Kapitel 1
Bath, England
Juni 1892
Lord William Wethington zuckte zusammen, als ihn seine Ehefrau, Lady Amy Wethington, von der anderen Seite des Schlafzimmers anfunkelte, die Hände in die Hüften gestemmt. „Als wir vor knapp einem Jahr geheiratet haben, hast du versprochen, dass ich weiterhin meine Bücher schreiben darf. Wenn ich mich recht erinnere – und das tue ich –, war das die einzige Bedingung, die ich hatte, als ich deinen Antrag annahm.“
Sie machten sich gerade bettfertig, und seine Frau sah müde aus. Er hatte sich bereits mit ihrer Hebamme, Mrs Jane Fleming, besprochen, und diese hatte ihm zugestimmt, dass Amy sich mehr ausruhen sollte. „Ja, das habe ich, Liebling, aber dies ist dein sechster Monat in gesegneten Umständen und du solltest etwas kürzertreten. Es scheint mir, als würde deine Arbeit dich belasten. Ich habe dich gestern weinen hören, während du auf diese höllisch laute Schreibmaschine eingehämmert hast.“
Sie reckte das Kinn in die Höhe. „Ich habe nicht geweint; ich habe lediglich mit meiner Protagonistin mitgefühlt. Wie es gute Schriftsteller eben tun. Und dieses wundervolle Gerät reduziert die Zeit, die es benötigt, ein Buch zu schreiben, erheblich.“
William seufzte. Das würde kein einfaches Gespräch werden. „Wenn ich mich recht erinnere – und das tue ich“, sagte er mit einem leichten Grinsen, als er ihre eigenen Worte gegen sie verwendete, „hat dein Verleger nicht einmal einen Abgabetermin festgesetzt, da du guter Hoffnung bist.“
Amy kniff die Augen zusammen. „Ich wusste, ich hätte dir diese Tatsache nicht anvertrauen sollen. Allerdings tut dies nichts zur Sache. Ich habe meine eigenen Ansprüche, und es war von Beginn an mein Plan, dieses Buch zu beenden, bevor das Baby kommt.“
„Das kann ich nicht gutheißen, meine liebe Gattin.“ Er ging zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Das Allerletzte, was du tun solltest, ist, dich zu überanstrengen und deinen Körper noch mehr Stress zu unterziehen als ohnehin schon.“ Er küsste sie auf die Stirn. „Ich mache mir doch nur Sorgen um dich.“
Sie schnaubte, drehte sich um und legte sich ins Bett. Die Tatsache, dass sie die Diskussion nicht fortsetzte, sprach Bände. Sein Hitzkopf von einer Frau würde unter normalen Umständen nie so leicht aufgeben. Könnte es sein, dass er ihre Auseinandersetzung gewonnen hatte?
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte sie: „Und gratuliere dir ja nicht zu deinem Sieg. Ich bin lediglich zu müde, um weiterzudiskutieren.“ Sie drehte sich auf die Seite und sah ihm zu, wie er zu ihr ins Bett stieg.
„Genau das“, erwiderte er, „ist mein Punkt, Liebling.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Gute Nacht.“
Was er eigentlich wollte, war, sich mit Amy bis nach der Geburt des Kindes auf seinen Landsitz zurückzuziehen. Er könnte seine Geschäfte problemlos von dort führen, und der Umzug würde seine Frau aus der schmutzigen Stadt hinausbringen. Frische Luft, leichte Spazierwege und gutes Essen waren das Förderlichste für Schwangere. Und ganz sicher nicht Stress, Stadtluft und Abgabefristen.
Tatsächlich, dachte er, wäre ein permanenter Umzug noch besser, doch Amys gesamte Familie lebte in Bath, nun da ihr Bruder und ihr Vater ihre Geschäfte von London hierher übersiedelt hatten. Und Tante Margaret, die Amy praktisch großgezogen hatte, würde sie am allerwenigsten verlassen wollen.
Zudem würde er sich wahrscheinlich gegen ihren Bruder Michael durchsetzen müssen, dessen Frau Amys beste Freundin und ebenfalls schwanger war. Dann waren da noch ihre Freunde aus dem Buchclub, ihre Kirchengemeinschaft und natürlich ihr Verlag.
Vielleicht sollte er Lady Margaret um Hilfe bitten. Sie würde womöglich mehr Glück haben, Amy davon zu überzeugen, weniger zu arbeiten.
