Leseprobe Eine allzu mörderische Idylle

Prolog

Bath, England

März 1893

„Tante, du siehst absolut umwerfend aus. Und das in einem Hochzeitskleid, das ich nie zu sehen geglaubt hätte.“ Lady Amy Wethington schenkte ihrer Tante Margaret ein strahlendes Lächeln, der Frau, die sie nach dem Tod ihrer Mutter großgezogen hatte. Und die immer mit Nachdruck verlautbart hatte, dass sie weder den Wunsch noch die Absicht hegte, jemals zu heiraten.

„Ach, Amy“, sagte Tante Margaret und legte die Hand an Amys Wange. „Wenn ich eines gelernt habe, dann: Sag niemals ‚nie‘ oder ‚immer‘.“

„Hm, das ist nicht gerade verheißungsvoll, wenn man bedenkt, dass du vorhast, heute Lord Exeter dein Versprechen zu geben, ihn für immer zu lieben, zu achten und zu ehren.“

Tante Margaret zwinkerte ihr zu.

Sie hatte sich für ein wunderschönes blassrosa Satinkleid entschieden, das ihre schmale Taille und ihre beneidenswert schlanke Figur perfekt betonte. Dazu trug sie einen kleinen, farblich abgestimmten Hut mit einem Netz, dessen Ende am Ausschnitt befestigt werden konnte.

Amy trug ebenfalls ein Satinkleid, jedoch in einem kräftigeren Rosaton, und dazu einen größeren Hut mit Blumen auf der Krempe. Sie hatte speziell darauf geachtet, dass ihre Schuhe zusammenpassten – da dies immer ein Problem für sie darstellte.

William fragte sich oft, weshalb beim Verlassen des Hauses immer Teile ihrer Kleidung fehlten oder schief saßen. Amy wusste auch nicht, weshalb sie es nicht schaffte, sich selbst richtig anzukleiden, und irgendwie kam sie auch nie dazu, eine Zofe einzustellen, die ihr dabei half.

Es klopfte an der Schlafzimmertür. „Schwester, bist du fertig? Es ist Zeit, zur Kirche aufzubrechen.“ Lord Franklin Winchester, Tante Margarets Bruder und Amys Vater, klang ungeduldig.

„Ich glaube, er hat Angst, dass du es dir doch noch anders überlegst“, sagte Amy, als sie zur Tür ging. Ihr Herr Papa versuchte, seine Schwester schon seit vielen Jahren dazu zu drängen, endlich zu heiraten.

„Guten Morgen, Papa“, sagte Amy und beugte sich für den üblichen Wangenkuss vor. „Du siehst sehr schick aus.“

Mit einer wegwerfenden Geste tat er ihre Bemerkung ab und ging an ihr vorbei ins Zimmer. Vor Tante Margaret blieb er stehen, mit einem sanften Gesichtsausdruck, den man nur selten an ihm sah. „Du siehst wundervoll aus, Margaret.“ Dann überraschte er sie beide mit der Frage: „Bist du sicher, dass du Lord Exeter heiraten möchtest?“

Amy schnappte nach Luft. „Papa, du willst Tante Margaret doch schon seit einer Ewigkeit zur Heirat bewegen!“

Er räusperte sich. „Ja, ich weiß.“ Er wandte sich der Braut zu. „Ich will mich nur vergewissern, dass du dir absolut sicher bist, dass du auch wirklich glücklich sein wirst.“

Tränen schimmerten in Tante Margarets Augen. „Ach, Franklin, du bist so … du. Ja, ich werde glücklich sein, und ja, ich glaube, es ist Zeit aufzubrechen.“

Zu dritt verließen sie das Schlafzimmer und gingen die Treppe hinunter zur Eingangstür, vor der sich fast das gesamte Personal versammelt hatte und nun Lady Margaret bewunderte. Die Haushälterin, Mrs Brady, tupfte sich mit einem Spitzentaschentuch die Augenwinkel.

