Leseprobe Eine allzu mörderische Verlobung

Kapitel 1

Bath, England

April 1890

Lady Amy Lovell, die einzige Tochter des Marquess of Winchester, eilte gerade noch rechtzeitig zum Sonntagsgottesdienst die Stufen von St. Swithin’s empor, der alten, imposanten Kirche an der Paragon-Straße im Stadtteil Walcot in Bath. Wie üblich kam sie zehn Minuten nach ihrer Tante Margaret an, die in ihrem ganzen Leben noch nie zu spät zum Gottesdienst gekommen war. Oder zu einem anderen Anlass.

Ihre Tante rutschte auf der für ihre Familie reservierten Kirchenbank weiter, als Amy neben ihr hineinschlüpfte. Sie reichte ihr ein Gesangbuch und eine Bibel, begleitet von einem leichten Rollen ihrer warmen braunen Augen.

Amy blickte sich in der Kirche um, die mit vertrauten Gesichtern gefüllt war. Dort saßen die Misses O’Neill, Miss Penelope und Miss Gertrude, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, dass alle von ihrer besonders großen Hingabe an die Kirche wussten. Wie gewohnt waren sie genau gleich gekleidet, von den geblümten Kleidern bis hin zu den blau-rosa Strohhüten. Sie waren keine Zwillinge, taten jedoch aus irgendeinem seltsamen Grund so, als wären sie welche, obwohl sie sich nicht im Geringsten ähnlich sahen und einen Größenunterschied von fast dreißig Zentimeter aufwiesen.

Mrs Edith Newton hieb mit Begeisterung in die Tasten der Orgel und griff dabei nur ein paar Mal daneben. Amy lächelte. Die Frau war halb blind, aber niemand hatte das Herz, ihr zu sagen, dass es Zeit für den Ruhestand war. Also sangen sie einfach die Hälfte der Zeit falsch.

Amys Herzschlag beruhigte sich langsam wieder nach dem Lauf zur Kirche, und sie legte die Hände in den Schoß, als der Pastor, Mr Palmer, seine Sonntagspredigt begann.

Trotz bester Absichten schweiften Amys Gedanken ab zu ihrem neuesten Roman. Wie bei ihrem Alter Ego, dem berühmten Krimiautor E. D. Burton, drehten sich ihre Gedanken ständig um Mord und Verbrechen. Bei ihrer jüngsten Geschichte steckte sie gerade aufgrund der letzten falschen Fährte, die sie eingebaut hatte, fest. Sie benötigte dringend etwas Anleitung und wusste auch genau, welches Fachbuch ihr weiterhelfen würde, aber sie hatte nirgendwo in ganz Bath ein Exemplar finden können. Nicht einmal in London, als sie extra dorthin gefahren war, um nach dem Wälzer zu suchen.

Mr Palmer beendete seine Predigt, und Amy merkte, dass sie die ganze Zeit über ihre Geschichte nachgegrübelt und kein einziges Wort gehört hatte. Sie entschuldigte sich rasch bei Gott, als alle aufstanden und die letzte Hymne sangen.

„Gütiger Himmel, Amy, ist dir bewusst, dass du zwei verschiedene Schuhe trägst?“ Tante Margaret wies auf Amys Füße, nachdem die letzte Note verklungen war.

„Ja, ich weiß, Tante, aber eigentlich sind es die gleichen Schuhe, nur in einer anderen Farbe. Ich habe sie absichtlich so gekauft für den Fall, dass so etwas geschieht.“

„Dass was geschieht?“ Tante Margaret lächelte und nickte dem Pastor zu, als sie aus der Kirche und die Treppe hinuntergingen.

„Dass ich nur einen Schuh finde, wenn es Zeit ist, das Haus zu verlassen.“ Sie versuchte durchaus, organisierter zu sein, und hatte schon oft darüber nachgedacht, jemanden einzustellen, der ihr dabei half, den Überblick über … nun ja … sich selbst zu behalten. Doch seit ihre letzte Zofe sie im vorigen Jahr verlassen hatte, um zu heiraten, schien Amy nie die Zeit für Einstellungsgespräche mit neuen Bewerberinnen zu finden.

Tante Margaret, die jüngere Schwester von Amys Vater, hatte sie praktisch großgezogen, nachdem Lady Winchester an einem Fieber gestorben war, als Amy zehn Jahre alt war. Tante Margaret war damals erst in Amys jetzigem Alter, also fünfundzwanzig, gewesen, als sie ihre Rolle als Ersatzmutter angetreten hatte. Und sosehr sie sich auch liebten, Amy und Tante Margaret hätten unterschiedlicher nicht sein können.

Ihre Tante war gertenschlank und überdurchschnittlich groß für eine Frau, hatte aber dennoch reizende Gesichtszüge, glattes braunes Haar und einen Gang, durch den sie eher zu gleiten schien als zu gehen. Amy hingegen war unterdurchschnittlich groß, und auch wenn sie nicht direkt mollig war, besaß sie definitiv genug Kurven, um ihre Kleider auszufüllen. Ihre ständig zerzausten kastanienbraunen Locken und ihre haselnussbraunen Augen hatte sie von ihrer schottischen Mutter geerbt, ebenso wie die blassen Sommersprossen auf ihren Wangen.

Amy war die hingebungsvolle Besitzerin eines kläffenden, flauschigen weißen Zwergspitzes ohne Schwanz, aber mit der Neigung, Hausschuhe im ganzen Haus zu verstecken. Tante Margaret dagegen hatte einen dreißig Jahre alten Kakadu, der Shakespeare zitierte. Dennoch genossen die beiden Frauen ein harmonisches Zusammenleben im Winchester Townhouse in der vornehmen Westgate Street in Bath.

Amy atmete tief die frische Luft ein, als sie im strahlenden Sonnenschein Arm in Arm zum Mittagessen in der Friendship Hall schlenderten und unterwegs andere Kirchgänger begrüßten. Der erste Sonntag jeden Monats war der Gesellschaftssonntag, an dem die Mitglieder der Kirche eine gemeinsame Mahlzeit genossen, zu der jede Frau etwas beigetragen hatte.

„Wenn du eine Art Zeitplan aufstellen würdest, wenn du an einem neuen Buch arbeitest, würde es dir gewiss helfen, dein Leben besser in den Griff zu bekommen. So viele Stunden schreibst du, so viele Stunden machst du etwas anderes.“ Tante Margaret blickte vielsagend auf Amys Schuhe. „Zum Beispiel dich um dich selbst kümmern.“

„Guten Morgen, meine Damen.“ Viscount Wethington, ein langjähriger Freund und Mitglied desselben Krimi-Buchclubs, gesellte sich zu ihnen und zog zur Begrüßung seinen Hut. Mit einer leichten Verbeugung sagte er: „Sie beide sehen ganz bezaubernd aus. Beinahe so schön wie das heutige Wetter.“

„Guten Morgen, Mylord.“ Tante Margaret erwiderte den Gruß mit einem strahlenden Lächeln. Seine Lordschaft war schon immer ein Liebling ihrer Tante gewesen. Mehr als einmal hatte sie Amy einen kleinen – oder auch nicht so kleinen – Schubs hin zu Lord Wethington gegeben, der seinen Freunden besser bekannt war als William.