William drehte sich auf den Rücken und sah Amy an, die bereits tief und fest schlief. Mrs Fleming hatte ihm versichert, dass sich seine Frau bester Gesundheit erfreute und dass es keinen Grund zu der Annahme gab, dass nicht alles gutgehen würde, obwohl sie bereits siebenundzwanzig Jahre alt war und damit nicht mehr so jung wie andere Erstgebärende.
Er hatte auch schon daran gedacht, sich an ihren Verleger zu wenden, damit dieser sie vom schnellen Beenden ihres Buches abbrachte, doch wenn sie jemals davon erfahren würde, würde er ans andere Ende der Welt flüchten müssen. Natürlich nur, wenn sein zerschundener Körper diese Reise dann überhaupt noch antreten könnte.
Mit all diesen Gedanken schlief er schließlich ebenfalls ein.
***
Am nächsten Morgen nahm William gegenüber von Amy am Frühstückstisch Platz. Sie wirkte träge und gähnte immer wieder.
„Warum bist du überhaupt aufgestanden, wenn du noch müde bist?“, fragte er, als er die Serviette auf seinem Schoß ausbreitete. Er nickte dem Hausdiener, der ihm Kaffee einschenkte, dankend zu und musterte das Gesicht seiner Frau. Ja, sie sah definitiv blass um die Nase aus.
Sie stützte das Kinn in die Hand. „Liebster Gatte, du darfst dir offiziell selbst gratulieren.“
Er hob die Augenbrauen in der Hoffnung, jedoch nicht wirklich in der Erwartung, dass sie sich seinen Wünschen bezüglich ihrer Schreibarbeit beugen würde. „Weshalb, wenn ich fragen darf?“
Amy sah auf ihren Teller hinunter und seufzte. „Nicht nur bin ich jeden Abend ausgesprochen erschöpft, sondern wie es scheint, ist meine schwangere Muse auf und davon geflogen. Zum ersten Mal in meiner Karriere als Autorin fallen mir keine Handlungsstränge, unerwarteten Wendungen und falschen Fährten mehr ein.“
„Da ich annehme, dass du nicht vom Jagen sprichst, scheint es, als hättest du deine Arbeit vorübergehend beiseitegelegt.“
Sie zeigte mit dem Finger auf ihn. „So ist es. Vorübergehend. Ich beabsichtige voll und ganz, an meinem aktuellen Roman weiterzuarbeiten, nachdem das Baby auf der Welt ist und sich die Dinge beruhigt haben. Hoffentlich habe ich dann auch wieder meine normale geistige Verfassung zurückerlangt.“ Sie nahm ihre Gabel wieder zur Hand. „Man kann nur hoffen.“
„Ich glaube fest an dich.“
„Das Problem ist, dass ich ohne meine Schreibarbeit sicherlich rastlos sein werde. Ich brauche etwas, um mir die Zeit zu vertreiben.“
„Sticken?“
Sie verzog das Gesicht. „Nein. Das ist eine Gabe, die ich nicht besitze.“
„Gartenarbeit?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe einmal versucht, ein paar hübsche Blumen an jener Stelle zu züchten, an welcher der Gärtner immer welche anpflanzt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Sie sind verwelkt, und er hat vorgeschlagen, ich solle es mit Sticken versuchen.“
Stricken erwähnte William lieber nicht, da sie sich daran ebenfalls bereits versucht und das daraus entstandene „Ding“ schließlich verworfen hatte. Er wusste immer noch nicht, woran sie eigentlich gestrickt hatte, er war nur dankbar, dass sie es ihm nicht als Geschenk überreicht hatte mit der Erwartung, er wüsste, was es war.
„Malen?“
„Dafür müssten wir in Pinsel, Leinwände und Farbe investieren.“
William lächelte über ihre Sparsamkeit. „Das können wir uns durchaus leisten.“
„Ich werde es im Kopf behalten, aber es hat mich noch nie sonderlich gereizt. Tante Margaret war immer die Künstlerin in der Familie. Noch etwas, das ich nicht von ihr geerbt habe.“
Nachdem er die Würstchen, Eier und vorzüglichen Scones, welche die Köchin mehrmals in der Woche backte, verspeist hatte, wischte er sich den Mund ab und stand auf. „Ich muss los, Liebling. Ich bin mit ein paar anderen Parlamentsmitgliedern verabredet. Wir wollen einen Gesetzesentwurf besprechen, bevor wir ihn bei der nächsten Sitzung präsentieren.“
Amy legte den Kopf zur Seite, damit er sie auf die Wange küssen konnte.
