viel, um Freunde und Verwandte zu besuchen, unternahm gelegentlich eine Reise nach London, wenn er Lust hatte.
Einer der Orte, die er am liebsten besuchte, war das Heim seines Cousins Julian Weston, dem Earl of Wyndham, und seiner reizenden Countess Nell sowie ihrer wachsenden Kinderschar. Charles Weston, ein weiterer Cousin, lebte in der Nähe von Julian; obwohl es in der Vergangenheit Spannungen im Verhältnis zwischen Marcus und Charles gegeben hatte, war er dieser Tage gerne mit Charles zusammen. Erst kürzlich war er aus Cornwall von Charles‘ Hochzeit mit einer charmanten jungen Dame zurückgekehrt. Alle, die Charles kannten, waren einhellig der Meinung, dass Daphne Beaumont ihm guttun würde. Nach der Hochzeit selbst waren Marcus, Nell und Julian noch zu einem längeren Besuch bei den Jungvermählten auf Beaumont Place geblieben. Wenn er an diesen Aufenthalt dachte und das, was sie in den Gewölben unter der alten Normannenfestung entdeckt hatten, durchlief ihn ein unangenehmer Schauer. Es hatte ein paar hässliche Zwischenfälle gegeben, die er nie vergessen würde und was die Geister betraf … Er schüttelte sich. Hier in der vertrauten, ruhigen Umgebung, dem Normalen, begann Marcus sich zu fragen, ob ihn seine Erinnerung an das, was während der letzten Tage seines Besuches geschehen war, nicht am Ende doch trog. Bei Charles und Daphne auf Beaumont Place, die beide darauf beharrten, dass es stimmte, war es nicht schwer gewesen, ihnen zu glauben, dass in dem alten Haus zwei Gespenster spukten, aber wenn er jetzt auf den Rasen vor seinem Haus im Sonnenschein blickte, kamen ihm wieder Zweifel. Glaubte er wirklich an solche Sachen? Dass Geister von Verstorbenen ihr Unwesen in dieser Welt trieben? Gespenster, die wie Nebelschwaden in der Luft schwebten? Vor seinem Besuch in Beaumont Place hätte er das heftig von sich gewiesen, aber jetzt…
Plötzlich erschien ein Bild von Isabels lebhaften Zügen vor seinem geistigen Auge. Sie hätte keine Sekunde gezögert, daran zu glauben, dass es in Beaumont Place spukte. Sie hätte einen Heidenspaß daran gehabt, sich mit Geistern und Ähnlichem herumzuschlagen. Beinahe musste er lächeln, wenn er sich die Begeisterung vorstellte, die ihr dabei aus den Augen geschienen hätte. Dann aber fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, dass er sich über Mrs Hugh Manning ärgerte, und er runzelte die Stirn. Warum zum Teufel konnte sie sich nicht aus seinem Leben heraushalten?
Sie hatte es gehasst, sein Mündel zu sein, und er hatte auch keine ungetrübte Freude darüber empfunden. Wenigstens war er, machte er sich bewusst, nicht länger für sie verantwortlich gewesen, als sie vor beinahe einem Jahrzehnt von dem Schiff aus Indien in England an Land gegangen war. Damals war diese freudlose Aufgabe dem alten Lord Manning zugefallen; er musste sich nun mit ihren Launen und Anfällen herumärgern. Dem Himmel sei Dank dafür, dachte Marcus mit verdächtiger Frömmigkeit.
Natürlich hielt Manning es für keine Last, Isabel und ihren Sohn um sich zu haben. Ihre Ankunft, das musste Marcus gerechterweise zugeben, hatte den Baron vermutlich davor gerettet, schlicht vor Kummer dahinzusiechen. Durch eine Reihe tragischer Unglücksfälle hatte Lord Manning seinen ältesten Sohn Robert und dessen schwangere Frau bei einem Bootsunfall verloren, dann war kaum vier Monate später die Nachricht von Hughs Tod in Indien eingetroffen. Die beiden Briefe, der aus Indien und der aus England, beide mit schlimmen Nachrichten, hatten sich überschnitten. Der alte Mann war am Boden zerstört gewesen, und Marcus fürchtete damals schon, dass sein Lebenswille mit seinen Söhnen gestorben war.
Isabels und Edmunds Heimkehr nach Devon hatte zu einer bemerkenswerten Veränderung in Lord Mannings Befinden geführt. Obwohl er um Robert und Hugh trauerte, der übrigens an einem Schlangenbiss gestorben war, während er im indischen Hinterland Waren für die East India Trading Company in Bombay begutachtete, war Lord Manning überglücklich gewesen, Hughs Witwe und dessen einziges Kind bei sich aufzunehmen. Isabels Vermögen hätte ihr erlaubt zu leben, wo es ihr gefiel, aber es hatte für sie offenbar nie zur Disposition gestanden, irgendwo anders als auf Manning Court bei ihrem Schwiegervater zu leben. Sie hatte in die Gegend ihrer Kindheit zurückkehren wollen, und ihr Sohn Edmund war der Erbe des ältlichen Barons und das einzige Verbindungsglied zu seinem toten Sohn; er liebte den Jungen abgöttisch. Und man konnte nicht abstreiten, dass Edmund das Abbild seines Vaters im selben Alter war. Marcus‘ Miene wurde weich, und um seinen Mund zuckte es. Einen netteren blonden, blauäugigen Lausebengel hatte er bislang nicht getroffen, überlegte er voller Zuneigung.