Obwohl er ein Viscount war, hatte William noch nie großen Wert auf Titel gelegt. Er war ein gut aussehender Mann Anfang dreißig mit hellbraunem Haar und blauen Augen. Dank seines immerwährenden Lächelns erfreute er sich in ihrem Freundeskreis großer Beliebtheit. Besonders bei den Damen. An denen er jedoch kein großes Interesse zeigte.

Amy hatte ihn einmal gefragt, weshalb er nie geheiratet hatte, und nach einem langen, wortlosen Blick hatte er die gleiche Frage an sie gestellt. Was diesem Gespräch ein abruptes Ende bereitet hatte.

„Darf ich Sie zum Mittagessen in den Saal begleiten?“ Ganz der Gentleman bot William ihnen seine beiden Arme, damit die Damen sich bei ihm einhaken konnten. Amy konnte nicht umhin, ihn mit ihrem Verlobten, Mr St. Vincent, zu vergleichen. Nicht dass St. Vincent nicht auch den Gentleman gespielt hätte, aber seine Handlungen schienen immer mehr darauf ausgerichtet zu sein, die Menschen um ihn herum zu beeindrucken. Sie verdrängte ihn und dieses noch zu lösende Problem aus ihren Gedanken – damit würde sie sich später befassen.

Der Saal füllte sich schnell und schon bald war er mit Lachen und plaudernden Stimmen erfüllt. William rückte Tante Margaret den Stuhl zurecht und anschließend auch Amy. „Haben Sie Eine Studie in Scharlachrot schon zu Ende gelesen?“ Er setzte sich neben Amy und wandte sich ihr zu. „Mir ist an der Geschichte etwas ziemlich Interessantes aufgefallen.“

Sowohl sie als auch William waren langjährige Mitglieder des Krimi-Buchclubs von Bath. Die Gruppe traf sich jeden Donnerstag, um diverse Kriminalromane zu besprechen. Aktuell lasen sie Arthur Conan Doyles Geschichte über den Detektiv Sherlock Holmes.

„Ich bin noch nicht ganz fertig damit. Was haben Sie denn Interessantes daran entdeckt?“

William nickte dem jungen Mädchen, das zwei Gläser Limonade vor ihnen abstellte, dankend zu. „Ich werde meine Entdeckung doch nicht schon vor dem Treffen enthüllen. Ich möchte wissen, ob Ihnen dasselbe auffällt wie mir.“

„Meine Güte, woher soll ich denn wissen, ob mir dasselbe aufgefallen ist wie Ihnen, wenn Sie mir nicht sagen, was Ihnen aufgefallen ist?“ Sie bedienten sich von den großen Servierplatten, die auf jedem Tisch platziert worden waren. Heute standen verschiedene Salate zur Auswahl sowie Schinken, Huhn und Roastbeef. Da weder Amy noch Tante Margaret besonders versiert waren in der Küche, hatten sie warme Brötchen und Süßgebäck beigesteuert, die ihre Köchin zubereitet hatte.

Amy sah mit knurrendem Magen auf ihren Teller, während sie über Williams Frage nachdachte. „Sie wissen ganz genau, dass ich es hasse, wenn Sie mit derartigen Anspielungen um sich werfen. Und das machen Sie die ganze Zeit.“ Sie legte die Hand auf ihren Bauch, in der Hoffnung, das beschämende Geräusch zu ersticken.

„Nein, werte Dame. Ich mache es nicht die ganze Zeit. Manchmal schlafe ich auch, manchmal gehe ich spazieren, manchmal …“

„Genug!“ Tante Margaret lächelte die beiden an, als wären sie Kinder, die gerügt werden müssten. „Gleich wird der Segen gesprochen.“

Amy fühlte sich wie ein Kind, das mit seinem Bruder stritt, und senkte den Kopf, während sie sich fragte, welche interessante Tatsache William wohl aufgefallen war, die ihr offensichtlich entgangen war.

***

Amy blickte von ihrem Gespräch mit Mrs Morton auf und lächelte William zu, als er die Buchhandlung Atkinson & Tucker betrat, in der die wöchentlichen Treffen des Krimi-Buchclubs von Bath stattfanden.

William schlenderte in ihre Richtung und beäugte dabei die verdünnte Limonade auf dem Tisch an der Wand, nahm sich jedoch kein Glas. „Guten Abend, meine Damen.“ Er verbeugte sich leicht und schenkte ihnen ein herzliches Lächeln. „Sind wir bereit, eine weitere Facette von Eine Studie in Scharlachrot zu besprechen?“

„Das sind wir durchaus“, sagte Amy. „Ich bin sehr beeindruckt von Mr Holmes’ deduktiven Methoden. Der Mann lässt alles so einfach erscheinen.“

„Sie kennen doch das Sprichwort: Je einfacher es aussieht, desto schwieriger ist es“, sagte William.

Amy zuckte die Schultern. „Deduktive Logik kann man auf alles anwenden.“

„Verzeihen Sie meine Unwissenheit, Lady Amy, aber was genau ist deduktive Logik eigentlich? Holmes erwähnt sie zwar, dennoch ist es mir nicht ganz klar.“ Mrs Miles hatte sich zu ihrer Gruppe gesellt, während ihr Sohn zu Mr Colbert, einem Anwalt und ebenfalls Buchclubmitglied, hinübergeschlendert war, der sich mit Lady Carlisle, einem weiteren Mitglied, unterhielt.

„Deduktive Logik ist eine gut strukturierte Methode, die eine solide Untermauerung einer Schlussfolgerung bietet.“ Amy hätte nur zu gern hinzufügt, dass sie sie in ihren eigenen Büchern andauernd anwandte, doch dieses Thema konnte sie nicht ansprechen.

Vor fünf Jahren, als sie ihrem Vater voller Aufregung und Freude den Vertrag für ihr erstes Buch in die Hand gedrückt hatte, hatte er ihr das Versprechen abgenommen, ein Pseudonym zu verwenden und ihre Verbindung mit dem Buch geheim zu halten.

„Ich fürchte, das übersteigt meinen weiblichen Verstand.“ Mrs Miles schüttelte den Kopf und blickte in der Gruppe umher.

Amy reckte das Kinn. „Da muss ich Ihnen widersprechen. Ich denke, eine Frau könnte genauso gut Verbrechen aufklären wie jeder Mann.“ Sie tat es ständig in ihren Büchern.