Amy sah sich in dem Haus um, in dem sie aufgewachsen war, und dachte an den Moment vor eineinhalb Jahren zurück, an dem sie selbst das Haus für ihre Hochzeit mit Lord William Wethington verlassen hatte. Dies war eine der besten Entscheidungen ihres Lebens gewesen. Sie war zutiefst glücklich und Mutter eines entzückenden kleinen Jungens, Charles George Tottenham, der bereits knapp sechs Monate alt war.

„Was wird aus dem Haus, nun, da Tante Margaret nicht mehr hier wohnt?“, fragte Amy, als sie in der Winchester-Kutsche Platz nahmen.

Papa rückte sein Jackett zurecht, schlug die Beine übereinander und sagte: „Für den Moment wird es leer stehen, bis auf das wenige Personal, das es in unserer Abwesenheit instand hält. Da ich vorhabe, wie du und dein Bruder, aufs Land zu ziehen, wird es vielleicht eine Weile dauern, bis es wieder bewohnt ist. Aber es wird praktisch sein, eine Unterkunft zu haben, falls jemand von uns Zeit in Bath verbringen möchte.“

„Was ist mit dem Haus, das du und Michael bei eurem Umzug aus London gekauft habt?“

„Mein Gott, bist du heute Morgen aber neugierig.“ Papas Lächeln milderte seine Worte. „Wenn du es unbedingt wissen willst: Wir haben es vor ein paar Wochen verkauft. Winchester House ist ein Fideikommiss, das heißt, es wird immer dem Marquess der Familie gehören, daher werden wir es nicht verkaufen, sondern nur gelegentlich nutzen.“

Amy nickte und blickte aus dem Fenster auf die ersten Anzeichen des Frühlings. Tante Margaret und Lord Exeter hatten ihre Verlobung bereits im Juli letzten Jahres bekannt gegeben, aber da ihre liebe Tante Amy als Trauzeugin wollte, war eine Märzhochzeit geplant worden.

Die zusätzliche Zeit nach Charles’ Geburt war dafür gedacht gewesen, dass Amy nach ihrer Schwangerschaft wieder abnehmen konnte. Aber leider hatte sie gerade einmal ein paar Pfund verloren, sodass das Kleid, das sie bei ihrer Schneiderin in Auftrag gegeben hatte, etwas größer war als die anderen in ihrem Kleiderschrank. Unter Tränen war sie nach Hause zurückgekommen und hatte William erklärt, dass sie nun offiziell so dick war wie Mrs Dunstens Kuh.

Er hatte sie in den Arm genommen und ihr gesagt, dass er sie genau so liebte, wie sie war, und dass sie für die Kuh der Frau keine Konkurrenz war. Daraufhin hatte sie sich mithilfe einer Tasse Tee und zwei der himmlischen frisch gebackenen Kekse ihrer Köchin beruhigt.

Die Fahrt vom Stadthaus zur Kirche dauerte nicht lange. Tante Margaret hatte unglaubliches Glück, dass schönes Wetter war, wenn man bedachte, dass dies im März in England höchst selten der Fall war.

Die Trauung würde in St. Swithin’s stattfinden, der Kirche, in der Amys Eltern geheiratet hatten, in der sie getauft worden war und in der auch sie und William geheiratet hatten. Nachdem sie jedoch auf Williams Landsitz, Wethington Manor, gezogen waren, sobald das Baby alt genug für die Reise gewesen war, hatten sie beschlossen, Charles in der St. Agatha Church taufen zu lassen, der Kirche im Dorf in der Nähe des Anwesens.

Der Kutscher sprang vom Kutschbock, öffnete den Schlag und reichte Amy die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Papa stieg als Nächstes aus und streckte Tante Margaret die Hand entgegen, die zu Amys großer Verblüffung nervös aussah. Sie hatte ihre Tante nie anders als ruhig, anmutig, freundlich und beherrscht erlebt. Anscheinend waren Hochzeiten wirklich für alle eine nervenaufreibende Angelegenheit.

William war schon früher mit ihrer Kutsche zur Kirche gefahren, wobei er sie unterwegs beim Winchester House abgesetzt hatte. Obwohl Lord Exeter viele Freunde hatte, hatte er William gebeten, als sein Trauzeuge zu fungieren, da sie schon bald eine Familie sein würden.