William ging zur Tür, blieb stehen und drehte sich noch einmal um. „Ich schlage vor, du hältst heute ein Nickerchen.“
Amy winkte ihn mit einer Hand hinaus, während sie mit der anderen ein weiteres Gähnen unterdrückte.
***
„Ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum ich Mrs Fleming überhaupt noch als Hebamme behalte. Sie ist unhöflich, herablassend und unsympathisch.“ Lady Eloise Davenport, Amys Schwägerin und beste Freundin, nahm sich noch ein Gebäckstück. „Sie hat mir sogar gesagt, dass ich weniger essen sollte, weil ich zu dick werde.“
Amy lächelte nur und behielt ihre Meinung für sich, um Eloises Gefühle nicht zu verletzen. Sie war in der Schwangerschaft einen guten Monat hinter Amy, hatte jedoch bereits ein paar Pfunde mehr zugelegt.
Sie tranken gemeinsam ihren Nachmittagstee, wie sie es jeden Tag taten. Zu Amys großem Glück hatte Michael, als er und Eloise letztes Jahr durchgebrannt waren, seine Geschäfte bereits nach Bath verlegt, daher war es nur natürlich, dass er ein Stadthaus für sie mietete, das nahe genug an Amy und Williams Haus lag, damit sie ihre enge Beziehung aufrechterhalten konnten. Michael hatte behauptet, er verspüre keinerlei Wunsch, sich auf seinen Landsitz zurückzuziehen.
Doch mit ihren Worten über ihrer beider Hebamme hatte Eloise auf keinen Fall unrecht. Amy fand sie ebenfalls nicht sehr sympathisch. „Da kann ich dir nur zustimmen“, sagte sie. „Allerdings habe ich keine andere Wahl. William hat viel recherchiert, als wir erfuhren, dass ich guter Hoffnung bin, und Mrs Fleming ist – wie sie uns schon mehrmals erklärt hat – im Gegensatz zu vielen anderen praktizierenden Hebammen ausgebildet und zertifiziert. Er sagte, er wolle nur das Beste für mich.“
„Wie süß“, meinte Eloise durch einen Bissen Apfelkuchen. „Michael hat das zwar nicht gesagt, aber ich weiß, dass er genauso denkt.“
„Zweifelsohne.“ Amy nickte und trank einen Schluck Tee. „Ich kenne meinen Bruder nun schon siebenundzwanzig Jahre lang, und ich weiß nur zu gut, dass er nicht der Typ von Mann ist, der seine Gefühle in Worte fassen kann.“
„Ja, ich weiß“, erwiderte Eloise. „Aber er hat durchaus seine Art, sie mir zu zeigen.“ Sie grinste und errötete leicht. Da es um ihren Bruder ging, hatte Amy nicht das geringste Bedürfnis, das Gespräch in diese Richtung fortzusetzen.
„Lady Wethington, Mrs Fleming ist hier.“ Filbert, ihr Butler, betrat den Salon.
Amy blickte überrascht zur Tür. „Ich wusste nicht, dass es Zeit für eine Visite ist“, sagte sie zu Eloise. Dann wandte sie sich wieder dem Butler zu. „Wie auch immer, bitte führen Sie Mrs Fleming herein.“
Sie sahen Mrs Fleming bei ihrem Eintreten erwartungsvoll an.
„Guten Tag, Mrs Fleming, was verschafft uns die Ehre Ihres Besuchs?“
Die Hebamme reckte ihr spitzes Kinn in die Höhe, als würde Amy sie herausfordern. Sie war in der Tat keine angenehme Person. „Ich weiß, es ist etwas früh, aber ich habe soeben die Betreuung zweier neuer Mütter übernommen und laut meines Terminkalenders ist dies der beste Zeitpunkt für mich, um Sie aufzusuchen.“ Mrs Fleming richtete ihren Blick auf Eloise. „Und da Sie hier sind, Lady Davenport, kann ich Sie ebenfalls kurz untersuchen, da Sie die Nächste auf meiner Liste sind.“
Amy warf Filbert, der bei der Tür verharrt war, einen Blick zu. „Sagen Sie doch bitte der Köchin, sie soll heißen Tee hereinschicken.“
Mrs Fleming winkte ab. „Nicht nötig, Lady Wethington. Ich werde die Untersuchungen durchführen und mich dann sofort wieder auf den Weg machen.“ Sie musterte die Teetassen und Gebäckteller abschätzig. „Ich bin viel zu beschäftigt, um meine kostbare Zeit mit Plaudereien zu verbringen.“
Amy zog bei diesem Kommentar scharf die Luft ein, während die Hebamme direkt mit einer Reihe von Fragen über ihre Gesundheit und ihr allgemeines Wohlbefinden begann. „Irgendwelche depressiven oder negativen Gedanken?“
Abgesehen von Ihnen?
