Kapitel 1
London, 1817
Drusilla Clare benutzte ihren Fächer wie vorgesehen, nämlich, um sich Kühlung zu verschaffen, nicht – wie erwartet – um damit zu flirten.
Wer würde auch schon mit ihr flirten wollen?
»Dru, du tust es schon wieder.«
Als sie ihren Namen hörte, sah sie zu ihrer Begleiterin hinüber.
Lady Eva de Courtney hätte es absolut nicht nötig gehabt, hier im Ballsaal der Duchess of Montfort neben Drusilla in der Mauerblümchenecke zu sitzen. Eva war nicht nur die schönste Debütantin dieser Londoner Saison, sie konnte sich auch einer großzügigen Mitgift erfreuen.
Allerdings war sie auch der wandelnde Beweis dafür, dass viel Geld und äußere Schönheit leider nicht ausreichten, um eine widerspenstige Persönlichkeit oder ein berüchtigtes Erbe wettzumachen. Jedenfalls nicht das berüchtigte Erbe ihrer Mutter.
Schließlich war allgemein bekannt, dass Evas Mutter, Lady Veronica Exley, die erste Frau des Marquess of Exley, eine umwerfend schöne, faszinierende Verführerin gewesen war, die Männer aller Altersklassen vor Verlangen und Sehnsucht um den Verstand gebracht hatte, und darüber hinaus vollständig dem Wahnsinn anheimgefallen.
Eva, der man nachsagte, in jeder Hinsicht ebenso reizvoll zu sein wie ihre verstorbene Frau Mama, hatte weder das Verlangen noch das nötige Charisma, um irgendjemanden um den Verstand zu bringen. Außer vielleicht ihren gestrengen und perfektionistischen Herrn Papa.
»Was genau tue ich denn?«, fragte Drusilla, während Eva sich eine Locke ihres glänzenden dunklen Haars aus der bis dahin perfekten Coiffure zupfte und sie um den Finger zwirbelte, bis sie vollkommen zerrupft aussah.
»Du runzelst die Stirn und guckst so«, zischte Eva aus dem Mundwinkel, zog die Lippen straff und starrte sie finster durch zusammengekniffene Augen an.
Drusilla musste darüber lachen, wie ihre Freundin sie nachahmte.
Evas Züge glitten wieder in ihren natürlichen, perfekten Zustand zurück.
»So ist es schon besser. Du bist sehr hübsch, wenn du lachst oder lächelst.«
Drusilla verdrehte die Augen.
»Selbst wenn du die Augen verdrehst.« Evas Lächeln wurde breiter. »Komm schon, verrate mir, woran du gedacht hast, als du so mürrisch ausgesehen hast.«
Drusilla konnte ihrer Freundin wohl kaum erzählen, dass sie sich gefragt hatte, wann Evas umwerfender, aber höchst unerfreulicher Stiefbruder, Gabriel Marlington, wohl auftauchen würde, also griff sie zu einer Lüge. »Ich habe mich gefragt, ob Lady Sissingdon aus ihrem Kleid fallen wird.«
Sie beide wandten sich der fraglichen, reichlich gesegneten Witwe zu. Eva entfuhr ein Grunzlaut, den sie mit ihrer Hand erstickte.
Dabei bemerkte Drusilla, dass der ehemals weiße Glacéhandschuh ihrer Freundin am Fingerknöchel einen Fleck hatte, der wie Gurkensuppe aussah – eine der Speisen, die beim Dinner serviert worden waren – und Rotwein am Zeigefinger. Drusilla hatte keine Ahnung, wie Eva das bewerkstelligt hatte, denn sie hatte die Handschuhe beim Essen nicht getragen.
Evas veilchenblaue Augen blickten von Lady Sissingdons skandalösem Mieder wieder zu Drusilla, und sie schien gerade etwas sagen zu wollen, als sie hinter Drusillas Schulter offenbar etwas entdeckte.
»Gabe!« Sie sprang auf und wedelte auf äußerst undamenhafte Weise mit dem Arm.
Drusilla wandte sich langsam auf ihrem Stuhl um, und Eva zog nicht nur die Aufmerksamkeit ihres Stiefbruders auf sich, sondern die des halben Ballsaals. Sie wusste, sie hätte ihre Freundin ermahnen sollen, etwas Etikette zu wahren, denn es war offenbar ihre Lebensaufgabe, Eva aus Schwierigkeiten herauszuhalten, aber ihr Herz pochte heftig, ihre Handflächen wurden feucht, und ihr Magen kribbelte auf diese eigenartige Weise wie immer, wenn Gabriel Marlington in ihre Umlaufbahn geriet. Etwas, das er seit Beginn dieser Saison beinahe täglich tat, da er seine Schwester – und damit auch Drusilla – zu jeder nur erdenklichen gesellschaftlichen Zusammenkunft begleitete.
Er stand beim Eingang des Ballsaals, als der Haushofmeister sein Erscheinen verkündete. Immer wenn sein Name ausgerufen wurde, ging ein aufgeregtes Raunen durch die Menge. Die Damen im Saal – seien sie jung, alt, verheiratet, verwitwet oder unverheiratet – hoben die Fächer oder die Stielbrillen, um ihn besser beobachten zu können.
Auch die Männer nahmen Notiz von seinem Erscheinen. Besonders diejenigen, die nahe dem Eingang herumlungerten – junge Burschen, die aussahen, als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie auf dem Ball bleiben oder ihn verlassen sollten, um weniger kultivierten männlichen Beschäftigungen nachzugehen. Die Reihen der Männer schlossen sich, wenn Gabriel an ihnen vorbeiging, wie bei einem Rudel wilder Hunde, die ein größeres, gefährlicheres Raubtier in ihrem Revier witterten.
Einer von ihnen war Earl Visel, der in ganz London, wenn nicht in ganz England einen höchst zweifelhaften Ruf genoss. Offenbar sagte er etwas zu Gabriel, das ihn veranlasste, stehenzubleiben.
Die beiden wandten sich einander zu, Visels Kumpane hielten sich im Hintergrund, während ihr Anführer sich Gabriel näherte. Wie Drusilla bemerkte waren beide groß und breitschultrig mit einer schmalen Hüfte. Visel allerdings war blass, blauäugig und blond, und Gabriel gebräunt, hatte einen Schlafzimmerblick, und sein Haar erinnerte sie an ein glimmendes Stück Kohle.
Was auch immer Gabriel Visel geantwortet haben mochte, hatte die Männer hinter dem Earl in Aufregung versetzt, und das Stimmengewirr war auch über die Geräuschkulisse des Ballsaals noch zu hören. Visel fühlte sich offenbar als Einziger nicht angegriffen, denn er warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. Gabriel schien nicht zu bemerken, welche Reaktion seine Replik bei den Anwesenden auslöste. Mit seinem Blick, der dem eines Berberfalken glich, suchte er die Menge ab. Er verzog die vollen Lippen zu einem fröhlichen Lächeln, als er seine Schwester entdeckte. Doch sein Blick wanderte weiter, und Drusilla entging nicht der amüsierte, leicht spöttische Gesichtsausdruck, der sich zeigte, als er sie entdeckte.
Sie sagte sich, dass seine Reaktion absolut natürlich war, besonders da sie in den vergangenen fünf Jahren alles in ihrer Macht Stehende getan hatte, um ihn zu provozieren und zu ärgern.
Sie redete sich auch ein, dass sie ihn nicht mochte, weil er all das verkörperte, was ihr an der Spezies Mann missfiel: arrogant, zu attraktiv als ihm oder sonst irgendjemandem gutgetan hätte, überzeugt von seiner Überlegenheit, und so an weibliche Bewunderung gewöhnt, dass er Drusillas Existenz nicht einmal bemerkt hätte, wenn sie ihn nicht dazu genötigt hätte.
Doch sie wusste, dass sie sich bloß etwas vormachte.
Der wahre Grund für ihre Abneigung – wenn es tatsächlich das war, was sie für ihn empfand – war, dass Gabriel Marlington sie dazu brachte, sich selbst nicht zu mögen, und sie hatte geglaubt, dieses Gefühl schon lange überwunden zu haben. Jedes Mal, wenn er in ihre Nähe kam, wurde sie an ihr eigenes, nicht besonders vorteilhaftes Äußeres erinnert. Drusilla wusste, dass sie nicht hässlich war, aber sie war auch nicht unbedingt hübsch.
Nein, ganz ansehnlich war das beste Urteil, auf das sie hoffen durfte. Sie gab schließlich nicht viel um Äußerliches und Eitelkeiten. Das war noch so etwas, das sie sich gern einredete.