„Ach ja?“ Williams spöttisches Lächeln ließ nichts Gutes erahnen und brachte sie in Wallung. „Gewiss hätte eine Frau nicht den nötigen …“

Amy hob die Hand, um den närrischen Mann zu unterbrechen, bevor er etwas von sich gab, das er noch bereuen würde. „Bitte sagen Sie nicht Verstand, Mylord.“

„Warum sollte ich jemals so töricht sein, mich in die Schusslinie zu begeben, indem ich so etwas zu einer Frau sage, die sich so sehr für Frauenrechte einsetzt?“ William nickte Mr Colbert, Lady Carlisle und Mr Miles grüßend zu, die sich soeben ihrer Gruppe angeschlossen hatten.

„Gut gemacht, William. Ich weiß nicht, wogegen Sie sich verteidigen, aber ich glaube fast, dass Sie in Ihren alten Jahren so etwas wie Vernunft entwickelt haben“, sagte Mr Colbert.

William wandte sich an Lady Carlisle. „Was ist mit Ihnen, Lady Carlisle? Denken Sie, dass Frauen mithilfe von Logik Verbrechen lösen könnten?“

Lady Carlisle war eine wunderschöne Frau Anfang dreißig. Ihr Ehemann, der Earl of Carlisle, hatte einen der ältesten Titel des Königreiches inne. Er machte im Parlament eine ziemlich gute Figur und Gerüchten zufolge standen seine Chancen sehr gut, zum nächsten Botschafter für Frankreich ernannt zu werden. Lady Carlisle genoss das Ansehen ihres Mannes zutiefst und ließ keine Gelegenheit ungenutzt, ihre gesellschaftliche Stellung zur Schau zu tragen. „Das denke ich nicht. Meine persönliche Überzeugung ist es, dass Frauen sich im Hintergrund halten und ihre Ehemänner unterstützen sollten.“ Sie lächelte süßlich in Amys Richtung. „Ist das nicht so, Lady Amy?“

Amy knirschte mit den Zähnen bei Lady Carlisles herablassendem Tonfall. „Ich fürchte, ich muss schon wieder widersprechen. Ich glaube nicht, dass Frauen sich im Hintergrund halten sollten. Genau aus diesem Grund setzt sich meine Frauenrechtsgruppe für den Erhalt des Wahlrechts ein. Wir müssen dafür sorgen, dass uns auch andere Rechte gewährt werden. Wir sind keine Kinder, also warum sollte eine Frau einen Ehemann brauchen, der für sie Entscheidungen trifft? Das ist erniedrigend.“ Sie atmete tief ein, da sie merkte, dass sie ihre Stimme immer weiter erhoben hatte. Das Thema war ein wunder Punkt für sie.

„Aber sind nicht alle Frauen erpicht darauf, in den Stand der Ehe einzutreten?“ William grinste in die Runde, was Amys Zorn sofort noch weiter steigerte.

„Ich vermute, in etwa genauso erpicht, wie ein Gentleman es ist, sich dem priesterlichen Zölibatsgelübde zu unterwerfen.“ Amy schnaubte. „Ich beabsichtige, mein Leben so zu leben, wie ich es will, nicht wie ein Mann es mir zu erlauben gedenkt.“

Williams Blick glitt zu ihrer Hand. „Ich dachte, Sie seien verlobt.“

Verlobt. Da war es schon wieder, dieses Wort.

Warum war sie nur so töricht gewesen, der Verlobung mit Mr St. Vincent zuzustimmen? Um ehrlich zu sein, wusste sie genau, warum. Ihr werter Herr Papa war aus London angereist mit dem Heiratsangebot und mit der festen Absicht, sie so lange zu bedrängen, bis sie zustimmte, indem er sie eine alte Jungfer nannte und poetische Ausführungen bezüglich ihrer Einsamkeit in ihren alten Tagen zum Besten gab.

Ihre Bemerkung, dass Tante Margaret mit ihrem Jungferndasein durchaus zufrieden und mit all ihren Freunden, ihrer ehrenamtlichen Arbeit und ihrem gesellschaftlichen Leben alles andere als einsam war, hatte er geflissentlich übergangen. Papas Unfähigkeit, seine jüngere Halbschwester zu verheiraten, war ihm schon seit Jahren ein Dorn im Auge. Erst vor Kurzem hatte er das Vorhaben scheinbar aufgegeben.

Von wegen alte Jungfer! Das verabscheuungswürdige Wort hallte noch immer in ihrem Kopf wider. Vielleicht wurde sie mit fünfundzwanzig Jahren von der Gesellschaft als alte Jungfer angesehen, und auch als Blaustrumpf. Aber ihr gefiel ihr Leben genau so, wie es war. Kaum hatte sie Mr St. Vincents Heiratsantrag angenommen, hatte sie es auch schon bereut.

Bevor sie auf Williams Bemerkung etwas erwidern konnte, eröffnete Mr Colbert, der als Diskussionsleiter fungierte, die Clubsitzung.

Die Mitglieder lösten ihre kleinen Gruppen auf und verteilten sich auf die bequemen Sessel, Sofas und Kanapees, die im Hinterzimmer der Buchhandlung für die Treffen diverser Buchclubs bereitstanden.

Die Tür zum Hinterzimmer flog auf und Eloise Spencer eilte herein. Mit einem kurzen Nicken in Mr Colberts Richtung ging sie schnurstracks zu Amy und ließ sich neben sie auf das Kanapee fallen, wobei sie mit ihrer Hüfte Amys anstieß und sie dadurch fast auf den Boden beförderte. „Rutsch rüber.“

„Um Himmels willen, Eloise, morgen früh werde ich ganz blau sein.“ Amy rieb sich die Hüfte.

Amy und Eloise waren seit ihrer Schulzeit beste Freundinnen. Papa hatte ihre Freundschaft nie gutgeheißen, da Eloise laut ihm ein sogenannter „Wildfang“ war. Eloise mochte zwar nicht aus derselben Gesellschaftsschicht stammen, aber es hatte noch nie eine treuere Freundin gegeben. Eloises Vater besaß mehrere Geschäfte in Bath und London, weshalb er der Schicht der Kaufleute angehörte.

Doch da Tante Margaret sie sehr ins Herz geschlossen hatte – was Amy manchmal direkt auf Papas Missbilligung zurückführte –, war Eloise bei ihnen zu Hause stets willkommen.

Eloise war auch die einzige Person außerhalb von Amys Familie, die über ihr „anderes“ Leben Bescheid wusste. Als Amy ihr zum ersten Mal von ihrem Traum, eines Tages etwas zu veröffentlichen, erzählt hatte, hatte Eloise sie ermutigt, ihre Manuskripte gelesen und ihr gut durchdachte Anregungen gegeben.

Als er endlich die volle Aufmerksamkeit der Mitglieder hatte, nickte Mr Colbert Mr Davidson zu, der die Hand erhoben hatte.