„Nein. Vielleicht interessiert es Sie, zu hören, dass ich mein aktuelles Buch bis nach der Geburt des Babys beiseitegelegt habe. Lord Wethington hatte Bedenken, dass der Stress und die Belastung weder für mich noch das Baby gut seien.“
„Ein weiser Mann, Mylady. Schließlich neigen Sie dazu, über düstere Themen zu schreiben, und laut der allgemeinen Meinung von uns Hebammen, die ordnungsgemäß ausgebildet und zertifiziert sind, können negative Gedanken der Mutter das Kind beeinflussen.“
Amy und Eloise warfen sich einen amüsierten Blick zu. Mrs Fleming wurde nicht müde, jedes Mal aufs Neue ihren Stolz hinsichtlich der Tatsache zu betonen, dass sie eine von nur wenigen ordnungsgemäß ausgebildeten und zertifizierten Hebammen in Bath war.
Nachdem Mrs Fleming sich davon überzeugt hatte, dass Amy sich bester Gesundheit erfreute, wandte sie sich Eloise zu. „Wie ich sehe, essen Sie immer noch zu viel.“ Sie deutete auf das Stück Apfelkuchen, das sich Eloise gerade in den Mund schob.
Amy sprang ihrer Freundin zur Seite: „Ich kenne mich ein wenig mit Schwangerschaft aus, Mrs Fleming, da ich einiges darüber gelesen habe. Heutzutage ist die gängige Meinung, dass eine werdende Mutter essen und trinken sollte, worauf sie Lust hat, und zwar so viel sie möchte.“
Mrs Flemings Gesicht wurde knallrot, dann nahm sie eine herablassende Haltung ein. „Lady Wethington, ich verneige mich vor Ihrer Überlegenheit in Sachen Mord, basierend auf Ihrem zweifelhaften Hobby, über solche Dinge zu schreiben, aber ich versichere Ihnen, dass ich in Bezug auf Schwangerschaft und Geburt umfassend ausgebildet und gut informiert bin. Und es ist unsere Meinung, dass zu viel Essen zu einem schweren Baby und damit zu einer schweren Geburt führt.“ Damit begann sie mit ihrer Untersuchung von Eloise.
Na dann.
Die Frau hatte es geschafft, in weniger als zehn Minuten ihre beiden Klientinnen zu beleidigen. Anstatt mit ihr zu streiten, erhob sich Amy einfach, sobald die Untersuchung erledigt war, und strich ihre Röcke glatt – ein deutliches Signal dafür, dass der Besuch nun beendet war. „Ich begleite Sie zur Tür.“
Mrs Fleming packte hastig ihre Sachen zusammen und folgte ihr mit erhobenem Kinn zum Eingang. Amy drehte sich lächelnd zu ihr um – oder zumindest hoffte sie, dass es wie ein Lächeln aussah und nicht wie die zähneknirschende Grimasse, nach der es sich anfühlte. Sie wartete nicht auf Filbert, sondern öffnete selbst die Tür. „Einen schönen Tag noch, Mrs Fleming.“
Mrs Fleming nickte ihr zu und marschierte durch die Tür, die Amy etwas heftiger hinter ihr schloss als nötig.
„Also wirklich“, sagte Amy, als sie zurück zu Eloise in den Salon ging. „Diese Frau mag zwar ordnungsgemäß ausgebildet und zertifiziert sein, aber sie verhält sich alles andere als fürsorglich und freundlich.“
Dem Rat der Hebamme zum Trotz nahm sich Amy ein weiteres Törtchen vom Tablett und biss herzhaft hinein. „Nehmen Sie das, Mrs Fleming.“
Sie lachten, und die Krümel flogen in einer höchst unvorteilhaften und undamenhaften Weise aus Amys Mund.