»Gabe!« Eva hüpfte auf und ab, und ihr Slipper verfing sich im angeschmuddelten Saum ihres weißen Kleides. Man konnte deutlich etwas reißen hören, was die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sie zog.
Ihr vor Kurzem noch so strahlender Ausdruck wich nun einer finsteren Miene. »O verflixt und zugenäht!«
Es war ein großer Riss, aber solche Missgeschicke passierten ihr öfter.
Drusilla legte ihrer Freundin die Hand auf den Arm. »Keine Sorge, Eva. Ich habe eine Menge Nadeln, und wir können das im Handumdrehen in Ordnung bringen«, sagte sie gerade, als Gabriel vor ihnen stehenblieb.
»Guten Abend, die Damen.« Er begrüßte seine Stiefschwester mit zwei Wangenküssen nach fremder Sitte, was Drusilla insgeheim sehr charmant fand. Drusilla begrüßte er nie auf diese Weise. Aber zumindest entlockte ihm ihr Angebot, beim Ausbessern von Evas Kleid behilflich zu sein, ein Lächeln.
»Miss Clare ist eine gute Freundin, Eva. Und darüber hinaus offenbar noch eine umsichtige, wenn sie so viele Nadeln bei sich hat.«
Drusilla versuchte, nicht allzu offensichtlich in dem dankbaren, fast herzlichen Blick zu baden, den er ihr zuwarf. Stattdessen kniff sie die Augen zusammen und knickste leicht. »Mr Marlington.«
Er schien ihre kühle Begrüßung nicht zu bemerken. »Die Damen sehen heute besonders reizend aus. Ist das ein neues Kleid, Eva?«
Eva schnaubte angesichts dieses armseligen Versuchs brüderlicher Schmeichelei.
»Du bist so ein Schaf, Gabe. Wer soll denn ein langweiliges weißes Kleid vom anderen unterscheiden?«
Über ihre direkten Worte musste er lachen. »Es ist nicht besonders damenhaft, seinen Bruder ein Schaf zu nennen, Teufelchen.«
Eva schlug mit ihrem Fächer nach ihm, doch Drusilla wusste, dass ihre Freundin den Kosenamen und die brüderliche Zuneigung durchaus zu schätzen wusste; wer nicht? Drusilla hatte keine Geschwister, nicht einmal Halbgeschwister, und konnte nur erahnen, wie es wäre, sich spielerisch und liebevoll zu necken. Sie mochte natürlich ihre Tante Violet, aber das Verhältnis war weder besonders eng noch besonders tiefgehend. So wie sie auch ihren freundlichen, aber distanzierten Vater geliebt hatte. Doch der hatte für sie kaum Zeit gehabt, als sie noch kleiner war, und war gestorben, als sie gerade vierzehn und noch im Internat gewesen war. Und das war auch schon ihre gesamte Verwandtschaft, zumindest soweit sie ihr bekannt war.
Drusilla verstand nicht, wie Eva diesen attraktiven Mann nur wie einen Bruder sehen konnte. Schließlich waren die beiden nicht blutsverwandt, und darüber hinaus hatten sie einander erst vor fünf Jahren kennengelernt. Es war zum Auswachsen; allein wenn sie an Gabriel Marlington dachte, hätte Drusilla ohnmächtig werden können, Eva allerdings schien es absolut nichts auszumachen, ihn zu beleidigen, körperlich zu misshandeln oder herumzukommandieren.
Eva griff nach seinem Arm und wippte auf den Fußballen auf und ab. Ihr Ausdruck war streng, aber voll Zuneigung. »Du bist so spät, es ist schon beinahe Zeit für den letzten Tanz vor dem Supper. Ich dachte schon, du kommst heute Abend nicht.«
»Kurz hinter Epping war das Wetter scheußlich, deswegen bin ich nur langsam vorangekommen. Aber ich habe dir mein Wort gegeben, dass ich heute Abend zurück sein würde, und ich pflege mein Wort zu halten, wie du weißt.«
Gabriel ließ den Blick von Eva zu Drusilla schweifen, noch immer lag ein freundliches Lächeln auf seinen Lippen, doch die Lider über seinen lebhaften grünen Augen senkten sich.
»Und wie geht es Ihnen, Miss Clare? Haben Sie während meiner Anwesenheit irgendwelche Gefängnisrevolten angezettelt?«
Sie seufzte, öffnete ihren Fächer und machte ihr bestes gelangweiltes Gesicht. »Der Scherz wird wohl nie alt, Mr Marlington, nicht wahr?«
Er lachte leise. »Ich bin einfach zu unterhalten.«
Drusilla schnaubte. Seine Unterhaltung versorgte die Gerüchteküche der besseren Gesellschaft stets mit mehr frischen Zutaten als ein Dutzend junger Kerle.
Wenn nur zehn Prozent der Gerüchte der Wahrheit entsprochen hätten, wäre die Art seiner Unterhaltung alles andere als einfach.
»Außerdem habe ich keine Gefängnisrevolte angezettelt.«
»Ach ja, richtig. Sie haben lediglich die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt.«
Drusilla seufzte. Der Vorfall, auf den er anspielte, hatte sich im vergangenen Jahr ereignet, als eine Gruppe militanter Gefängnisreformer das Geld, das sie ihnen gegeben hatte, um die Gefangenen mit dem Nötigsten auszustatten, darauf verwendet hatte, eine Protestaktion zu finanzieren. Diese hatte einen Schaden von Hunderten Pfund verursacht und die Flucht vierer Schwerverbrecher ermöglicht, die für einen Transport vorgesehen gewesen waren. Die vergangenen Monate waren nicht besonders angenehm für sie gewesen, und sie hatte entschieden, nur noch für Zwecke zu spenden, in die sie persönlich eingebunden war oder die von ihrem engen Kreis von Reformern gutgeheißen wurden.
Sie lächelte verächtlich. »Selbstverständlich fällt Ihnen nichts Besseres ein, um mich zu ärgern, als auf einer Sache herumzureiten, über die seit Monaten Gras gewachsen ist?«
»Also, ich weiß nicht. Mir scheint, eine Rebellion und ein Ausbruch sollten für mehr als ein paar Monate Verärgerung sorgen.«
Er wandte sich Eva zu. »Oder heißt es Ärgernis?«
Eva gluckste. »Du bist solch ein Trottel, Gabe.«
»Trottel wäre jetzt nicht der erste Begriff gewesen, der mir eingefallen wäre«, murmelte Drusilla.
Er zog in gespielter Verwunderung die Brauen hoch.
»Wie meinen, Miss Clare?« Er wandte sich seiner Schwester zu. »Weißt du, welchen Begriff sie gewählt hätte, Eva?«
»Ich denke, das möchtest du lieber nicht wissen, Gabe.«
Er richtete den Blick seiner verstörend smaragdgrünen Augen wieder auf Drusilla, und lächelte auf diese Art, bei der ihr der Atem stockte.
»Doch, das möchte ich. Verraten Sie es mir. Welchen Begriff fänden Sie treffender für mich? Schlagfertig? Attraktiv? Klug?«
»Der Begriff, der mir vorschwebte, wäre wohl kaum für die Öffentlichkeit geeignet, Mr Marlington.«
Seine Augen glitzerten. »Dann verraten Sie mir doch, Miss Clare, wo sie solch vulgäre Begriffe lieber benutzen?« Sie ignorierte die Frage, doch er blieb unbeirrt. »Ich möchte erfahren, woher eine anständige junge Dame wie Sie überhaupt solche Begriffe kennt. Bitte, ich vergehe noch vor Neugier.«
»Ich fürchte, dann müssen Sie wohl vergehen.«
Er griff sich ans Herz und grinste. »O grausame Schönheit.«
Jegliches Herzklopfen, das sich aufgrund seines andauernden Aufenthalts in ihrer Nähe eingestellt hatte, verflüchtigte sich bei diesen Worten, die nur ironisch gemeint sein konnten: Niemand würde sie als Schönheit bezeichnen. Außer natürlich, er machte sich über sie lustig. Zum Glück stärkte Spott nur ihre Entschlossenheit.
»So unterhaltsam es auch ist, über Ihr verfrühtes Ableben nachzudenken«, er lachte, aber Drusilla fuhr unbeirrt fort, »würde ich doch viel lieber über ihre Woche in Newmarket sprechen, was -«
»Je nun, Miss Clare! Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie bemerkt haben, wie lange ich fort war und wohin ich fuhr. Ich könnte beinahe den Eindruck gewinnen, dass Sie mich vermisst haben.«
»Glauben Sie, was Sie möchten, Sir. Doch bitte denken Sie daran, dass ich auch Seuchen, Hunger und Krieg bemerke, doch das bedeutet noch lange nicht, dass ich sie vermisse.«
Er warf den Kopf in den Nacken und lachte, und Drusilla versuchte vergeblich, sich nicht zu viel auf ihren Triumph einzubilden.