„Zuallererst möchte ich sagen, dass Mr Doyle wunderbare Arbeit bei der Darstellung von Mr Holmes’ Genialität geleistet hat“, sagte Mr Davidson. „Eine typisch männliche Denkweise, die den ganzen Unfug ausblendet und direkt zum Kern der Sache vordringt.“

Amy sträubten sich die Haare und sie durchbohrte den Mann mit finsteren Blicken. Sie hatte Davidson, einen großen, schlaksigen Kerl mit einem Schnauzbart, der fast seine komplette untere Gesichtshälfte bedeckte, noch nie gemocht. Er sah die paar Frauen der Gruppe an und grinste, wie es nur ein Mann tun konnte, der sich seiner Position im Leben sehr sicher fühlte.

Eloise lehnte sich zu Amy und flüsterte ihr ins Ohr: „Wirst du ihm das durchgehen lassen?“

Bevor sie etwas sagen konnte, meinte William: „Wie komisch, dass Sie das sagen, Mr Davidson. Lady Amy hat uns gerade vorhin ihre Meinung mitgeteilt, die das genaue Gegenteil ausdrückte.“ Er wandte sich ihr mit einem Glitzern in den Augen zu, das sein Vorhaben verriet, eine lebhafte Diskussion ins Rollen zu bringen.

Der Club war zwar eigentlich genau dafür da, Geschichten und deren Figuren zu diskutieren, doch William war bekannt für seine Neigung, eine provokante Aussage in den Raum zu stellen und sich dann zurückzulehnen und den Aufruhr zu genießen, den er verursacht hatte.

„Ich denke, dass sowohl Frauen als auch Männer dazu in der Lage sind, ein Problem auf logische Weise zu lösen.“ Lady Forester, ein weiteres Clubmitglied, sprach so leise, dass die meisten anderen gezwungen waren, sich vorzubeugen, um sie zu verstehen. Obwohl sie zu jedem Treffen kam, äußerte sie nur selten ihre Meinung. „Wieso kann nicht jemand ein Buch schreiben, in dem eine Frau ein Verbrechen aufklärt? Immerhin rennt Mr Holmes nicht durch ganz London auf der Jagd nach Verbrechern. Er sitzt in seinem Sessel und denkt nach, was eine Frau genauso gut könnte.“

„Ja, absolut.“ Amy nickte energisch. „Oder vielleicht auch ein Buch mit einer Frau als Partnerin eines Mannes, die gemeinsam Verbrechen aufklären.“

„Eine Partnerin?“ Davidson verschränkte die Arme und lehnte sich mit einem höhnischen Lächeln zurück. „Was kann eine Frau denn schon, außer Bedienstete herumzukommandieren, Kindern die Nase zu putzen und mit tratschenden Frauen Tee zu trinken? Ich würde ganz gewiss keine Frau als Partnerin wollen.“

Nach einigen Augenblicken fassungslosen Schweigens wandte sich Wethington an Davidson. „Ich muss schon sagen, alter Knabe. Ich weiß nicht, ob es Ihre Absicht war, aber ich glaube, Sie haben soeben jede Frau in diesem Raum beleidigt.“ Williams unbeschwerte Art und Freude an einer lebhaften Diskussion hatten sich in Verärgerung über Davidsons Worte verwandelt. Gott sei Dank gab es wenigstens einen Mann, der Frauen für mehr schätzte als für bloße Belanglosigkeiten.

„Da stimme ich Lord Wethington zu.“ Amy lächelte in Davidsons Richtung. Sie beugte sich vor und flüsterte William, der im Sessel neben dem Kanapee saß, zu: „Ich glaube, Sie werden von Tag zu Tag klüger. Auf jeden Fall klüger als dieser Hohlkopf Davidson.“

William versuchte, sein Lachen mit einem Husten zu überspielen.

Eloise hob die Hand. „Ich bin ebenfalls Lady Amys und Lord Wethingtons Meinung.“ Sie funkelte Mr Davidson böse an. „Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass die Gehirne von Männern und Frauen anders funktionieren.“

Eloise war eine unersättliche Leserin. Noch vor ihrem zwanzigsten Geburtstag hatte sie jedes Buch in der Bücherei von Bath ausgelesen. Inhalt und Thema spielten dabei keine Rolle; wenn es gedruckt und gebunden war, wurde es von Eloise gelesen.

„Ich denke, wir sind etwas vom Thema abgekommen, meine Damen und Herren. Vielleicht können wir unsere Diskussion auf die Geschichte beschränken.“ Gekonnt warf Mr Colbert eine Frage in den Raum über Holmes’ Reaktion auf Dr. Watsons Zurückweisung seines Artikels über die Kunst der auf Beobachtung basierenden Deduktion.

Nachdem sie diesen Punkt ausgiebig diskutiert hatten, beugte sich Amy zu William. „Sie erwähnten eine Erkenntnis über die Geschichte, die Sie ansprechen wollten.“

Er grinste. „Hat Ihre Neugierde Sie übermannt, Lady Amy?“

William hob die Hand und bekam von Mr Colbert das Wort erteilt. „Ja, Lord Wethington, möchten Sie etwas anmerken?“

„Ja, das möchte ich. Es gibt eine Sache, auf die ich in Bezug auf Eine Studie in Scharlachrot hinweisen möchte. Falls jemand Der Doppelmord in der Rue Morgue von Edgar Allan Poe gelesen hat – die Ähnlichkeit zwischen den beiden Geschichten grenzt schon beinahe an ein Plagiat.“

Einige Mitglieder keuchten auf, und Amy fügte hastig hinzu: „Mr Doyle hat tatsächlich erwähnt, dass er von Poes Werk inspiriert wurde.“ Sie wusste nicht, warum sie das Gefühl hatte, Williams Aussage verteidigen zu müssen. Vielleicht weil er ihr bei der Verteidigung der Frauen zur Seite gestanden hatte.

„Lord Wethington, Sie beschuldigen Mr Doyle doch nicht etwa des Plagiats?“ Mr Davidson erhob seine arrogante Stimme, und die hitzige Diskussion nahm ihren Anfang.

Trotz der Meinungsverschiedenheiten, die Williams Bemerkung ausgelöst hatte, verlief das restliche Treffen recht reibungslos dank Mr Colberts Expertise, die Dinge voranzutreiben. Als das Treffen für beendet erklärt wurde, blieb Amy mit Eloise, Mr Colbert, William, Lady Carlisle, Mrs Morton sowie Mr Miles und dessen Mutter, Mrs Miles, zurück, da sie üblicherweise nach jedem Treffen in einem nahe gelegenen Pub gemeinsam zu Abend aßen. Diese Woche hatten sich auch Lord Temple und seine Tochter, Lady Abigail, dazu entschlossen, sich der Gruppe anzuschließen.

Sie genossen eine köstliche Mahlzeit, bestehend aus kalter Gurkensuppe, verschiedenen Fleischgerichten, Käse, warmem Brot, Kaffee, Tee und kleinen Törtchen. Die Gespräche waren lebhaft und entspannt ohne den unliebsamen Mr Davidson.