Kapitel 2
Amy nahm Williams Arm, als sie aus ihrer Kutsche stiegen und die Buchhandlung Atkinson & Tucker betraten, wo sie sich jeden Donnerstag trafen, um Bücher zu besprechen. William verband viele schöne Erinnerungen mit dem Geschäft und dem Buchclub, da er dort Amy besser kennengelernt hatte. Seine Mutter hatte ihren Ehemann, Mr Edward Colbert, ebenfalls dort kennengelernt, als die damalige Witwe sich vor knapp zwei Jahren entschieden hatte, bei William einzuziehen.
Anfangs war es schwierig für ihn gewesen, zu akzeptieren, dass ein Mann romantisches Interesse an seiner Mutter zeigte. Seiner Mutter! Aber als er gesehen hatte, wie glücklich sie zusammen waren, hatte er sein Unbehagen verdrängt und ihnen seinen Segen gegeben.
Da Amy drei Anläufe gebraucht hatte, um ein Paar gleiche Schuhe zu finden, waren die meisten anderen Mitglieder bereits dort. Sein Stiefvater, Mr Colbert – in seinem Kopf würde er immer Mr Colbert sein, da er ihn seit seinem Beitritt zum Buchclub vor Jahren als solchen kannte –, stand bereits vorne im Raum und blätterte in ein paar Unterlagen. Er hatte schon als Moderator der Gruppe fungiert, seit William Mitglied war.
Wie üblich saß Williams Mutter in der ersten Reihe. Mr Colbert wollte immer, dass sie vorne saß, damit er sie während des gesamten Treffens anhimmeln konnte. William schüttelte den Kopf. Er musste sich mehr als einmal ermahnen, dass seine Mutter glücklich war, und das war alles, was zählte.
Die Misses Penelope und Gertrude O’Neill, Schwestern, die sich gleich kleideten, als wären sie Zwillinge, sich aber überhaupt nicht ähnlich sahen, winkten ihnen zu. Sie waren liebenswerte ältere Damen, die sie auch aus der Kirche kannten, und William wunderte sich immer noch, dass sie einem Krimi-Buchclub beigetreten waren.
William führte Amy zu einem Sofa, und Mr Colbert eröffnete das Treffen. Gerade als er zu sprechen begann, stürmte Eloise in den Raum – wie üblich. Sie huschte zu William und Amy, schenkte ihnen ein breites Lächeln und ließ sich völlig außer Atem in den Sessel plumpsen.
William beugte sich zu ihr hinüber und sagte leise: „Ich habe dir bereits gesagt, dass wir dich gerne jede Woche auf dem Weg zur Buchhandlung abholen können.“
„Ich weiß. Und ich hatte auch wirklich vor, euch eine Nachricht mit dieser Bitte zu schicken, aber Michael war gerade dabei, von seiner immer angespannter werdenden Beziehung zu seinem Vater zu erzählen, und da ich es nicht übers Herz brachte, ihn zu unterbrechen, hatte ich keine Zeit, darauf zu warten, dass meine Kutsche vorgefahren wurde.“
William sah entsetzt aus. „Weiß er, dass du ohne die Kutsche aufgebrochen bist? Was ist nur los mit dir, Eloise?“
Eloise errötete. „Ich habe eine Droschke herangewunken.“ Dann legte sie den Finger auf die Lippen und nickte in Richtung von Mr Colbert.
„Ich habe heute Abend einen interessanten Vorschlag für Sie alle.“ Mr Colbert betrachtete die Gruppe vor sich.
William blickte in die Runde von bekannten Gesichtern: Lord Temple und seine Tochter Abigail, Mr Davidson und sein sehr enger Freund Mr Rawlings, Mrs Morton, Lady Forester und natürlich die O’Neill-Schwestern.
Mr Colbert fuhr fort: „Wie Sie wissen, haben wir schon immer Krimis gelesen und besprochen.“ Er blickte Amy an. „Und da meine eigene Schwiegertochter, in der Verlagswelt besser bekannt als E. D. Burton, eine bekannte und angesehene Krimiautorin ist, war es wunderbar, auch einige ihrer Werke zu lesen.“
Leichter Applaus folgte, und Amy errötete.
Mr Colbert räusperte sich. „Aber vielleicht ist es Zeit für ein wenig Abwechslung. Meine reizende Frau hat vorgeschlagen, dass wir einige Werke von Miss Austen lesen.“
Mr Davidson stöhnte auf, was keine Überraschung war, da er ein wenig schwierig im Umgang war. Sowohl William als auch Amy waren schon mehr als einmal in Auseinandersetzungen mit dem Mann geraten.
