Leseprobe Eine Braut für den Earl

Kapitel eins

Yorkshire

Mai 1846

Sein Kopf dröhnte. Es fühlte sich an, als wären hundert Pferde über seinen Schädel hinweg getrampelt, und in seinem Mund mischte sich der Geschmack von Blut und Dreck. Nach einer Weile kam Iain Donovan wieder zu sich und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

Er wusste nur noch, dass er zuletzt Richtung Gut Penford geritten war. Düster erinnerte er sich, dass er einen Hain passiert hatte, als er plötzlich vom Pferd gestoßen wurde. Ein fürchterlicher Schmerz hatte ihn gepackt, und er erinnerte sich vage an einen lautstarken Streit.

Doch nun war er allein.

Als Iain sich aufsetzen wollte, rauschte das Blut in seinem Kopf und ihm drohte ein erneuter Bewusstseinsverlust. Er tastete nach dem Siegelring seines Bruders und musste feststellen, dass er weg war. Erschrocken stieß er einen üblen Fluch aus.

Er war hier ein Fremder. Und auch ihm war dieses Land völlig unbekannt, denn er hatte Irland zuvor nie verlassen. Während seine Mutter mit seinem älteren Bruder Michael jeden Sommer zur Ballsaison nach London gereist war und ihm alle Fähigkeiten beigebracht hatte, die er als zukünftiger Earl of Ashton beherrschen musste, hatte sie Iain zu Hause gelassen und stets dafür gesorgt, dass er als Zweitgeborener ein belangloses Schattendasein fristete.

Doch inzwischen war das nicht mehr wichtig. Er war der einzige verbliebene Erbe und wollte sich in dieser Rolle als würdig erweisen. Er würde Ashton wiederaufbauen und seinen Leuten helfen – auch wenn er dafür die Irische See durchqueren musste, um sich mit Fremden zu treffen.

Der Wind jagte eine Gänsehaut über seinen Körper. Da stellte er fest, dass er kein Hemd mehr trug. Er fluchte erneut: Wer tat bloß so etwas? Die verfluchten Bastarde hatten ihm die Kleider vom Körper geraubt. Zum Teufel mit ihnen!

Die Räuber hatten ihm nicht nur den Ring und seinen kleinen Geldbesitz gestohlen, sondern auch sein Pferd, seinen Mantel, sein Wams und sein Hemd – selbst die Schuhe von seinen Füßen. Eine feine Begrüßung in England war das. Dabei hatte er geglaubt, dass hier alles besser werden würde, nachdem er den Albtraum in Irland hinter sich gelassen hatte.

Doch da hatte er sich wohl getäuscht.

Iain erhob sich und begutachtete das umgebende Land. Es war ein schöner Tag und die Sonne lachte über sanften Hügeln und Wiesen. Er vermutete, dass er die restliche Entfernung bis Gut Penford zu Fuß zurücklegen könnte, da es sich nur noch um ein paar Meilen handelte. Obwohl ihm die Vorstellung, in Hosen und Strümpfen loszulaufen, nicht sonderlich gefiel, blieb ihm doch nichts anderes übrig.

Missmutig folgte er der Straße Richtung Penford. Sein gesamtes Gepäck, das er aus Ashton mitgebracht hatte, war weg. Er würde sich Kleidung und Schuhe leihen müssen, und niemand würde ihm auch nur ansatzweise glauben, dass er der Earl of Ashton war. Ohne Kutsche, Diener, Kleidung oder einen Siegelring würde man ihn bestenfalls für einen Bettler halten.

Seine leichte Kopfverletzung schmerzte, doch noch schlimmer als der körperliche Schmerz war die aufkeimende Angst.

Beruhige dich, befahl er sich selbst. Man würde ihm sicherlich glauben, dass er einfach nur Pech gehabt hatte. Lady Wolcroft war vor einigen Jahren in Ashton zu Besuch gewesen und würde sich bestimmt an ihn erinnern. Schließlich hatte sie ihn ja auch zu sich eingeladen, nachdem sie von den schlimmen Auswüchsen der Hungersnot erfahren hatte. Seine Mutter Moira und Iris, Lady Wolcrofts Tochter, waren auf dem Internat gute Freundinnen gewesen. Moira hatte sämtliche Schulferien mit Iris verbracht und beinah schon zur Familie gehört.

Doch Freundschaft hin oder her: Er konnte nicht verhindern, dass ihn zunehmend ein mulmiges Gefühl beschlich. Außer Lady Wolcroft und seinen Pächtern wussten nur sehr wenige Außenstehende überhaupt, dass es neben dem rechtmäßigen Erben noch einen Zweitgeborenen gab. Die Verächtlichkeit seiner Mutter machte ihn wütend, doch er beherrschte sich.

Trotz dieser Situation mussten seine jüngeren Schwestern sich darauf verlassen, dass er ihr Gut rettete. Colleen und Sybil zuliebe durfte er unter keinen Umständen versagen. Seine bevorstehende Aufgabe war gewaltiger, als er sich jemals hätte vorstellen können, doch er war entschlossen, sich gegenüber seiner Mutter zu beweisen und Ashtons einstigen Wohlstand wiederherzustellen.

Und so hatte Iain beschlossen, übers Meer zu reisen, sein vertrautes Heimatland zu verlassen und in der Fremde zu leben – vor allem, um dort auf Brautschau zu gehen und eine wohlhabende Dame zu erobern.

Während den meisten Männern so etwas im Traum nicht einfallen würde, war er sich nicht zu schade dafür, seitdem es mit Gut Ashton stetig bergab ging. Sein Bruder war tot und seine Schwestern brauchten ihn. Er sollte verflucht sein, wenn er sie im Stich lassen und zwingen würde, fremde Männer zu heiraten. Nein. Es würde einen Weg aus dieser Misere geben, selbst wenn er dafür als Opferlamm herhalten müsste.

Mit jedem Schritt gewann Iain mehr Beherrschung über sich, bis er zuversichtlich war, dass man ihn trotz seines verwahrlosten Aussehens in Penford willkommen heißen würde.

Auf seinem Weg entlang der staubigen Straße in die Berge sah er Gerste und Roggen aus dem Boden sprießen. Wie ernüchternd war im Gegensatz dazu der Anblick der verrottenden Felder, die er in Ashton zurückgelassen hatte! Die Braunfäule hatte ihre Kartoffelpflanzen zerstört und ihnen bis auf ein zerfallendes Schloss und horrende Schulden alles genommen.

Seine Mutter und seine Schwestern waren zu ihrer Tante nach New York gezogen, während er die Angelegenheiten in Ashton regelte. Ihm lag es fern, das Gut oder die Menschen im Stich zu lassen, die dort schon ihr ganzes Leben lang zu Hause waren.

Denn die Leute hungerten. Zu viele von ihnen hatten mitansehen müssen, wie ihre Ernte in der Erde verrottete. Ihnen war nichts geblieben; kein Vieh, kein Geld – nichts, was sich gegen etwas Essbares eintauschen ließe. Hunderte waren fortgegangen, um anderswo Arbeit zu finden, doch irische Flüchtlinge waren nirgends willkommen.

Iain wusste, dass die Heirat mit einer reichen Erbin eine Mitgift versprach, mit der seine Pächter überleben könnten, bis die Ernte wieder besser ausfiele. Und obwohl er außer seinem irischen Charme und einem verfallenen Schloss wenig zu bieten hatte, musste er es doch zumindest versuchen.

Die Straße schlängelte sich über einen Hügel, auf dessen höchstem Punkt er im Tal Gut Penford erkennen konnte. An der Westseite des Geländes erblickte er einen See, der in der Morgensonne silbern und golden glitzerte. Einen Augenblick lang hielt er inne und genoss den Anblick. Das Anwesen lag zwar in der Nähe eines Dorfes, allerdings in einem entlegenen Teil von Yorkshire – und war damit nicht gerade der beste Ort für eine Brautschau.

Doch Lady Wolcroft hatte ihn nicht ohne Grund eingeladen … und er würde alles daran setzen, sich mit der Matrone zu verbünden. Sie könnte ihn in ihre Londoner Zirkel einführen und ihm mögliche Heiratskandidatinnen vorstellen – außerdem wusste er ganz genau, dass sie selbst unverheiratete Enkelinnen hatte. Diese jungen Damen würde er natürlich vor seiner Abreise nach London ebenso für seine Brautschau berücksichtigen.

Unter Schmerzen setzte er seinen Weg fort. Als er um die Ecke bog, erblickte er zwei junge Burschen auf einem Pferd. Auf seinem Pferd Darcy.

Verflixte Bengel!

Damit sie ihm nicht entwischten, vermied Iain es, nach ihnen zu rufen. Stattdessen fing er vorsichtig an zu laufen, um Vorsprung zu gewinnen, bevor sie ihn bemerkten. Das Laufen strengte ihn an, und in seine Fußsohlen bohrten sich schmerzhaft Steinchen, doch er biss die Zähne zusammen. Fast da …

„Das Pferd gehört mir“, beharrte einer der Burschen. „Ich habe es zuerst entdeckt.“

„Nein, er gehört mir!“, plärrte der andere Bub. „Ich werde meinem Vater erzählen, dass er mir nach Hause gefolgt ist.“

Iain vermutete, dass die beiden nicht älter als dreizehn waren. Die Halbwüchsigen hatten ihn wohl aus Spaß bestohlen, doch er würde sich gewiss jedes einzelne seiner Besitztümer zurückholen. Er rannte schneller, doch innerhalb weniger Sekunden wurde Darcy unruhig und scheute, sodass die Burschen auf ihn aufmerksam wurden.

Da rief Iain: „Halt, alle beide! Das da ist mein Pferd!“

„Ich habe dir doch gesagt, dass das eine blöde Idee war!“, brüllte einer der Buben und trieb Darcy an. „Marsch!“

Sein dummes Pferd befolgte das Kommando und peste los, sodass Iain die Burschen unmöglich noch einholen konnte. Er rannte so schnell er konnte und versuchte zu verfolgen, wohin sie ritten, doch sie waren bereits im Wald verschwunden.

Keuchend und wutschnaubend verwünschte Iain den Beginn dieses Tages. Ausgeraubt zu werden war schon schlimm genug, und dann auch noch von Buben … Doch es würde nicht lange dauern, sie bei den Behörden anzuzeigen.

Seine Strümpfe waren blutdurchtränkt und er schwitzte vom angestrengten Rennen. Einen feinen Anblick würde er in Penford bieten. Er musste vor der Ankunft unbedingt sein Erscheinungsbild in Ordnung bringen, sonst würden sie ihn hochkant wieder auf die Straße setzen.

Iain legte die restliche Distanz bis zum Gutshaus zu Fuß abseits der Schotterstraße zurück. Mehrere Pächter beäugten ihn skeptisch, als er vorbeikam, doch er schritt erhobenen Hauptes weiter, so als wäre es das Normalste auf der Welt, ein Anwesen nur in Hosen zu betreten.

Das Haus war von hohen Hecken umwuchert und von einem Garten umgeben, den man über einen schmalen Laubengang erreichte. Beschämt über seine spärliche Bekleidung eilte er darauf zu. Vielleicht würde er einen Lakai oder Gärtner antreffen, der ihm Kleidung beschaffen könnte. Doch als Iain sich dem Garten näherte, wurde ihm bewusst, dass er in ein Heckenlabyrinth geraten war. Von Neugierde übermannt begann er, durch die Buchsbaumgänge zu streifen.

An einem Ende erblickte er einen Steinbrunnen, um den Rosenbüsche gepflanzt waren. Im Inneren des Irrgartens entdeckte er ein Beet mit Schwertlilien, deren lilafarbene Blüten im Sonnenlicht erstrahlten. Und als er den hintersten Winkel erreichte, fand er dort Schattenblumen vor.

Einen Moment lang blieb er am Rande des Irrgartens stehen, wo dieser in einen grünen Rasen überging. Auf einer Bank saß eine reizende Frau mit einem Buch. Ihr Haar war rotbraun und unter einer Haube zu einem ordentlichen Dutt hochgesteckt. Sie schloss für einen Moment die Augen und wandte ihr Gesicht der Sonne zu–wie eine Blume.

Ihr Anblick machte ihn sprachlos, und Iain entschied, sein verschwundenes Pferd für einen Moment zu vergessen.

Wer war diese Frau? Eine von Lady Wolcrofts Enkelinnen? Ihr weißer Morgenrock, der mit blauen Stickereien durchsetzt war, ließ jedenfalls darauf schließen. Sie wirkte durch und durch wie eine Lady. Fasziniert trat Iain ein paar Schritte näher.

Die junge Frau krallte die Finger in die Steinbank und verzerrte angestrengt das Gesicht. Langsam rutschte sie an die Kante der Sitzfläche und krümmte den Rücken. Sie umklammerte die Bank so eisern, als ob jede Bewegung sie ungeheure Anstrengung kostete. Iain stutzte und versuchte zu begreifen, was ihr solche Schwierigkeiten bereitete. Im nächsten Augenblick begriff er, was sie da tat: Sie versuchte aufzustehen.

Die Frau stützte sich schwer auf die Bank und versuchte krampfhaft, ihre Beine zu belasten. Doch dann gaben ihre Knie nach und sie setzte sich niedergeschlagen wieder hin.

Iain atmete durch. Allmählich ergaben die Dinge Sinn: Vielleicht hatte Lady Wolcroft ihn hierher gebeten, damit er ihren Enkelinnen half. Wenn diese junge Frau nicht gehen konnte, würde sie niemals einen Mann finden.

Und doch bewunderte er sie für ihren Mut. Aus ihrem Blick sprach die ruhige Entschlossenheit einer Frau, die niemals aufgibt. Er konnte sie verstehen.

Nun wollte er wissen, wer sie war. Vorsichtig trat er hinter der Hecke hervor.

 

***

 

In ihrem Garten stand ein fremder Mann.

Lady Rose Thornton rieb sich die Augen. Ging etwa ihre Fantasie mit ihr durch? Er war ja auch noch halbnackt und lächelte sie an, so als wäre das alles völlig normal.

„Verzeiht meine spärliche Bekleidung, a chara“, entschuldigte er sich. „Ich wurde auf meiner Reise hierher von einer verflixten Diebesbande ausgeraubt.“

Was sollte das denn heißen? Rose blinzelte einmal fest. Nein, er war immer noch da. Als sie tief Luft holte, um nach Leibeskräften zu schreien, beschwichtigte Iain sie: „Ich werde Euch nichts tun“, versicherte er ihr mit erhobenen Händen. „Allerdings wäre ich Euch zu großem Dank verpflichtet, wenn Ihr mir Kleidung geben könntet – freilich nicht Eure eigene.“ Er grinste sie schelmisch an.

Sie starrte ihn an. Noch immer wusste sie nicht, was sie von ihm halten sollte, aber sie musste sich eingestehen, dass er auf eine verwegene Art attraktiv war. Sein braunes Haar war kurz geschnitten und seine Wangen waren stoppelig, so als hätte er vergessen, sich zu rasieren. Sie versuchte, nicht seine nackte Brust anzuglotzen, während er sie mit schräg gelegtem Kopf abwartend ansah. Seine Brustmuskeln waren definiert und seine Haut war sonnengebräunt. Die markanten Linien auf seinem Bauch erregten ihre Aufmerksamkeit. Er musste ein Arbeiter sein, vielleicht ein Stallbursche oder Lakai. Gentlemen waren nicht so muskulös, besonders dann nicht, wenn sie ein Leben voller Müßiggang führten. Seine grünen Augen musterten sie amüsiert. Rose war sprachlos.