Als er sie nun ansah, lag ein Glanz in seinen Augen, der von Amüsement sprach und von … Bewunderung?
»Wie sagte noch dereinst der große englische Dramatiker, Miss Clare? Die Dame, wie mich dünkt, gelobt zu viel?«
Drusilla machte große Augen und gab die Erstaunte. »Große Güte, Mr Marlington, Sie zitieren Shakespeare? Mir scheint, Sie haben in Oxford doch etwas gelernt außer Glücksspiel, Faustkampf und herumzuhuren.«
»Falsch, Miss Clare. Ich fürchte, mein Wissen, was Shakespeare angeht, verdanke ich gänzlich meinem Platz im Parkett in der Drury Lane.«
Drusilla spürte, wie ihr Gesicht entflammte wie eine Fackel. Ganz sicher konnte er doch wohl nicht auf seine berüchtigten Umtriebe mit den Schauspielerinnen Giselle Fontenot und Maria Beauchamp anspielen?
Er zwinkerte ihr zu.
Drusilla machte große Augen; das war haargenau, worauf er anspielte.
Er beobachtete mit einem Lächeln, wie sie errötete, und das Begreifen sich in ihrem Gesicht abzeichnete.
Der Blick seiner grünen Augen drang durch ihre schützende Fassade und erreichte direkt ihr nur allzu aktives Gehirn, als ob er die Bilder sehen könnte, die ihre Vorstellungskraft ihr lieferte – Bilder dieses umwerfenden Mannes, wie er mit seinen zwei hinreißenden Geliebten herumtollte – und als ob er den brodelnden Kessel der Eifersucht in ihrem Innern hören könnte.
Drusilla schluckte, lockerte die fest aufeinandergebissenen Kiefer, wich seinem wissenden Blick aus und versuchte, das verstörende Gefühl zu ignorieren, das in ihrer Magengegend und darunter wühlte: eine Empfindung, die ihr dank Mr Marlington nur allzu bekannt war.
Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen und suchte verzweifelt nach etwas, das sie von seiner Aufmerksamkeit und der hochnotpeinlichen Reaktion, die sie in ihrem Körper auslöste, befreien könnte. Dabei fiel ihr Blick auf ein Sinnbild blonder Perfektion, und sie hatte einen Einfall.
»Es wird Sie freuen zu hören, dass Miss Kittridge in Ihrer Abwesenheit absolut untröstlich war.«
Er zog überrascht die kastanienbraunen Brauen hoch, doch sein Blick wandte sich bereits der östlichen Seite des Ballsaals zu, wo die verführerische Miss Kittridge stand.
Drusilla knirschte mit den Zähnen angesichts der Tatsache, dass er ohne zu suchen genau gewusst hatte, wo sich die andere Frau befand, als ob schöne Menschen die Fähigkeit einer Brieftaube besaßen, intuitiv ihren Schlag und andere ihrer Gattung zu finden.
Und Lucinda Kittridge war zweifelsohne schön. Sie war darüber hinaus auch enorm wohlhabend – in dieser Hinsicht also noch weit besser ausgestattet als Drusilla. Und als ob das nicht genug wäre, war sie vier Jahre jünger und weit großzügiger mit Charme gesegnet.
Sie war ein blonder, blauäugiger Engel mit dem Körper eines Sukkubus und dem Verstand eines Militärstrategen, zumindest was begehrenswerte Junggesellen anging. Doch so reizvoll sie im Ganzen sein mochte, stand wohl das Familienunternehmen, der größte Schlachtbetrieb Englands, ihrem Vorhaben im Wege, ein Mitglied des Hochadels zu ehelichen. Also hatte sie das nächstbeste Ziel ins Auge gefasst: einen Mann mit verwandtschaftlichen Beziehungen zu vielen mächtigen Mitgliedern des Hochadels. Gabriel Marlington passte perfekt in dieses Beuteschema. Er mochte berüchtigt sein und aus zweifelhaftem Elternhaus, aber seine Familienverbindungen waren unvergleichlich. Drusilla wusste nur zu gut, dass es Miss Kittridge und deren Mutter schon seit seinem ersten Abend in der Londoner Gesellschaft auf ihn abgesehen hatten.
Miss Kittridge ließ den Blick von der langen Reihe ihrer Bewunderer zu Gabriel schweifen, als ob ein unsichtbares Band sie verknüpfte, und Drusilla hasste sich selbst dafür, dass sie die perfekte, wohlhabende Erbin zum Thema ihres Gesprächs mit einem umwerfenden, wenn auch strapaziösen Mitgiftjäger gemacht hatte.
Bei diesem gemeinen Gedanken biss sie sich auf die Lippe; Gabriel Marlington einen Mitgiftjäger zu nennen, war reine Missgunst ihrerseits. Er hatte nicht nur ein anständiges Auskommen, sondern hatte sich auch nie um Miss Kittridge bemüht. Ganz im Gegenteil. Die entzückende Debütantin, die in besseren Kreisen wegen ihres Namens auch »das Kätzchen« genannt wurde, hatte nur allzu deutlich ihr Interesse an Mr Marlington gezeigt, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Sowohl sie als auch ihre ehrgeizigen Eltern würden dank seiner Verbindungen zum Marquess of Exley und dem Duke of Carlisle, die beide zu den wohlhabendsten und einflussreichsten Adligen des Landes zählten, großzügig über Gabriels berüchtigte Vergangenheit und skandalösen Beziehungen hinwegsehen.
Auch wenn der Hochadel Gabriel Marlington, den im Exil lebenden Sohn des ehemaligen Sultans von Oran, für einen Außenseiter von niedrigem Stand halten mochte, gab es nur wenige Leute, die mutig genug – oder besser dumm genug – gewesen wären, dies laut auszusprechen. Offen gesagt waren seine Verbindungen in Adelskreise viel zu beeindruckend, als dass irgendjemand ihn hätte ignorieren können, ganz gleich wie sehr sich einige das gewünscht hätten.
»Ich mag das Kätzchen nicht besonders.«
Bei diesen Worten wandten sich Drusilla und Gabriel beide wieder Eva zu. Die zarte, aber zerrupfte Schönheit kaute wieder auf einer rabenschwarzen Locke, die sie aus ihrer zerstörten Frisur gezupft hatte, und betrachtete dabei nachdenklich die fragliche Dame.
Gabriel zog seiner Schwester sachte die Locke aus der Hand und strich sie hinter ihr Ohr. »Warum das denn, Teufelchen? Weil sie fast genauso hübsch ist wie du?«
Eva stieß ihm fest den Ellenbogen in die Rippen, und Gabriel griff sich an die Seite. »Himmel, du bist so unzivilisiert.«
Anstatt sich die Schelte zu Herzen zu nehmen, grinste Eva nur und schien mit der Anklage zufrieden.
»Sag schon, warum magst du das Kätzchen nicht?«, beharrte Gabriel.
»Sie sieht zwar ganz weich und kuschelig aus wie ein Kätzchen, aber ich glaube, unter dem hübschen Fell ist sie eine mit scharfen Krallen bewehrte gierige Bestie.«
Dieser höchst treffenden Beobachtung ihrer Freundin konnte Drusilla nur zustimmen. Wie konnte es sein, dass Männer nicht bemerkten, dass da etwas Hartes in der scheinbar süßen Erbin schlummerte?
Gabriel warf Drusilla einen schelmischen Blick zu. »Und was ist mit Ihnen, Miss Clare? Haben Sie auch etwas gegen Miss Kittridge?«
»Ich habe noch nicht großartig über sie nachgedacht«, log sie.
Seine Mundwinkel zuckten, als ob er wüsste, dass Miss Kittridges offen zur Schau gestellte Vorliebe für ihn und seine Reaktion darauf an Drusilla fraßen wie eine Säure, wenn sie nachts allein war. Oder auch tagsüber. Oder immer, wenn der schreckliche Gedanke sich in ihrem Kopf festsetzte.
Sie sah ihn finster an.
»Du wirst ihr doch wohl nicht wirklich einen Antrag machen, Gabe?« Eva hatte die Stirn in sorgenvolle Falten gelegt, und Drusillas Körper versteifte sich, während sie auf seine Antwort wartete. Die Anspannung war beinahe schmerzhaft.
Doch dieser unmögliche Mann lächelte bloß, als ob er ihre Qual spüren konnte und es genoss, sie zu verlängern.