Wenn sie gerade einmal nicht sein wohlgeordnetes Leben durcheinanderbrachte und ohne den tragischen Tod ihres Gatten zu berücksichtigen, musste Marcus Isabels zehn Jahre zurückliegende Rückkehr als glücklichen Umstand für seinen Nachbarn ansehen. Wie ein willkommener Frühlingswind waren sie und Edmund durch Manning Court geweht und hatten die dräuenden Schatten vertrieben, die Lord Manning zweifellos vorzeitig ins Grab getrieben hätten. Innerhalb von Wochen nach ihrem Eintreffen wies der Gang des alten Mannes neuen Schwung auf, und ein Funkeln stand in seinen blassen blauen Augen. Dafür war Marcus Isabel dankbar, keine Frage. Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn. Aber er war nicht dankbar für Isabels unerwünschtes Eindringen in sein sorgfältig arrangiertes Leben!
„Willst du mir verraten, was Isabel diesmal angestellt hat?“, erkundigte sich seine Mutter und unterbrach seinen Gedankengang. „Oder willst du weiter dastehen und finster aus dem Fenster starren?“
„Ich habe nicht finster gestarrt“, verteidigte sich Marcus. „Ich habe nur die Aussicht bewundert.“
„Natürlich“, stimmte seine Mutter sogleich lächelnd zu. „Aber sag mir: Was hat Isabel getan, um dich derart aufzuregen?“
Er seufzte, und sein Ärger verflog. „Es ist dieses Pferd – Tempest. Er ist über den Zaun gesprungen, genau den Zaun, bei dem ich sie gewarnt habe, sie müsse ihn erhöhen, um einen Hengst wie ihn auf der Weide zu halten. Heute Morgen habe ich das Tier gefunden, wie es mit einem halben Dutzend Stuten von uns herumtollte. Schlimmer noch, Jasmine, die kastanienbraune Stute mit der weißen Blesse, die ich heute Nachmittag von Nonesuch decken lassen wollte, war seinem Charme bereits erlegen. Es ist möglich, dass Tempest auch noch eine oder sogar mehrere andere Stuten begattet hat, aber das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht feststellen.“
Seine Mutter hielt den Blick auf ihre Nadel gerichtet. „Ich meine mich zu erinnern, dass du vor ein oder zwei Jahren mal erwähnt hast, wie gerne du von ihm noch ein paar Fohlen gehabt hättest, ehe du ihn an Isabel verkauft hast, nachdem sie aus Indien zurückgekommen ist.“
Er zuckte die Achseln. „Das hätte ich auch, aber sobald sie wieder in England war, hatte ich keine andere Wahl, als ihn ihr zu überlassen – und zwar unverzüglich.“
„Nun, das war nur fair, schließlich hatte sie ihn zuerst entdeckt.“
„Das weiß ich, Mutter“, antwortete er trocken. „Ich hätte ihr von mir aus vorgeschlagen, ihn mir abzukaufen, nachdem sie sich auf Manning Court etwas eingelebt hatte, wenn sie mir nur die Gelegenheit dazu gelassen hätte.“
Etwas, das verdächtig nach einem Kichern klang, entschlüpfte Mrs Sherbrook. „Wenn du nur dein Gesicht hättest sehen können, als sie herausgefunden hatte, dass er jetzt dir gehörte, und sie hereingestürmt kam, dich beschuldigte, ihn ihr hinter ihrem Rücken gestohlen zu haben.“
Marcus grinste. „Sie war in selten guter Form, was? Ich musste meinen Kopf nachher abtasten, um zu überprüfen, ob ich noch Haare darauf hatte oder ob sie sie mir weggesengt hatte.“
Seine Mutter wählte einen Faden blassgrüner Stickseide aus und fädelte ihn ein. „Was hat sie gesagt, als du ihr von Tempest und deinen Stuten erzählt hast?“
Seine Lippen wurden schmal. „Sie war kein bisschen reuig oder zerknirscht! Es tat ihr überhaupt nicht leid. Sie hat mich von oben herab angeschaut und mir höchst gnädig mitgeteilt, wenn eine der Stuten von seinem … Besuch trächtig sein sollte, würde sie sie entweder liebend gerne kaufen oder das Fohlen, sobald es entwöhnt ist – was immer ich vorzöge.“
„Und darauf hast du ihr erwidert?“
Er schaute seine Mutter an, und dieses Mal kicherte sie unmissverständlich. „Oh, Marcus! Wenn du wüsstest, wie froh ich bin, dass jemand dich aus deiner verbiesterten Steifheit wachrütteln kann!“