„Könnt Ihr nicht sprechen?“, fragte er, „oder hat Euch etwa meine Nacktheit die Sprache verschlagen?“

„I-Ihr seid nicht nackt“, platzte sie heraus. Vor lauter Aufregung begann sie drauflos zu plappern: „Ich meine, Ihr seid größtenteils bedeckt“, verbesserte sie sich mit hochrotem Kopf. „Die wichtigen Teile jedenfalls.“

Nicht nackt? Was war denn das für eine Bemerkung? Sie saß im Garten mit einem Fremden, der nur Hosen trug, und hatte noch nicht um Hilfe geschrien. Was war nur los mit ihr? Er könnte ein Eindringling sein, der jeden Moment über sie herfallen würde. Doch dann lachte er aus voller Kehle und in einem tiefen, beinah verruchten Ton los.

Rose fragte sich unweigerlich, warum um alles in der Welt ein nackter Lakai in ihrem Garten stand. „Bleibt, wo Ihr seid“, warnte sie, „sonst schreie ich.“

Iain hob die Hände. „Das ist nicht nötig. Wie gesagt liegt es mir fern, Euch zu schaden. Ich fürchte nur, Ihr habt mich in einer misslichen Lage angetroffen. Könntet Ihr mir helfen, falls es Euch nicht zu viele Umstände macht?“ Mit leicht hochgezogener Augenbraue fügte er hinzu: „Ich bin auf Einladung von Lady Wolcroft hier.“

Dies machte sie neugierig. Warum sollte ihre Großmutter einen Fremden nach Penford einladen? Mildred tat nichts lieber, als sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen, doch im Augenblick war sie nicht einmal zugegen. Sie war erst einige Wochen zuvor nach Bath gereist.

Allerdings war es gut möglich, dass dieser Mann log.

„Wer seid Ihr überhaupt?“, fragte sie schließlich. „Und was tut Ihr hier?“

„Ich bin Iain Donovan, der Earl of Ashton“, antwortete er. „Zu Euren Diensten.“ Er verbeugte sich, wobei Rose sein schalkhaftes Grinsen nicht verborgen blieb. Seiner Ausdrucksweise nach zu urteilen musste er Ire sein. Aber ein Earl? Für wie hohlköpfig hielt er sie eigentlich?

Rose faltete die Hände im Schoß. „Ihr braucht nicht zu lügen, Sir“, sagte sie mit Nachdruck. „Ich weiß ganz genau, dass Ihr kein Earl seid.“

Er war perplex. Aber hatte er wirklich geglaubt, sie auf diese Art täuschen zu können? Sie war kein Bauernmädchen, das sich leicht auf den Arm nehmen ließ. „Ein Earl würde in einer Kutsche mit Dutzenden Dienern anreisen, niemals allein.“

Bevor er widersprechen konnte, fuhr sie fort: „Begebt Euch zum Dienstboteneingang. Unsere Haushälterin Mrs. Marlock kann Euch sicherlich mit ein paar alten Kleidern aushelfen, vielleicht auch mit etwas zu essen. Dann könnt Ihr euch wieder auf den Weg machen.“ Sie wusste zwar nicht, ob dieser Mann gefährlich war, sprach aber vorsichtshalber in sanftem Ton mit ihm. Schreien könnte sie falls nötig immer noch. Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete sie. In ruhigem Ton sagte er: „Ich habe nicht gelogen, Miss.“

„Für Euch immer noch Lady Rose, Mr. Donovan“, verbesserte sie ihn. Im Gegensatz dazu hatte er aus ihrer Sicht keinen Titel verdient. „Ich würde Euch nun bitten zu gehen. Und zwar unverzüglich.“ Sie wurde unruhig, denn wenn dieser Mann es wagte sie zu bedrohen, hätte sie ihm nichts entgegenzusetzen. Besonders, da sie nicht davonlaufen konnte.

Selbst wenn sie nach ihrem Diener Calvert riefe, würde dieser sicher nicht schnell genug herbeieilen. Ihr Blick fiel auf einen Rechen in der Nähe und sie überlegte, ob sie ihn im Notfall greifen könnte.

„Ich habe keinen Grund, nicht die Wahrheit zu erzählen“, sagte er. „Wie ich Euch bereits sagte, wurde ich auf meinem Weg hierher ausgeraubt.“ Er hielt einen Moment inne, bevor er hinzufügte: „An unserer Kutsche brach eine Achse und meine Diener blieben vor Ort, um sie zu reparieren. Ich hielt es für klüger, meinen Weg zu Pferde fortzusetzen, um der Einladung von Lady Wolcroft zu folgen.“

„Eine unwahrscheinliche Geschichte“, konterte Rose. „Wenn Ihr wirklich ein Earl wärt, hättet Ihr ein größeres Gefolge.“

Er hob eine Augenbraue. „Wie viele Lakaien sollte ich denn Eurer Meinung nach haben?“ „Genügend, um einige davon mitzubringen. Ein Gentleman reist niemals allein.“

Das Gesicht des Mannes nahm einen wütenden Ausdruck an. „Doch, wenn er keine andere Wahl hat.“ Zuerst wirkte es, als wollte er weiter mit ihr streiten, doch dann sagte er schmallippig: „Lady Wolcrofts älteste Tochter war mit meiner Mutter befreundet. Ich bin hier, weil sie mich mit einer Engländerin verheiraten möchte.“

Sie glaubte ihm kein Wort. Nein, er musste ein Schuft sein, ein Mann, der nichts zu verlieren hatte und sich durch Lügen einen Vorteil verschaffen wollte. „Nun, Sir, Ihr seid ein feiner Märchenonkel. Ich hörte bereits, dass die Iren fabelhafte Geschichtenerfinder sind, aber erzählt das bitte alles der Haushälterin.“

„Ich erzähle keine Märchen, Lady Rose. Ich bin wirklich hier, um eine Braut zu finden.“ Die Verärgerung war ihm deutlich anzuhören.

Sie beugte sich so weit wie möglich vornüber und schaffte es, nach dem Rechen zu greifen. Mit dieser behelfsmäßigen Waffe fühlte sie sich wohler.

„Was habt Ihr denn mit diesem Rechen vor, a chara?“, fragte er und trat näher.

Rose umklammerte den Stiel mit beiden Händen und zog ihn näher an sich heran, um den Mann mit dem Werkzeug auf Abstand zu halten.

„Nichts, wenn Ihr nun fortgeht.“ Zugegebenermaßen wusste sie nicht genau, was sie mit dem Rechen anstellen würde. Er taugte nicht gerade dazu, jemanden zu erstechen. Sie konnte den Mann damit pieken, mehr aber auch nicht.

Jetzt rief sie wirklich nach ihrem Diener. „Calvert! Ich benötige deine Hilfe!“ Er sollte sie vor jeglichen Gefahren beschützen, und im Augenblick wollte sie, dass der fremde Mann aus ihrer Nähe verschwand – auch wenn er recht gutaussehend war. Und ein charmanter Lügner obendrein.

Der Ire verzog den Mund und verbeugte sich. „Wie Ihr wünscht, Lady Rose. Bis später, wenn ich besser gekleidet bin.“

Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, umklammerte jedoch weiterhin fest den Rechen. „Fort mit Euch!“ Sonst wird mein Lakai Euch Beine machen.

Doch als der Fremde im Labyrinth verschwand, bemerkte sie, dass ihr Herz nicht nur vor Angst wie wild klopfte. Sie hatte zwar schon ihren Bruder ohne Hemd gesehen, aber niemals zuvor einen Mann wie Iain Donovan. Sein dunkles Haar war leicht gelockt und diese grünen Augen faszinierten sie. Er hatte markante Wangenknochen und ein ebenmäßiges und definiertes Gesicht. Er sah aus wie ein Mann, der durch die Hölle gegangen und gestärkt daraus hervorgegangen war.

Er hatte überhaupt nichts Elegantes an sich. Sie wollte wetten, dass er in seinem ganzen Leben niemals Handschuhe getragen hatte.

Nein. Niemals war er ein Earl.

Und doch … war sie fasziniert von seiner Körperkraft und hätte gerne gewusst, ob seine Muskeln so fest waren wie es schien. Seine fein gemeißelte Statur glich der einer Marmorstatue. Als Calvert auf dem Pfad erschien, um sie ins Haus zurückzubringen, spähte sie noch einmal zurück in den Irrgarten. Sobald sie drinnen in Sicherheit war, trug sie ihrem Diener auf, Mr. Donovan zu folgen und den wahren Grund für seinen Besuch in Erfahrung zu bringen.

„Na, ob ich dir das glauben kann, Bursche?“ Mrs. Marlock stemmte die Hände in ihre dicken Hüften. „Kein Wort hat Lady Wolcroft von nem Gast aus Irland gesagt. Aber wenn ich mich täusche, steh ich schön blöd da, wenn ich dich rauswerf. Du hast ja nich mal was zum Anziehn.“

„Ganz richtig.“ Iain war sich seiner ärmlichen Erscheinung wohl bewusst, doch er konnte nichts dagegen tun. „Wenn ich mit Lady Wolcroft sprechen dürfte, wird sie sicherlich alles regeln.“

Mrs. Marlock legte den Kopf schief, als würde sie über seine Geschichte nachdenken. Ihr graues Haar war zusammengebunden und unter einer Haube hochgesteckt. Sie erinnerte ihn an einen Soldaten, nur dass sie anstelle eines Schwerts einen Schlüsselbund an ihrem feisten Körper trug. „Lady Wolcroft ist nicht hier, und ich weiß nich, wann sie aus Bath zurückkehrt.“

Bath? Wieso war sie dorthin gereist, wenn sie ihn doch eingeladen hatte? Ein schönes Schlamassel war das. Er hatte keine Kleider, kein Geld und keinen Siegelring und niemand konnte ihn in Penford empfangen. Die Haushälterin fuhr fort. „Kannste sonst irgendwie beweisen, wer du bist?“

Nein, er stand mit leeren Händen da. Die verflixten Diebe hatten ihm alles geraubt. Iains Verbitterung wuchs, doch er zwang sich, sie zu unterdrücken. Keinesfalls wollte er die Haushälterin verschrecken.

Er überlegte sich eine glaubwürdige Lüge. „Meine Diener werden heute mit meinen Habseligkeiten hierher kommen, sobald die Kutsche repariert ist“, sagte er geschickt. „Das sollte zum Beweis genügen.“ Er sprach ruhig und beherrscht, um Mrs. Marlock nicht einzuschüchtern. Wenn er ihr Misstrauen schürte, würde sie ihn hochkant hinauswerfen.

Ihm lief die Zeit davon und er hatte keine Möglichkeit, seine Identität zu beweisen. Wäre Lady Wolcroft hier, würde sie ihn mit etwas Glück wohl erkennen. Aber außer ihr niemand sonst.

Die Haushälterin wirkte nicht überzeugt. „Du kommst aus Irland, nich?“

„Ich bin aus Ashton“, antwortete er. „Im County Mayo.“ Einen Moment lang wartete er ab, ob sie weitere Fragen hätte. Als sie nichts erwiderte, fügte er hinzu: „Ich vermute, Lady Wolcroft hat von meiner Mutter Moira erzählt? Oder von meinem seligen Bruder Michael?“

Mrs. Marlock verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn. „Nee, hat sie nich.“ Sie beäugte ihn und schien zu überlegen. Schließlich sagte sie: „Nun, vielleicht sagst du die Wahrheit, aber ich kann keinen Fremden ins Haus lassen, bevor Lady Wolcroft zurückkommt. Du kannst in ein paar Tagen wiederkommen. Dann isse vielleicht wieder da.“

Ihre Ablehnung überraschte ihn keineswegs. Dennoch wollte er nicht mitten in Yorkshire ohne Unterkunft, Geld und Essen vor die Tür gesetzt werden. Schnell überlegte er sich eine Alternative. „Ich schwöre Ihnen, dass ich wirklich der Earl of Ashton bin. Wenn Sie mir erlauben, über Nacht zu bleiben, werde ich Sie fürstlich für sämtliche Unannehmlichkeiten entschädigen, sobald meine Diener in Penford eingetroffen sind.“ Er war sich nicht sicher, wie er das anstellen sollte, aber er würde schon einen Weg finden.

Die Haushälterin grinste nur. „Ja ja, und dann kommt die Queen und alle werden sehen, dass ich ihre lange verschollene Tochter bin.“ Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: „Nee, mein Junge, du gehst jetzt besser. Sicher find’ste jemanden im Dorf, bei dem du dich lang machen kannst.“

In Anbetracht seiner spärlichen Bekleidung bezweifelte Iain das stark. Nein, es wäre viel besser, Mrs. Marlock zu überreden, dass er in Penford bleiben durfte. „Und was, wenn ich … ich meine–“ Zögernd überlegte er, ob es seinem Anliegen schaden würde, sich noch mehr zu erniedrigen. Was bleibt mir anderes übrig?, dachte er. Niemand kennt dich.

Schließlich überwand er seinen Stolz und fragte: „Was, wenn ich Ihnen inzwischen ein wenig im Gutsbetrieb helfe? Zumindest, bis meine Diener beweisen können, wer ich bin.“ Das war der beste Kompromiss, den er anbieten konnte. Er hatte auf Ashton genügend geschuftet, nachdem die meisten Pächter fortgegangen oder gestorben waren. Es war unvermeidlich gewesen. Auch jetzt würde er sich für nichts zu schade sein, wenn das bedeutete, dass er eine Bleibe für die Nacht haben konnte.

Mrs. Marlock musterte ihn skeptisch mit verschränkten Armen. „Ich hab dir schon gesagt, dass du gehen sollst, mein Junge. Keiner kennt dich, und obwohl du dich gut ausdrücken kannst, biste n Fremder hier. Hier gibt’s keinen Platz für dich.“

Iain richtete sich auf und blickte sie todernst an. „Mrs. Marlock, was wird Lady Wolcroft wohl davon halten, dass Sie ihren Gast fortgeschickt haben?“

Die alte Frau zögerte. Ihre Verunsicherung ermunterte ihn, beharrlich zu bleiben. „Ich bitte Sie nur um Unterkunft für einen einzigen Tag. Und es muss nicht im Haupthaus sein, wenn Ihnen das nicht behagt.“

Sie kniff argwöhnisch die Augen zusammen. „Ich kenn dich nicht, und du musst sowieso mit unserem Butler Mr. Fulton reden. Ich kann dir in diesem Haus keinen Schlafplatz anbieten. Geht nich.“

„Wenigstens für ein paar Stunden“, feilschte er, „nur bis meine Diener eintreffen.“

Er hatte zwar nicht die geringste Lust, im Freien zu schlafen, doch ihm würde wohl nichts anderes übrigbleiben, wenn er es nicht schaffte, Mrs. Marlock oder Fulton davon zu überzeugen, dass er wirklich der Earl of Ashton war. Und obwohl er im Grunde ein abenteuerlustiger Kerl war, gefiel ihm die Vorstellung, nachts bibbernd im kalten Moor zu hocken, überhaupt nicht.

Er schenkte Mrs. Marlock ein herzliches Lächeln und fügte hinzu: „Sie scheinen mir eine gütige Frau zu sein, Mrs. Marlock. Ich weiß, dass Sie es nicht übers Herz bringen würden, einen Gast im eiskalten Regen auszusetzen, wenn Sie ihm eine Bleibe für die Nacht anbieten können.“

„Es regnet aber gar nich, Freundchen“, sagte sie. „Und du wirst wie gesagt irgendwo im Dorf unterkommen. Aber wenn du wirklich ein Earl bist, helf ich dir gern.“ Ihr Tonfall verriet, dass sie ihm kein bisschen glaubte. Doch zum Beweis ihrer Güte reichte sie ihm einen großen Brocken Brot. Iain riss ein Stück davon ab und schlang das Essen herunter, so als hätte er seit Stunden nichts mehr gegessen.