„Ich fände es wunderbar, etwas Neues auszuprobieren“, sagte Lady Forester.
Alle anwesenden Frauen nickten natürlich zustimmend. Davidson äußerte sich nicht weiter dazu, sondern lehnte sich nur mit verschränkten Armen zurück. Immer wenn Mr Rawlings bei ihm war, benahm er sich etwas anständiger. Fast so, als bräuchten seine Manieren ein Kindermädchen. Wäre Mr Rawlings nicht hier gewesen, wäre es mit Sicherheit zu einem Streit gekommen, da war sich William sicher.
„Darf ich einen Vorschlag machen?“, meldete sich Eloise zu Wort.
Mr Colbert nickte. „Aber natürlich, Lady Davenport.“
„Ich finde, wir sollten Miss Austens Buch Stolz und Vorurteil lesen. Der prägnante Titel hat mir schon immer gefallen. Gleich wie Verstand und Gefühl.“
Mr Davidson machte eine abfällige Geste. „Sicherlich, Mylady, kaufen Sie Ihre Bücher nicht aufgrund des Einbands? Das erscheint mir töricht.“
Eloise straffte die Schultern und holte tief Luft. „Ich habe den Einband nie erwähnt, Mr Davidson. Vielleicht sollten Sie besser zuhören.“
Einige der Frauen kicherten, aber Mr Colbert sah aus wie ein Lehrer, dem gerade bewusst geworden war, dass er die Kontrolle über die Klasse verloren hatte.
Nach einem kräftigen Stoß seiner liebevollen Frau in die Rippen sagte William: „Ich stimme zu, dass es vielleicht an der Zeit ist, etwas Neues auszuprobieren.“
Mr Colbert wirkte erleichtert. „Vielen Dank, Mylord.“ Er nahm seine Unterlagen und sagte: „Ich hatte ein paar Vorschläge, aber da Lady Davenport bereits welche geäußert hat, sollten wir über diese abstimmen. Wer Stolz und Vorurteil bevorzugt, möchte bitte die Hand heben.“
Er zählte die Stimmen und notierte sie. „Und wer möchte lieber Verstand und Gefühl lesen?“
William sah sich um. Es schien, als gäbe es mehr Stimmen für Stolz und Vorurteil.
„Dann also Stolz und Vorurteil.“ Mr Colbert zwinkerte seiner Frau in der ersten Reihe zu. William nahm an, dass dies das Buch war, das sie Colbert vorgeschlagen hatte.
Sie verbrachten einige Zeit damit, die Besprechung ihres letzten Buches abzuschließen, dann beendete Mr Colbert das Treffen.
William half erst Amy vom Sofa auf, dann Eloise von ihrem Sessel. Bevor sie einen Schritt in Richtung Tür machen konnten, kam seine Mutter herbei. „Ach, Herzchen, du siehst wunderbar aus“, sagte sie zu Amy. Sie wandte sich kurz Eloise zu. „Sie auch, meine Liebe.“
Seine Mutter legte ihre Hände auf Amys Schultern und sah ihr fest in die Augen. „Passt du auch gut auf dich auf?“ Sie schaute William an. „Passt sie auch gut auf sich auf?“ Bevor er auch nur einen Ton herausbrachte, sagte sie: „Sie sieht ein wenig müde aus. Vielleicht sind diese abendlichen Treffen nicht gut für sie.“ Sie warf William erneut einen Blick zu. „Glaubst du, dass diese abendlichen Treffen gut für sie sind?“
„Mutter, Amy steht direkt vor dir. Sie kann durchaus für sich selbst sprechen.“
Mr Colbert gesellte sich zu ihnen und klopfte William auf die Schulter. „Na, kümmerst du dich gut um unsere Amy?“
Eloise wedelte mit der Hand herum. „Hallo, ich bin auch hier.“
Williams Mutter sah sie an. „Sie sehen wundervoll aus, Lady Davenport.“ Sie warf einen Blick auf ihren Bauch und fügte hinzu: „Aber Sie sollten sich bei den Süßigkeiten etwas zurückhalten.“
***
Amy verbrachte drei Tage damit, eine Beschäftigung zu finden. Der Gärtner hatte sie bereits mit Verweis auf das Blumen-Debakel verjagt. Sie versuchte, ein Paar von Williams Socken zu stopfen, schaffte es bei einem Socken jedoch irgendwie, das eine Ende an das andere zu nähen. Wahrscheinlich würde er das Paar ohnehin nicht vermissen, wenn sie es wegwarf.