Ihr Ehemann hatte in seiner formellen Kleidung sehr elegant ausgesehen. In Momenten wie diesen wurde ihr immer wieder aufs Neue bewusst, wie gut aussehend er war. Hoffentlich würde der kleine Charles nach seinem Vater kommen und nicht nach seiner pummeligen Mutter.

Sobald sie hinten in der Kirche bereitstanden, gab der Pastor der Organistin ein Zeichen, mit dem Spielen zu beginnen. Ihren Strauß Rosen fest umklammert, schritt Amy vor Tante Margaret und Papa den Mittelgang entlang.

Lord Exeter sah überglücklich aus beim Anblick von Tante Margaret. Die beiden strahlten einander an, und in diesem Moment wusste Amy einfach, dass sie eine glückliche Ehe führen würden.

Nach der Zeremonie begaben sich alle zum Hochzeitsessen ins Winchester House. Als sich die Gesellschaft zum Essen niederließ, erschauderte Amy beim Gedanken an ihr eigenes Hochzeitsessen, bei dem ihre Cousine vergiftet worden war. Hoffentlich würde heute alles reibungslos verlaufen, und sie würden mit keinem weiteren Mord konfrontiert werden.

Sie begrüßte ihren Bruder Michael, Earl of Davenport, und seine Frau Eloise, ihre beste Freundin seit Kindertagen. Die beiden hatten sich mit ihren Zwillingen, Lady Madeline Anne und Lady Patricia Joan, die am selben Tag wie Charles geboren worden waren, ebenfalls aufs Land zurückgezogen, auf einen von Papas Landsitzen in der Nähe von Newbury. Nun setzten sie sich neben Amy und William an die lange Tafel.

Die Köchin hatte ein wahres Festmahl zubereitet. Serviert wurden eine köstliche Reiscremesuppe, Lammkoteletts auf Tomatensoße, Rinderfilets, Schinken- und Zungensülze, Spargel in Rahmsoße, grüne Bohnen, Kartoffeln und Erdbeereis. Zum Abschluss folgte natürlich die Hochzeitstorte. Nach dem Essen fühlte Amy sich, als hätte sie all das Gewicht, das sie seit Charles’ Geburt verloren hatte, wieder auf den Hüften.

Die Unterhaltungen waren lebhaft und angenehm, niemand starb, und bald war es Zeit für die Gäste, sich auf den Heimweg zu machen. William und Amy würden mit dem Zug nach Hause fahren, während ihr Kutscher Benson ihre Kutsche, die für den Weg vom Stadthaus zur Kirche und zurück benötigt worden war, nach Wethington Manor zurückfahren würde.

Als sie ihre Sachen zusammenpackten, um sich von Benson zum Bahnhof bringen zu lassen, zog Amy die Handschuhe an und sagte zu ihrem Vater: „Papa, wann kommst du uns besuchen? Seit wir im Manor leben, warst du nur zu Charles’ Taufe dort. Ein Besuch ist längst überfällig.“

Papa seufzte. „Du hast recht, Tochter. Da alle meine Enkelkinder so nah beieinander wohnen, wäre es einfach, alle auf einmal zu sehen. Ich muss zugeben, dass ich nachlässig war.“

„In der Tat, Vater“, stimmte Michael zu. „Ich kann unsere Geschäfte von meinem Zuhause in Newbury aus führen. Wenn du mit deinem Haushalt auf dein Anwesen südlich von Guildford ziehen würdest, wärst du für Geschäftliches näher bei mir und könntest die Kinder öfter sehen.“

Amy hätte nie gedacht, dass sie eines Tages Papa zu einem Besuch ermutigen würde. In der Vergangenheit hatten sie in vielen Angelegenheiten Meinungsverschiedenheiten gehabt, aber seit Amy und ihr Bruder geheiratet und ihm Enkelkinder geschenkt hatten, schien Papa etwas milder und umgänglicher geworden zu sein.

„Ich habe noch ein paar Dinge in Bath zu erledigen, dann werde ich euch besuchen kommen.“ Er gab Amy einen Kuss auf die Wange. Dann, zu ihrer Überraschung, umarmte er sie noch.