Er würde weiter hartnäckig bleiben, um sich einen Schlafplatz zu sichern, denn er war überzeugt, spätestens bis zum Abend beweisen zu können, wer er war. Er musste nur den Siegelring finden, der ihm gestohlen worden war. Als er das Brot aufgegessen hatte, fragte er: „Hätten Sie denn auch Kleider für mich?“ Er streckte die Arme aus und bot sich der Haushälterin in voller Blöße dar. „Ich kann nicht herumlaufen, ohne etwas anzuhaben.“

Sie errötete leicht, bevor sie schließlich seufzte: „Das stimmt wohl. Mal sehen, welche Lumpen ich dir geben kann, bevor du ins Dorf gehst.“

„Das weiß ich wirklich zu schätzen. Und danke für das Essen.“ Er nickte höflich, woraufhin sie ihn ratlos ansah. Schließlich machte auch sie einen Knicks.

„Hattie!“, rief sie. Eine Magd, ein cailín von etwa sechzehn Jahren, kam hereingehuscht. Das Mädchen schaute ihn neugierig an, bevor ihr Blick in unverhohlener Bewunderung über seinen nackten Oberkörper glitt. Obwohl er sich vielmehr wie eine Festtagsgans auf dem Präsentierteller fühlte, sagte Iain nichts, falls die Magd sich als eine unverhoffte Verbündete entpuppen würde. Mrs. Marlock herrschte sie an: „Glotz nich so, Hattie, und hol dem Mann was zum Anzieh’n.“

Die Magd errötete und lächelte beschämt, bevor sie davoneilte. Obwohl Iain keine Miene verzog, pflanzte sich Mrs. Marlock vor ihm auf und funkelte ihn wütend an. „Wenn du angezogen bist, sieh gefälligst zu, dass du aus Penford verschwindest. Solltest du wirklich ein Gast der Herrin sein, werde ich mich später tausendmal entschuldigen.“ Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie an seiner Rückkehr zweifelte.

„Sie werden schon sehen“, antwortete er, „heute Abend werde ich an Ihrem Tisch speisen.“ Wenn er erst einmal seine gestohlenen Habseligkeiten wiedergefunden hätte, würden sie ihn sicher bei sich aufnehmen.

Mrs. Marlock konnte darauf nur ein entrüstetes Schnauben erwidern.

Ein paar Minuten später brachte Hattie ihm ein zerrissenes Hemd und einen ebenso schäbigen Mantel sowie ein Paar Schuhe. In Anbetracht ihres jungen Alters und ihres Gewands, das ein wenig besser war als das einer Küchenmagd, hielt er sie für eine Kammerdienerin. Und obwohl er bezweifelte, dass ihm eines der Teile passen würde, war dies allemal besser, als weiterhin halbnackt und barfuß herumzulaufen. Iain dankte ihr für die Kleider.

Leider würde er wohl die nächsten Stunden in lumpige Dienstbotenkleidung gehüllt im Freien verbringen müssen. Das könnte ja heiter werden.

Du hast nie erwartet, dass es einfach werden würde, mahnte er sich selbst. Warum sollte man dir ohne jeglichen Beweis glauben, dass du ein Earl bist?

Um in Ruhe sein weiteres Vorgehen planen zu können, ließ er sich Zeit, während er sich das schlecht sitzende Hemd, den Mantel und die Schuhe anzog. Obwohl er gehofft hatte, dass seine Männer ihm hierher folgen würden, glaubte er inzwischen, dass sie ihn im Stich gelassen hatten. Und ohne Diener, die sich für ihn verbürgen würden, steckte er nun wirklich in der Klemme.

Doch Aufgeben kam nicht infrage. Zu viele Menschen waren von ihm abhängig.

Als er fertig angezogen war, folgte er Hattie den Dienstbotengang entlang. Sie wandte sich zu ihm um und wünschte ihm mit einem hoffnungsvollen Lächeln alles Gute. Dann deutete sie auf die Tür am Ende des Ganges. „Dort geht es hinaus.“

Er blickte zur Tür und schaute dann der Magd in die Augen. „Glaubst du mir, dass ich der Earl of Ashton bin, auch wenn ich aussehe, als hätte man mich hinter einem Karren hergeschleift?“

Hattie schien sich unbehaglich zu fühlen und senkte den Blick. „Ich– das kann ich nicht beurteilen, Sir.“ Mit diesen Worten ging sie weiter mit ihm Richtung Hinterausgang.

Er wollte nicht weiter nachbohren, da sie schließlich nur Befehle befolgte. Im Kopf malte er sich bereits aus, wo er die Nacht verbringen würde. Vielleicht im Stall oder an einem überdachten Ort. Da er keinen Penny bei sich hatte, würde ihn niemand im Dorf bei sich aufnehmen.

Iain war erst ein paar Schritte weit gekommen, als er plötzlich eine Frau schreien hörte. Es gellte, als ob sie gerade angegriffen würde. Ohne eine Sekunde zu zögern eilte er die Treppe hinauf in den Flur. Dort fand er eine Frau mittleren Alters mit wallendem, zerzaustem Haar vor, die auf die Haustür zu rannte. Sie trug ein langärmeliges blaues Twillkleid und hatte wilde Augen. Ihrem noch jungen Alter nach zu urteilen konnte sie nicht Lady Wolcroft sein, aber vielleicht war sie ihre Tochter.

„Lady Penford!“, rief Hattie und eilte ihr zu Hilfe. „Bitte … gestattet mir, Euch zu helfen.“ Iain blickte sich um, um herauszufinden, wovor die Frau floh, aber es war weit und breit nichts zu sehen. Das Gesicht der Frau war totenbleich und ihre Hände zitterten stark. Als Hattie die Hand ausstreckte, griff Lady Penford fest zu. „So helft mir doch! Die– die Wölfe! Ich hörte sie heulen, sie sind hinter mir her!“

Die Magd warf Iain einen Blick zu und schüttelte mahnend den Kopf. Iain war sich zwar nicht sicher, was hier vor sich ging, doch Lady Penford litt offenbar an Wahnvorstellungen. Die Frau wollte wieder losrennen, doch Hattie hielt sie auf, indem sie sie um die Taille packte. „Nein, Gnädigste, Ihr dürft das Haus nicht verlassen.“

Die Krankheit, die Lady Penfords Geist plagte, würde am Ende noch dazu führen, dass sie sich verletzte, wenn man ihr die Flucht gestattete. Und obwohl es ihn eigentlich nichts anging, stellte Iain sich vor den Ausgang, damit sie nicht entkommen konnte.

„Lass mich raus!“, forderte Lady Penford und entwand sich dem Griff der Magd. Doch als sie die Haustür erreichte, blieb Iain eisern stehen, um ihr den Weg zu versperren. Er spürte, dass diese Frau in ihrer eigenen Fantasiewelt gefangen war, in der die Realität wenig Sinn ergab.

„Wo sind die Wölfe?“, fragte er in sachtem Ton. Er sprach leise, wie um ein verwundetes Tier zu beruhigen.

Seine Frage schien Lady Penford für einen Moment aus ihrer Hysterie zu reißen. Sie stockte. „Sie– sie haben mich gejagt.“ Ihr Gesichtsausdruck war verwirrt und sie schien gar nicht zu bemerken, dass er ein Fremder war.

„Würdet Ihr Euch in Eurem Gemach sicherer fühlen?“, fragte er. „Hattie kann Euch bestimmt dorthin bringen.“

„Nein“, keuchte sie. „Dahin kann ich nicht zurück. Die Wölfe werden mich finden.“ Sie presste die Hände zusammen und machte noch einen Schritt auf die Tür zu. „Ruft meine Kutsche.“

Er blickte Hattie an, die sich daraufhin Lady Penford näherte. Iain trat noch einen Schritt zurück, damit sie die Tür nicht erreichen konnte.

Ein leises Geräusch am oberen Treppenabsatz erregte seine Aufmerksamkeit, und er erblickte Lady Rose, die von einem Lakai getragen wurde. „Mutter, bitte warte einen Augenblick.“ Beim Anblick der Hausherrin wurde sie blass und befahl Calvert, sie nach unten zu tragen.

Es machte Iain betroffen, dass Lady Rose darauf angewiesen war, von anderen überallhin getragen zu werden. Das musste sehr hart für sie sein. In ihrem Zustand konnte sie ja nicht einmal ihrer Mutter helfen.

Als sie Iain an der Tür erblickte, klappte ihr die Kinnlade herunter. Die Röte schoss ihr ins Gesicht, als ob es ihr unangenehm wäre, dass er den Anfall ihrer Mutter mitbekommen hatte. Hattie stellte einen Stuhl in Lady Penfords Nähe und der Diener setzte Lady Rose darauf ab, bevor er sich diskret entfernte.

„Geht es dir gut?“, fragte die junge Frau. In ihrer Stimme lag ein sanfter, mitfühlender Ton – kein Tadel für den Irrsinn. Sie streckte die Hand aus, doch Lady Penford beachtete sie nicht.

Aus der Nähe bemerkte Iain, dass die Augenfarbe von Lady Rose einen warmen Sherry-Ton hatte. Einige rotbraune Haarsträhnen umrahmten ihr Gesicht. Er verspürte den Wunsch, sie zu entlasten.

„Hast du mich verstanden, Mutter?“

Lady Penford antwortete nicht, sondern starrte nur ihre zitternden Hände an.

„Ich habe gerade mit Lady Penford über die Wölfe gesprochen“, sagte Iain, so als wäre alles in bester Ordnung. Er fixierte die junge Frau in der Hoffnung auf ihre Mithilfe, denn die Alte schien in ihrem Wahn gefangen zu sein.

Doch Lady Rose beachtete ihn gar nicht. „Jetzt ist doch alles gut, Mutter. Ich bin ja hier.“ Sie streckte erneut die Hand aus, doch die Frau reagierte weiterhin nicht darauf.

„Ich habe Angst“, gab ihre Mutter zu. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie rang die Hände. „Ganz große Angst.“

Iain spähte zu Lady Rose hinüber und bemerkte ihre erröteten Wangen. Die Magd und der Diener schauten sich an, bevor sie den Blick senkten. Offenbar war der Wahnsinn der Mutter nichts Neues für sie.

„Kann ich irgendetwas tun, um zu helfen?“, fragte Iain.

Die Alte wandte sich wieder ihm zu, und plötzlich schlug ihre Stimmung um. „Ich habe Euch noch nie gesehen. Kennt Ihr meinen Sohn James? Seid Ihr deswegen hier? Ist er aus Indien zurück?“ Ihre Stimme bebte vor Erregung, und er vermutete, dass Kummer und Sorge sie in diesen aufgebrachten Zustand versetzt hatten.

Iain riskierte einen Blick zu Rose, die den Kopf schüttelte. Es war nicht klar, ob ihr Bruder tot oder verschollen war, doch er beschloss, die Frau nicht mehr als nötig zu beunruhigen. Es war leicht genug, die Täuschung aufrechtzuerhalten. „Möglicherweise habe ich ihn gesehen. Könntet Ihr mir bitte noch einmal ins Gedächtnis rufen, wie er aussieht?“

Plötzlich huschte ein lichter Moment über das Gesicht der Frau, bevor sich Besorgnis darauf ausbreitete. „James ist schon lange weg. Ich bete für seine Rückkehr, aber er hat meine Briefe nie beantwortet. Er muss wiederkommen, denn er ist doch der neue Earl of Penford.“ Sie senkte die Stimme zu einem leisen Flüstern. „Nun, da mein Ehemann … fort ist, gibt es viel zu tun. So viele Entscheidungen müssen getroffen werden, und ich … ich kann das einfach nicht.“ Lady Penford schlug die Hände vor den Mund, während ihr Gesicht einen panischen Ausdruck annahm.

„Gräme dich nicht“, beschwichtigte Rose sie. „Lily und ich werden zurechtkommen. Jetzt solltest du in den Salon gehen und eine Tasse Tee trinken. Mrs. Marlock hat vielleicht auch noch Scones mit Clotted Cream. Hast du darauf Lust?“ Durch die Erwähnung der Speise gelang es, die Aufmerksamkeit der älteren Dame abzulenken. „Ich– ja, das wäre wundervoll.“

„Hattie wird dich in den Salon bringen und wir kommen dann nach.“ Rose gab der Magd ein Zeichen, woraufhin Hattie Lady Penford den Flur entlang geleitete.

Als ihre Mutter fort war, wandte Rose sich wieder Iain zu. Sie blickte traurig drein.

„Danke, dass Ihr sie von der Flucht abgehalten habt. Sie trauert, seit mein Vater gestorben ist.“

Er nickte. „Sie wirkte sehr aufgebracht.“ Und nicht ganz richtig im Kopf, dachte er, ohne es auszusprechen.

„Wird sie sich erholen?“

Rose seufzte und reckte sich auf ihrem Stuhl. „Das weiß niemand. Es gibt gute und schlechte Tage.“

Mit einem Blick hinüber zu ihrem Lakai fragte er: „Benötigt Ihr Hilfe? Ich meine, falls Ihr euch zu ihr gesellen möchtet, könnte ich–“ Doch er bremste sich sogleich ein, als ihm klar wurde, dass es völlig unangebracht wäre, sie zu tragen.

Lady Rose schien allerdings keinen Anstoß an dem Vorschlag zu nehmen, sondern antwortete schlicht: „Calvert wird mich dorthin bringen.“

Dann musterte sie skeptisch Iains schäbige Kleider. „Behauptet Ihr immer noch, ein irischer Earl zu sein, Sir?“ In ihren Worten schwang Sarkasmus mit, und der Ausdruck in ihren Augen verriet, dass sie ihm keinen Deut glaubte.

Iains Mund verzog sich zu einem Grinsen. „Für Euch bitte ‚Lord Ashton’, a chara. Wartet nur ab.“

Kapitel zwei

Rose wusste nicht, was sie von diesem Gentleman halten sollte, der sich als Earl ausgab. Er verhielt sich nicht unterwürfig wie ein Diener, besonders als er den hysterischen Anfall ihrer Mutter in den Griff bekommen und sie beruhigt hatte. Trotz seines Lumpengewands wirkte er auf gewisse Art erhaben. Allerdings waren seine Ausdrucksweise und seine mangelnde Etikette alles andere als fein. Sie konnte einfach nicht glauben, dass er ein Edelmann sein sollte – nicht, bevor sie seine Kutsche und seine Diener gesehen hätte.

Als Lord Ashton hatte er sich vorgestellt, nicht wahr? „Lord Asche“ erschien ihr passender.

Und doch faszinierte er sie trotz seiner äußerlichen Erscheinung. Auf eine verwegene Art und Weise war er ja wirklich recht gutaussehend. Seine Art sie anzulächeln war verrucht und verhieß dunkle Ecken und geheime Liebschaften. Sein dunkles Haar hatte einen Schnitt nötig und auf seinen Wangen standen Bartstoppeln, die sie gern einmal angefasst hätte.

Sie war schon beinahe so durcheinander wie ihre Mutter. Warum war er wirklich hier? Und wer war er überhaupt? Calvert brachte sie in den Salon, wo sich ihre Schwester Lily kurze Zeit später hinzugesellte. Rose erwiderte ihren fragenden Blick und schüttelte leicht den Kopf, um ihr anzudeuten, dass ihre Mutter heute keinen guten Tag hatte. Pass auf, was du sagst, Lily.