Als Amy sich nach dem letzten Schluck Tee den Mund abwischte, fragte sie sich, ob sie den Rock, den sie trug, würde auslassen müssen. Sie sollte sich bei diesen herrlichen Desserts wirklich mehr zurückhalten. Es war eine Ironie des Schicksals, dass sie oft Tante Margaret um ihre schlanke Figur beneidete, während ihre Tante darüber klagte, keine richtigen Kurven zu haben wie Amy, um ihre Kleider auszufüllen.

Amy legte die Serviette neben ihren Teller und wandte sich an die Gruppe, die um den Tisch versammelt war. „Ich habe ganz London auf den Kopf gestellt auf der Suche nach einem Buch, doch ich kann es einfach nicht finden. Kennt vielleicht jemand von Ihnen das Werk Ungeklärte grausame und grässliche Morde Londons von Melvin Fulsom?“

William zu ihrer Rechten spuckte beinahe seinen Tee aus. „Wie bitte?“

In Erwartung eines weiteren Vortrags über das angemessene Verhalten einer Dame reckte sie das Kinn in die Höhe. „Ich interessiere mich für ungelöste Mordfälle.“

Eloise, die einzige Person am Tisch, die von Amys Alter Ego wusste, sagte: „Genau. Nicht einmal ich konnte das Buch irgendwo auftreiben.“ Das an sich war schon außergewöhnlich. Amy war sich ziemlich sicher, dass es kein Buch gab, das Eloise nicht gelesen hatte oder von dem sie zumindest nicht wusste, wo sie es sich beschaffen könnte.

Lord Temple runzelte die Stirn. „Ist das nicht ein eher unangenehmer Zeitvertreib für eine wohlerzogene junge Dame?“ Er warf einen Blick auf seine Tochter; vielleicht meinte er, sie hätte niemals einem solchen Gespräch ausgesetzt werden dürfen.

Wohlerzogene junge Dame. Wie sie diesen Ausdruck hasste. Diese Worte gingen im Allgemeinen Kommentaren bezüglich ihres persönlichen Mangels an einem Ehemann voran. Sie zuckte die Schultern. „Manche würden dies wohl meinen …“

„Ich ebenso“, sagte William.

Sie funkelte ihn an. So gern sie auch offenbaren würde, dass der Grund für ihr Interesse die Recherche für das Buch war, das sie gerade schrieb, war sie an das Versprechen gegenüber ihrem Vater gebunden.

Eine weitere Einschränkung von Frauen. Würde sie Romanzen schreiben wie Miss Austen oder die Schwestern Brontë, würde es akzeptiert werden. Doch die Beschäftigung mit dem Thema Mord und Verbrechen war nicht damenhaft. Andererseits war da noch Der moderne Prometheus von Mary Shelley, eines von Amys Lieblingsbüchern.

„Aber ich finde das Thema faszinierend.“ Sie blickte von einem Gesicht zum anderen. „Nun, wie es scheint, missbilligen die meisten von Ihnen meinen Zeitvertreib.“

Eloise schnaubte. „Ich missbillige ihn nicht. Ich finde, Frauen sollten alles lesen dürfen. Schließlich sind wir keine Kinder.“

„Ich glaube nicht, dass wir es zwingend missbilligen, meine Liebe. Ich glaube, wir sind bloß erstaunt über Ihre Nachfrage.“ Mrs Morton tätschelte Amys Hand. „Gewiss können Sie deshalb kein Exemplar finden, weil anständige Leute keinen Bedarf an solch schrecklichen Dingen haben.“

William räusperte sich. „Wie es der Zufall will, habe ich ein Exemplar des Buches in meiner Bibliothek.“

Die Anwesenden am Tisch schnappten nach Luft. Alle außer Amy, die Eloises Grinsen erwiderte. „Tatsächlich?“ Sie sah die anderen an. „Anscheinend bin ich nicht das einzige Unikum der Gruppe. Darf ich es mir ausleihen, Lord Wethington?“

„Wenn Sie sicher sind, dass die Angst vor einem Angriff eines wild gewordenen messerschwingenden Irren Sie nachts nicht wach halten wird.“ Sie musste ihm zugutehalten, dass er dabei mehr schmunzelte als feixte.

Sie dachte an die Schreckensszenarien in ihren Büchern und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Unsinn. Ich bin nicht so zartbesaitet wie andere junge Damen.“

„Offensichtlich nicht“, sagte er und prostete ihr mit seiner Tasse zu, bevor er einen Schluck Tee nahm.

Amy musterte William, während er sich weiter mit dem Rest der Gruppe unterhielt. Obwohl sie über die Jahre eine herzliche und kameradschaftliche Freundschaft verbunden hatte, hatte sie einmal geglaubt, er würde ihr vielleicht den Hof machen wollen. Doch das hatte er nie getan. Er war ihr noch stets ein Rätsel und gab nie viel von sich preis. Hinsichtlich seines Privatlebens war er ein zurückhaltender Mensch.

Und während viele große Adelsgüter finanzielle Schwierigkeiten hatten, sodass deren Besitzer sich nach reichen amerikanischen Bräuten auf der Jagd nach einem Titel umsahen, hatte William es geschafft, dass sein Besitz weiterhin profitabel war.

Von ihrem Bruder Michael hatte sie gehört, dass William ins Eisenbahngeschäft eingestiegen war, als die meisten Männer noch skeptisch gegenüber dem neuen Transportmittel waren.

Die Unterhaltung war von ihrer ungewöhnlichen Bitte abgekommen, wofür sie dankbar war. William lehnte sich zu ihr. „Ich muss für ein paar Tage nach London, aber wenn Sie nächsten Dienstagabend zu Hause sind, kann ich Ihnen das Buch vorbeibringen. Also wenn Sie sich absolut sicher sind, dass Sie es haben wollen.“ Über seine hochgezogenen Augenbrauen musste sie mehr lachen, als dass sie sich ärgerte. Auch wenn er Mr Davidson widersprochen hatte, hatte er, wie die meisten Männer, vermutlich dennoch eine tief verwurzelte Vorstellung davon, was eine Frau verkraften konnte. Sie lagen alle so falsch. Immerhin gebaren Frauen doch Kinder, oder etwa nicht? Sie erschauerte. Eine unschöne Angelegenheit war das.

„Oh ja, das bin ich.“ Sie ging schnell ihre Termine durch und ihr fiel ein, dass am Dienstag die Bartons zu einer musikalischen Soiree geladen hatten, die zu verpassen ihr allerdings nichts ausmachte. Das, was die Barton-Töchter für Singen hielten, gab Masochismus eine ganz neue Bedeutung. „Und ja, ich werde Dienstagabend zu Hause sein.“

Er nickte. „Ausgezeichnet. Ich werde so gegen acht Uhr bei Ihnen sein, wenn das für Sie akzeptabel ist.“

Amy redete sich ein, dass sie sich lediglich auf Williams Besuch freute, weil sie erleichtert war, endlich das Buch zu bekommen, nach dem sie so lange gesucht hatte, und ganz sicher nicht, weil sie erpicht war auf einen Besuch Seiner Lordschaft.