Drusilla versicherte sich, dass es ganz und gar unmöglich war: Gabriel Marlington konnte nicht wissen, was sie für ihn empfand, schließlich hatte sie ihren scharfen Verstand darauf verwendet, ihre peinliche Verliebtheit zu verbergen.
»Oder etwa doch, Gabe?«, drängte Eva an Drusillas Stelle.
Er zuckte mit den Schultern. »Du weißt doch, wie Mama mir in den vergangenen Monaten in den Ohren gelegen hat, Eva. Einer von uns muss sich in Ketten legen lassen, bevor die Saison endet, wenn wir je wieder unsere Ruhe haben wollen. Und da du ja keine Anstalten machst, das zu tun, muss ich mich wohl oder übel opfern.«
»Ich könnte dir nicht mehr zustimmen. Du solltest dich tatsächlich für uns opfern; aber nicht, indem du das Kätzchen nimmst.«
Er sah lächelnd auf seine Halbschwester hinab, die nachdenklich die Besagte anschaute.
Ein quälendes Gefühl der Vergeblichkeit bohrte sich wie spitze Nadeln in Drusillas Herz. War er so blind, dass er glaubte, das Kätzchen könnte ihn tatsächlich um seiner selbst willen mögen oder lieben? Oder vielleicht waren ihm solche Dinge auch unwichtig? Vielleicht war für ihn bei der Wahl einer Partnerin allein ein hübsches Gesicht ausschlaggebend?
Er bedachte Drusilla mit einem amüsierten, wissenden Blick, als ob sie ihre Gedanken gerade laut geäußert hätte. »Und was denken Sie darüber, Miss Clare? Denn ich weiß, dass Sie immer eine Meinung haben.«
»Opfern sie sich, wie Sie es für richtig halten.«
Er lachte mit sichtbarem Vergnügen.
Allerdings wäre Drusilla bei dem Gedanken, dass Gabriel Marlington das Kätzchen heiraten könnte, liebend gern selbst den Opfertod gestorben. Außerdem hätte sie den überlegenen Ausdruck mit einer Ohrfeige von seinem perfekten Antlitz wischen mögen.
Doch sie tat weder das eine noch das andere und bediente sich lieber ihrer einzigen verbliebenen Waffe: ihrer Schlagfertigkeit.
»Sie scheinen mir sehr davon überzeugt zu sein, dass Ihre unerfreulichen Kapriolen Miss Kittridges Eltern nicht die Begeisterung für Sie und Ihre Brautwerbung verderben werden, Mr Marlington.«
Er wandte sich ihr mit einem verblüfften Ausdruck zu. »Es schmeichelt mir ungemein, dass Sie sich offenbar so für meine Brautwerbung interessieren, Miss Clare. Und für meine Kapriolen.«
Sie zupfte eine unsichtbare Fluse von dem bauschigen Ärmel ihres blassblauen Kleides. »Das ist kein Interesse, Sir. Ich habe lediglich eine objektive Beobachtung gemacht.«
»Aha, ich verstehe. Aber verraten Sie mir doch, Miss Clare, welche unerfreulichen Kapriolen Ihnen von mir zu Ohren gekommen sind.«
Sie spürte, wie Hitze über ihren Hals aufwärts kroch und presste die Lippen zusammen, als könnte das irgendwie die Flut aufhalten. »Ich kann es mir nur vorstellen.«
»Können Sie das? Ich brenne darauf, zu hören, was ihre überaus blühende Fantasie sich ausmalt.«
Drusilla kniff die Augen zusammen und hoffte, dass es herablassend genug wirkte, ihm Einhalt zu gebieten. Dabei schenkte sie ihm ein zuckersüßes Lächeln. »Ich muss mir doch wohl nicht den Kopf zerbrechen, um Kapriolen für Sie zu ersinnen, nicht wahr, Mr Marlington? Wo sie uns doch so erfolgreich mit realen Beispielen beliefern. Sie sind berühmt-berüchtigt, und Geschichten über Ihre Taten – oder sollte ich lieber Untaten sagen? – gibt es in Hülle und Fülle. Viele davon sind spannender als ein Abend im … Theater.«
Ha! Sollte er das erst einmal schlucken.
Doch ihre Hoffnung, ihn aus der Fassung zu bringen oder zu beschämen, indem sie auf seine berüchtigten Affären anspielte, wurde von seiner Reaktion enttäuscht. Er lächelte sie lediglich aufrichtig erfreut an. »Ach, Miss Clare. Ich hätte nie gedacht, dass Sie die Art Frau sind, die etwas auf solch unflätiges Geschwätz gibt.«
Drusilla tat überrascht. »Ach ja? Bitte, erleuchten Sie uns doch, Mr Marlington«, sagte sie, um dann seine eigenen Worte von zuvor aufzugreifen: »Ich brenne darauf zu hören, welche Art Frau ich Ihrer Vorstellung nach denn bin.«
Er beugte sich zu ihr und sagte so leise, dass nur sie es hören konnte: »Was ich mir vorstelle, ist nicht für die Öffentlichkeit geeignet.«
Drusilla machte hastig einen Schritt zurück und rempelte dabei einen vorbeigehenden Dandy an. Die Wucht des Aufpralls reichte aus, um sie ins Wanken zu bringen.
Gabriels Reaktion war schnell und unaufdringlich, denn er fasste sie leicht unterm Ellenbogen, um sie zu stützen, und nickte dem anderen Mann beschwichtigend zu, bevor er ihren Arm losließ.
»Die Hitze hier drin ist recht unangenehm, nicht wahr?« Er sah sie nun mit einem Ausdruck an, den man für besorgt halten konnte.
Sie ignorierte ihren galoppierenden Herzschlag und seine Frage und war erpicht darauf, das Thema wieder auf ihn zu bringen.
»Wir sprachen allerdings gerade von Ihrem Aufenthalt in Newmarket, soweit ich mich erinnere«, sagte sie. »Bisher ist es enttäuschend ruhig geblieben, aber es ist ja noch früh, Mr Marlington. Verraten Sie mir doch, auf welche Geschichten wir uns freuen dürfen. Waghalsige Wetten? Spontane Faustkämpfe? Duelle? Orgien?«
Bei seinem Grinsen wünschte sie sich, sie könnte ihre Worte zurücknehmen. Oder zumindest das letzte.
»Orgien?«, wiederholte er.
Ihr Gesicht glühte nun noch mehr.
»Sie haben tatsächlich eine blühende Fantasie, Miss Clare, ich würde nur allzu gern hören, was Sie über Orgien denken. Vor allem interessiert mich, wie Sie mich in diese Gedanken an Orgien einbeziehen.«
»Hören Sie auf Orgie zu sagen«, fauchte sie.
»Sie haben damit angefangen.«
»Sie reden wie ein Zwölfjähriger, Mr Marlington.«
Er senkte die Lider, und Hitze wallte durch ihren Körper, besonders spürbar war sie zwischen ihren fest zusammengepressten Schenkeln.
»Orgie«, flüsterte er.
Evas Gelächter durchbrach die erschreckende Trance. »Ihr zwei! Ihr könnte es einfach nicht lassen, einander zu necken.«
Drusilla und Gabriel wandten sich verwundert zu Eva um.
Wie konnte sie die Feindseligkeit nicht bemerkten, die seit jeher die Beziehung zwischen ihrem Bruder und ihrer besten Freundin kennzeichnete?
Doch Eva starrte noch immer zu der entzückenden Debütantin hinüber und sah ihre überraschten Mienen nicht. »Es sieht so aus, als wärest du nicht der Einzige, der hinter dem Kätzchen her ist, Gabe.«
Lord Visel hatte sich Miss Kittridge genähert, während Drusilla und Gabriel von ihrem Schlagabtausch abgelenkt gewesen waren. Das Mädchen und seine Mutter waren sichtlich erfreut über die nie dagewesene Erfahrung, das Interesse des Erben eines Duke geweckt zu haben, ganz gleich wie skandalös der Ruf des Mannes aufgrund seines unerhörten und ruchlosen Benehmens war. Wenn es ihm Kummer bereitete, dass seine Nemesis Miss Kittridge den Hof machte, so ließ Mr Marlington es sich allerdings nicht anmerken.
Stattdessen wandte er sich an seine Schwester. »Wie ich hörte, hat der Marquess bei Tatt’s die Füchse von Gerald Hines erworben?«
Die Stiefgeschwister begannen, über Pferde zu fachsimpeln, ein Thema, das mindestens drei Viertel von Evas Gedanken einnahm.
So sehr Drusilla sich nach Gabriel Marlingtons Aufmerksamkeit sehnte, so erleichtert war sie, sie verloren zu haben. Nach einem Schlagabtausch mit ihm fühlte sie sich immer, als hätte sie nur mit Mühe eine halsbrecherische Reise überlebt.