„Mutter, möchtest du Tee?“, fragte ihre Schwester fröhlich mit der silbernen Teekanne in der Hand. Iris sah abwesend aus, und Lily musste ihre Frage zweimal wiederholen, bevor ihre Mutter schließlich reagierte und sich ihnen zuwandte. „Was sagtest du? Ach ja, Tee. Mit Milch und Zucker, bitte.“

Lily bereitete den Tee zu und setzte sich dann neben ihre Mutter, um ihr die Tasse zu reichen. Inzwischen wirkte Iris ruhiger, und weder Rose noch Lily wollte riskieren, mit einer unbedachten Bemerkung erneut ihre furchtbaren Wahnvorstellungen auszulösen.

„Geht es dir heute gut, Mutter?“ Lily schenkte auch Rose eine Tasse ein und stellte sie vor ihr ab. „Ja, jetzt fühle ich mich viel besser. Aber wer war dieser neue Gentleman, den ich soeben kennenlernte?“

Verflixt, Rose hatte gehofft, dass Mutter „Lord Asche“ bereits ganz vergessen hätte. Ihre Schwester schaute sie neugierig an, denn sie wusste nichts von dem Fremden, der nach Penford gekommen war. Rose wollte ihr lieber nichts von ihm erzählen.

„Das spielt keine Rolle, Mutter. Denk nicht mehr darüber nach.“ Sie wollte vermeiden, dass ihre Mutter auf die Anwesenheit eines Fremden aufgewühlt oder verängstigt reagierte.

„Welcher neue Gentleman?“, insistierte Lily.

Lass das, warnte Rose sie wortlos mit strengem Blick. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu sprechen. Doch Iris wandte sich ihr mit einem mysteriösen Lächeln zu. „Er war wirklich ausgesprochen schneidig. Ich bin nicht blind, meine Liebe. War er hier, um dir einen Besuch abzustatten?“ Bevor sie dies abstreiten und das Thema wechseln konnte, fuhr Lady Penford fort: „Schließlich brauchst du dringend einen Ehemann, Rose.“

Sie war augenblicklich peinlich berührt. „Im Augenblick nicht, Mutter. Die Zeit ist noch nicht reif.“ Zum Glück griff Lily ein und lenkte ihre Mutter mit einem Keks ab, bevor sie das Gesprächsthema wechselte und von einem neuen Kleid erzählte, das sie anfertigen lassen wollte. Danke, Lily.

Ihre Mutter mochte recht haben, doch es schmerzte Rose, dass sie so unüberlegt daherredete, wo sie doch bereits einen Verehrer hatte. Sie kämpfte mit den Tränen.

Bloß nicht weinen. Aber schon allein der Gedanke an Lord Burkham wühlte sie auf, da sie ihn schrecklich vermisste. Er war kurz davor gewesen, um ihre Hand anzuhalten, bevor sie in Yorkshire erkrankt war. Das fürchterliche Leiden hatte sie gezwungen, um ihr Leben zu kämpfen, und sie so sehr geschwächt, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Thomas hatte ihr in den vergangenen Monaten Briefe mit Genesungswünschen geschickt. Sie war zuversichtlich, dass er ihr einen Heiratsantrag machen würde, wenn sie wieder ohne fremde Hilfe laufen könnte.

Rose wollte sich keinesfalls damit abfinden, den Rest ihres Lebens wie ein Kind herumgetragen zu werden. Egal wie lange es dauern würde, sie wollte nicht nach London zurückkehren, bis sie wieder laufen konnte. Es mochte pure Eitelkeit sein, doch Thomas sollte sie in ihrem gebrechlichen Zustand nicht zu Gesicht bekommen.

„Du solltest wirklich zur Ballsaison nach London zurückkehren“, fuhr Iris fort. „Du bist eine überaus reizende junge Dame. Welcher Gentleman hätte nicht gern eine so liebenswerte Frau wie dich an seiner Seite?“

Rose rang sich ein Lächeln ab, doch ihr wurde schwer ums Herz. Iris schien ihre Gehbehinderung völlig vergessen zu haben. „Ich muss noch einige Monate warten, bis ich wieder teilnehmen kann. Aber vielleicht ist Lily ja interessiert.“

„Nein, ich– ich möchte auch lieber nicht hinfahren“, stammelte Lily, bevor sie sich hastig setzte und ein großes Stück Gebäck in den Mund stopfte, um weiteren Gesprächen zu entgehen. Sie stapelte noch zwei weitere Teilchen auf ihren Teller, um zu zeigen, dass sie einfach weiteressen würde, um sich nicht unterhalten zu müssen. Rose blickte kopfschüttelnd den Essensberg an, worauf Lily nur ein gequältes Lächeln erwiderte. Tatsächlich teilten beide dasselbe Dilemma. Sie hatten ihre zukünftigen Ehemänner bereits ausgewählt; bloß hatte ihnen dann das Schicksal einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Lily vermied das Thema Heirat, seitdem Matthew Larkspur, der Earl of Arnsbury, verschwunden war. Rose war überzeugt, dass ihre Schwester die Rückkehr des Gentleman abwartete … aber ob er jemals wiederkäme? Ihre Schwester liebte Lord Arnsbury heiß und innig und schien sich von der Gesellschaft abschotten zu wollen, um keinen anderen Ehemann auswählen zu müssen.

Iris schlürfte ihren Tee und lächelte Rose plötzlich freundlich an. „Alles wird gut, meine Lieblinge. Sowohl du als auch deine Schwester werdet eines Tages den Mann eurer Träume heiraten, da bin ich mir sicher.“

Ihre Mutter war wie ausgewechselt. Anstelle der Frau, die gerade noch vor imaginären Wölfen geflohen war, offenbarte sich in dem lichten Moment nun eine Mutter, die ihre Töchter wieder glücklich sehen wollte.

Rose bemühte sich verzweifelt, das Gesprächsthema zu wechseln: „Glaubt ihr, dass es heute regnen wird?“

„Nein, lenk nicht vom Thema ab“, schalt Iris. „Du bist meine älteste Tochter, und es ist höchste Zeit, dass du heiratest. Wie alt bist du inzwischen? Zwanzig?“

„Dreiundzwanzig“, murmelte sie.

Ihre Mutter blickte skeptisch. „Nein, das kann nicht wahr sein.“ Während Iris ihr einzureden versuchte, dass sie erst zwanzig sei, setzte Rose ein Lächeln auf und schweifte in Gedanken ab. Sie wollte nicht über die unleugbare Tatsache nachdenken, dass sie wahrscheinlich eine alte Jungfer bleiben würde, sofern sie nicht wieder Laufen lernte.

Sie hatte keineswegs aufgegeben. Jeden Tag übte sie Stehen, und obwohl ihre Beine ihr Gewicht noch nicht trugen, wollte sie die Hoffnung nicht aufgeben. Sie musste nur wieder Kraft aufbauen, denn an der nötigen Willenskraft mangelte es ihr nicht, um die Beine bald wieder richtig bewegen zu können.

„Es ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich“, hatte der Arzt gesagt. Seitdem klammerte Rose sich an dieses Fünkchen Hoffnung, denn was blieb ihr auch anderes übrig?

Da bemerkte sie, dass sich draußen etwas regte. Beim genaueren Hinsehen erkannte sie, dass es dieser Ire, Mr. Donovan, war, der scheinbar Richtung Stall unterwegs war.

Was hatte er da zu suchen? Sie brannte vor Neugier und hätte in diesem Moment nichts lieber getan, als ihm zu folgen.

Doch aufgrund ihrer Unfähigkeit, sich allein fortzubewegen, war immer jemand um sie herum. Ohne fremde Hilfe kam sie nirgendwohin, und sie wollte gegenüber ihrem Lakai keinesfalls den Eindruck erwecken, dass sie diesem selbsternannten Earl verfallen war. Nein, sie war lediglich von seiner Geschichte fasziniert. Sonst nichts.

„Rose, was meinst du?“, riss Lily sie aus ihren Gedanken. Schlagartig wandte Rose ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Mutter und Schwester zu.

„Ich– ich meine, mach das, was du für am besten hältst.“

„Wunderbar.“ Iris strahlte sie an. „Das wird prima.“

Wozu hatte sie da soeben ihr Einverständnis gegeben? Als sie einen Blick zu Lily riskierte, schüttelte ihre Schwester fassungslos den Kopf. Oje.

Rose räusperte sich und wartete auf eine Erklärung ihrer Mutter. Iris trank ihren Tee aus und sah dabei eindeutig zu glücklich aus. „Na wunderbar. Dann fahrt ihr beide nach London, sobald eure Großmutter zurückgekehrt ist. Und wenn der Sommer vorbei ist, wird mindestens eine von euch einen Ehemann haben.“

London? Auf keinen Fall. Lieber wollte sie sich von den zuvor erwähnten Wölfen fressen lassen.

Iris erhob sich und schmiedete bereits Pläne für die anstehende Ballsaison. „Ich werde Mrs. Marlock beauftragen, für euch beide neue Kleider anfertigen zu lassen. Und dann … muss ich mir keine allzu großen Gedanken mehr machen.“ Sie ging bereits aus dem Zimmer und redete dabei weiter vor sich hin, bis ihre Stimme allmählich verklang.

Kaum war ihre Mutter fort, stöhnte Lily auf. „London? Rose, was hast du dir dabei gedacht?“

„Ich habe nicht zugehört“, gestand sie. „Ich war abgelenkt.“

„Das merke ich.“ Ihre Schwester stand auf und begann, auf und ab zu gehen. „Wir müssen ihr weismachen, dass sie sich das nur eingebildet hat. Es kommt nicht infrage, dass wir nach London fahren, um dort verheiratet zu werden. Vor allem ich nicht.“

„Wegen Lord Arnsbury?“, fragte Rose vorsichtig.

Lily errötete und blickte auf einmal sehr traurig drein. „Er kommt doch vielleicht wieder. Und dann …“ Aus diesem Wunsch sprach jahrelange Hoffnung, denn ihre Schwester liebte den Earl abgöttisch. Allerdings waren seit seinem Verschwinden bereits beinahe zwei Jahre vergangen, und seine Rückkehr wurde immer unwahrscheinlicher. Rose wagte jedoch nicht, Lily zu fragen, was sie vorhatte, falls er nie wiederkommen würde.

„Es spielt keine Rolle, ob er zurückkommt. Wir stecken in der Klemme.“

Rose versuchte, vom Stuhl aufzustehen, indem sie sich mit beiden Armen fest hochstemmte. „Lily, hilf mir hoch.“

Ihre Schwester umfasste ihre Taille, um sie zu stützen, und Rose bemerkte ihren mitfühlenden Blick. „Bist du sicher, dass du stehen kannst?“

„Meine Arme werden kräftiger.“ Irgendwie würde sie es schaffen.

Doch ihre Schwester trat einen Schritt zurück. „Solltest du nicht lieber Calvert fragen? Er ist stärker als ich und kann verhindern, dass du hinfällst.“

Widerwillig ließ Rose sich zurück auf den Stuhl sinken. „Nein, schon in Ordnung.“ Obwohl sie nachvollziehen konnte, dass ihre Schwester nicht glaubte, dass sie stehen könnte, fühlte sie sich entmutigt. Sie spürte einen Kloß im Hals und atmete tief durch. „Was sollen wir nun mit Mutter anstellen?“

„Ich finde, wir sollten uns so verhalten, als wüssten wir von nichts. Wir tun einfach so, als hätte sie nie etwas in dieser Richtung erwähnt. Genauso wie mit den Wölfen. Morgen wird sie sich schon nicht mehr daran erinnern.“

„Das glaube ich auch.“ Rose riskierte einen erneuten Blick aus dem Fenster und bedauerte, Mr. Donovan aus den Augen verloren zu haben. Wo war er inzwischen? Sie reckte den Hals, konnte ihn jedoch nirgends entdecken.

„Was gibt es denn da draußen zu sehen, Rose?“ Lily spähte aus dem Fenster und wandte sich dann wieder an ihre Schwester. „Das ist dieser Gentleman, von dem du erzählt hast, richtig?“

Sie seufzte. „Ja, richtig. Mr. Donovan behauptet, ein Earl zu sein, aber ich glaube ihm nicht.“

Lily rümpfte die Nase. „Ein Earl? Warum sollte jemand so etwas behaupten?“

„Ich weiß es nicht. Aber ich frage mich, was er hier wirklich will.“ Die logische Erklärung war, dass er versuchte, sich in ruchloser Absicht bei ihnen einzuschleichen. Doch eigentlich konnte sie das nicht glauben.

Ihre Schwester presste die Knöchel fest ans Fenster und schüttelte den Kopf. „Oje.“

„Was ist?“ Auf ihrem Posten bekam Rose überhaupt nichts mit.

„Mir scheint, du liegst richtig, was Mr. Donovan betrifft. Nie und nimmer ist der ein Earl.“

Weil es Rose verrückt machte, nichts sehen zu können, stemmte sie sich unter Aufbietung all ihrer Kräfte von ihrem Stuhl hoch. „Warum sagst du so etwas, Lily?“

Lily drehte sich mit einem rechtfertigenden Blick zu ihr um. „Weil er uns gerade ein Pferd stiehlt.“

Iain trieb den Wallach zu scharfem Galopp an, um zu der Stelle zu reiten, wo er ausgeraubt worden war. Hinter ihm hörte er einige Männer „Haltet den Dieb!“ rufen.

Das war nun wirklich absurd. Schließlich war es sein eigenes Pferd, auch wenn ihm das keiner glauben würde. Er hatte seinen Augen nicht getraut, als er Darcy in dem Stall vorfand, wo er sich über Nacht verstecken wollte. Jemand hatte den Wallach dort in einen Verschlag gestellt. Das hieß, die Burschen mussten in der Nähe sein. Iain nahm sich vor, sie diesmal zur Rede zu stellen und sich den Rest seines verlorenen Hab und Guts zurückzuholen.

Am wichtigsten war der Siegelring oder zumindest Lady Wolcrofts Brief mit der Einladung nach Penford.

Er war überzeugt, dass der Raub ein Streich der beiden Halbstarken gewesen war. Sie hatten ihn irgendwie vom Pferd gestürzt – vermutlich mithilfe eines Seils, das zwischen zwei Bäumen gespannt war – und sich dann einen Spaß daraus gemacht, ihm alles wegzunehmen.

Iain fand das alles jedoch gar nicht lustig. Ihr Schabernack hatte ihn seine Identität gekostet, und er würde die Burschen so lange verfolgen, bis er seinen gesamten Besitz wiederhatte.

Er lehnte sich weit nach vorne, um die Umgebung nach ihnen abzusuchen. Obwohl die Nachmittagssonne ihn blendete, fand er relativ schnell den Weg zum See. Die Straße verengte sich, und schließlich erspähte er einen der Jungen, der allein unterwegs war. Er sah aus, als wäre er etwa dreizehn Jahre alt, und trug Iains Mantel. Als er Iain von hinten herannahen hörte, begann er zu rennen – allerdings nicht schnell genug.

Iain griff nach unten, packte den Burschen und zerrte ihn aufs Pferd. Der Kerl war dürr, und obwohl er sich vehement wehrte, hielt Iain ihn eisern fest. „Du kommst mir nicht aus. Nicht, bis du mir alles zurückgegeben hast, was du mir gestohlen hast.“

„Ich habe nichts gestohlen. Ich wollte alles zurückbringen“, protestierte der Junge.