„Verbiestert!“, rief er gekränkt. „Warum glaubt eigentlich alle Welt, nur weil ich nicht jede Woche eine andere Balletttänzerin am Arm habe, mich regelmäßig unter den Tisch saufe oder mein halbes Vermögen am Spieltisch verschwende oder mein Pferd die Kirchentreppe hochreiten lasse, dass ich deswegen ein langweiliger Kerl sein muss? Ist etwas falsch daran, ein ruhiges, geordnetes Leben vorzuziehen, statt in ständigem Chaos zu waten?“
Er sah so verwundert und ehrlich ratlos aus, dass Mrs Sherbrook nur verzweifelt den Kopf schütteln konnte. Ihr hochgewachsener, gut aussehender Sohn war fast vierzig Jahre alt, sogar in ihren Augen war es fast schon unnatürlich, dass er ihr nie Grund zur Sorge gegeben hatte. Es hatte keine wilden Abenteuer oder Klemmen gegeben, in die er in seiner Jugend geraten war. Er war immer schon liebevoll, höflich und pflichtbewusst gewesen, kurz man konnte sich stets darauf verlassen, dass er das Richtige tat und selbst inmitten einer Krise einen kühlen Kopf behielt, wofür sie ehrlich dankbar war … die meiste Zeit wenigstens. Er war ein Sohn, auf den man stolz sein konnte, und das war sie. Sehr sogar. Das einzige Problem bestand darin, dass sie fand, er hätte wenigstens ein einziges Mal alle Vorsicht in den Wind schlagen sollen und sich auf eine Art skandalöse Eskapade einlassen sollen. Nun, natürlich nicht allzu skandalös, verbesserte sie sich im Geiste, nur genug, um seinem Leben etwas Aufregung zu verleihen und ihn aus seiner Bedächtigkeit und Schwerfälligkeit zu rütteln, zu der er entschlossen schien. Als er sie weiter so ratlos anschaute, gab sie zu: „Nein, daran ist nichts falsch oder auszusetzen. Ich bin aufrichtig dankbar, dass du mir nie einen Anlass geliefert hast, mein Gesicht in Scham abzuwenden. Ganz im Gegenteil, ich bin immer sehr stolz auf dich gewesen, aber Marcus, du stehst noch nicht im Begriff, dich aufs Altenteil zurückzuziehen. Trotzdem hast du dich immer so verhalten wie jemand, der doppelt so alt wie du ist.“ Beinahe wehmütig fügte sie hinzu: „Wolltest du nie der Eintönigkeit des Landlebens entfliehen? Hast du dich nie nach einem Abenteuer gesehnt oder das Bedürfnis verspürt, über die Stränge zu schlagen und das Gewöhnliche, alle Routine hinter dir zu lassen?“
„Willst du damit sagen, du möchtest, dass ich ein Lebemann werde?“, verlangte er ungläubig zu wissen. „Soll ich der Nachbarschaft Nahrung für Klatsch liefern, indem ich Leib und Leben riskiere, weil ich mit meinem Phaeton ein Wettrennen gegen die Postkutsche fahre, das Haus mit Windhunden und Spielern und vielleicht auch noch leichten Mädchen fülle, während du dich in deinen Räumen versteckst, um nicht in deinem eigenen Heim belästigt zu werden? Ein feiner Kerl wäre ich dann, bei meiner Seel‘.“
„Nein, nein“, rief Mrs Sherbrook, von dem Bild entsetzt, das er da malte. „Natürlich nicht“, sagte sie ruhiger, etwa eine Sekunde später. „Es ist nur, dass du immer so ein guter Sohn gewesen bist – ich könnte mir keinen besseren wünschen - aber der Tod deines Vaters, als du selbst noch so jung warst, hat dir so viel Verantwortung aufgeladen …“
„Ich war dreiundzwanzig, Mutter, und kein Schuljunge mehr.“ Er lächelte sie an. „Alt genug, um zu wissen, was ich will. Wenn ich mich nach den Freuden Londons gesehnt hätte, hätte mich nichts davon abhalten können, sie zu genießen.“ Er grinste. „Und das habe ich von Zeit zu Zeit auch getan. Sogar sehr.“ Er setzte sich auf das Sofa neben sie, nahm eine ihrer Hände und küsste sie. „Mutter, warum nur fällt es dir und allen anderen, Julian und Charles mit eingeschlossen, so schwer zu glauben, dass ich mit meinem Leben ganz zufrieden bin?“, fragte er verwundert. „Versteh mich nicht falsch: Wenn ich das nicht wäre, würde ich es ändern. Du musst mir glauben, wenn ich dir versichere, dass es mir Freude macht, auf dem Land zu leben. Ich begleite dich gerne auf deiner jährlichen Reise zur Saison nach London und …“
„Und machst auf dem Absatz kehrt und fährst nach Sherbrook Hall so schnell wieder zurück, wie es der Anstand erlaubt“, fügte seine Mutter hinzu.