Kapitel 2

Am Abend darauf ging Amy auf dem dunkelblauen Aubusson-Teppich in der Bibliothek des Stadthauses ihrer Familie auf und ab und wartete auf die Ankunft ihres Verlobten.

Bald schon Ex-Verlobten.

Während sie hin- und herlief, sodass ihr Kleid bei jeder Kehrtwende durch die Luft peitschte, murmelte sie die Worte vor sich hin, die sie zu St. Vincent sagen wollte. In ihrer Faust hielt sie die anonyme Nachricht, die sie zwei Tage zuvor erhalten hatte und deren Worte sich in ihr Gedächtnis gebrannt hatten:

Meine liebe Lady Amy,

ich halte es für unerlässlich, Sie über die ruchlosen Machenschaften Ihres Verlobten in Kenntnis zu setzen. Mr Ronald St. Vincent ist beteiligt an der Verschiffung und in weiterer Folge am Verkauf von Opium an Personen, die bedauerlicherweise süchtig nach dieser Droge sind.

Seine illegalen Geschäfte haben aufrechten Mitgliedern der Gemeinschaft großen Schaden zugefügt.

Hochachtungsvoll

Ein Freund

Sie hatte ihre eigenen Nachforschungen angestellt, und nach nur einem kurzen Besuch bei einem ihrer Kontakte in der kriminellen Unterwelt hatte sie herausgefunden, dass die Anschuldigung im Schreiben der Wahrheit entsprach, was ihr den perfekten Grund lieferte, die Verlobung zu lösen.

Die meisten jungen Damen ihres Standes hätten ihren Vater sich um diese schmutzige Angelegenheit kümmern lassen. Sie war jedoch niemand, der sich vor seinen Entscheidungen versteckte oder kein Vertrauen darin hatte. Anstatt Papa aus London kommen zu lassen, würde sie die Drecksarbeit selbst erledigen. Ehrlich gesagt war sie auch nicht vollkommen überzeugt, dass ihr Vater nicht versuchen würde, die Beweise, die sie gesammelt hatte, zurückzuweisen, und trotzdem auf der Hochzeit bestehen würde.

Ihr Magen spielte verrückt, als Mr Stevens, ihr Nachtbutler, in den Raum kam. „Mylady, Mr St. Vincent ist hier.“

„Danke, Stevens. Führen Sie ihn bitte herein.“

Sie wischte sich die verschwitzten Handflächen an ihren Röcken ab, strich sich über das Haar und reckte das Kinn in die Höhe. Sie schaffte das.

St. Vincent trat ein, die Hände zu ihr ausgestreckt. „Mein Liebling. So schön, Sie zu sehen. Ich sehe unseren Treffen immer mit größter Freude entgegen.“

Wie hatte sie seine falsche Ungezwungenheit bisher nicht bemerken können? Oder das gekünstelte Lächeln? So viele Dinge irritierten sie nun an diesem Mann. Gott sei Dank hatte sie noch vor ihrer Hochzeit von seinen widerwärtigen Machenschaften erfahren. Bei dem Gedanken daran, den Rest ihres Lebens mit diesem Mann verbringen zu müssen, drehte sich ihr der Magen um.

Sie bedachte ihn mit einem kühlen Blick. „Bitte setzen Sie sich, Mr St. Vincent.“

Er machte eine einladende Geste in Richtung des dunkelroten Brokat-Sofas. „Nach Ihnen, mein Liebling.“ Schon wieder dieses künstliche Lächeln. Zugegeben, er bot keinen unschönen Anblick mit seinem sandfarbenen Haar, den warmen schokoladenbraunen Augen und dem kleinen Grübchen im Kinn. Doch sein gutes Aussehen war zu perfekt. Und dann noch dieses Lächeln. Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinab, als sie daran dachte, wie knapp sie der Katastrophe entronnen war.

Sie ließ sich auf dem Sofa nieder und er setzte sich neben sie. Als er nach ihrer Hand griff, entzog sie sie ihm. „Ich möchte etwas äußerst Wichtiges mit Ihnen besprechen.“

„Alles, was Sie wollen, mein Liebling.“

Sie stand auf, unfähig, so nahe bei ihm zu sitzen und das zu sagen, was gesagt werden musste. Er erhob sich ebenfalls. Sie holte tief Luft, drehte sich zu ihm und nahm den Ring ab, den er ihr zu ihrer Verlobung geschenkt hatte. Es war ein pompöses, mit Saphiren besetztes Teil, das einst seiner Großmutter gehört hatte. Seine Augenbrauen hoben sich, als sie ihm den Ring entgegenstreckte.

„Wie bitte? Gefällt Ihnen der Ring nicht? Ich kann Ihnen einen anderen besorgen.“ Sein Blick huschte umher, und kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.

„Nein, ich will keinen anderen Ring.“ Sie straffte die Schultern und atmete tief ein. „Ich möchte unsere Verlobung lösen.“

Seine Augen wurden groß. „Ich verstehe nicht.“ Hörte sie da etwa einen Mangel an Überraschung in seiner Stimme, ein wenig Schauspielerei? Ahnte er, dass sie die Wahrheit aufgedeckt hatte? Wusste er von der Nachricht?

„Mal sehen, ob ich es anders ausdrücken kann, damit Sie es verstehen.“ Sie tippte sich ans Kinn. „Ich will Sie nicht heiraten.“

Er legte die Hände auf ihre Schultern. „Sie sind völlig überreizt und reden Unsinn, Lady Amy. Vielleicht sollte ich Ihre Köchin bitten, Ihnen einen Kräutertee zuzubereiten.“

Sie bewegte die Schultern, um seinen Griff zu lösen. Seine Hände fielen an seinen Seiten hinab.

„Ich bin niemals überreizt, daher bitte ich Sie, zu akzeptieren, dass ich unsere Verlobung lösen möchte. Es steht Ihnen frei, jeder anderen den Hof zu machen, die Ihr Herz begehrt. Wir“ – sie deutete mit der Hand auf sie beide – „gedenken nicht länger, einander zu heiraten. Die Hochzeit ist abgesagt. Ich werde nicht Ihre Ehefrau werden. Sie werden nicht mein Ehemann. Es wird keine Flitterwochen geben.“ Sie schenkte ihm ihr eigenes falsches Lächeln. „Rede ich immer noch Unsinn?“

Er versuchte es noch einmal. „Ich weiß nicht, wieso Sie mich plötzlich abweisen. Sie haben meinen Antrag in Treu und Glauben angenommen.“ Sein Gesicht verzerrte sich zu einer hässlichen Maske, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. In dem Maße, dass sie beinahe Angst vor ihm bekam.