Dann kramte sie das Garn und die Nadeln wieder hervor, mit denen sie vor ein paar Jahren etwas zu stricken versucht hatte. Eine schöne, kuschelige Decke für das Baby wäre nett, dachte sie. Sie verbrachte einen ganzen Vormittag damit, in der Milsom Street nach dem perfekten weichen Garn zu suchen.
Zufrieden mit ihrem Kauf eilte sie nach Hause und begann mit ihrem Vorhaben. Nach mehreren Versuchen, bei denen sie die Maschen mehrmals auftrennte und ihre Unfähigkeit verfluchte, einfache Dinge zu tun, legte sie es nieder. Nun verstaubte es neben Williams Socke.
Warum nur war sie nicht in der Lage, Dinge zu tun, die ansonsten alle Frauen konnten? Tante Margaret konnte natürlich stricken, nähen, zeichnen, malen, Klavier spielen und wahrscheinlich auch ein Loch im Dach reparieren. Warum hatte sie keine ihrer Fähigkeiten geerbt?
Sie war als Kind in allem angemessen unterrichtet worden. Sie konnte passables Französisch sprechen, alle Könige und Königinnen aufzählen, Zahlen addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren und wusste, wie man sich vor der Queen richtig verbeugte. In Ermangelung einer Einladung zum Tee mit Ihrer Majestät würde ihr die Ausübung dieses Talents natürlich nicht helfen, sich die Zeit bis zur Geburt des Babys zu vertreiben.
Es juckte sie in den Fingern, sich an ihre Schreibmaschine zu setzen. Aber abgesehen davon, dass sie William versprochen hatte, vorerst davon abzulassen, fühlte sie sich bei dem Gedanken an ihre aktuelle Geschichte ehrlich hilflos. Sie schnappte nach Luft, als ihr der beängstigende Gedanke kam, dass die Mutterschaft ihr womöglich all ihre Schreibfähigkeiten genommen hatte!
Konnte das passieren? Sie musste Mrs Fleming danach fragen, wenn sie sie das nächste Mal sah. Natürlich würde diese sie wahrscheinlich auslachen und ihr wie einem Schoßhund über den Kopf streicheln.
Apropos Hund: Ihre liebe Persephone war seit der Geburt ihrer Welpen letztes Jahr etwas eigenartig. Vermutlich war sie noch immer beleidigt, dass sie alle weggegeben hatte. Sie seufzte und sinnierte über ihr Leben.
„Liebes, sitzt du ganz allein hier herum und suhlst dich in Selbstmitleid?“ Tante Margarets vertraute und tröstende Stimme erfüllte ihre Wohnstube, in der sie sich tatsächlich in Selbstmitleid gesuhlt hatte.
„Tante Margaret!“ Sie sprang auf – nun ja, eigentlich hievte sie sich eher auf – und umarmte ihre Tante. „Es ist so schön, dich zu sehen. Kannst du zum Tee bleiben?“
Ihre Tante streifte ihre Handschuhe ab und nahm anmutig auf dem Sofa gegenüber von Amy Platz. „Natürlich. Ich habe nicht den langen Weg zu meiner Lieblingsnichte auf mich genommen, ohne Tee zu erwarten.“
Amy läutete nach Tee und ließ sich wieder auf dem Sofa nieder. Bereits durch die bloße Anwesenheit ihrer Tante fühlte sich ihr Herz leichter an. Tante Margaret hatte sie praktisch großgezogen und war all das, was Amy nicht war. Aber sie liebte sie und fühlte sich immer besser, wenn sie bei ihr war.