„Schuldig, stimmt. Aber der Wirbel aus Gesellschaften und Bällen, der dich so erfreut, langweilt mich. Und was Balletttänzerinnen angeht oder um hohe Einsätze irgendwo in Pall Mall spielen oder gar mich unter den Tisch saufen …“ Er schnaubte abfällig. „Solche fraglichen Vergnügungen haben mich noch nie gereizt.“ Er lächelte verschmitzt. „Siehst du es nicht? Ich bin mit meinem Leben zufrieden.“
Ihr Blick ruhte nachdenklich auf ihm. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich an deiner Stelle mit ‚zufrieden‘ begnügen würde.“
„Was? Du möchtest, dass ich unglücklich bin?“, zog er sie auf. „Unzufrieden? Elend?“
Innerlich seufzte sie. Marcus war alles, was sich eine Mutter nur von einem Sohn erhoffen konnte: liebevoll, großzügig, ehrenhaft, ein höchst würdiger Mann, aber … Man konnte auch zu würdig sein. Sie starrte ihn an, und ihr Herz schwoll vor Liebe und Stolz. Er war hochgewachsen und breitschultrig, dabei schlank, und sie wusste, er zog die Aufmerksamkeit auf sich, wann immer er einen Raum betrat. Frauen bewunderten ihn; sie hatte schon viele interessierte Blicke gesehen, die ihm galten, von denen er aber keine Ahnung hatte, überlegte sie mutlos. Doch trotz all der Aufmerksamkeit, die er erregte, war er nicht klassisch schön. Seine Züge waren zu kühn geschnitten, sein Kinn zu energisch, doch sein schön gezeichneter Mund ließ die holde Weiblichkeit die kleineren Unzulänglichkeiten vergessen, nur noch an diese verheißungsvollen Lippen denken. Barbara Sherbrook dachte oft, dass es eigentlich eine Schande war, dass er nicht ihre dunkelgrünen Augen geerbt hatte, aber wenn sie in seine klugen grauen Augen sah, die sein Vater ihm vermacht hatte, war sie nicht unzufrieden; in seinem dunklen Gesicht wirkten sie faszinierend. Aber trotz der Intelligenz in seinem Blick konnte er nicht erkennen, dass etwas nicht in Ordnung war, wenn ein attraktiver Mann im besten Alter sich mit einem enthaltsamen Leben auf dem Land begnügte. Ihre Augen wurden schmal. Natürlich wusste sie nicht sicher, dass es enthaltsam war; ihr Sohn konnte sehr wohl irgendwo eine Mätresse haben, von der sie nichts ahnte, da es nahezu ausgeschlossen war, dass er es ihr sagen würde.
„Oh, was für eine alberne Unterhaltung“, erklärte sie abrupt und legte ihr Stickzeug beiseite.
„Und wer, wenn ich fragen darf, hat sie begonnen?“, fragte Marcus mit einem Glitzern im Auge, als er aufstand.
Sie lächelte. „Das war wohl ich.“ Auch sie erhob sich und schüttelte ihre Röcke aus, dabei fragte sie: „Ist alles für unsere Abreise nächste Woche nach London vorbereitet? Ich habe gestern einen Brief von Lady Bullard erhalten. Sie schreibt, dass das Parlament schon tagt und die Saison bereits begonnen hat. Ich möchte unsere Abreise nicht allzu lange aufschieben.“
„Es ist alles in bester Ordnung“, antwortete Marcus, während er sie aus dem Raum geleitete. „Vorausgesetzt, du hast alle deine Kleider einpacken lassen und das Wetter hält, dann steht unserer Abreise am Dienstag nichts im Wege.“
Alles verlief wie geplant. Am folgenden Dienstag brachte Marcus seine Mutter und deren Gesellschafterin Mrs Shelby sowie mehrere Bedienstete seines Landsitzes nach London und sorgte dafür, dass sie mit allem Komfort versorgt im Stadthaus der Sherbrooks untergebracht waren. Die jährliche Reise seiner Mutter in die Stadt verschaffte ihm die Gelegenheit, seinen Schneider aufzusuchen sowie den Schuster und sich mit den Dingen zu versorgen, die nur in London erhältlich waren. Er ließ sich bei White‘s sehen und in ein paar anderen Herrenklubs, denen er ebenfalls angehörte. Er hatte nicht gelogen, als er behauptete, er begleitete seine Mutter gerne nach London. Das stimmte, so wie er das Tempo des Lebens dort gern hatte, das Gewühl in den Straßen, den Lärm und die vielen Farben, all das Neue. Er freute sich, alte Bekannte zu sehen und die neusten Gerüchte zu hören, ja sogar einen Blick auf die jüngst eingetroffenen Debütantinnen zu werfen, die auf den Heiratsmarkt der Hauptstadt strömten. Aber mehr als vierzehn Tage hielt er es meist nicht aus, und Ende April war er wieder auf Sherbrook Hall zurück.
Jasmine, die kastanienbraune Stute mit der Blesse, und eine elegante schwarze Stute, deren Stammbaum sich bis zu Darley Arabian zurückverfolgen ließ, waren nicht wieder rossig geworden. Marcus hatte sich damit abgefunden, dass er im nächsten März zwei Fohlen von Tempest erwarten durfte. Trotz seines Plans, die Stuten von seinem eigenen Hengst Nonesuch decken zu lassen, war er nicht unzufrieden, aber auch nicht glücklich. Schließlich konnte man nicht sagen, was dabei herauskam, wenn er mit Isabel zu tun hatte.