Sie entspannte sich und gestattete sich einige heimliche Blicke auf seine unwiderstehliche Gestalt wie ein Nimmersatt bei einem Bankett in Dantes drittem Kreis der Hölle. Dru hatte keine Ahnung, wie Gabriels Vater aussah, aber der ehemalige Sultan und die Tochter des Duke of Carlisle, Lady Euphemia, hatten einen göttlichen Sohn hervorgebracht. Er war nicht nur einer der umwerfendsten Männer im Raum, er war auch der auffälligste. Er sprach noch immer mit einem deutlichen, aber sehr charmanten Akzent. Seine äußere Erscheinung war ebenfalls recht exotisch, und sein bronzefarbener Hautton fiel in der Masse der blassen, milchgesichtigen jungen Kerle auf. Und sein Haar? Nun, das war wirklich sein herausragendstes Merkmal. Es war von einem dunklen, glänzenden Rotbraun, das sie so noch bei niemandem gesehen hatte. Zwar hatten alle Marlingtons rotes oder rötliches Haar, und seine Mutter, die Marchioness, hatte besonders leuchtend kupferfarbene Locken. Doch Gabriels Haar war fast schwarz mit einem düsteren karminroten Unterton.
Seine Nase war wie der Schnabel eines Falken und hätte ihn entstellen können, stattdessen verhinderte sie lediglich, dass er zu perfekt erschien. Außerdem unterstrich sie die Ähnlichkeit mit seinem illustren Großvater mütterlicherseits, dem Duke of Carlisle.
Und schließlich waren da noch seine Augen.
Drusilla seufzte, halb vor Bewunderung, halb vor Abscheu, was ihr einen fragenden Seitenblick aus den fraglichen, von rußschwarzen Wimpern umkränzten mandelförmigen Augen einbrachte. Sie erwiderte seinen verwunderten Blick mit einem hochnäsigen Ausdruck der Überlegenheit, den sie über die Jahre perfektioniert hatte. Er zuckte zusammen, als ob sie die Hand ausgestreckt und ihn gepiekt hätte. Oder geküsst.
Dieser Gedanke ließ Hitze durch ihren Körper strömen. Ihren gesamten Körper. Sie wandte den Blick ab. Gott bewahre, dass er je auch nur erahnte, wie faszinierend sie ihn fand. Oder zumindest sein Äußeres. Nein, das war nicht wahr. Sie fand alles an ihm zu interessant. Und das war ungünstig. Wäre es nur sein Äußeres gewesen, hätte sie diese Besessenheit schnell überwunden. Doch er war darüber hinaus auch noch klug, witzig, tapfer und geheimnisvoll und noch etwas, für das sie keinen Ausdruck fand, was ihr aber überall kribblig werden ließ, wenn sie in seiner Nähe war. Welche Frau konnte einer solchen Mischung widerstehen? Was sie für ihn empfand, hielt sie tief in ihrem Innern vergraben: ein Geheimnis, für das sie sich so schämte, dass sie es nicht einmal selbst auszugraben und anzusehen wagte.
Auf der Tanzfläche sammelten sich die Paare zur nächsten Runde, und Gabriel sah sich um.
»Wohin ist Mrs Peel verschwunden?«, fragte er und suchte den Raum nach Drusillas Tante ab, die heute Abend ihre Anstandsdame spielte.
»Sie fühlte sich nicht wohl und hat sich in den Ruheraum zurückgezogen, um sich zu erholen«, erklärte Drusilla.
Seine vollen Lippen bildeten einen Strich. »Sie und meine Schwester sollten nicht allein ohne Aufsicht hier sein.«
Drusilla stieß dieser Tadel sauer auf, aber Eva schlug ihm nur mit dem Fächer auf den Arm. »Wir sind doch keine kleinen Kinder, Gabe. Außerdem sind wir nicht allein: Du bist doch hier.«
Gabriel schüttelte darüber den Kopf, ließ das Thema jedoch fallen.
Stattdessen fragte er: »Und was macht ihr hier in dieser Ecke?«
Drusilla nannte ihn nur heimlich in ihren Gedanken Gabriel. Warum auch nicht? So wie sie ihn in den vergangenen fünf Jahren behandelt hatte, war es höchst unwahrscheinlich, dass er ihr je anbieten würde, ihn auch im wahren Leben mit Vornamen anzureden.
»Es gefällt uns hier«, entgegnete Eva.
Er runzelte die Stirn und betrachtete seine zierliche Stiefschwester. »Wenn ihr euch hier hinten versteckt, werdet ihr aber keine netten jungen Männer kennenlernen.«
»Herrje, Gabe, jetzt klingst du wie Mama: nette junge Männer, dass ich nicht lache. Du solltest es doch besser wissen. Du bist der einzige nette junge Mann in Spuckweite.«
Er verdrehte kurz die Augen zur Decke, als ob ihn der vulgäre Ausdruck seiner Schwester sprachlos zurückgelassen hätte.
Eva war sich entweder der Reaktion ihres Stiefbruders nicht bewusst oder ließ sich davon nicht abschrecken und fuhr fort. »Außerdem haben Dru und ich schon jeden jungen Mann in London kennengelernt, ob nun nett oder nicht.« Sie deutete mit dem Fächer, der sich, wie Drusilla nun bemerkte, nicht mehr richtig schließen ließ, auf die leere Fläche um sie herum. »Und sie können genau sehen, wo sie uns finden, wenn sie an einem Tanz interessiert sind.«
Alle drei sahen zu der Gruppe Männer hinüber, an der Gabriel vorbeigegangen war. Einige davon sahen in ihre Richtung, allerdings, da war sich Drusilla sicher, ohne jegliches Interesse daran, mit ihnen zu tanzen.
Eva hatte recht. Die jungen Männer der besseren Gesellschaft waren an ihnen beiden nicht interessiert.
Sie mieden Eva wegen ihrer lange verstorbenen Mutter. Und sie schnitten Drusilla aus Gründen der Überzeugung: ihrer Überzeugungen, um genau zu sein.
Dru konnte zwar nicht mit einem schockierenden Familiengeheimnis aufwarten oder mit zwei Geliebten, die sie im selben Haus hielt, doch sie war auf ihre eigene Weise berüchtigt. Es war nicht nur die Gefängnisrevolte, die sie unabsichtlich finanziert hatte, sondern vielmehr ihre Ansichten in Bezug auf die Ehe und die Rechte der Frau, der sie ihre Außenseiterposition am Rande der Gesellschaft verdankte. Nicht einmal ihr beachtlicher Wohlstand konnte Bewerber anziehen.
Die jungen Männer sahen auch nicht zu Drusilla und Eva herüber, sondern zu Gabriel.
Besonders Lord Visel schien ihn im Visier zu behalten. Frauen mochten wegen Gabriel Marlington ohnmächtig werden, aber eine Reihe Männer schien ihn zu verachten. Drusilla konnte sich vorstellen, dass es Eifersucht war, die solche Animosität hervorrief.
Eva stieß ihm abermals den Ellenbogen in die Seite. »Wo du schon einmal hier bist, Gabe, könntest du doch mit Dru tanzen.«
Hätte Drusilla Gabriel nicht angesehen wie eine Verdammte ihre Henkersmahlzeit, dann hätte sie wohl das kurze Aufblitzen von Zorn übersehen können, das sich auf seinen attraktiven Zügen abzeichnete. Doch sie beobachtete ihn schließlich und nahm es deswegen sehr wohl wahr. Und als er ihr einen kurzen Blick zuwarf, erkannte sie, dass er wusste, dass sie es bemerkt hatte. Sie hätte ihre wohlmeinende Freundin umbringen können.
»Äh, aber was wird mit deinem Kleid?«, brachte Gabriel wenig originell hervor. »Sollte es nicht geflickt werden?«
Drusilla griff nach dem Arm ihrer Freundin, bevor Eva etwas noch Peinlicheres tun konnte, wie etwa Gabriel anzuflehen, mit ihr zu tanzen.
»Genau, Eva. Dein Kleid. Wir müssen gehen und es flicken.«
Evas plötzliches Erröten verriet, dass ihr bewusst wurde, dass sie zu impulsiv gewesen war. Sie ließ den Blick von der verschämt dreinblickenden Drusilla zur steinernen Miene ihres Bruders wandern. »Du bist noch hier, wenn wir zurückkommen, Gabe?«
»Ich werde hier sein. Da Mrs Peel vorübergehend außer Gefecht ist, wie es scheint, bin ich nun Begleitung und Anstandsdame in einem.«
Er schenkte seiner Stiefschwester ein warmes und fürsorgliches Lächeln.