Sie wich zurück. „Sie können jetzt gehen, Mr St. Vincent.“

Er trat vor, woraufhin sie noch ein paar Schritte weiter zurückwich. „Nein. Ich habe eine Begründung verdient.“

„Nun gut.“ Sie legte den Ring, den er sich geweigert hatte zurückzunehmen, auf den Tisch vor dem Sofa, ging zum Schreibtisch ihres Vaters auf der anderen Seite des Zimmers und fummelte an einem Stift in der Halterung herum. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Bedürfnis, Abstand zwischen ihn und sich zu bringen. „Es ist mir zu Ohren gekommen, dass Sie Opium importieren, das an Personen verkauft wird, die sich in der bedauerlichen Lage befinden, davon abhängig zu sein.“

Er wirkte, als wäre er auf ihre Aussage vorbereitet gewesen und antwortete ohne zu zögern. „Opium ist nicht illegal. In London gibt es überall Opiumhöhlen.“

Wie sehr sie jede einzelne Minute seiner Gegenwart verabscheute. Wenn er weg war, würde sie ein Bad nehmen müssen. „Wir sind aber nicht in London, sondern in Bath. Außerdem ist Ihre Aussage nicht ganz korrekt. Der Verkauf von Opium und anderen Drogen ist beschränkt auf Apotheker und Drogisten. Sie sind weder noch. Folglich verstoßen Sie gegen das Gesetz.“

Er erwiderte nichts, also fügte sie etwas hinzu, das sie von ihrem Kontakt erfahren hatte. „Sie verkaufen gefährliche Drogen an Ladys und Gentlemen, die niemals eine Opiumhöhle betreten würden, selbst wenn es solch einen grässlichen Ort in unserer schönen Stadt gäbe. Indem Sie das tun, unterstützen Sie sie dabei, ihr Leben zu ruinieren.“

„Wenn sie ihr Leben ruinieren wollen, ist das ihre Sache.“

Sie zeigte mit dem Finger auf ihn. „Nein. Sie haben es zu Ihrer Sache gemacht. Es ist unmoralisch und widerwärtig. Ich möchte mich nicht dem Risiko aussetzen, mitten in der Nacht von einem wütenden Vater oder Ehemann, oder vielleicht sogar der Polizei, aus dem Schlaf gerissen zu werden, weil mein Mann aus dem Haus gezerrt wird. Das wäre überaus lästig und würde mich ziemlich beunruhigen.“

„Das ist nicht wahr!“

„Da bin ich anderer Meinung. Ich werde immer unruhig, wenn mein Schlaf gestört wird.“

Er kam auf sie zu, seine Lippen kräuselten sich. „Sie mögen das auf die leichte Schulter nehmen, aber Sie wissen schon, dass ich Sie wegen Vertragsbruchs verklagen kann, oder?“

Also schön.

Sie hatte genug von Mr St. Vincent. „Wagen Sie es nicht, mir zu drohen, Sir. Mein Vater ist über meine Entscheidung im Bilde und hat bereits mit seinem Anwalt gesprochen.“ Sie schickte ein Stoßgebet in den Himmel wegen ihrer Lüge. „Sollten Sie diesen Weg einschlagen wollen, sind wir bestens vorbereitet.“

Er schnappte sich den Ring vom Tisch und steckte ihn in seine Tasche. Dann richtete er seine Krawatte und zupfte die Manschetten seines Jacketts zurecht. „Na gut. Ich werde jetzt gehen. Aber ich warne Sie: Das wird Ihnen noch leidtun.“

Sie nickte und wünschte sich nur, er würde endlich gehen, damit ihre zittrigen Knie sie nicht länger tragen mussten.

Mr St. Vincent machte auf dem Absatz kehrt, verließ mit großen Schritten das Zimmer und schloss die Tür etwas energischer, als sie für nötig hielt. Amy sackte auf das Sofa und stieß erleichtert die Luft aus.

Aufgeschreckt durch das Geräusch der zuschlagenden Tür, kam ihre Hündin, Persephone, aus der Zimmerecke angerannt, wo sie ein gemütliches Nickerchen gehalten hatte, und sprang auf Amys Schoß. Amy streichelte ihr geliebtes Haustier und versuchte sich zu beruhigen.

Gott sei Dank hatte sie das nun hinter sich.

Nach ein paar Minuten setzte sie Persephone auf den Boden, ging zum Sideboard und schenkte sich zwei Fingerbreit Brandy ein. Ein höchst unschickliches Getränk für eine Dame, aber wenn die Umstände besonders vertrackt waren, beruhigte es sie viel mehr als der Inhalt eines Riechfläschchens, das die meisten Damen mit sich führten.

Die Tür öffnete sich, und Amy machte sich auf Mr St. Vincents Rückkehr gefasst. Herein kam jedoch Tante Margaret, die einen missbilligenden Blick auf das Glas in Amys Hand warf. „War das Mr St. Vincent, den ich eben das Haus verlassen sah?“

„Ja.“ Sie nahm noch einen Schluck von dem Weinbrand.

„Er wirkte leicht aufgewühlt.“ Ihre Tante schwebte durch den Raum und schenkte sich ein sehr damenhaftes Glas Sherry ein. „Auf welchen Anlass trinken wir denn?“

„Auf das Ende meiner Verlobung.“ Amy durchquerte das Zimmer und ließ sich in den blau-weiß gestreiften Sessel fallen, in den sie sich immer setzte, wenn sie Trost suchte. In diesem Sessel hatte ihre Mutter sie immer in den Schlaf gesungen, als sie noch ganz klein war. Sie hob ihr Glas. „Auf die Freiheit.“

„Um Himmels willen, Amy. Was in aller Welt hat dich dazu getrieben, deine Verlobung zu lösen? Weiß dein Vater davon?“ Ihre Tante setzte sich auf den Sessel gegenüber von ihr, ganz an die Kante und mit einem kerzengeraden Rücken.

„Nein, Papa weiß nichts davon.“ Sie rutschte auf dem Sessel hin und her. „Er hat mich praktisch dazu gezwungen, diesen Heiratsantrag anzunehmen, weißt du.“

Ihre Tante lächelte. „Ich bezweifle stark, dass irgendjemand dich zu irgendetwas zwingen könnte.“

„Na schön, da hast du recht – vielleicht nicht direkt gezwungen, aber er war sehr überzeugend.“ Zumindest wenn man Beleidigungen und düstere Voraussagen über ihre Senilität als überzeugend bezeichnen konnte.