„So wie die Kleider, die du trägst? Und was hast du mit meinem Siegelring gemacht?“ Iain hatte kein Mitgefühl für ihn. Der Kerl würde seine Fragen schon noch beantworten. „Ich glaube, wir sollten mit deinem Vater über diese Sache sprechen.“

Der Bub grinste ihn vorwitzig an. „Der ist nicht zu Hause.“ Der hämische Ausdruck auf seinem Gesicht verriet jedoch eindeutig, dass er überhaupt nichts dagegen hatte, von Iain heimgebracht zu werden.

Vielleicht war es klüger, eine andere Taktik auszuprobieren. „Dann kommst du mit mir, es sei denn, du möchtest mir vielleicht doch erst den Ring zurückgeben.“

Er wusste nicht so recht, was genau er mit dem Jungen anstellen würde, aber das Kerlchen durfte ihm nicht entkommen – nicht, bis alles geklärt war.

„Den habe ich nicht.“ Zum Nachweis zeigte der Bub seine leeren Hände.

„Dann sag mir gefälligst, wo er ist“, forderte Iain. Der Junge reagierte darauf nur mit einem Schulterzucken. Sein Gesichtsausdruck blieb trotzig, so als beabsichtigte er, weiter zu schweigen.

Iain griff in die Manteltaschen. Nicht nur der Ring fehlte, sondern auch der Brief von Lady Wolcroft. Verdammt nochmal, dieses Beweisstück brauchte er doch so dringend. Doch zu seiner Verärgerung blickte ihn der Fratz nur höhnisch an.

Mit dieser Verhörstrategie würde er nicht weiterkommen. Der Junge würde ihm sicherlich nichts verraten. Iain beschloss, eine andere Taktik auszuprobieren. Er hielt den Jungen im Sattel fest und wendete Darcy zurück Richtung Penford. Vielleicht kannten ihn die Bediensteten dort und hatten einen Rat, was man mit ihm anstellen sollte. Außerdem konnte Iain falls nötig den Vater des Jungen bitten, dorthin zu kommen.

Als sie ihren Ritt fortsetzten, fragte das Bürschchen: „Wird das etwa eine Entführung?“ Fast klang es, als käme ihm das gerade recht.

Iain beschloss, darauf keine Antwort zu geben, da er inzwischen wusste, dass der Junge ohnehin völlig unerschrocken war. Drohungen würden überhaupt nichts nützen, und bis Iain herausgefunden hätte, womit der Junge sich erweichen ließe, würde er keine seiner Habseligkeiten zurückbekommen. Er setzte den Weg nach Penford fort und fragte: „Warum hast du mich mit deinem Kameraden bestohlen?“

„Ich habe nichts gestohlen. Das Pferd ist mir gefolgt, also habe ich ihn nach Penford gebracht. Da kommt er vermutlich her.“

Iain glaubte ihm keine Sekunde. „Und was ist mit meiner Kleidung? Die hast du zufällig gefunden und mir aus einer Laune heraus weggenommen, nicht wahr?“

„Es war wirklich Zufall. Sie lag in der Nähe des Bachs herum, wo ich das Pferd entdeckt habe.“

Die Geschichte des Jungen war überaus lückenhaft. Jemand hatte ihn vom Pferd gestoßen und ihn ausgeraubt. Und der Knabe wollte Iains Pferd und seinen Mantel tatsächlich zufällig gefunden haben? Nein, an dieser Geschichte stimmte kein Wort.

„Du lügst, Freundchen.“

Der Junge ließ die Schultern sinken und seufzte theatralisch. Dann verdrehte er die Augen und sagte: „Ihr habt ja recht: Ich habe Euch vom Pferd gezerrt und dieses dann zusammen mit Eurer Kleidung gestohlen, um die Sachen gegen Nahrungsmittel für meine Familie einzutauschen.“

„Diese Version glaube ich dir schon eher – allerdings nicht, dass du etwas zu essen gebraucht hast.“ Iain drehte die Handfläche des Jungen nach oben. Dieser Knabe hatte wohl noch keinen einzigen Tag in seinem Leben gearbeitet. Seine Fingernägel waren sauber geschnitten und unter den Rändern war kein Schmutz zu sehen. Abgesehen davon konnte er sich piekfein ausdrücken. „Du hast in deinem Leben nie gehungert.“

„Woher wollt Ihr das denn wissen?“

Durch den Spott des Jungen erwachten plötzlich die düsteren Erinnerungen wieder zum Leben. Iain hatte mehr Leute verhungern sehen, als ihm lieb war – und dieser Albtraum würde ihn für immer verfolgen. Zu viele seiner Freunde waren vor die Hunde gegangen. Obwohl Ashton nicht so schlimm gelitten hatte wie andere Regionen, hatte die Nahrungsmittelknappheit die Pächter zugrundegerichtet. Iain würde niemals das Kreischen der Kinder oder das Wehklagen ihrer Mütter vergessen, als wieder ein Kleinkind der Unterernährung erlegen war.

„Ich habe schon gesehen, wie Leute verhungert sind. Und du bist davon weit entfernt.“

Der Junge schien Iains veränderte Stimmung bemerkt zu haben und widersprach nicht. Er hörte außerdem auf, sich in seinen Armen zu winden.

„Wie heißt du überhaupt?“, fragte Iain den Jungen. „Sag mir besser die Wahrheit, denn Lady Penfords Angestellte werden sowieso wissen, wer du bist.“

Der Junge zögerte, verriet schließlich jedoch seinen Namen: „Ich heiße Beau.“ Mehr gab er nicht preis, doch Iain vermutete, dass er der Sohn eines Edelmanns war. Alles an diesem Jungen – von seiner Ausdrucksweise bis hin zu seiner Aufmüpfigkeit – ließ auf ein vornehmes Elternhaus schließen.

Auf dem Land kannte jeder jeden. Wenn Iain für Unruhe sorgte oder Gerechtigkeit forderte, würden sich die Leute sicherlich für ihresgleichen einsetzen. Schließlich war er hier der Außenseiter. Allerdings schien der Knabe kaum Konsequenzen zu befürchten, denn er hatte wahrscheinlich früher bereits ähnliche Streiche gespielt.

Kurze Zeit später erreichten sie das Gut, wo sie bereits vom Kutscher erwartet wurden. Der Mann war vor Wut puterrot im Gesicht und es hatten sich bereits andere Untergebene um ihn geschart.

„Was geht hier vor, zum Teufel?“, plärrte der Kutscher. „Erst reißte mit einem unserer–“ Er machte eine kurze Pause und musterte den Wallach. Auf einmal wirkte er nicht mehr wütend. „Das ist ja gar keins von unseren Pferden.“

„Stimmt. Darcy gehört mir“, erwiderte Iain. „Und ich bringe ihn jetzt in den Stall zurück.“ Er stieg ab und zerrte Beau am Arm aus dem Sattel. „Dieser Knabe hat ihn mir gestohlen, zusammen mit meiner Kleidung.“

Mit diesen Worten zog er dem Jungen den Mantel aus. Der Stoff war am Saum eingerissen und schmutzig. Iain stopfte sich den Mantel unter den Arm und funkelte Beau wütend an. „Er und sein Freund fanden es sehr ulkig, mich zu beklauen.“ Plötzlich kam ihm eine Idee, die wunderbar zum Vergehen des Jungen passte. „Und weil er mein Pferd gestohlen hat, wird er nun zur Strafe den ganzen Tag lang Ihren Stall ausmisten, hoffe ich.“

Dem Kutscher schien diese Aussicht nicht geheuer zu sein. „Nun, ich weiß nicht recht. Stimmt das denn, Master Beauregard?“

Der Junge hob den Kopf. „Ich habe nichts gestohlen. Ich habe die Sachen gefunden.“

„Ich bin sicher, deine Eltern würden gerne wissen, welchen Schabernack du treibst“, bemerkte Iain. „Du und dein Freund.“

„Wie ich bereits sagte, ist mein Vater nicht zu Hause.“ Es klang triumphierend, so als könnte ihm sowieso niemand etwas anhaben.

„Sir Lester wird in ein oder zwei Tagen zurückkehren“, kommentierte der Kutscher.

Iain wurde bewusst, dass er richtig eingeschätzt hatte, aus welchem Elternhaus der Junge stammte. Beau war entweder der Sohn eines Ritters oder eines Baronets.

Doch als der Name seines Vaters fiel, reagierte der Junge abwehrend. „Er würde keinem von euch glauben. Und wenn ich herausfinde, dass ihm jemand etwas erzählt hat, werdet ihr alle hochkant entlassen.“ Er reckte sich und schaute wütend in die Runde, bevor sein Blick auf Iain zu ruhen kam.

„Ich kann nicht entlassen werden, stimmt’s?“, fragte Iain den Kutscher.

Der Mund des älteren Mannes zuckte. Offensichtlich ärgerte ihn die Drohung des Jungen. „Stimmt.“ Iain stand schließlich nicht im Dienste des Hauses.

Bevor der Kutscher noch etwas einwenden konnte, sagte Iain: „Dann ist es doch kein Problem, wenn er zur Strafe den Nachmittag damit verbringt, Pferdeäpfel zu schaufeln, oder? Ich werde dafür sorgen, dass er seine Aufgabe ordentlich macht.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, führte er den Jungen zurück Richtung Stall. Die übrige Dienerschaft wirkte amüsiert und protestierte keineswegs. Höchstwahrscheinlich war dies eine seltene Gelegenheit, dem Buben Konsequenzen aufzuzeigen. Als Iain ein letztes Mal zurückblickte, sah er, wie sich jemand im Haus die Nase an der Fensterscheibe platt drückte. Es war Lady Rose, die sie beobachtete. Iain lächelte zu ihr hinüber und verbeugte sich leicht, bevor er den Jungen in den Stall geleitete.

 

***

 

Es war bereits kurz vor Sonnenuntergang, als Rose endlich den Mut fand, den Stall aufzusuchen. Calvert war darüber alles andere als erfreut, doch er hatte kein Mitspracherecht. „Es ist doch schon zu dunkel zum Reiten, Lady Rose. Ich könnte es morgen Vormittag einrichten, wenn Ihr wünscht.“

Doch sie war nicht an einem Ausritt interessiert. Sie hatte gewartet, bis Mr. Donovan den Stall verlassen würde, und war sich nun sicher, dass er jeden Moment auftauchen würde. Es waren bereits mehrere Stunden vergangen, und niemand schien überrascht, dass er immer noch hier war. Wundersamerweise kauften ihm die Bediensteten seine Geschichte wohl ab.

Sie wusste lediglich, dass er mit dem Pferd zurückgekehrt war. Vermutlich lag irgendein Missverständnis vor, in das wohl Mr. Lesters Sohn Beauregard verwickelt war. „Ich möchte wissen, warum Mr. Donovan noch hier ist“, sagte sie. Calvert zuckte die Achseln. Ihr Lakai war zwar nie besonders gesprächig gewesen, doch im Augenblick frustrierte sie seine Wortkargheit maßlos. „Nun, was ist?“

„Ich habe gehört, dass er den Jungen bewacht, während der den Stall ausmistet.“

„Wozu soll das gut sein? Ich dachte, er wäre schon vor Stunden gegangen.“

Der Lakai wusste darauf keine Antwort. Rose winkte ab: „Bring mich einfach in den Stall. Ich werde es schon selbst herausfinden.“

Murrend und widerwillig fügte Calvert sich schließlich ihrem Befehl. Während er sie durch den Garten trug, überlegte Rose, was sie zu Mr. Donovan sagen sollte. Eigentlich hätte sie ihn erneut auffordern müssen, das Gut zu verlassen, doch die Neugier überwog ihren gesunden Menschenverstand. Nun ja, und ebenso die Tatsache, dass dieser Mann der attraktivste Bedienstete war, den sie jemals gesehen hatte.

Als sie endlich den Stall erreichten, fanden sie die Tür angelehnt vor. Der strenge Geruch von Pferdemist schlug ihr entgegen, und dann entdeckte sie Donovan neben Beauregard. Der Bursche blickte fuchsteufelswild drein und war dreckverschmiert. Sein Hemd war schweißnass, doch er schaufelte unter dem Blick des Iren eine weitere Ladung Mist.

„Fast fertig, mein Freund. Ich denke, du hast nun den Preis für deine Dummheit bezahlt. Wenn du mir noch verraten möchtest, wo mein Ring ist, kannst du nun aufhören.“

Beau reagierte nicht auf die Bemerkung, sondern schaufelte stur weiter. Rose sah ihn zum ersten Mal überhaupt Arbeit verrichten. Er blickte finster, hatte jedoch eine ganze Schubkarre mit Mist gefüllt. Nelson, der Kutscher, kratzte gerade am anderen Ende des Stalls einem Pferd die Hufe aus.

Als Mr. Donovan sie eintreten hörte, drehte er sich um. „Lady Rose, wie schön, Euch wiederzusehen! Bitte verzeiht mein nicht gerade ansprechendes Erscheinungsbild.“ Er lächelte sie reumütig an. In diesem Moment fiel ihr auf, dass er einen anderen Mantel trug. Auch dieser war zwar schmutzig und ein wenig abgetragen, erinnerte aber tatsächlich mehr an das Gewand eines Edelmannes als die Lumpen, die er zuvor angehabt hatte.

„Warum arbeitet Beauregard im Stall?“, fragte sie. Und wieso überwachte der Ire ihn bloß dabei? Er war doch des Geländes verwiesen worden und hatte gar kein Recht dazu.

„Das Bürschchen hat mir auf dem Weg hierher mein Pferd und meine Habseligkeiten gestohlen“, erklärte Mr. Donovan. „Er war einverstanden, zur Strafe für seinen Streich den Stall auszumisten. Und morgen Früh wird er all meine Habseligkeiten zurückbringen. Es sei denn, er möchte noch einmal den Stall saubermachen.“

Rose bezweifelte, dass Beauregard tatsächlich mit irgendetwas „einverstanden“ gewesen war. Doch erstaunlicherweise hatte er seine Aufgabe vollbracht. Sie musterte sein Gesicht, doch der Junge weigerte sich, ihr in die Augen zu schauen. Stattdessen schaufelte er noch eine Ladung Mist und würdigte sie beide keines Blickes.

„Wo ist dein Vater, Beauregard?“, fragte Rose den Buben.

Daraufhin wandte er sich ihr zu und funkelte sie böse an. „Er hätte schon vor drei Tagen zurück sein sollen.“

Sie blickte zu Mr. Donovan, der wortlos nickte. Da begriff sie, dass er wahrscheinlich versprochen hatte, Sir Lester nichts von den Missetaten seines Sohnes zu erzählen. Als seine grünen Augen einen Moment lang ihren Blick hielten, konnte sie beinahe seine Gedanken lesen: Der Junge braucht seinen Vater.

Jeder wusste das. Beauregard sorgte andauernd für Ärger, weil sein Vater oft lange nicht da war. Die meisten Leute waren schon froh, wenn er nach den Ferien wieder in der Schule erschien. Warum war Beau eigentlich hier und nicht in Eton? Sie sprach ihre Vermutungen nicht aus, sondern fragte stattdessen: „Wird deine Familie nicht nach dir suchen, Beau?“

„Seid unbesorgt“, sagte Mr. Donovan. „Ich habe bei ihm zu Hause ausrichten lassen, dass er Euch und Eure Schwestern besuchen wollte und abends zurückkehren würde.“

Beauregard warf ihm einen mürrischen Blick zu und lehnte seine Schaufel an einen Verschlag. „Mein Vater wird Euch diese Sache übel nehmen, wenn er zurückkehrt. Ich sagte Euch ja bereits, dass ich nicht derjenige war, der Euch bestohlen hat.“ Mürrisch nuschelte er etwas von einem Pferd, das ihm gefolgt war.