Und dann blickten seine grünen Augen an Drusilla vorbei, als ob sie nicht einmal existierte und blieben auf der reizenden Lucinda Kittridge hängen.
Kapitel 2
Gabriel sah den beiden Mädchen nach, wie sie durch die Tür des Ballsaals in Richtung Ruheraum der Damen verschwanden.
Sollte er ihnen folgen, um sicherzugehen, dass niemand sie belästigte? Er zuckte mit den Schultern. Welch ein alberner Gedanke, wer würde die beiden schon in einem Raum voller Frauen belästigen? Der Ruheraum war für zwei Mädchen vielleicht der sicherste Ort in diesem Haus, jedenfalls, was ihre Tugend anging. Nicht, dass ein Raum voller Damen notwendigerweise ein sicherer Ort wäre. Gabriel war in seiner Jugend hauptsächlich von Frauen umgeben gewesen und wusste, sie konnten ebenso gefährlich sein wie die meisten Männer, wenn nicht gefährlicher.
Er dachte über die Abwesenheit ihrer Anstandsdame, Mrs Peel, nach und suchte die Reihen der älteren Damen ab, erkannte aber keine der Bekannten seiner Mutter unter ihnen, die er ansprechen und um Hilfe bitten könnte. Auch wenn die Marchioness ihm gesagt hatte, dass er nur pro forma die Aufsichtspflicht hatte, machte Gabriel sich doch etwas Sorgen. In Oran hatten seine Halbschwestern nie ohne entsprechende Verhüllung den Palast verlassen dürfen. Aber hier?
Gabriel betrachtete die diversen Dekolletés im Raum.
Noch immer schockierte ihn, dass Damen ihren achtzehnjährigen Töchtern erlaubten, sich so zu kleiden. Der englische Adel hatte trotz seiner puritanischen Haltung zu Sex und Sexualität offenbar keine Skrupel, seine Töchter halbnackt herumlaufen zu lassen.
Nun, er konnte es wohl heute Abend nicht ändern. Morgen würde er seine Mutter aufsuchen und das Thema Mrs Peel aufbringen. Sie war schon eine recht alte Dame und im letzten Monat bereits öfter unpässlich gewesen. Er fand, die beiden Mädchen bräuchten eine robustere Anstandsdame, doch er konnte das wohl kaum Miss Clare gegenüber erwähnen, schließlich war Mrs Peel ihre Tante.
Miss Clare.
Er schnaubte. Der Name ließ in der Erinnerung das Gesicht der Frau auftauchen, die ihn mehr als alle anderen Frauen verwirrte und ihm gleichermaßen auf die Nerven ging, und zwar mehr als sonst jemand. Selbst sein Halbbruder Assad, der mehr als einmal versucht hatte, ihn umzubringen, war nie so anstrengend gewesen.
Gabriel wusste, dass er nicht der Einzige war, der so über Evas Busenfreundin dachte. Er hatte andere Männer über die scharfsichtige, spitzzüngige, aber überaus wohlhabende Tochter des verstorbenen Handelsfürsten Edgar Clare reden hören. Sie war jedem gegenüber kritisch, brutal ehrlich und auf eine scheinheilige Weise rechthaberisch, doch sie schien sich noch eine Extraportion Kritik für Gabriel aufzuheben. Zumindest war es ihm in den etwas über fünf Monaten, in denen er Eva und ihre Freundin zu jeder verfluchten Veranstaltung begleitet hatte, so vorgekommen.
Als Eva ihm in einem Brief zuerst von der wundervollen Freundin erzählt hatte, die sie im Mädchenpensionat kennengelernt hatte, der einzigen Freundin seiner linkischen und launenhaften Schwester außerhalb der Familie, war Gabriel hocherfreut gewesen.
Doch dann hatte er Miss Clare kennengelernt.
Gabriel spitzte die Lippen und schüttelte den Kopf. Mann musste sie sich ja nur heute Abend ansehen: eine junge Frau von einundzwanzig Jahren, die ihre gesamte Zeit, Mühe und ihr Geld für wohltätige Zwecke verwendete und sich wie eine alte Jungfer kleidete.
Nicht, dass ihm ihr züchtigeres Dekolleté und die voluminösen Unterröcke nicht gefallen hätten; im Gegenteil, er fand die Kleidung für ein Mädchen in ihrem Alter angemessen, wenn auch nicht besonders schmeichelhaft, was Farbe und Schnitt anging.
Auch ihr Engagement für gute Zwecke störte ihn nicht. Allerdings fand er ihre überlegene Attitüde ihm gegenüber äußerst lästig. Sie tat so, als ob er ein wilder Libertin ohne jede Selbstbeherrschung wäre. Beherrschung war vermutlich ihr zweiter Vorname, oder vielleicht war er auch überkritisch.
Miss Clare führte sich auf wie eine Frau von über vierzig Jahren. Gabriels Mutter, die Marchioness of Exley, legte mehr mädchenhafte Spontaneität an den Tag als Drusilla Clare.
Gabriel hätte ihr gern ihr überlegenes Lächeln aus dem Gesicht gewischt und ihr erzählt, wo er wirklich die vergangene Woche verbracht hatte, nämlich nicht damit, in Newmarket den wilden Mann zu geben, sondern in Brighton in einer ernsten Angelegenheit. Doch das wäre unklug gewesen, wenn man die heikle Natur dieser speziellen Angelegenheit bedachte. Außerdem war es ihm schließlich nicht ansatzweise wichtig, was Drusilla Clare von ihm dachte. Er hoffte sogar, dass sie sich vorstellte, wie er spielte, sich mit seinen Gewinnen brüstete und herumhurte. Ha! Drusilla: Selbst ihr Name verdarb einem doch schon die Laune.
Gabriel schnaubte angesichts seiner eigenen Dummheit. Die ersten Klänge eines Reels erfüllten den höhlenartigen Ballsaal, und er sah, dass sich die Tänzer formiert hatten, während er vor sich hingeträumt hatte. Die laszive Miss Kittridge starrte ihn über den Kopf ihres kleinen, gedrungenen Tanzpartners hinweg an.
Gabriel lächelte und zuckte leicht mit den Schultern. Es bescherte ihm einen bösen, entschieden unkätzchenhaften Blick, bei dem sie zornig die blonden Locken über die Schulter warf.
Vielleicht würde er sie um den nächsten Tanz bitten, den letzten vor dem Supper, einen Walzer.
Er wartete, bis sie sich wieder so gedreht hatte, dass sie ihn sehen konnte, und dann formte er stumm das Wort Supper mit den Lippen.
Sie senkte die Lider und der finstere Ausdruck schmolz dahin. Sie zögerte eine ganze Weile, bevor sie kaum merklich nickte.
Gabriel verspürte bei ihrer Zusage einen kleinen Stich. War es Enttäuschung? Er schob den Gedanken beiseite. Was war so schlimm daran, wenn sie sich nicht viel zu sagen hatten? Es stimmte, sie schien ein übermäßiges Interesse für Mode zu haben oder zumindest daran, über Mode zu reden, aber was machte das schon aus?
Lucy Kittridge war atemberaubend und charmant, und sie sah tatsächlich aus wie ein Kätzchen, wenn auch ein freches. Gabriel konnte sich gut vorstellen – und hatte es sogar schon mehrfach getan – dass sie eine richtige Tigerdame sein konnte, was den sinnlichen Teil einer Ehe anging. Aber ganz gleich wie verlockend derlei Gedankenspiele sein mochten, Gabriel hatte den Verdacht, dass die wundervolle Miss Kittridge sich nicht gern mit dem Kind einer anderen Frau belastet sähe. Nein, eine Ehe mit Miss Kittridge stand nicht in seiner Zukunft geschrieben.
Verflucht. Er konnte darüber jetzt nicht nachdenken.
Er nahm seine Uhr heraus und runzelte die Stirn: Die Mädchen waren jetzt schon viel zu lange fort dafür, dass sie nur einen Saum hatten ausbessern wollen. Was hatte Eva nun schon wieder angestellt? Er seufzte und ging auf den Ausgang des Ballsaals zu. Es war Zeit, dass er seine Pflichten als Aufsicht ernstnahm und seine Schwester und ihre unerträgliche Freundin suchte.
»Du bist wütend auf mich, weil ich vorgeschlagen habe, dass Gabe mit dir tanzen soll, nicht wahr, Dru?«, fragte Eva, die eilig hinter ihr her trippelte, um mit Drusillas ausgreifenderen – und zornigeren - Schritten mithalten zu können.