„Weswegen hast du plötzlich beschlossen, die Verlobung zu lösen?“

Amy kippte den Rest ihres Brandys hinunter und betrachtete eine Weile das leere Glas, bevor sie es auf dem Beistelltischchen neben sich abstellte. Sie wollte sich nicht betrinken, nur um ihre Nerven zu beruhigen. „Ich habe eine Nachricht von jemandem erhalten – er oder sie gab keinen Namen an –, dass Mr St. Vincent in unmoralische und inakzeptable Aktivitäten verstrickt ist.“

„Ach herrje.“ Ihre Tante nahm einen großen, aber sehr damenhaften Schluck von ihrem Sherry. „Das klingt sehr ominös. Steht in dieser Nachricht auch, worum genau es sich bei diesen inadäquaten Aktivitäten handelt?“

„Er importiert Opium und verkauft es an Menschen, die süchtig danach sind und keine Möglichkeit haben, es von einem Drogisten oder Apotheker zu beziehen, der sich an die Vorschriften halten muss.“ Ihr schauderte bei dem Gedanken an all die armen Menschen, deren Leben ein suchtgetriebener Albtraum war. Sie setzte sich auf. Das wäre eine gute Handlung für ihr nächstes Buch.

„Gar nicht gut“, meinte Tante Margaret.

„Exakt.“

„Wann wirst du es deinem Vater sagen?“ Ihre Tante stellte ihr leeres Glas auf den Tisch, stand auf und strich ihre Röcke glatt.

„Bald.“ Das war nichts, worauf sie sich freute, denn Papa würde darüber nicht erfreut sein. Amy erhob sich ebenfalls in der Absicht, ein langes, heißes Bad zu nehmen, gefolgt von einer Tasse Tee und ihrem Bett. Persephone trottete ihr hinterher, als sie alle gemeinsam den Raum verließen.

Tante Margaret schenkte ihr ein kleines Lächeln. „Viel Glück dabei, Liebes.“

***

Am Dienstagabend zog Amy sich mit einem Buch, an dem sie schon die ganze Woche las, in ihr Zimmer zurück und wartete dort auf die Ankündigung, dass William mit dem Band, den sie sich ausleihen wollte, eingetroffen war.

Jeder Tag, der seit ihrer Auseinandersetzung mit Mr St. Vincent vergangen war, hatte sie in ihrer Entscheidung mehr bestärkt. Sie hatte sogar an Papa geschrieben und erwartete in Kürze seine Antwort.

An einer sehr ungelegenen Stelle des Buches wurde ihre Aufmerksamkeit durch ein Klopfen an ihrer Zimmertür abgelenkt.

„Herein.“

Lacey, ihr Hausmädchen, trat ein. „Mylady, Sie haben einen Besucher.“

Amy sah auf die Uhr. William war eine Viertelstunde zu früh. „Nun gut, sag Seiner Lordschaft, dass ich gleich bei ihm bin.“

Lacey schüttelte den Kopf. „Nein, Mylady, der Besucher ist Mr St. Vincent.“

„Was?“ Dieser vermaledeite Mann. Sie hatte keine Lust, mit ihm zu sprechen. Wäre sie in London, würde sie Papa sich dieses Mal um ihn kümmern lassen; immerhin war er schuld an ihrer Verstrickung mit Mr St. Vincent. Ihr Bruder Michael, der kaum Zeit in ihrem Zuhause in Bath verbrachte, war ebenfalls in London und richtete dort weiß Gott was für ein Chaos an, das junge Männer eben so taten, also war sie auf sich allein gestellt. Sosehr es ihr widerstrebte, es zuzugeben – sogar sich selbst gegenüber –, in dieser Situation hätte sie nichts dagegen, einem Mann den Vortritt zu lassen.

Sie hatte ihre Meinung bereits geäußert und nun gab es nichts mehr, was sie noch mit ihm besprechen wollte. Natürlich könnte sie Lacey anweisen, ihm den Zutritt zu verweigern und ihn wegzuschicken, doch sie konnte es auch einfach gleich hinter sich bringen. Sie würde deutlich machen, dass dies ihr allerletztes Treffen sein würde und dass sie ihn nicht mehr empfangen oder mit ihm sprechen oder auch nur irgendetwas mit ihm zu tun haben würde.

„Nun gut, ich werde in Kürze nach unten kommen. Ich erwarte auch einen Besuch von Lord Wethington, also führe ihn bitte in den Salon, wenn er eintrifft, und Mr St. Vincent in die Bibliothek. Komm mich bitte in der Bibliothek holen, sobald Lord Wethington hier ist.“

Sie würde St. Vincent einfach eine Weile warten lassen, da sie ihn nicht erwartet hatte, und ihn dann schnell abwimmeln, sobald William angekündigt wurde. Sie warf einen Blick in den Spiegel und glättete ihr widerspenstiges Haar – ein aussichtsloses Unterfangen, da ihre Locken nie so lagen, wie sie es sich wünschte, und sich ständig einzelne Strähnen aus ihrem Dutt lösten. Nach einem weiteren Blick auf die Uhr, um sicherzugehen, dass genug Zeit vergangen war, sodass sie nicht mehr als ein paar Minuten mit ihrem ungebetenen Gast verbringen musste, ging sie hinunter in die Bibliothek.

„Ich verstehe nicht, wieso Sie gekommen sind, Sir.“ Ihre schroffen Worte hallten von den Wänden der Bibliothek wider, als sie die Tür aufstieß. Der ausgesprochen leeren Bibliothek. Wo war St. Vincent?

Rasch ging sie den Korridor hinunter zum Salon. Vielleicht hatte Lacey sie falsch verstanden. Doch auch dort war er nicht. Sie kehrte in die Bibliothek zurück, wo ein leichter Luftzug von der geöffneten Terrassentür ihre Aufmerksamkeit erregte. Seltsam. Vielleicht war er für einen Spaziergang nach draußen gegangen. Sie umrundete den Schreibtisch in der Mitte des Raumes und trat auf die Terrasse hinaus.

„Mr St. Vincent?“

Stille.

„Mr St. Vincent?“

Sie stieg die paar Stufen von der Terrasse in den Garten hinab. Ohne Vollmond und durch den typisch englischen Nebel konnte sie kaum etwas erkennen. Sie rief erneut nach ihm.

Stille.

Die feuchte, kühle Nachtluft ließ sie frösteln. Sie rieb sich die Arme und kehrte zur Bibliothek zurück. Mit gerunzelter Stirn und den Händen auf den Hüften ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Vielleicht hatte er es sich doch anders überlegt und war bereits wieder gegangen. Sie zuckte die Schultern und ging zurück, um die Terrassentür zu schließen. In ihrem üblichen schnellen Gang schritt sie an Papas Schreibtisch vorbei und stolperte über etwas.

Sie fiel nach vorne auf die Knie und ihre ausgestreckten Hände landeten auf etwas gänzlich Unbekanntem, das im Schatten des Schreibtischs lag. Hatte jemand etwas Großes fallen gelassen und nicht aufgehoben? Sie hob die Hände, um sie in Augenschein zu nehmen, denn sie fühlten sich klebrig an. Sie stand auf und starrte nach unten, während sich ihre Augen langsam an die Dunkelheit der schattigen Ecke gewöhnten.

Sie schlug die Hände vor den Mund, als ihr ein Schrei entfuhr, der laut genug war, um die Wände zum Einsturz zu bringen.