Während er von den Stallungen zum Haupthaus schlenderte, ging er im Geiste durch, welche Möglichkeiten sich ihm boten. Er könnte sie im Unklaren lassen, bis die Fohlen geboren waren, oder er konnte ihr eine Nachricht schreiben, dass, wenn alles gut lief, es im kommenden Frühjahr zwei weitere Fohlen von Tempest gäbe. Oder er könnte einfach nach Manning Court hinüberreiten und es ihr persönlich sagen. Ein Brief, entschied er feige. Der Brief wäre am einfachsten.
Doch als er in seinem Arbeitszimmer hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte und auf das leere Blatt Papier vor sich schaute, den Federkiel in der Hand, stellte er fest, dass er keine Lust hatte, sich hinter einem bloßen Brief zu verstecken. Er steckte den Kiel in die Halterung zurück, schob seinen Stuhl von dem Schreibtisch aus Kirschbaumholz zurück und stand auf.
Der Tag war schön, perfekt für einen Ausritt, sagte er sich. Es gab keinen Grund, warum er nicht zu Manning Court reiten sollte und Isabel die Nachricht überbringen. Ein leises Lächeln spielte um seinen Mund. Und sie dabei beobachten, wie sie versucht, mir die zwei Stuten abzuschwatzen.
Fröhlich vor sich hin pfeifend verließ er das Zimmer und ging zu den Ställen zurück. Kurze Zeit später saß er auf einem schönen schwarzen Wallach und ritt durch die hügelige Landschaft, genoss das Zwitschern der Vögel und die frische Luft im gesprenkelten Schatten unter den alten Eichen.
Die Besitzungen der Mannings und der Denhams grenzten beide an die der Sherbrooks, und die drei Familien verband seit Generationen nicht nur die Nachbarschaft, sondern auch Freundschaft. Lord Manning war Marcus‘ Nachbar im Norden, und Sir James, Isabels Onkel, im Osten; neben der öffentlichen Straße gab es mehrere Privatwege, die die Ländereien miteinander verbanden. Marcus nahm eine Abkürzung durch den Wald und ritt bald schon über Manning-Land.
Er war noch eine gute Strecke vom Haupthaus entfernt, als er laute Stimmen hörte. Er erkannte Isabels sogleich, auch wenn er nicht verstehen konnte, was sie sagte. Vom Klang her zu schließen war sie zornig und hielt irgendeiner armen Seele eine Standpauke, die sich gewaschen hatte. Allerdings war da ein Unterton in ihrer Stimme, etwas, das Marcus veranlasste, seinem Wallach die Fersen in die Flanken zu drücken, sodass er schneller trabte.
Als er näher kam, hörte er Isabel klar und deutlich sagen: „Und damit ist Schluss! Wenden Sie sich nie wieder an mich. Das nächste Mal werde ich die Hunde auf Sie hetzen!“
Das Brummen eines Mannes war zu vernehmen, dann rief Isabel: „Wie können Sie es wagen! Lassen Sie mich augenblicklich los, Sie Schuft!“
Marcus kam um die Biegung des schmalen Weges unter dem dichten Laub der Bäume und sah Isabel und einen stämmigen Mann, den er nicht kannte, vor sich auf einer kleinen Lichtung. Er erkannte aber den Typ: ehemaliger Soldat, wenn der Schnitt seines Haares und seines Rockes sowie der Stil, mit dem sein Halstuch geknotet war, als Indiz taugte. Zwei Pferde waren an einem nahen Baum festgebunden.
Es war für Marcus ganz offensichtlich, dass es sich um kein zufälliges Treffen handelte. Die beiden Gegner konzentrierten sich aufeinander, eine kurze Weile bemerkte keiner von ihnen etwas von Marcus‘ Näherkommen. Der Mann hatte eine Hand fest um Isabels Oberarm geschlossen, und sie bemühte sich, sich von ihm loszureißen. Aus dem Augenwinkel sah Marcus ihr Gesicht und wusste, dass sie mehr wütend als verängstigt war. Trotzdem entdeckte er etwas in ihrer Miene, das ihm den Magen zusammenzog und seinen Beschützerinstinkt weckte.
Seine äußerliche Ruhe lief der heißen Wut zuwider, die ihn beim Anblick der Hand des Mannes auf Isabels Arm durchfuhr, als Marcus kühl erklärte: „Ich glaube, die Dame hat einen Wunsch geäußert. Ich schlage vor, Sie folgen ihm. Und zwar jetzt.“
Isabel drehte den Kopf, und ihre Augen wurden groß, als sie ihn nur wenige Schritte entfernt auf seinem schwarzen Pferd sitzen sah. Verlegenheit gemischt mit Furcht flog über ihre Züge, ehe sie sich wieder gefasst und eine höfliche Maske aufgesetzt hatte. Die Verlegenheit konnte Marcus verstehen. Aber Furcht? Gütiger Himmel! Sie hatte doch keinen Grund, ihn zu fürchten!