»Natürlich bin ich nicht wütend«, log sie und wandte im Gehen nur kurz den Kopf über die Schulter. »Oje, da ist ein schreckliches Gedränge, Eva. Wir werden nie hineinkommen.« Sie starrten beide auf die Damen, die sich in den Raum drängten, der für Kleiderkatastrophen und lebenswichtige Klatsch- und Tratschrunden reserviert worden war.
Drusilla blickte sich um. »Komm«, sagte sie und führte ihre Freundin von dem lauten, überfüllten Raum fort.
»Wohin gehen wir?«, fragte Eva, als ein Diener hinzusprang, um eine Tür für sie zu öffnen.
»In den Wintergarten, wo wir uns setzen und einen Augenblick ausruhen können.« Die Tür schloss sich hinter ihnen, und die plötzliche Stille im Flur ließ ihre Stimme laut erscheinen. Sie sprach leiser weiter. »Wir können uns um deinen Saum kümmern und uns ein wenig Ruhe und Frieden gönnen.«
»Es gibt einen Wintergarten?«
»Ja. Ich glaube, es war einer der ersten dieser Art in der Stadt.«
»Woher weißt du so etwas immer?«
»Es ist ja kein Geheimnis, Eva. Ich habe vor langer Zeit in einem Führer für herrschaftliche Häuser in London über Abingdon House gelesen.« Sie verzog den Mund zu einem selbstironischen Lächeln. »Da wusste ich natürlich noch nicht, dass ich eines Tages diese geheiligten Hallen würde betreten dürfen.« Dukes luden für gewöhnlich keine Kaufmannstöchter in ihre Häuser ein.
Doch gelegentlich machten sie für die besonders wohlhabenden eine Ausnahme, erst recht, wenn sie fünf unverheiratete jüngere Söhne hatten. Und natürlich war Eva eingeladen worden; zwar lag möglicherweise der Wahnsinn in ihrem Blut, doch sie konnte über eine Mitgift verfügen, die alles überstieg, was die meisten adligen Damen zu bieten hatten, und darüber hinaus Beziehungen zu illustren Kreisen, die bis zur Zeit der normannischen Eroberung zurückreichten. Es war eine Ironie des Schicksals, dass die zwei lohnenswertesten Eroberungen dieser Saison gleichzeitig die größten Außenseiter waren.
Drusilla biss sich auf die Unterlippe und zögerte. »Ich glaube, wir müssen hier entlang«, sagte sie und bog in einen kleinen Flur ein, der in den hinteren Teil des Hauses führte. Kerzen steckten in Wandhaltern, doch nicht so viele, dass man annehmen durfte, dass dieser Bereich des Hauses für Gäste des Balls vorgesehen war. Drusilla scherte sich nicht darum. Sie brauchte wie immer etwas Ruhe und Frieden, um sich von ihrer Begegnung mit Gabriel Marlington zu erholen.
Sie hatte gehofft, dass sich ihre heftige Reaktion auf ihn abmildern würde, wenn sie ihm in dieser Saison dauerhaft ausgesetzt war, doch sie fühlte sich nur noch mehr von ihm angezogen, je öfter sie ihm begegnete.
Drusilla öffnete die Tür am anderen Ende des Flurs, und sie beide erstarrten vor Staunen: Es war ein magischer Ort, ein riesiger Raum aus Hunderten facettierten Glasscheiben.
»Große Güte«, flüsterte sie und trat ein.
Es war eine der seltenen Nächte, in denen auch in London Sterne am Himmel zu sehen waren, und der Mond hüllte sich in silbrige Wolkenfäden.
»Es ist wundervoll«, sagte Eva, und betrachtete die Glasscheiben über ihnen mit in den Nacken gelegtem Kopf. »Außerdem duftet es herrlich.«
Das tat es. Es roch nach frischer Erde, Zitrusduft entströmte den Bäumchen in den Kübeln und ein Dutzend verschiedener Blüten erfüllten die Luft mit ihrem Wohlgeruch.
»Das ist hundert Mal besser als der stickige Ballsaal.« Eva breitete die Arme aus und drehte sich lachend im Kreis, sodass der weiße Musselin um sie herumflatterte und der zerrissene Saum über den Boden schleifte.
Drusilla öffnete ihr Retikül, das besser bestückt war als so manches Medizinschränkchen, da sie immer gern für jeden Notfall gerüstet war, und suchte darin nach dem Papierbriefchen mit den Nadeln.
»Mir ist schwindlig«, sagte Eva atemlos und ließ sich neben Drusilla auf die steinerne Bank plumpsen.
»Lass mich mal sehen, wie schlimm es ist, Eva.«
Eva drehte sich auf dem Hintern, legte die Beine über Drusillas Schoß und ließ sich rücklings auf die Bank sinken. Drusilla musste lächeln; Eva benahm sich, als wäre sie nur halb so alt – unaffektiert und kindlich. Sie war schon immer so gewesen. Als sie zusammen zur Schule gegangen waren, hatten die meisten anderen Mädchen Eva geärgert oder sie gemieden. Ihr wildes und unberechenbares Verhalten hatte sie abgeschreckt. Tatsächlich konnte man nie sagen, was Eva als Nächstes tun würde; ihr schien die Zurückhaltung zu fehlen, die den meisten Leuten zu eigen war.
Natürlich hatten dieselben Mädchen auch Drusilla gehänselt, wenn auch aus anderen Gründen. Sie war die Tochter eines Kaufmanns, ein Mädchen, das nach Laden roch.
Dru und Eva waren beinahe sofort unzertrennlich gewesen, als sie sich zum ersten Mal in Miss Barnstaples Akademie für junge Damen begegnet waren.
Eva hatte die Schule für Dru nicht nur erträglich, sondern angenehm gemacht.
Doch zwischen ihrem dritten und vierten Schuljahr war Eva krank geworden und konnte nicht in die Schule zurückkehren. Das letzte Jahr ohne Eva war schrecklich gewesen, ebenso wie ihre ersten zwei Saisons ohne die Freundin.
Eva hätte im vergangenen Jahr ihre erste Saison haben sollen, doch sie hatte lange gebraucht, um sich ganz zu erholen. Drusilla wusste, dass ihre Freundin das Beste aus der langen Krankheit gemacht und gehofft hatte, ihre Eltern würden die Saison vollkommen vergessen. Doch dieses Jahr war sie gezwungen gewesen, im stolzen Alter von ganzen neunzehn, beinahe zwanzig Jahren zu debütieren.
Drusilla steckte die letzte ihrer Nadeln in den zerrissenen Saum und begutachtete ihr Flickwerk.
»Lang wird es nicht halten, wenn du dich nicht vorsiehst«, warnte Drusilla ihre Freundin.
»Mich vorsehen? Du meinst bei all der Tanzerei?«
Eva war so reizend, dass es schwer war zu glauben, dass es ihr an Tanzpartnern mangelte, aber Drusilla wusste, dass es die Wahrheit war.
Das unvorhersehbare und ungewöhnliche Benehmen ihrer Freundin schien potenzielle Verehrer ebenso abzuschrecken wie die Gerüchte um den Wahnsinn ihrer Mutter.
Dass sie mit Drusilla in der Ecke saß, machte es natürlich nicht besser.
Eva holte tief Luft, nahm die Füße herunter, erhob sich und hob den Saum ihres Rocks, um ihn zu betrachten. »So gut wie neu«, verkündete sie. »Bist du bereit, in den Ballsaal zurückzukehren?«
Drusilla war noch nicht bereit. Dieser Raum war einfach zu überwältigend, um wieder zu gehen, aber … »Ich schätze, ich sollte lieber nach Tante Vi sehen und …« Eva legte die Hände auf Drusillas Schultern und lächelte auf sie herab. »Du bleibst hier und ruhst dich etwas aus. Ich werde nach ihr sehen.«
Drusilla sah ihre Freundin zweifelnd an. »Bist du sicher?«
»Absolut.«
»Aber gleich wird das Supper serviert, und dein Bruder wird sich fragen, wo du geblieben bist.«
»Ich werde ihm sagen, dass alles in Ordnung ist, nachdem ich nach deiner Tante gesehen habe, und dann komme ich zurück, und wir können diesen wunderschönen, zauberhaften Garten bis nach dem Supper zusammen genießen. Danach bitten wir Gabriel, uns heimzufahren. Ist das nicht eine ausgezeichnete Idee?« Eva blickte hoffnungsvoll drein. Sie suchte permanent nach Wegen, um sich vor Veranstaltungen der besseren Gesellschaft zu drücken oder wenigstens früher zu gehen. Drusilla wusste, sie sollte Eva dabei nicht ermutigen, aber …
»Versprich mir, dass du nicht weggehst, Dru.«
»Versprochen, aber …«
»Gut, ich bin bald zurück.« Eva wirbelte herum und lief recht undamenhaft zur Tür.