„Mir ist zu Ohren gekommen, dass du zu schreiben aufgehört hast.“
„Ja. Ich habe William versprochen, eine Weile zu pausieren – er denkt, es sei zu anstrengend für mich.“ Als Tante Margaret eine wegwerfende Geste machte, fügte Amy hinzu: „Aber um ehrlich zu sein, scheint mich ohnehin die Muse verlassen zu haben. Neulich Abend musste ich weinen, weil ich meinen Gedankengang nicht mehr weiterführen konnte.“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe. „Glaubst du, dass das passieren kann? Ich meine, kann Mutterschaft das Gehirn beeinträchtigen?“
Tante Margaret strich ihren Rock glatt. „Liebes, die Mutterschaft wird sich auf jeden Fall auf dein Gehirn auswirken. Ich weiß nicht, wie es mit dem Schreiben aussieht, aber ich kenne nur allzu viele Frauen, deren Gehirn sich scheinbar in Brei verwandelt hat, sobald die kleinen Racker geboren waren.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich werde nie verstehen, was an einem rülpsenden, heulenden, stinkenden Geschöpf so reizvoll sein soll.“ Sie erschauderte. Dann beugte sie sich vor und tätschelte Amys Knie. „Ich habe jedoch keinen Zweifel daran, dass du dein Schreibtalent zur Gänze zurückerlangen wirst, sobald das Baby da ist.“ Sie sah sie entsetzt an. „Du wirst doch eine Amme und ein Kindermädchen einstellen, oder?“
Amy zuckte mit den Schultern. „Eine Amme auf jeden Fall, besonders am Anfang, aber bei einem Kindermädchen bin ich mir nicht sicher. Ich meine, angenommen, sie ist nicht vorsichtig genug oder verletzt das Baby?“
Tante Margaret starrte sie mit großen Augen an. „Bitte sag mir nicht, dass sich dein Gehirn bereits in Brei verwandelt hat.“
In diesem Moment kam der Diener mit einem Teewagen herein. Amy war mehr als froh, dass Tante Margaret das Einschenken und Zubereiten des Tees übernahm. Wie auch alles andere erledigte sie diese Aufgabe mit größter Anmut.
Während Amy recht klein war und schon vor ihrer Schwangerschaft ein paar Pfunde zu viel auf den Hüften gehabt hatte, war Tante Margaret gertenschlank, grazil und geschickt.
Amy nippte an ihrem Tee und nahm sich einen Keks. „Wie geht es Papa? Ich habe ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen.“
Tante Margaret stellte ihre Teetasse auf der Untertasse ab. Sie und Amys Vater, Tante Margarets Bruder, Franklin, Marquess of Winchester, waren in einen fortwährenden Zwist verstrickt, der seinem Frust über die Tatsache entsprang, dass sich seine Schwester weigerte, ihm zu erlauben, über ihr Leben zu bestimmen.
„Er hat wieder Streit mit deinem Bruder.“
Amy verdrehte die Augen. „Ist er noch immer böse auf Michael, weil er Eloise geheiratet hat? Lieber Himmel, das ist doch schon ewig her.“
„Nein. Ich glaube, das hat er überwunden, seit sie eines seiner Enkelkinder in sich trägt.“ Sie tätschelte Amys Hand. „Da ihr beide in naher Zukunft Babys erwartet, sollte man meinen, dass er Besseres zu tun hat, als sich Gedanken darüber zu machen, wie Michael seinen Teil der Geschäfte führt.“
Sie schauten beide auf, als William die Wohnstube betrat.
„Was machst du denn schon so früh zu Hause? Ich dachte, deine Besprechungen würden den ganzen Tag dauern.“
Er setzte sich neben sie, und sie bemerkte, dass er einen seltsamen Gesichtsausdruck zur Schau trug.
„Was ist los?“
William nahm ihre Hand. „Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten.“
Amy legte den Keks in ihrer Hand zurück auf den kleinen Teller, da ihr Mund auf einmal ganz trocken war. „Ich mag keine schlechten Nachrichten.“
Er wischte ein paar Krümel von ihrem Rock. „Ich fürchte, das mag niemand, Liebling, aber ich wollte es dir sagen, bevor du es von jemand anderem erfährst.“
„Was ist denn, William?“, fragte Tante Margaret. Ihre wachsende Besorgnis stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Er drückte Amys Hand und blickte zwischen den beiden Frauen hin und her. „Mrs Fleming ist tot.“
„Wer ist Mrs Fleming?“, fragte ihre Tante.
Amy stand unter Schock und konnte nichts anderes tun, als William anzustarren.
Er antwortete an ihrer Stelle. „Sie ist – oder besser gesagt war – Amys und Eloises Hebamme.“
„Sie hat uns erzählt, dass sie gerade zwei neue Mütter übernommen hat“, sagte Amy, die Williams Neuigkeiten noch immer zu verarbeiten versuchte. „Hatte sie einen Unfall?“
William tätschelte ihre Hand. „Nicht ganz. Sie wurde heute Morgen in den römischen Bädern treibend aufgefunden, als die Angestellten die Anlage öffneten. Man geht davon aus, dass sie ermordet wurde.“