Der Fremde betrachtete Marcus, und was auch immer er in Marcus‘ Gesicht sah, sorgte dafür, dass er seine Hand von Isabels Arm fallen ließ und einen Schritt zurückwich. Mit einem leicht gezwungenen Lächeln sagte der Fremde: „Es besteht kein Grund, mich mit Blicken zu durchbohren. Das hier ist nur ein kleines Missverständnis zwischen alten Freunden.“ Er schaute Isabel an und bemerkte mit einem seidenglatten Unterton in der Stimme, bei dem sich Marcus sogleich die Nackenhaare sträubten: „Stimmt doch, oder, meine liebe Mrs Manning?“
Isabel nickte, aber sie wich Marcus‘ Blick aus. „J-ja. Major Whitley w-war ein Freund von Hugh in Indien. Er war mehrere Jahre in der Nähe von Bombay stationiert.“ Mit geröteten Wangen fügte sie rasch hinzu: „Er hat vor Kurzem seinen Abschied aus der Armee genommen und Freunde in der Gegend hier besucht. Als er erfuhr, dass ich in der Nähe lebe, wollte er mir seine Aufwartung machen.“
Isabel hatte noch nie gut lügen können, aber Marcus musste ihr zugestehen, dass sie sich redlich Mühe gab. Er bezweifelte auch nicht, dass ein Teil dessen, was sie da sagte, der Wahrheit entsprach, vielleicht sogar alles, aber sie ließ eine Menge unerwähnt, und das weckte seine Neugier – das und Major Whitleys Drohgehabe. Er selbst durfte Isabel vielleicht nach Belieben drangsalieren, beschloss Marcus, aber er würde es keinem anderen gestatten. Er schwang sich aus dem Sattel und ging, die Zügel leicht in einer behandschuhten Hand haltend, zu ihnen.
Ein paar Fuß entfernt von Whitley sagte Marcus gedehnt: „Ach, Sie kannten Mr und Mrs Manning in Indien?“
Whitley neigte den Kopf, in seinen dunklen Augen lag ein wachsamer Ausdruck. „Ja, Hugh und ich haben uns kennengelernt, während ich in Indien stationiert war.“ Er sandte Marcus ein Lächeln von Mann zu Mann. „Wir hatten eine schöne Zeit als Junggesellen, und für mich war Hugh einer meiner besten Freunde. Seine Ehe hat an unserer Freundschaft nichts geändert, sobald Mrs Manning in Bombay eingetroffen war, wurde ich oft zum Dinner in ihr Haus eingeladen.“ Er sandte Isabel einen Blick. „Wofür ich auf immer dankbar sein werde. Mrs Manning war eine sehr freundliche Gastgeberin für einen armen Junggesellen. Sie und Manning haben uns dort stationierte Offiziere oft bewirtet.“
Whitley war ein großer, kräftiger Mann, sein dunkles Haar war leicht mit Silber durchzogen. Seine schwarzen Augen lagen unter dichten Augenbrauen, und früher mochte er mal als attraktiv gegolten haben, aber sein ausschweifender Lebenswandel hatte in seinem einst gutgeschnittenen Gesicht hässliche Spuren hinterlassen. Marcus verabscheute ihn vom ersten Moment an.
„Ein Armeeoffizier“, sagte er höflich. „Im Ruhestand seit Kurzem.“ Er stellte sich verwundert. „Wie seltsam. Seit Castlereagh wieder im Kriegsministerium ist und die Gerüchte um eine mögliche Invasion vom Kontinent Hochkonjunktur haben, hätte ich gedacht, dass das Militär für jeden erfahrenen Offizier wie Sie Verwendung hätte. Ich erinnere mich vage, dass ein Freund aus der Armee neulich erst gesagt hat, dass durch den Krieg mit Frankreich leichter eine Karriere im Militär zu machen ist und es für jeden ehrgeizigen Mann genau die rechte Zeit wäre, im Dienst aufzusteigen.“
Whitley beachtete die Unterstellung nicht weiter, dass der Zeitpunkt seines Rückzugs ins Private nicht ganz glücklich gewählt war, und zuckte die Achseln. „Ich bedauere, dass ich nicht Teil der Streitkräfte sein werde, die am Ende Napoleon besiegen werden, aber nach mehr als zwanzig Jahren im Militär hatte ich das Gefühl, dass es Zeit für einen Wechsel war.“
„Ah. Und dieses Gefühl hat Sie nach Devon gebracht?“ Auf Whitleys Nicken hin fragte Marcus: „Haben Sie vor, länger in der Gegend zu bleiben?“
Whitley blickte zu Isabel, dann wieder zu Marcus. Lächelnd erklärte er: „Meine Pläne stehen noch nicht fest. Mir ist aufgefallen, dass hier … eine interessante Gegend ist.“
„Wirklich?“, erkundigte sich Marcus leise und mit beleidigend unverhohlener Skepsis. „Nun, das finde ich höchst seltsam, wirklich! Wir haben in der Nähe keine besonderen landschaftlichen Reize zu bieten, und obwohl die Küste Devons an bestimmten Stellen von atemberaubender Schönheit ist, liegen wir zu weit im Landesinneren, als dass es zählen könnte.“ Seine grauen Augen waren unergründlich, während er fast sarkastisch anmerkte: „Wissen Sie, ich lebe hier schon mein ganzes Leben, aber im Moment fällt es mir schwer, mir vorzustellen, was hier das Interesse eines erfahrenen Weltenbummlers wie Ihnen fesseln könnte. Vielleicht könnten Sie mich einweihen?“
Whitley gefiel weder Marcus‘ Ton noch das hartnäckige Nachfragen, aber er wollte sich von dem anderen Mann auch nicht aus der Ruhe bringen lassen. Um zu sehen, wie sie auf diesen großen eindrucksvollen Mann reagierte, schaute er zu Isabel. Aber das half ihm auch nicht; sie sah ihn aus großen Augen verblüfft an, den hübschen Mund halb offen. Isabel starrte Marcus an, als sähe sie ihn zum ersten Mal.