»Vergiss nicht, erst nach Tante Vi zu sehen«, erinnerte Drusilla sie.
Eva drehte eine ungeschickte Pirouette, stolperte und öffnete dann lachend die Tür. »Das werde ich nicht«, rief sie und verschwand.
Tja, das war Eva: unfähig, sich wie eine Dame zu benehmen, ganz egal, wie oft sie in der Schule dafür bestraft worden war. Drusilla neidete ihr das sorglose Naturell und die Leichtigkeit, wenn es darum ging, einfach nur das zu tun, was sie wollte, ganz gleich, welche Konsequenzen ihr Verhalten hatte.
Sie betrachtete den Platz, den Eva gerade freigemacht hatte. Warum nicht? Warum war sie immer so wohlerzogen? Es war schließlich nicht so, als ob sie je jemand beobachtet hätte. Eva hatte sich völlig ungeniert auf der Bank ausgestreckt, also konnte sie es auch.
Auch wenn sie sich dabei so ungehörig fühlte, als zeigte sie aller Welt bei Almack‘s ihre Strumpfbänder – nicht dass sie je auf eine Eintrittskarte für dieses erlauchte Etablissement hätte hoffen dürfen – ließ sich Drusilla nach hinten auf die Bank sinken und balancierte ihr Retikül auf dem Bauch. Sie schloss die Augen und zwang ihren verkrampften Körper, sich in dieser ungewohnten Haltung zu entspannen.
Vor ihrem inneren Auge tauchten Bilder von Gabriel Marlington auf. Sie verzog das Gesicht. Warum nur war sie mit dieser dummen Verliebtheit geschlagen? Konnte es etwas Jämmerlicheres geben als ein unscheinbares Mauerblümchen, das sich nach einem faszinierenden, attraktiven Korinther verzehrte? Denn genau das war Gabriel Marlington. Auch wenn sie sich mit männlichen Beschäftigungen erbärmlich schlecht auskannte, wusste Drusilla, dass er ausgezeichnet reiten, schießen, fechten und boxen konnte.
Hinzu kam seine Wirkung auf Frauen. Ein frustriertes Stöhnen entfuhr ihr, und sie biss sich auf die Unterlippe. Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand, sagte man. Vielmehr jedoch war es in diesem Falle so, dass Drusilla, wenn sie fremden Gesprächen lauschte, nicht viel Gutes über Gabriel zu hören bekam.
Oh, nichts allzu Scheußliches – er war kein Tierquäler oder grausam zu kleinen Kindern – er war, so tuschelte man, ein Herzensbrecher.
Anscheinend machten die Geschichten über seine Verruchtheit die Frauen nur noch wilder auf ihn. Selbst kluge Frauen wie Drusilla waren gegen solch ein Maß an Charme und männlicher Schönheit nicht gefeit.
Ihre Besessenheit bezüglich Gabriel Marlington beschäftigte sie schon seit Jahren, noch lange bevor sie Geschichten über seine Geliebten – Mehrzahl – gehört hatte, bevor sie gesehen hatte, wie ihn liebestolle Witwen verfolgten oder er reihenweise Frauen in seinen Bann schlug.
Drusilla hatte für gewöhnlich keine besondere Faszination für Glanz und Glitzer. Wenn sie einmal heiraten würde, so hatte sie stets geglaubt, dann einen warmherzigen und sanften Mann, der sich für dieselben Belange einsetzte wie sie. Zwar war auch Gabriel warmherzig und sanft – zumindest seiner Familie und anscheinend auch dem Kätzchen gegenüber.
Doch über Gabriel und das Kätzchen nachzudenken war, als ob sie ihre Seele mit einer neunschwänzigen Katze bearbeitete. Wie konnte man aufhören etwas zu wollen, das man nie würde haben können?
Sie bestrafte sich, indem sie sich die beiden zusammen vorstellte. Ja, lobte eine weise innere Stimme ihre Selbstflagellation, genau so ist es richtig, du musst deinen Ängsten direkt ins Auge sehen, nur so wirst du sie besiegen.
Drusilla stellte sich die beiden beim Walzer vor. Dafür brauchte es nicht viel Fantasie, denn sie hatte es zahllose Male gesehen. Für sich genommen waren sie beide perfekt; zusammen waren sie beinahe zu perfekt, um hinzusehen.
Als Nächstes stellte sie sich vor, wie sie einander küssten. Sie hatte schon mehr als einmal ein Paar beim Küssen gesehen. Die vom Glück Gesegneten, die Schönen, wähnten sich oftmals unbeobachtet bei den Bällen, Zusammenkünften und Picknicks der Saison. Sie hätten wissen müssen, dass die Wände Augen hatten. Oder vielmehr, dass die Mauerblümchen Augen hatten. Was sollten sie auch sonst mit ihren Augen anstellen, als ihre Umgebung genau zu beobachten?
Zum Glück war es Drusilla bisher erspart geblieben, Gabriel und das Kätzchen beim Küssen zu sehen. Sie wusste, dass das Kätzchen sicher Pläne für so etwas geschmiedet hatte, doch Gabriel war in Anwesenheit von unschuldigen jungen Damen, ganz entgegen seinem ungezügelten Benehmen bei Witwen und Schauspielerinnen, ein Ausbund an Anstand.
Dennoch konnte Drusilla sich vorstellen, wie sie sich umarmten, wie seine kräftigen Schultern die zarte Gestalt des Kätzchens bargen, seine eleganten, starken Hände sie berührten – eine ruhte auf ihrem unteren Rücken, die andere hielt sachte ihren Kopf wie ein unschätzbar kostbares und zerbrechliches Objekt.
Seine vollen, sinnlichen Lippen – Lippen, die beinahe so ausdrucksvoll waren wie seine strahlenden Augen – legten sich auf den perfekt geschwungenen Mund des Kätzchens.
Das erschreckende Bild in ihrem Kopf veränderte sich, und Drusilla lächelte beseelt, als ein neues Bild es verdrängte: ihr eigenes, wie sie in Gabriels muskulösen Armen lag.
Sie ließ zu, dass sich ihr Körper auf der unnachgiebigen Marmorbank entspannte und genoss die Vorstellung. Was war sie doch für eine Rebellin, sich während eines Balls auf einer Bank im Wintergarten auszustrecken. Allein. Sie war ungehörig, und ihre Tante würde mit ihr schimpfen, wenn sie es erführe.
Sie seufzte und ermahnte sich, wieder aufzustehen und sich dem Strauß der Mauerblümchen anzuschließen, doch ihre Lider waren so schwer … so schwer. Außerdem war es so friedlich … so …
»Was haben wir denn hier?«
Die tiefe Stimme drang durch ihren Dämmerzustand, und gleichzeitig berührte etwas Warmes ihre Wange.
»Eine Schönheit im Dornröschenschlaf«, raunte dieselbe Stimme. »Zwar nicht die, nach der ich gesucht habe, aber Sie müssen wohl …«
Drusillas Gehirn erwachte aus seinem Schlummer, und als sie die Augen aufriss, stellte sie fest, dass jemand über sie gebeugt war. Sie kreischte und richtete sich auf – oder versuchte es zumindest – denn sie stieß mit der Stirn gegen seine Nase.
»Au, verflucht, das tat verdammt weh!« Der Angreifer taumelte zurück, und Drusilla versuchte, sich aufzusetzen, doch ihre Beine hatten sich in den Röcken verfangen, und sie rutschte von der Bank, wobei sie verzweifelt versuchte, sich an dem glatten Stein festzuhalten. Mit der anderen Hand hielt sie dummerweise ihre Handtasche umklammert, anstatt auch damit nach Halt zu suchen.
Starke Hände packten ihre Schultern. »Jetzt hören Sie auf, so herumzuzappeln oder Sie werden noch auf den Kopf fallen.«
Mondlicht fiel auf sein Gesicht. Drusilla schnappte nach Luft und schreckte zurück. Es war Lord Godric Visel, ein attraktiver, spöttischer Libertin, der sich in der Vergangenheit nicht eine Sekunde um sie geschert hatte.
»Lassen Sie mich los«, verlangte Drusilla, riss sich los, rutschte dabei von der Bank und wäre beinahe auf dem Hintern gelandet.
»Verflucht noch mal!« Er fing sie in seinen Armen auf, bevor sie fallen konnte, hob sie hoch und ließ sie in höchst würdeloser Weise auf den Hintern plumpsen. »So.« Seine Hände hielten sie.
»Wollen Sie wohl aufhören, Miss Clare? Ich versuchte doch nur -«
Und ganz plötzlich war er fort.