Es war eine wunderschöne Hochzeit und ein wunderbarer Tag gewesen.

Kapitel 1

Sechs Monate später

September 1893

„Ich bin schwanger!“ Tante Margaret stürmte in den Salon des Wethington Manor, als Amy gerade ein Klatschspiel mit Charles spielte.

„Wie bitte? Hast du gerade gesagt, du seist schwanger?“ Amy starrte ihre Tante an, als wären ihr zehn Köpfe gewachsen. Es war allgemein bekannt, dass ihre Tante nicht nur geschworen hatte, niemals zu heiraten – was sie doch getan hatte –, sondern auch, dass ihr der Gedanke, Kinder zu gebären und aufzuziehen, Schauer über den Rücken jagte. „Tante, ich glaube, du solltest dich setzen. Ich werde Tee kommen lassen.“

Tante Margaret sackte in einem Sessel zusammen und lehnte den Kopf zurück. Amy setzte Charles auf den Boden, ging zum Klingelzug und bestellte Tee bei dem jungen Dienstmädchen, das auf das Klingeln hin erschien. Als sie sich wieder auf dem Sofa gegenüber von Tante Margaret niederließ, bemerkte sie, dass ihre Tante, deren Auftreten immer makellos war, nun alles andere als makellos aussah. Ihr Haar war zerzaust, ihr Kleid zerknittert, und sie fummelte im Schoß an einem Taschentuch herum.

„Nun“, meinte Amy, als sie Charles hochhob und auf ihren Schoß setzte. „Ich nehme an, das sind keine guten Neuigkeiten?“

Tante Margaret warf ihr lediglich einen finsteren Blick zu.

„Warum bist du hier? Nur um die Neuigkeiten zu verkünden? Unser Zuhause ist nicht gerade in nächster Nähe von deinem.“

In diesem Moment betrat Tante Margarets Ehemann, Lord Exeter, den Salon. „Guten Tag, Amy. Ich fürchte, meine Frau hatte es so eilig, die ihrer Meinung nach schlechte Nachricht kundzutun, dass sie keine Zeit hatte, dir mitzuteilen, dass sie – natürlich nur mit Wethingtons Erlaubnis – bei euch bleiben wird, während ich eine Reise nach Schottland unternehme.“

„Selbstverständlich, Lady Margaret ist jederzeit und so lange wie nötig bei uns willkommen.“ William kam in den Salon und schüttelte Exeter die Hand. „Möchten Sie einen Brandy?“

„Sehr gerne.“ Er folgte William zum Sideboard und nahm eines der Gläser entgegen, nachdem William den Brandy eingeschenkt hatte.

Nachdem sie sich gesetzt hatten, stellte William seinen Drink auf den Couchtisch und hob Charles von Amys Schoß auf seinen eigenen. Sofort begann der Kleine, an Williams Plastron zu ziehen, was er ignorierte, bis es ihn fast erwürgte. Dann löste er die pummeligen Hände von seinem Krawattentuch und drehte seinen Sohn so, dass er von dem verlockenden Gegenstand wegschaute.

Exeter schwenkte die Flüssigkeit in seinem Glas. „Ich habe einen Brief vom Butler meines Großonkels aus den Highlands erhalten, dass es ihm nicht gut ginge und er voraussichtlich nicht mehr länger als etwa eine Woche zu leben habe. Wir stehen uns nicht nahe, aber ich bin sein Erbe, also muss ich dorthin fahren und mich nach seinem Tod um alles kümmern.“ Er trank einen Schluck von seinem Drink. „Ich möchte nicht, dass Margaret in ihrem Zustand“ – er schenkte seiner Frau ein Lächeln, das diese mit einem finsteren Blick quittierte – „so weit reist, und ich habe keine Ahnung, wie lange es dauern wird, alles zu regeln.“

Amy tätschelte Tante Margarets Hand. „Alles wird gut, Tante. Wir werden uns gut um dich kümmern.“

Ihre Tante richtete ihren finsteren Blick auf sie.

„Darf ich Ihnen gratulieren, Exeter?“, fragte William.