Mr. Donovan schenkte der Drohung keine Beachtung und fügte hinzu: „Du hast eine Stelle dort in der Ecke ausgelassen, Bursche. Wenn du damit fertig bist, bringen wir dich nach Hause. Nachdem du dich gewaschen hast, versteht sich.“

„Wir?“, fragte Rose.

„Ganz richtig, a chara. Ihr könnt mitkommen, wenn ich den Knaben nach Hause zurückbringe. Dann unterhalten wir uns und Ihr dürft mich alles fragen, was Euch interessiert.“ Er holte die alte Stute Molly vom anderen Ende des Stalls herbei. „Calvert kann uns gerne als Anstandshüter begleiten.“

Mister Calvert, wenn ich bitten dürfte“, korrigierte der Lakai mit wütendem Blick. Iain schenkte dem Mann keine Beachtung.

Der Kutscher Nelson unterbrach die Pferdepflege und mischte sich ein. „Lady Rose wird nirgendwohin reiten. Schon gar nicht mit so einem wie Ihnen.“

Beim Anblick der Stute zögerte Lady Rose. „Ich weiß nicht … ich bin schon lange nicht mehr geritten, und–“. Sie stockte. Der Gesichtsausdruck ihres Dieners zeigte deutlich, dass er überhaupt keine Lust hatte, mit ihr auszureiten. Auch Nelson schien das nicht zu befürworten.

Aber schließlich war es ihre Entscheidung, oder etwa nicht?

„Es ist ja nicht weit, mein Freund, oder?“ Obwohl Mr. Donovan zu Beauregard sprach, suchte er die ganze Zeit über ihren Blick. Seine grünen Augen musterten sie interessiert und machten sie ganz verlegen. Unter seinem nassgeschwitzten Hemd zeichneten sich stahlharte Muskeln ab. Sie wurde ganz rot, als sie sich vorstellte, wie stark er wohl sein musste. Nicht einmal Lord Burkham hatte sie jemals auf diese Art angesehen … so als wollte er genau ergründen, was in ihr vorging. Diese Vorstellung machte sie nervös.

„Ungefähr drei Meilen“, hörte Rose sich selbst antworten. Ihr Verstand mahnte sie, dass es ihr nicht zustand, Beauregard nach Hause zu begleiten – nicht zusammen mit diesem fremden Iren, der sich mit seiner Flirterei höchst unschicklich benahm.

Und doch hatte sie sich in den Wochen zuvor derart eingesperrt gefühlt, dass ihr jede Gelegenheit für einen Ausflug willkommen war – auch wenn es nur darum ging, zur Abwechslung das Gelände zu verlassen. Sie hatte es satt, drinnen zu hocken und sich nicht ohne die Hilfe des missmutigen Calvert fortbewegen zu können.

„Drei Meilen sind kein weiter Weg. Und es ist ein lauer Abend.“ Mr. Donovan holte einen Sattel und fing an, Molly aufzuzäumen.

Als Nelson zu protestieren begann, hob Rose kopfschüttelnd die Hand, um dem Kutscher Einhalt zu gebieten. Es stand ihm nicht zu, ihr das Reiten zu untersagen.

Als Mr. Donovan den Sattel festgezurrt hatte, bat er den Lakai, Lady Rose zu holen. „Danach dürfen Sie wieder ins Haus gehen, wenn Sie sie nicht begleiten möchten.“

„Mit einem wie dir lasse ich sie bestimmt nicht allein“, konterte Calvert. Rose konnte seine Bedenken zwar verstehen, doch die Aussicht auf einen Ausritt reizte sie einfach zu sehr. Es war wirklich ein schöner Abend, und obwohl sie innerlich Zweifel hegte, sprach doch sicherlich nichts dagegen, ein paar Meilen weit zu reiten.

„Setzen Sie mich auf Molly“, befahl sie dem Lakai. „Ich komme schon zurecht.“

„Aber Lady Rose, das geht doch nicht!“ Calvert widerstrebte die Vorstellung sichtlich. „Ihr kennt diesen Mann nicht einmal.“

„Das mag sein“, stimmte sie zu. Aber sie wollte unbedingt mehr über ihn erfahren und wissen, warum er nach Penford gekommen war. So könnte sie sich vergewissern, ob er die Wahrheit sagte. „Du darfst uns gerne zu Pferde folgen. Sonst kann mich auch Nelson begleiten.“ Dem Kutscher schien das gar nicht zu behagen, und Calvert wirkte ebenso angespannt. „Ich kann Euch doch nicht mit dem Iren alleinlassen.“

„Dann begleite mich doch.“ Sie deutete auf die Stute. „Aber hilf mir erst auf Molly.“

Er trug sie zu ihrem Pferd hinüber, obwohl ihre Entscheidung ihm offensichtlich nicht in den Kram passte. Doch als Rose ihn mit einem scharfen Blick in die Schranken wies, setzte er sie schließlich auf den Rücken des Reittiers. Sie saß seitwärts auf und lenkte die Stute zum Ausgang. „Danke. Ich werde draußen warten, bis du dich entschieden hast, ob du dich mir selbst anschließen oder einen anderen Diener vorschicken möchtest.“

Der Lakai sah sie gequält an, nickte jedoch. „Ich kenne meine Pflichten, Lady Rose.“ Außerordentlich widerwillig ging er zusammen mit Nelson sein eigenes Pferd holen.

Mr. Donovan hakte Beauregard unter und folgte Lady Rose nach draußen. „Komm, Junge. Wasch dich, bevor du nach Hause gehst.“

Der Widerwille stand dem Jungen ins Gesicht geschrieben, doch er gehorchte. Rose lenkte ihr Pferd über den Hof in Richtung des Reitweges. Einen Augenblick später kam Mr. Donovan zusammen mit dem halbwüchsigen Beau aus dem Stall und führte ihn zum Wassertrog, wo er ihm befahl, sein Hemd auszuziehen.

Beau blickte verdrießlich drein, tat jedoch wie geheißen und wusch sich Gesicht, Arme und Oberkörper. Donovan machte das Gleiche und klatschte sich Wasser ins Gesicht und auf den Hals. Wassertröpfchen rannen ihm über die Haut, und sein Haar klebte ihm nass auf Stirn und Wangen. Als hätte er bemerkt, dass sie ihn beobachtete, wandte er sich zu ihr um und lächelte sie wieder auf diese verwegene Art an.

Rose spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Was faszinierte sie bloß so an diesem Mann? Er wirkte aufsässig wie Einer, der nur seinen eigenen Regeln gehorcht. Dennoch musste sie unwillkürlich sein Lächeln erwidern.

Sieh dich vor, dachte sie. Ihre Haut begann zu kribbeln wie unter einer unsichtbaren Berührung, als sie der Spur eines Wassertröpfchens folgte, das ihm am Hals hinab auf die Brust rann. Niemals zuvor hatte ein Mann sie derart fasziniert. Sie sollte besser den Blick abwenden, um nicht auf verdorbene Gedanken zu kommen.

Sie konnte ihre eigene Reaktion nicht fassen, denn Iain Donovan war tabu für sie. Er war nichts weiter als ein Besucher in Penford. Ihr Herz gehörte Thomas, und dies hier war nichts weiter als eine törichte Spinnerei.

Die Stute begann zu grasen, während sie wartete. Beauregard wusch sich fertig, und in der Zwischenzeit ging der Ire Calvert beim Aufsatteln ihrer Pferde zur Hand.

Dann ritt Mr. Donovan auf dem schwarzen Wallach heran, mit dem er auf Gut Penford angekommen war. Nelson führte ein zweites Pferd für Beauregard aus dem Stall und half dem Jungen beim Aufsteigen, während Calvert sich auf seinem eigenen Pferd anschloss. Mr. Donovan trieb seinen Wallach neben ihre Stute. Obwohl ihre Pferde in etwa gleich groß waren, überragte er sie immer noch bei Weitem.

„Das hier ist Darcy“, erklärte er ihr. Sie beugte sich hinüber, um das Pferd zu tätscheln, woraufhin der Wallach schnaubte.

„Er ist wunderschön.“

„Brav ist er schon, aber ich kann nicht behaupten, dass er das klügste Pferd ist, das ich je besessen habe.“ Er grinste sie verschwörerisch an. „Hat Angst vor jeder Kleinigkeit.“

„Warum habt Ihr ihn Euch dann ausgesucht?“ Schließlich würden die meisten Männer einen kräftigen Hengst bevorzugen.

„Weil ihn niemand sonst haben wollte.“ Er tätschelte dem Pferd freundschaftlich die Ganasche. Mein Darcy ist vielleicht nicht schlau wie ein Luchs, aber ein ganz Lieber.“ Dann winkte er zum Aufbruch. „Wohlan, Lady Rose.“

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Auch wenn sie nur auf dem Pferd saß, tat ihr die Bewegung unheimlich gut. Rose sog die Abendluft ein und seufzte dankbar. Einen Augenblick lang stellte sie sich vor, ihre Beine wären wieder heil, sodass sie nicht mehr von anderen abhängig wäre. Sie klammerte sich fest an diesen Traum, weil sie wusste, dass es vorbei sein würde, sobald Calvert sie wieder vom Pferd hob.

Sie kostete den Augenblick in vollen Zügen aus.

Am liebsten wollte sie ihr Pferd zu einem schnellen Ritt antreiben und den Wind im Haar spüren, doch sie beherrschte sich, damit nicht alles zu schnell vorüber wäre. Stattdessen schwelgte sie im Anblick der Umgebung und genoss das letzte Sonnenlicht des Tages. Die Schotterstraße schlängelte sich am Fluss entlang bergauf und bergab und sie spürte die Frühlingsbrise im Gesicht.

„Ihr wirkt ja ganz ausgehungert nach frischer Luft“, sagte Mr. Donovan. „Wie lange wart Ihr schon nicht mehr draußen?“

Sie reckte sich im Sattel. „Ich sitze jeden Tag im Garten.“

„Wie lange habt Ihr das Gut schon nicht mehr verlassen?“, verbesserte er sich.

„Seit wir Anfang Dezember dort ankamen.“ Da es auf dem Land nur wenige Nachbarn gab und die Familie unter sich war, hatten sie es für das Beste gehalten, Mutter hierher zu bringen, als sich ihr psychischer Gesundheitszustand verschlechterte.

Damit Mr. Donovan sie nicht weiter mit Fragen löchern konnte, tätschelte sie ihre Stute und trieb sie zum Trab an. Doch er holte sie ein: „Habt Ihr etwa Angst vor mir, Lady Rose?“

„Warum sollte ich vor einem Stallburschen Angst haben?“, konterte sie. „Ihr seid doch einer, hab ich recht? Jedenfalls scheint euch die Arbeit im Stall zu liegen.“

„Ihr wisst, dass das nicht stimmt.“ Während er neben ihr her ritt, lächelte er sie verwegen an. „Ich habe es Euch doch bereits gesagt: Ich bin der Earl of Ashton, und Eure Großmutter hat mich hierher eingeladen.“

Sie glaubte es immer noch nicht, denn in seiner Geschichte gab es einfach zu viele Ungereimtheiten. Besonders seltsam fand sie die Tatsache, dass er keine Bediensteten im Gefolge hatte. Ein Edelmann würde niemals allein zu Pferde auf einem Gutshof erscheinen, und obwohl Mr. Donovan behauptete, dass er mit seiner Kutsche verunglückt sei und seine Diener hatte zurücklassen müssen, konnte sie sich doch nicht vorstellen, dass ein Earl so etwas je tun würde. Erstens war es gefährlich und zweitens machte es überhaupt keinen Sinn.

„Meine Großmutter ist nicht hier“, erinnerte sie ihn. „Warum sollte sie Euch einladen, wenn sie gerade in Bath Urlaub macht?“

„Sie schrieb mir, dass ich dieses Jahr jederzeit gern Eure Familie besuchen dürfe. Ich habe mich angekündigt, doch scheinbar kam mein Brief nicht an.“ Sie musterte ihn erneut, um herauszufinden, ob er die Wahrheit sagte. Briefe gingen oft verloren, also war seine Aussage in der Tat glaubwürdig. Doch sie konnte sich nicht überwinden, ihm zu vertrauen. Auf jeden Fall jetzt noch nicht.

„Meine Großmutter ist nicht dumm. Wenn sie Euch das Märchen vom Earl of Ashton nicht glaubt, wird sie Euch in hohem Bogen hinauswerfen.“

„Das hättet Ihr wohl gern“ Er zuckte die Achseln. „Ihr werdet schon sehen, Lady Rose. Sie kennt mich, weil unsere Mütter befreundet waren.“

Sie glaubte ihm kein Wort. „Warum habe ich dann noch nie von Euch gehört?“

Sein Gesicht nahm einen verschlossenen Ausdruck an. „Im Gegensatz zu meinem älteren Bruder war ich noch nie in England.“

Ihr entging nicht, dass er seinen Bruder mit einem Anflug von Schwermut erwähnte, doch sie wollte dem familiären Todesfall nicht auf den Grund gehen. Allerdings kam ihr seine Behauptung, noch nie in England gewesen zu sein, absurd vor. Ein junger Mann musste doch von Zeit zu Zeit nach London reisen.

„Eure Familie hat es also versäumt, Euch auf die Rolle des Earl vorzubereiten.“

Er hielt die Zügel fest umklammert. „Das war ihre Entscheidung, nicht meine. Und ich beabsichtige, sie umgehend zu korrigieren.“ Er wandte sich zu Beauregard um. „Dieser Knabe hat den Siegelring meines Bruders gestohlen. Er weiß also ganz genau, dass ich der Earl of Ashton bin.“

Der Junge schnaubte entnervt. „Ich habe nie einen Ring gesehen. Wahrscheinlich ist er wirklich bloß ein Stallbursche. Und ich werde Vater erzählen, dass er mich zum Mistschaufeln gezwungen hat! Wenn Ihr nicht im richtigen Augenblick gekommen wärt, Lady Rose, hätte er mich am Ende noch gezwungen, die Pferdeäpfel zu fressen.“

Der Junge wollte mit der empörten Schilderung seines Unglücks wohl bei Rose Entsetzen hervorrufen, doch stattdessen lachte Mr. Donovan den Jungen aus. „Wohl kaum. Aber wenn du mir morgen Früh nicht all meine Sachen zurückgibst, werde ich es mir nochmal überlegen.“

Er zwinkerte Rose zu, und diese harmlose Schäkerei machte sie auf eine unergründliche Art nervös.

Selbst wenn er – Gott stehe ihr bei – wirklich ein Earl war, würde er doch nie im Leben seine Zeit damit vergeuden, eine Frau wie sie zu umgarnen. Es sei denn, er hatte es auf ihr Vermögen abgesehen. Ja, das musste zweifellos der Grund sein. Er kannte sie kaum, und sie konnte nicht einmal laufen. Sie beschloss, seinen sicherlich bedeutungslosen Annäherungsversuchen keine Beachtung zu schenken.

Während sie weiter den Schotterweg entlang ritten, verstummte Rose und genoss das Abendlicht. Die Farbe des Himmels ging von hellblau in einen dunkleren Indigo-Ton über. Am Horizont leuchteten die goldenen Strahlen der untergehenden Sonne.

Beauregard schien vorausreiten zu wollen, doch Mr. Donovan hielt die Zügel seines Pferdes, damit er dicht bei ihnen blieb.