Wenn ich es nicht besser wüsste, dachte Isabel ungläubig, könnte ich schwören, dass Marcus – der gesetzte, nüchterne, penibel höfliche Marcus – entschlossen ist, mit einem Fremden einen Streit vom Zaun zu brechen! Verunsichert schaute sie in sein Gesicht, auf das energische Kinn und zu den kühlen grauen Augen, fragte sich, wohin der herzliche, freundliche und manchmal aufreizende Gentleman, den sie den größten Teil ihres Lebens gekannt hatte, verschwunden war.
Da von Isabel keine Hilfe zu erwarten war, sagte Whitley leichthin: „Ich bin der Ansicht, dass Fremde die schönen Seiten einer Gegend eher bemerken als die, die dort leben.“
„Das mag zwar stimmen“, pflichtete Marcus ihm bei. „Aber ich wüsste dennoch gerne, von welchen schönen Seiten Sie hier sprechen.“
Whitleys Lippen wurden schmal. War der Mann blöde? Da er keine Lust hatte, weiter verschleierte Beleidigungen mit einem lästigen Fremden auszutauschen, erwog Whitley seinen nächsten Schritt sorgfältig. Gewöhnlich würde er sich angesichts der unverhohlenen Feindlichkeit des anderen einfach zurückziehen und ein andermal wiederkommen, aber er musste ohne zeitliche Verzögerung auf Isabels aufflackernden Widerstand reagieren. Wenn sie glaubte, sie könne ihn so leicht loswerden, irrte sie sich – und zwar zu ihrem Schaden, das würde er ihr schon noch zeigen. Er warf dem Neuankömmling einen weiteren abschätzenden Blick zu und verkniff sich ein Stöhnen. Wenn er sich nicht sehr irrte, würde der Kerl nicht so bald nachgeben und sich verziehen. Wer zum Teufel war dieser Landjunker eigentlich? Da ihm auffiel, dass der Fremde sich bislang noch nicht vorgestellt hatte, fragte Whitley: „Entschuldigen Sie, aber ich glaube, Sie haben mir noch gar nicht Ihren Namen genannt.“
„Oh, ich bin Marcus Sherbrook“, antwortete Marcus ohne die gewohnte Freundlichkeit in seinem Ton.
„Oh, doch nicht der knauserige Vormund des Grauens, der unsere liebe Mrs Manning aus England vertrieben hat?“, rief Whitley mit verwunderter Miene.
Ohne zu lächeln oder sonst eine Miene zu verziehen, sah Marcus Isabel an, die ihre Augen niederschlug und den Anstand besaß, rot zu werden. Er schaute zu Whitley zurück und verneigte sich, während er kühl erklärte: „Derselbe. Allerdings glaube ich, dass ‚ehemaliger knauseriger Vormund des Grauens‘ dieser Tage der korrekte Titel wäre.“
„Ich muss sagen“, bemerkte Whitley, „dass ich sehr froh bin, Ihre Bekanntschaft zu machen. Da meine liebe Mrs Manning so oft von Ihnen gesprochen hat, habe ich fast das Gefühl, Sie schon ewig zu kennen.“
Mit einem verächtlichen Funkeln in den Augen murmelte Marcus: „Was für ein glücklicher Umstand, dass mein Ruf mir vorauseilt.“ Falls dieser schwarzäugige Schuft, überlegte Marcus grimmig, Isabel auch nur noch einmal ‚meine liebe Mrs Manning‘ in diesem kriecherischen Tonfall nennt … Seine Hand ballte sich zu einer eindrucksvollen Faust, er stellte sich vor, wie befriedigend es wäre, diese Faust Whitley ins Gesicht zu schlagen.