Exeter grinste. „Wir sind jetzt eine Familie, also lass doch dieses ‚Exeter‘. Mein Name ist Jonathan. Und um deine Frage zu beantworten, ich freue mich über Glückwünsche. Ich hätte nie gedacht, dass ich mit meinen reifen siebenundvierzig Jahren noch Vater werde.“ Er schüttelte den Kopf und trank den Rest seines Brandys aus. „Meine Frau empfindet das leider als Katastrophe.“

Tante Margaret seufzte. „Nicht gerade als Katastrophe. Es ist nur etwas, das ich nie geplant oder wirklich gewollt hatte.“

„Aber schau doch, wie süß Charles ist, mein Herz“, meinte Jonathan.

Wie aufs Stichwort begann Charles, „Mama“ zu brüllen und streckte die Ärmchen nach Amy aus. Dann warf er sich nach hinten und rammte William den Kopf in die Brust.

„Der Tee ist fertig, Mylady.“ Marcus, einer der neuen Hausdiener, schob den Teewagen in den Salon, während Amy William ihren Sohn abnahm.

„Ich bringe ihn ins Kinderzimmer, damit die Nanny ihn hinlegen kann.“ Sie verließ den Raum, wobei sie dem noch immer quengelnden Charles gut zuredete.

***

„Wann hast du geplant, nach Schottland aufzubrechen?“, fragte William, nachdem Amy Charles hinausgebracht hatte. Margaret schenkte Tee ein und hielt mit hochgezogenen Augenbrauen die Teekanne hoch.

„Ja, ich nehme eine Tasse Tee, mein Herz“, sagte Jonathan.

„Ich auch bitte“, fügte William hinzu.

„Ich möchte in zwei Tagen oder so aufbrechen“, sagte Exeter und nahm die Tasse von seiner Frau entgegen.

Nachdem alle mit Tee und den kleinen Sandwiches und Backwaren, welche die Köchin geschickt hatte, versorgt waren, wandte William sich Lady Margaret zu. „Wir freuen uns, dich bei uns zu haben. Amy und ich haben mit einigen Dorfbewohnern einen Buchclub gegründet. Es gibt auch einen Nähclub, und einige der Damen aus der Kirche treffen sich regelmäßig, um Kleidung und Lebensmittel für die Bedürftigen zu sammeln. Ich bin sicher, dass du etwas finden wirst, um dir die Zeit zu vertreiben, während du hier bist.“

„Tatsächlich? Der Buchclub überrascht mich nicht, immerhin ist Amy Autorin und gehörte in Bath ebenfalls einem Buchclub an, aber ein Nähclub?“

„Sie hat ihr Bestes gegeben, aber der Buchclub und die Bemühungen für die Menschen in Not machen ihr deutlich mehr Spaß.“

„Ich nehme an, hier in Wethington Manor und Wethingford ist alles ruhig?“ Lady Margaret verschüttete ein paar Tropfen Tee auf ihr Kleid und wischte sie mit der Hand weg. William war sprachlos, denn Amys Tante hätte den Tee doch niemals einfach so weggewischt.

Aber als er sie genauer betrachtete, fiel ihm auf, dass sie nicht wie die Lady Margaret aussah, die er all die Jahre gekannt hatte. Offen gesagt konnte man sie nur als ungepflegt bezeichnen. Er räusperte sich, als ihm bewusst wurde, dass sie ihm eine Frage gestellt hatte. „Ja, es ist sehr ruhig hier. Amy arbeitet immer noch an einem Buch; Charles hat einen gesunden Appetit und scheint sich auch sonst bester Gesundheit zu erfreuen.“

„Siehst du, mein Herz, ein Kind zu bekommen, wird nicht dein Leben ruinieren“, sagte Jonathan.

Amy kehrte zurück. „Charles hat sich wieder beruhigt und schläft nun tief und fest.“

„Tee, Amy?“, fragte Lady Margaret.

„Ja, bitte.“ Sie ging zu dem Teewagen und legte ein paar Leckereien auf ihren Teller. „Ich versuche, das restliche Gewicht zu verlieren, das ich während der Schwangerschaft zugenommen habe.“ Sie leckte sich die Finger ab und setzte sich. „Aber es funktioniert einfach nicht.“ Sie biss in ein Himbeertörtchen.