„Ich kann alleine nach Hause reiten“, versicherte der Knabe. „Ich kenne den Weg.“

„Kinder haben nichts zu melden“, entgegnete Iain Donovan daraufhin bloß. Innerlich feixte Rose über Beauregards beleidigtes Gesicht.

„Ich bin kein Kind mehr.“

„Und ob du eines bist. Nur ein Kind kommt auf die dumme Idee, jemandem sein Hemd und seinen Mantel zu stehlen. Aber wenn du dich selbst für einen Mann hältst, muss ich dich den Behörden übergeben, damit du angemessener bestraft wirst.“

Rose drehte sich um und musterte Iain, um herauszufinden, ob er das wirklich ernst meinte. Doch der Schalk in seinem Blick entging ihr nicht.

„Los, dann reite neben Calvert her“, befahl er dem Burschen. „Aber versuche ja nicht, ohne uns nach Hause zu flüchten. Sonst schleife ich dich zurück.“

Für einen kurzen Moment schien Beauregard zu überlegen, ob er die Freiheit wählen sollte. Dann jedoch nutzte er Iains Angebot und lenkte sein Reittier neben den Diener. Nun konnten Rose und Iain sich halbwegs ungestört unterhalten.

„Calvert, wenn der Knabe versucht, alleine nach Hause zu reiten, bringen Sie ihn bitte zu mir zurück“, befahl der Ire. Der Lakai schüttelte nur murrend den Kopf.

„Sonderlich kooperativ ist er ja nicht gerade, stimmt’s?“, sagte Mr. Donovan. „Und Ihr, Lady Rose? Werdet Ihr mir helfen, den Jungen einzufangen, wenn er versucht auszubüxen?“ Sie wollte schon protestieren, begriff dann aber, dass er sie nur aufzog. Mit einem ernsthaften Nicken sagte sie: „Ich werde die Wölfe meines Bruders auf ihn hetzen.“

Ein breites, anerkennendes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Eine vortreffliche Idee.“

Obwohl sein Tonfall kameradschaftlich-lässig klang, suggerierte sein Blick tiefergehendes Interesse. Sie versuchte zu ignorieren, dass ihre Wangen glühten. Um seine Aufmerksamkeit abzulenken, fragte sie: „In welchem Teil Irlands lebt Ihr eigentlich, Mr. Donovan?“

„Im Westen, nicht weit von Connemara. Die Berge und grünen Wiesen dort sind herzzerreißend schön.“ Er blickte verzückt, doch sein Tonfall verriet eine gewisse Anspannung.

„Ich habe von der Hungersnot gehört“, sagte sie. „Viele sind fortgegangen. Ist es so schlimm, wie man hört?“ Seine Miene trübte sich und er heftete den Blick auf die Straße. Ein unsichtbarer Schatten schien über ihn hinweg zu gleiten, bevor er in finsterem Tonfall sagte: „Schlimmer, als man es sich überhaupt vorstellen kann.“

„Das tut mir leid.“ Sie hatte von den zahllosen Männern und Frauen gehört, die ihr Zuhause hatten zurücklassen müssen. Die Armenhäuser platzten aus allen Nähten, und viele Iren suchten vergeblich Arbeit in Textilwerken und Fabriken, weil es nicht genügend Stellen für alle gab.

„In Irland gibt es kaum mehr etwas zu essen“, fuhr er fort. „Niemand hat Geld, um sich etwas zu kaufen. Meine Mutter und meine Schwestern sind zu Verwandten nach New York gezogen, während ich hierher kam.“

„Werdet Ihr auch nach New York gehen?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich habe mein Versprechen gegeben, mich um die Pächter in Ashton zu kümmern. Wenn der Sommer vorbei ist, muss ich zu ihnen zurückkehren.“

Er blieb also bei seiner Behauptung, dass er wirklich ein Earl war. Und während es in der Tat nicht auszuschließen war, dass er einen Titel trug, war sie immer noch nicht überzeugt. Sie wollte sich lieber weiter über Dinge unterhalten, die mit Sicherheit stimmten. „Hattet Ihr Ernteausfälle?“ Er starrte weiterhin mit trauriger Miene auf die Straße. „Die Braunfäule hat uns schlimm erwischt, und das Land liegt jetzt überwiegend brach. Aber wir werden Vorräte heranschaffen und die Felder neu bepflanzen.“

„Wir?“ War er etwa in Begleitung gekommen?

„Meine Frau und ich.“ Er musterte sie erneut, und diesmal war sie diejenige, die überrascht war. Sie hatte sich wohl in ihrer Annahme getäuscht, dass er nach England gekommen war, um eine Frau zu finden.

„Nun … Ihr seid also verheiratet?“ Bei den Blicken, die er ihr immer zuwarf, konnte sie sich das eigentlich nicht vorstellen.

„Noch nicht. Aber wenn Ihr um meine Hand anhalten möchtet, a chara, werde ich den Antrag mit Freuden annehmen.“ Er lächelte sie verschmitzt an. Jetzt wirkte er nicht mehr so melancholisch wie zuvor.

Sie warf ihm einen pikierten Blick zu. „Davon kann keine Rede sein, Mr. Donovan.“ So verzweifelt war sie noch lange nicht. „Außerdem freit bereits ein Gentleman um mich.“

„Wirklich?“ Seine Miene hellte sich auf. „Ich kann nicht behaupten, dass mich das überrascht. Ein hübsches cailín wie Euch zu heiraten, ist schließlich eine Ehre für jeden Mann.“

Seine Aussage schmeichelte ihr zwar, doch sie hatte kein Interesse an sinnlosem Getändel. „Das mag sein. Trotzdem solltet Ihr Eure Aufmerksamkeit auf andere Ziele richten.“

„Ist Euer Verlobter hier?“

„Nein, er ist in London.“

„Ich halte es für nicht sehr klug, eine schöne junge Frau wie Euch den hiesigen Bauernburschen zu überlassen. Vielleicht solltet Ihr Euch das mit der Heirat lieber noch einmal überlegen.“

Sie hatte keine Lust klarzustellen, dass Lord Burkham noch nicht um ihre Hand angehalten hatte. Vielleicht würde es ohnehin bald soweit sein. Sie würde sich nicht von bedeutungslosen Komplimenten einlullen lassen, wenn es viel ernstere Dinge zu besprechen gab.

„Ihr beabsichtigt also, mit der Hilfe meiner Großmutter eine Braut zu finden, richtig?“ Rose hätte gerne gewusst, welchen Frauentyp er zu erobern hoffte. Er würde es nicht leicht haben, denn nur wenige Frauen wünschten sich einen Ehemann, der es nur auf ihr Geld abgesehen hatte – höchstens die ganz Verzweifelten. Irland lag in Trümmern, und es gab wohl keine Frau, die gerne dort leben wollte.

„In der Tat. Es sei denn, Ihr überlegt es Euch noch einmal.“ Er griff nach ihrer Hand, an der sie einen Handschuh trug, und hielt sie eine ganze Weile, bis das Ziegenleder warm wurde. Dann blickte er ihr tief in die Augen, und sie ertappte sich bei dem abenteuerlichen Gedanken, dass er sie vielleicht gleich küssen würde. Direkt hier, vor ihrem Diener und Beauregard.

„Behaltet Eure Hände bei Euch, Mr. Donovan. Sonst sehe ich mich gezwungen, Euch mit einem Sonnenschirm zu verhauen.“

„Warum nicht gleich mit einem Rechen?“, frotzelte er mit einem Augenzwinkern. Erleichtert stellte sie fest, dass er sie lediglich aufzog.

„Mit Gartenwerkzeugen könnte es tödlich enden. Malt Euch besser nicht aus, was ich mit einer Schere alles anstellen könnte.“

Er zuckte zusammen und machte ein erschrockenes Gesicht. „Ihr macht mir Angst.“

Ihr Lächeln wurde breiter. „Gut so. Ich kann sehr kratzbürstig werden, wenn man mich reizt.“

„Das glaube ich gern.“ Er fixierte sie mit seinen grünen Augen. „Ihr seid eine starke Frau, Lady Rose. Eher würdet Ihr allen Leuten befehlen, dem Teufel den Hintern zu küssen, als Eure Familie oder Leute, die auf Euch angewiesen sind, im Stich zu lassen. Oder etwa nicht?“

Im ersten Moment war Rose verwundert über seine Annahme. Nein, er irrte sich nicht. Sie würde ihr Leben aufs Spiel setzen, um ihre Liebsten zu beschützen. „Es stimmt, dass ich meine Familie immer unterstützen werde.“ Sie setzte sich im Sattel auf und betrachtete ihn. Obwohl sie nicht wusste, warum sie ihm das eigentlich erzählte, war ihr doch wichtig zu betonen: „Aber noch mehr kämpfe ich dafür, wieder laufen zu können.“

Er musterte sie einen Augenblick lang, so als wollte er Fragen stellen. Stattdessen nickte er nur zustimmend. „Das werdet Ihr schon schaffen.“

Eigentlich hätte ihr seine gelassene Zuversicht Mut machen sollen, doch stattdessen vertraute sie ihm plötzlich an: „Mir ist wohl bewusst, dass kein Mann eine Frau heiraten möchte, die nicht laufen kann. Ich versuche es seit Monaten, aber trotz aller Anstrengung falle ich immer wieder hin. Jedes Mal. Ich … weiß einfach nicht, wie lang es dauern wird, bis ich meine alte Kraft wiederhabe.“

„Ihr müsst einfach immer wieder aufstehen und es von Neuem versuchen“, sagte er. „Wenn der Wunsch nur stark genug ist, kommt Aufgeben nicht infrage.“

Sie wandte sich ihm zu. Als ihre Blicke sich trafen, bemerkte sie, dass er sie herausfordernd ansah. „Ihr habt recht. Ich schätze, ich muss es weiter versuchen – egal, wie lange es dauert.“

Kapitel drei

Nachdem sie den grimmigen Master Beauregard nach Hause gebracht hatten, geleitete Iain Lady Rose zurück nach Penford. Es stimmte, was der Junge gesagt hatte: Sein Vater war nicht zu Hause. Iain erfuhr von Rose, dass Beaus Mutter vier Jahre zuvor gestorben war und dass Beau sich danach zu einem wahren Satansbraten entwickelt hatte.

Obwohl der Junge bereits für den Diebstahl gebüßt hatte, war Iain noch nicht zufrieden. Er wollte seine restlichen Habseligkeiten zurück – doch dafür musste er wahrscheinlich erst den zweiten Jungen ausfindig machen.

Lady Rose war verstummt und hatte ihr Tempo verlangsamt, um eine Weile die Umgebung betrachten zu können. „Ihr solltet jeden Tag Reiten gehen“, schlug Iain vor. Diese Freiheit würde ihr ungeheuer gut tun. Er konnte sich nicht vorstellen, der Willkür anderer Leute ausgeliefert zu sein.

„Meine Schwester ist besorgt, dass ich vom Pferd fallen und mich noch schlimmer verletzen könnte.“ Sie wandte sich zu Calvert um. Der in die Jahre gekommene Lakai blickte resigniert und schien den kurzen Ausflug nicht gerade zu genießen.

„Ja, die Gefahr besteht. Aber ich denke trotzdem, dass es allemal besser ist, Penford ab und an zu verlassen und sich frei bewegen zu können. Und statt des miesepetrigen Calvert könntet Ihr einen Stallburschen mitnehmen.“

Sie musterte ihn von der Seite. „Meint Ihr damit Euch selbst?“

Er zuckte die Achseln. „Ich bin kein Stallbursche, aber wenn Ihr mich gerne auf Euren Ausritten dabeihaben möchtet, passe ich selbstverständlich auf Euch auf.“ Natürlich wusste er, dass in diesem Falle eine Anstandsdame mitkommen müsste.

„Ich brauche keine Gefälligkeiten von Euch, Mr. Donovan“, erwiderte Rose.

„Lord Ashton“, verbesserte er. Obwohl sie hartnäckig glaubte, dass er ein Lügner und Bettler war, sah er davon ab, sie eines Besseren zu belehren. Es spielte keine Rolle, dass sein verwahrlostes Erscheinungsbild ganz und gar nicht dem eines Earls entsprach. Und ebensowenig zählte, dass seine Mutter nichts mit ihm zu tun haben wollte und ihn am liebsten vor aller Welt versteckt hielt. Er war ihr jüngster Sohn und der Erbe von Gut Ashton.

Lady Ros’ Seufzer offenbarte, dass sie das immer noch bezweifelte. Doch er wollte nicht seine Zeit vergeuden – die Wahrheit würde für sich sprechen.

Als sie Penford erreichten, hielt Iain sein Pferd an und zügelte auch ihres. „Soll ich Euch beim Absteigen helfen?“

„Lasst sie in Frieden!“, motzte Calvert. „Ich kenne meine Pflichten, und Ihr solltet die Finger von Lady Rose lassen.“

Iain neigte den Kopf und fragte: „Soll ich heute Nacht im Stall schlafen, Lady Rose?“ Diese Vorstellung gefiel ihm zwar ganz und gar nicht, aber zu dieser späten Stunde wäre das allemal besser, als bei Fremden im Dorf Unterschlupf zu suchen.

Er suchte noch ein letztes Mal mit den Augen die Straße nach seinen Dienern ab, die wahrscheinlich längst über alle Berge waren. Doch es war niemand in Sicht. Am Morgen würde er die Stelle aufsuchen müssen, wo die Achse seiner Kutsche gebrochen war. Wenigstens würden sich so einige Dinge klären.

Irgendeine Regung huschte über Rose’ Gesicht, doch er konnte nicht ergründen, was es war. Calvert war zwischen die beiden getreten, um sie vom Pferd zu heben. „Belästigt die Lady nicht mit Dingen, mit denen sie nichts zu tun hat. Schert Euch fort und sucht Euch einen Schlafplatz im Dorf.“

Doch Lady Rose hob die Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. „Ich schätze, ich habe sehr wohl damit zu tun.“ Dann musterte sie Iain noch einmal kritisch. „Bei den Dienern ist sicherlich noch ein Platz frei.“

Calvert wirkte entsetzt über diese Vorstellung. „Das meint Ihr doch nicht etwa ernst, Mylady? Wir kennen den Mann überhaupt nicht.“

„Sperr ihn doch einfach in einer Kammer ein“, schlug sie vor. Iain entging der Anflug von Belustigung in ihrer Stimme nicht. „Oder leg dich mit einem geladenen Revolver vor seine Tür, wenn dir dann wohler ist.“

Ihr Lakai begriff nicht, dass sie ihn aufzog, und schien diese Idee tatsächlich in Erwägung zu ziehen. Iain selbst war jeder Schlafplatz recht, solange es dort nicht nach Pferdemist stank.

Als sie einen Entschluss gefasst hatte, fuhr Lady Rose fort: „Trag Mrs. Marlock auf, Mr. Donovan in einer ihrer Mansarden unterzubringen. Er soll nicht bei den Pferden schlafen müssen.“

Sichtlich genervt versprach der Diener, mit der Haushälterin zu sprechen. Doch der Blick, den er Iain zuwarf, verriet, dass er ihn am liebsten zu den Schweinen geschickt hätte.

„Also glaubt Ihr mir nun?“, fragte er Lady Rose, bevor Calvert sie forttragen konnte. Sie schaute ihm lange in die Augen. „Ich weiß nicht, was ich glauben soll.“ Dann wandte sie mit sanfterer Stimme ein: „Allerdings merke ich, dass Ihr etwas an Euch habt, das nicht jeder versteht. Ich hoffe, mein Gespür täuscht mich in dieser Hinsicht nicht.“

Als sie mit ihrem Lakai fortging, wurde Iain voller Demut bewusst, dass sie die erste Person überhaupt war, die an ihn glaubte. Und er wollte sie nicht enttäuschen.