Sein Gegenüber ahnte nicht, wie nah er davorstand, die Nase gebrochen zu bekommen, und lachte. „Nachdem ich Sie nun kennengelernt habe, sehe ich selbst, dass das Bild, das Mrs Manning von Ihnen als absolutes Ungeheuer gezeichnet hat, irreführend war.“
Mit gewisser Schärfe in der Stimme schaltete sich nun Isabel ein. „Wenn Sie sich bitte daran erinnern wollen: Ich war sehr jung, als ich diese Bemerkungen gemacht habe.“
„Das stimmt allerdings“, erwiderte Whitley, „aber Sie waren sehr überzeugend. Ich erinnere mich noch gut, von Ihnen zahllose Klagen über das uneinsichtige Verhalten Ihres verflixten Vormunds und seine selbstsüchtige Gewohnheit, Ihre Pläne zu durchkreuzen, gehört zu haben.“
Isabel riskierte einen zerknirschten Blick zu Marcus. „Es ist ewig her und gehört jetzt nicht in diese Unterhaltung“, stellte sie knapp fest.
„Aber es ist so köstlich, meine Liebe“, wandte Whitley ein und schaute Isabel gehässig lächelnd an. „Nach Ihren Bemerkungen hatte ich erwartet, ein echtes Ungeheuer zu treffen, stattdessen sehe ich hier einen hochanständigen, vernünftigen Gentleman vor mir.“
„Wie Mrs Manning schon sagte, es ist lange her“, erklärte Marcus mit ausdrucksloser Stimme; ihm gefiel Whitleys boshafte Freude, mit der er sich an Isabels Verlegenheit weidete, gar nicht – und die verstohlenen, besorgten Blicke, die Isabel ihm zuwarf, wann immer sie sich unbeobachtet fühlte, noch viel weniger. Sie hatte vor dem Kerl Angst, schloss Marcus daraus. Aber warum? Er erkannte, dass das Warum nicht wichtig war: Von Bedeutung war hingegen, dass Isabel sich vor diesem „Freund“ aus ihrer Vergangenheit fürchtete, es jedoch in seiner Macht stand, sie vor der Bedrohung, die Whitley für sie darstellen mochte, zu schützen. Ohne weitere Umschweife erklärte Marcus: „Es war eine höchst aufschlussreiche Begegnung, aber wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, Mrs Manning und ich haben etwas Geschäftliches zu besprechen.“
Whitley versteifte sich. „Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein, Sir, aber ich glaube, dass Sie meine geschäftliche Besprechung mit Mrs Manning unterbrochen haben.“
Ein Glitzern trat in seine grauen Augen. „Vielleicht haben Sie mich missverstanden“, sagte Marcus in eisigem Ton. „Ich habe Sie höflich gebeten zu gehen. Ich schlage vor, das tun Sie, ehe ich meine gute Erziehung vergesse.“
Major Whitley hatte nicht zwanzig Jahre in der Armee überlebt, ohne erkennen zu können, wann ein strategischer Rückzug angesagt war. Er hatte keine Ahnung, wie groß die Bedrohung war, die Sherbrook für ihn darstellte, aber ihm kam der Gedanke, dass ein kluger Mann jetzt besser das Feld räumte. Er schaute Isabel an. Es würde weitere Treffen geben. Treffen, bei denen der anmaßende Mr Sherbrook nicht störte.
Es ging ihm zwar gegen den Strich, aber Whitley setzte ein Lächeln auf und erklärte: „Ah, es scheint, ich habe die Lage missverstanden. Verzeihung.“ Marcus‘ kühlen Blick erwidernd, fügte er an Isabel gewandt hinzu: „Ich freue mich darauf, Sie wiederzusehen. Wir haben wegen der alten Zeiten in Bombay viel zu besprechen, nicht wahr, meine Liebe?“
Marcus beobachtete den Austausch genau, er runzelte die Stirn. Sicherlich bedrohte der Kerl Isabel nicht, oder doch? Noch verräterischer war das leichte Zurückzucken von Isabel und das rasch unterdrückte Aufflackern von Furcht, das er kurz in ihren Augen sah. Er betrachtete sie misstrauisch. Es schien, als müsse er die Initiative ergreifen, und es fiel ihm nur ein Weg ein, mit dem er den Kerl ein für alle Mal in seine Schranken verweisen konnte und zudem dafür sorgen, dass Isabel vor ihm und weiteren Avancen sicher war.
Marcus stellte sich neben Isabel, bemächtigte sich ihrer Hand, entzog sie dabei Whitleys Griff, umschloss ihre kalten Finger und erklärte: „Mrs Manning und ich werden Sie wissen lassen, wenn es uns genehm ist, Sie zu empfangen.“
„Ich denke doch, Mrs Manning kann ihre eigenen Einladungen aussprechen“, entfuhr es Whitley unbedacht. „Sie braucht Ihre Erlaubnis nicht.“
„Oh, da irren Sie“, widersprach Marcus. Mit einem liebevollen Lächeln zu Isabel hob er ihre Hand an seine Lippen, hauchte einen Kuss auf ihre Knöchel. Er sah Whitley wieder an und fügte hinzu: „Sehen Sie, Mrs Manning hat mir vor Kurzem die große Ehre erwiesen, meinen Antrag anzunehmen. Als ihr zukünftiger Ehemann wird Mrs Manning mich bei einer ganzen Reihe von Angelegenheiten um Erlaubnis fragen.“