William war froh, dass niemand ihre Aussage kommentierte. Er hörte sich die Klagen seiner lieben Gattin schon seit Charles’ Geburt an, und inzwischen war der Junge fast ein Jahr alt. Aber ihn störte es nicht, dass sie ein paar Pfund zugenommen hatte. Sie war immer noch eine wunderschöne junge Frau.

„Hast du ein Bild davon, wie groß der Besitz deines Großonkels ist?“, fragte William.

„Zu einem gewissen Grad vielleicht, aber ich fürchte, ich werde ein ziemliches Durcheinander vorfinden, da der Mann schon seit einiger Zeit krank ist. Ich wünschte nur, man hätte mich früher gerufen, damit ich bereits mit dem Nötigsten hätte beginnen können.“ Exeter stellte seine Teetasse ab. „Ich würde bei der Geburt des Babys gerne dabei sein.“

„Weißt du schon, wann deine mütterlichen Pflichten beginnen?“, fragte Amy ihre Tante und beäugte dabei die restlichen Törtchen, bevor sie ihren Teller entschlossen auf dem Tisch vor sich abstellte.

„Die Hebamme, die ich vor unserer Abreise konsultiert habe, hat mir Mitte März als voraussichtlichen Termin genannt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Der Monat unseres ersten Jahrestags. Das hätte ich nie gedacht …“

Amy nickte. „Dann hast du noch viel Zeit.“ Sie wandte sich Jonathan zu. „Ich hoffe, du bist rechtzeitig zu Tante Margarets Entbindung zurück, aber wenn nicht, kannst du beruhigt sein, dass wir uns gut um sie kümmern werden.“

Jonathan beugte sich vor, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt. „Kannst du eine Hebamme oder einen Arzt empfehlen? Ich möchte in ein paar Tagen abreisen und würde vorher gerne noch mit der Person sprechen, die sich um Margaret kümmern wird.“

Lady Margaret schnaubte und biss in ein Himbeertörtchen. Dabei fielen einige Krümel in ihren Schoß. Sie ignorierte sie.

„Ich kann mich natürlich im Dorf umhören. Jedes Mal, wenn ich die Geschäfte in Wethingford besuche, fällt mir auf, wie viele kleine Kinder dort herumlaufen, die allesamt glücklich und gesund aussehen. Es muss also jemanden geben, der gute Arbeit leistet.“ Sie sah Lady Margaret an. „Wir können morgen ins Dorf fahren und ein paar Erkundigungen einholen.“

Marcus betrat den Raum und sagte an Exeter gewandt: „Mylord, eine Kutsche mit Ihren Koffern ist eingetroffen.“

„Danke“, sagte Jonathan. Er blickte zu William hinüber. „Wohin soll unser Gepäck gebracht werden?“

Amy tippte sich an die Lippen. „Ich glaube, das blaue Zimmer am Ende des Ganges im ersten Stock ist bezugsfertig für Gäste.“ Sie wandte sich an Marcus. „Weisen Sie den Fahrer an, das Gepäck in dieses Zimmer zu bringen. Möglicherweise müssen Sie noch jemanden zur Hilfe hinzuziehen.“

Margaret hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr Gähnen zu verbergen.

„Tante, ich glaube, du solltest dich hinlegen. Es kann etwas dauern, bis eure Sachen im Zimmer sind. Ich kann dir Josephine, eines unserer Dienstmädchen, zur Unterstützung schicken. Ich werde sie rufen und sie bitten, dich in ein anderes Gästezimmer zu bringen. Dann kann sie mit dem Auspacken beginnen.“

„Danke, Amy. Ich bin ein wenig erschöpft. Ich weiß nicht, warum. Das Anstrengendste, was ich heute getan habe, war, zwei dieser leckeren Törtchen zu essen.“

William und Jonathan erhoben sich, als die Damen den Raum verließen.

***

Am nächsten Nachmittag machten Amy und Tante Margaret einen Ausflug nach Wethingford. Das Dorf war nicht allzu klein, und rund um den Dorfplatz gab es viele Geschäfte.

Wie bei allen großen Landgütern gab es nicht mehr so viele Pächter wie früher, die das Land bewirtschafteten und Pacht an das Herrenhaus zahlten, um dem Adel das Leben zu finanzieren. Während viele Männer die Bauernhöfe verließen und in die Stadt zogen, um in Fabriken zu arbeiten, gab es in Wethingford noch immer genug Familien, die geblieben waren, das gepachtete Land bewirtschafteten und das Dorf sowie Wethington Manor mit Nahrungsmitteln versorgten.

William hatte ihr bei ihrer Ankunft vor Monaten erklärt, dass er und seine Vorfahren stets ein gutes Verhältnis zu ihren Pächtern gepflegt hatten und dass die Familien, die als Bauern geblieben waren, gerecht behandelt wurden.

„Wethingford ist viel größer, als ich erwartet hatte“, bemerkte Tante Margaret, als sie Arm in Arm mit Amy die kurze Strecke vom Herrenhaus zum Dorfplatz zurücklegte.

„Das ist wahr. Ich muss zugeben, dass ich positiv überrascht war. Nachdem ich mein ganzes Leben in Bath verbracht habe, mit all den Aktivitäten und Freunden dort, hatte ich Sorge, dass es mir hier nicht gefallen würde. Die Sorge war besonders groß, weil sowohl William als auch ich es vorziehen, unseren Sohn auf dem Land großzuziehen.“

„Aber du scheinst dich gut eingelebt zu haben.“

„Ja, ich fühle mich sehr wohl hier.“ Sie warf ihrer Tante einen Blick zu. „Bist du wirklich bekümmert wegen des Babys?“

Tante Margaret schüttelte langsam den Kopf. „Nicht wirklich.“ Sie grinste. „Jonathan sagt, wir werden eine Amme und ein Kindermädchen und später eine Gouvernante einstellen. Er oder sie wird mein Leben also nicht allzu sehr beeinträchtigen.“

Amy dachte über die Worte ihrer Tante nach. Sie hatte nach Charles’ Geburt ebenfalls eine Amme gehabt und dann durch ein Kindermädchen ersetzt. Dennoch verbrachten Amy und William viel Zeit mit ihrem Sohn. Ihre Nanny, Mrs Grover, beschwerte sich des Öfteren, dass sie nicht genug zu tun hätte, und deutete im selben Atemzug an, dass es Zeit für Amy und William war, Charles einen Bruder oder eine Schwester zu schenken.

Sie war sich nicht sicher, ob sie dafür schon bereit war.

„Ach, sieh doch, da ist Mr Smythe.“ Amy lenkte sie in Richtung eines gut aussehenden Mannes, der um den Dorfplatz schlenderte, die Schaufenster betrachtete und hie und da stehen blieb, um sich mit jemandem zu unterhalten. „Er ist unser Vikar und erst seit etwa vier Monaten hier, aber wir alle lieben ihn.“

„Er sieht nicht wie ein Pfarrer aus.“

Amy legte den Kopf schief und musterte den Mann. „Wie sieht ein Pfarrer denn aus?“

„Jedenfalls nicht so jung und gut aussehend wie dieser da“, erwiderte Tante Margaret lachend.

Amy winkte ihm zu, als sie auf ihn zugingen. „Guten Tag, Mr Smythe.“

„Lady Wethington, wie immer ist es mir eine Freude, Sie zu sehen.“ Er lächelte sie an und richtete dann seinen Blick auf Tante Margaret.

„Darf ich dir unseren Vikar, Mr Smythe, vorstellen? Lady Exeter ist meine Tante. Sie hat mich großgezogen, nachdem meine Mutter gestorben war, als ich etwa zehn Jahre alt war.“

„Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Lady Exeter. Sind Sie zu Besuch hier?“

„Ja und nein. Natürlich verbringe ich immer gerne Zeit mit Lady Wethington, aber es scheint, als würde ich eine Weile hierbleiben. Mein Mann muss nach Schottland reisen, um sich um ein Landgut zu kümmern, das er in Kürze erben wird, und ich bleibe so lange bei meiner Lieblingsnichte.“

„Tante, ich bin deine einzige Nichte.“

Tante Margaret lachte und tätschelte ihre Hand. „Ich weiß, Liebes.“

„Darf ich davon ausgehen, dass Sie am Sonntagsgottesdienst teilnehmen werden?“, fragte Mr Smythe.

„Aber natürlich. Ich verpasse selten eine Sonntagsmesse.“

Sie unterhielten sich noch ein wenig und gingen dann weiter.

„Ein sehr netter Mann“, sagte Tante Margaret und lenkte sie in Richtung der Schneiderei. „Vielleicht kann ich, da wir gerade hier sind, einige Kleider für die nächsten Monate in Auftrag geben. Etwas, das mir auch jetzt passt und dann ausgelassen werden kann, ohne den grundlegenden Stil einzubüßen.“

„Das ist eine hervorragende Idee, Tante. Mrs Allen ist eine großartige Schneiderin. Sie hat seit meiner Ankunft mehrere Kleider für mich angefertigt, und ich war mit allen sehr zufrieden. Du wirst sehen, dass sie ein gutes Auge dafür hat, welcher Stil jeder ihrer Kundinnen am besten steht.“

Sie blieben vor dem Geschäft stehen, in dem mehrere Kleidungsstücke ausgestellt waren.

„Ich fühle mich jetzt nicht danach. Der Gedanke, mich auszuziehen und gekniffen und betastet zu werden, gefällt mir nicht.“

„Dann kommen wir eben ein anderes Mal wieder.“

Während des weiteren Einkaufens erkundigten sie sich in einigen Geschäften nach einer Hebamme für Tante Margaret und erhielten zwei Namen – beide Frauen wurden wärmstens empfohlen.

„Ich werde ihnen eine Nachricht schicken, dass sie ins Manor kommen sollen. Wenn Jonathan noch mit ihnen sprechen will, muss es bald sein“, sagte Tante Margaret.

Ein paar Spaziergänger kamen an ihnen vorbei. Da Amy im Dorf allseits bekannt war, blieben alle, die sie trafen, stehen, und sie stellte ihnen Tante Margaret vor.

„Du bist ausgesprochen beliebt, Amy“, bemerkte Tante Margaret.

Amy zuckte mit den Schultern. „Wir sind nun seit fast einem Jahr hier, und wie in allen Dörfern kennt hier jeder jeden.“ Sie hielt einen Moment inne. „Gibt es in der Nähe eures Landsitzes auch ein geschäftiges Dorf?“

„Eher eine Stadt. Nicht so ländlich wie dieser Ort. Ich muss sagen, mir gefällt die Atmosphäre hier.“

Amy führte sie zum Duck and Hog Inn am anderen Ende des Dorfplatzes. Es war ein sehr altes Gebäude, das sich bereits seit fünf Generationen im Besitz der Familie McGuiness befand.

„Ich dachte, wir könnten hier eine Kleinigkeit essen. Wir haben es noch nicht in die Buchhandlung geschafft, und dort möchte ich unbedingt noch hin.“

Tante Margaret lächelte. „Natürlich möchtest du das.“

Sie öffneten die Tür und betraten das Gasthaus. Nach dem strahlenden Sonnenschein draußen wirkte es im Inneren schummrig.

„Amy!“

Sie erblickte eine Frau, die von einem Tisch in der Ecke aufsprang und aufgeregt winkte.

„Lily! Ich wusste nicht, dass ihr uns besuchen kommen wolltet.“ Amy bahnte sich einen Weg durch die Tische zu ihrer Schwiegermutter, neben der ihr Ehemann, Mr Edward Colbert, saß.

Sie und Tante Margaret setzten sich zu ihnen. „Wann seid ihr angekommen?“

„Anscheinend direkt, nachdem ihr beide gegangen seid. William hat mir gesagt, wo ihr seid, und Edward und ich haben beschlossen, einen Spaziergang zu machen. Ich liebe dieses kleine Dorf einfach.“ Sie tätschelte Amys Hand. „Und die beste Nachricht ist, dass wir so lange bleiben können, wie wir möchten.“

„Wie schön.“

Lily grinste. „Ja, denn Edward hat sich zur Ruhe gesetzt.“