 

***

 

Fast eine Stunde später führte Mrs. Marlock ihn hinauf in eine der Mansarden, die weit entfernt vom Haus lagen. Sie mahnte ihn zudem, dass sie beabsichtigte, die Tür hinter ihm abzusperren. „Damit dir nich einfällt, zu uns zu kommen und uns im Schlaf bis aufs Hemd auszurauben.“

Ihm kam das alles wie ein absurdes Märchen vor: Der eingesperrte Earl im Tower. Jetzt fehlte nur noch die Prinzessin, die kommen würde, um ihn zu retten.

Dies war sicherlich der strapaziöseste Tag seines bisherigen Lebens gewesen. Er hatte sich bemüht, seine Wut zu beherrschen – seine Gastgeber waren ihm gegenüber schließlich schon misstrauisch genug –, doch als er nun einen Augenblick lang über seine Situation nachdachte, konnte er seinen Frust nicht länger leugnen. Nichts war nach Plan verlaufen. Sollten seine Diener und Niall sich doch zum Teufel scheren! Ohne seine Kutsche und sein Gefolge war alles aussichtslos.

Also was nun? Lady Wolcroft war nicht zugegen und er hatte weder den Brief mit seiner Einladung noch seinen Siegelring. Vielleicht hätte man ihm seine Geschichte geglaubt, wenn Lady Wolcroft alle über sein bevorstehendes Kommen informiert hätte. So jedoch hielt ihn jeder höchstens für einen Bettler, der sich gewählt ausdrücken konnte.

Iain zündete einen Kerzenstummel an und blickte sich um. Auf Gut Ashton sah es jedenfalls anders aus. Das Haus seines Vaters konnte mit siebenundzwanzig Zimmern aufwarten, und in seinem eigenen Schlafgemach gab es ein riesiges Bett aus Mahagoniholz.

Seine Schlafstatt in dieser Kammer war im Augenblick von einer Katze besetzt, die offensichtlich gar nicht scharf darauf war, ihren Platz zu räumen. Der Stubentiger gähnte, streckte sich und wetzte sich am Bettbezug die Krallen. Sei’s drum. Es wäre ja nur für diese eine Nacht, im schlimmsten Fall eine mehr. Und es war immer noch um Längen besser als der Stall.

Iain zog Mantel und Hemd aus und setzte sich dann neben die Katze, um die Schuhe auszuziehen, die Mrs. Marlock ihm geliehen hatte. Obwohl er sich am Trog gewaschen hatte, sehnte er sich nun nach simpler Seife und warmem Wasser. Immerhin hatte Mrs. Marlock ihm noch einen Knust Brot mit ein wenig Käse als Nachtmahl gegeben.

Nachdem er gegessen hatte, krabbelte die Katze auf seinen Schoß. Iain streichelte ihr eine Weile die Ohren und ein tiefes Schnurren erfüllte den leeren Raum. Im Kamin brannte kein Feuer, doch es war warm im Zimmer – wenn auch etwas staubig. Iain vermutete, dass er den Raum in drei großen Schritten durchqueren könnte. Der Kerzenschein warf Schatten an die Wand und er erblickte einen Stoß alter Gemälde am anderen Ende des Raumes, die halb von einem weißen Tuch verdeckt waren. Sonst befanden sich in der winzigen Kammer nur Besen und Blecheimer.

Iain streifte sein Hemd ab und streckte sich auf der schmalen Liege aus. Er versuchte zu überlegen, wie er seine Identität beweisen könnte. Entweder musste er herausfinden, welcher der Jungen ihm seinen Ring gestohlen hatte, oder sich auf Lady Wolcrofts Hilfe verlassen. Auf jeden Fall musste er Beauregard noch einmal befragen. Als er es zuvor im Stall versucht hatte, hatte der Bursche keinen Ton gesagt. Allmählich wollte Iain all seine gestohlenen Besitztümer wiederhaben.

Er lag wach und versuchte, die düsteren Gedanken an die Hungersnot zu verdrängen. Nach der ersten ausgefallenen Kartoffelernte hatte er heimlich begonnen, Essen für seine Familie und die Pächter zu horten. Wohldosierte Rationen hatten sie bisher am Leben erhalten, doch sie brauchten dringend Nachschub.

Doch er wollte sich Gut Ashton lieber in voller Blüte vorstellen, anstatt sich über die Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen – höchstens darüber, wie er alles wiedergutmachen könnte. Schließlich hatte er Michael versprochen, dass er die Dinge in die Hand nehmen würde, während seine Mutter einfach aus Irland geflohen war und nie mehr zurückkehren wollte. Sie hatte keine Sekunde geglaubt, dass Iain Erfolg haben würde, und er vermutete, dass sie ihre gesamte Energie darauf verwendete, ihre Töchter mit amerikanischen Millionären zu verheiraten. Er hatte schon seit einem halben Jahr nicht mehr mit ihr gesprochen und bezweifelte stark, dass er sie je wiedersehen würde. Sie ertrug seinen Anblick ohnehin nicht, obwohl ihm die Gründe dafür schleierhaft waren. In ihren Augen war Michael immer der unfehlbare Heilige gewesen, an dem jeder sich ein Beispiel nehmen sollte – Iain hingegen der niederträchtige Sünder.

Seine Mutter würde sicherlich die Tatsache billigen, dass er hier in den Stand der Diener gefallen war. Aber dieser Zustand würde nicht lange anhalten. Er freute sich schon sehr auf Lady Rose’ Reaktion, wenn sie erfahren würde, dass er tatsächlich ein Earl war.

Er fand sie unterhaltsam und hatte ihre Gesellschaft bei dem Ausritt genossen. Nachdem sie Beauregard nach Hause gebracht hatten, hatte Lady Rose ihr Pferd in einen langsamen Schritt gebracht, um in Ruhe die Abendstimmung zu genießen.

Ihm war bewusst, dass dies ihre einzige Gelegenheit war, sich einmal ganz frei zu bewegen. Er hatte nirgendwo einen Rollstuhl gesehen und fragte sich, warum sie sich lieber darauf verließ, von Dienern getragen zu werden. Zuvor im Garten war es ihr nicht gelungen, alleine aufzustehen. Mied sie den Stuhl etwa, weil sie nicht das Gefühl haben wollte, daran gefesselt zu sein?

Obwohl sein Vorschlag zu heiraten eher ein Spaß gewesen war, fand er ihn keineswegs abwegig. Lady Rose faszinierte ihn. Sie hatte ein reizendes Gesicht und ihre Schlagfertigkeit gefiel ihm. Doch wenn sie bereits vergeben war, würde er ihren Willen respektieren. Es war jedoch durchaus möglich, dass sie zu Verbündeten werden und einander unterstützen könnten.

Während er weiter in Gedanken schwelgte, streckte er sich auf der dünnen Matratze aus und lauschte den Geräuschen des alten Hauses. Vor der Tür hörte er, wie jemand leise die Treppe heraufkam. Angespannt wartete er auf ein Klopfen.

Als niemand kam, stand er auf und ging an die Tür. „Wer ist da?“

Wieder nichts.

Ohne sich die Mühe zu machen, sein Hemd anzuziehen, drückte er die Türklinke herunter und war überrascht, wie leicht sich die Tür öffnen ließ. Mrs. Marlock hatte den Schlüssel eingesteckt, doch entweder hatte sie es versäumt abzuschließen oder nur so getan als ob.

Iain drückte die Tür sanft auf und sah, wie eine grau gekleidete Gestalt die schmale Treppe hinunterging. Er folgte ihr heimlich auf leisen Sohlen. Bald merkte er, dass es Lady Penford war, die schlafwandelte.

„Geht es Euch gut, Lady Penford?“, fragte er sanft in der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie schwankte ein wenig, schien ihn jedoch nicht zu hören. Langsam ging sie weiter auf den Treppenabsatz des zweiten Stocks zu. Am Ende befand sich eine Balustrade, von der aus die Treppe weiter nach unten führte. Sie hob ein Bein, um über das Geländer zu klettern.

„Halt!“, rief er. Es war ihm egal, wer ihn hören konnte. Er rannte auf sie zu, denn ihm war bewusst, dass sie in ihren Visionen gefangen war. Als sie sich auf die Balustrade hievte, wiederholte er: „Lady Penford, rührt Euch nicht vom Fleck!“

Da hielt sie inne und wandte sich zu ihm um. Ihre Augen blickten ins Leere, ihr Gesicht war totenbleich. Ihr langer, heller Haarzopf baumelte über eine Schulter und ihr grauer Umhang klaffte auf.

Er hätte sie packen und von der Brüstung zerren können, doch wenn sie schrie, würde womöglich das ganze Haus aufwachen und glauben, dass er sie angegriffen hätte. Nein – das sollte er nur tun, wenn es nicht anders ging. Er war ihr nahe genug, um sie notfalls zu fassen zu kriegen.

Scheinbar war sie schon so weit abgedriftet, dass er mit Vernunft nicht mehr zu ihr durchdringen konnte. Iain überlegte fieberhaft, wie er sie daran hindern könnte, sich in den ersten Stock hinabzustürzen.

„Die Wölfe“, flüsterte er.

Kaum hatte er die imaginären Raubtiere erwähnt, zuckte sie zurück und blickte erschrocken. „W-wo?“

Er trat neben sie und deutete ins untere Stockwerk. „Seht Ihr sie etwa nicht?“

Sie begann zu zittern und nahm ihr Bein von der Balustrade. „Oh nein, Ihr habt recht. Sie lauern dort unten auf mich.“

Er atmete erleichtert auf. Es scherte ihn nicht, dass er gelogen hatte. Eine Magd kam angerannt, gefolgt von einer anderen jungen Frau, die Rose ähnelte. „Was ist hier los, Mutter?“, fragte sie forsch.

Lady Penford blickte ihre Tochter überhaupt nicht an, sondern senkte nur den Kopf. Sie presste die Handflächen zusammen, während Iain der älteren Dame nicht von der Seite wich. Ihr Geisteszustand war labil und er wollte nicht riskieren, dass sie zu fliehen versuchte.

„Lily“, hauchte sie. „Ich finde, du hättest dein Schlafgemach nicht verlassen sollen. Nicht zu solch später Stunde und besonders nicht jetzt, da ein Gentleman unter uns ist.“

Lady Lily betrachtete Iain mit ernsthaftem Misstrauen. Sie wirkte nicht überrascht, dass er im Haus untergebracht war – wahrscheinlich hatte ihre Schwester ihr davon erzählt –, und doch beäugte sie ihn finster mahnend. Die Katze tappte hinter ihm die Treppe hinunter und näherte sich, um ihm um die Beine zu streichen. Der Stubentiger stupste an sein Knie und Iain hob das Tier hoch und streichelte seine Ohren.

„Ich habe Lady Penford nur gesagt, dass es keine kluge Idee sei, über das Geländer zu klettern“, sagte er. Die junge Frau zuckte merklich zusammen und eilte zu ihrer Mutter. „Mutter, ich bitte dich. Lass mich dich in dein Zimmer zurückbegleiten. Es ist schon spät.“

„Sofort“, versprach sie. Ihre Stimme klang erschöpft und sie musterte Iain erneut. Er streckte ihr den Arm zum Geleit hin, doch sie machte nur ein verwirrtes Gesicht. „Danke, dass Ihr mich vor den Wölfen gerettet habt, Sir.“

„Überhaupt nichts zu danken, Lady Penford.“

„Aber wieso tragt Ihr kein Nachtgewand? Euer Erscheinungsbild ist ausgesprochen unangebracht.“

„Ich hatte mich bereits schlafengelegt, als ich hörte, dass Ihr Hilfe braucht“, sagte er. „Mir blieb keine Zeit zum Anziehen.“ Die Frau sollte doch froh sein, dass er wenigstens eine Hose trug. Viel lieber schlief er nämlich ganz ohne einengende Kleidung.

„Nun, achtet bitte in Zukunft darauf, angezogen zu sein. Meiner Tochter sollte … so etwas … nicht zugemutet werden“, sagte sie abschließend und nahm Lady Lilys Hand.

Die Wangen der jungen Frau erröteten, doch sie benahm sich, als wäre er voll bekleidet. Diskret warf sie ihm einen dankbaren Blick zu. „Ich bringe dich jetzt in dein Zimmer zurück, Mutter.“

„Und was ist mit Lady Rose?“, fragte er.

„Seid unbesorgt. Sie schläft tief und fest in ihrem eigenen Gemach.“ Mit diesen Worten brachte sie ihre Mutter zurück, gefolgt von der Magd. Die Katze trottete ihnen hinterher, sodass Iain allein auf dem Treppenabsatz zurückblieb.

Iain wartete einen Augenblick, um sicherzugehen, dass die Frauen wohlbehalten ihre Gemächer erreichten. Er wollte gerade zurück nach oben gehen, als er eine leise Stimme vernahm. „Mr. Donovan.“ Als er dem Geräusch nachging, entdeckte er eine halboffene Tür am Ende des Flurs. Im Zimmer fand er Lady Rose auf dem Boden vor. „Geht es meiner Mutter gut?“

„Ja. Lady Lily hat sie in ihr Gemach zurückgebracht.“ Er ging in die Hocke und fragte: „Soll ich Euch aufhelfen oder lieber einen Lakai rufen?“ Scheinbar hatte sie sich über den Boden geschleppt, um die Tür zu erreichen.

„Nein, danke“, antwortete sie. Sie stemmte sich mit ihrem vollen Gewicht auf die Ellbogen, um sich aufzusetzen und an die Tür zu lehnen. Iain missfiel die Tatsache, dass sie sich so weit durch den Raum geschleppt hatte. Da jemand sie zurück ins Bett bringen müsste, fragte er: „Was ist mit Eurer Zofe?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, noch nicht. Bleibt hier und beantwortet meine Fragen.“

Iain spähte zur Tür und setzte sich dann ihr gegenüber auf den Boden. Obwohl ihr Anliegen absolut unangebracht war, konnte er es doch nachvollziehen. Eine Unterhaltung war schließlich nichts Schlimmes, auch nicht zu sehr später Stunde. Dennoch schuf die Tatsache, dass er kein Hemd und Lady Rose nur ihr Nachthemd trug, eine unterschwellige Intimität.

Sie wurde ernst. „Was ist meiner Mutter widerfahren?“, fragte sie. „Erzählt mir alles.“

„Sie hat versucht, über das Geländer zu klettern“, sagte er. „Ich weiß nicht genau, was sie vorhatte, aber sie hat die Gefahr nicht erkannt.“

Lady Rose schauderte. „Du lieber Gott, bin ich froh, dass Ihr zur Stelle wart, um sie zu retten.“

Er empfand das Gleiche, nickte jedoch nur. Hätte er nicht Lady Penfords Schritte auf der Treppe gehört, wäre die alte Dame abgestürzt und hätte sich das Genick gebrochen.

Mit leiser Stimme offenbarte Rose: „Wir mussten … London verlassen. Wegen Mutters Krankheit.“ Sie blickte an ihm vorbei, so als wäre ihr das Geständnis peinlich. „So konnten wir am besten verheimlichen, was los war.“

Dafür hatte er volles Verständnis. „Wie lange dauert ihr Zustand schon an?“

Rose rang die Hände. „Seit fast einem Jahr. Nach dem Tod meines Vaters war sie wie ausgewechselt. Ich weiß, dass wir einen Arzt aufsuchen sollten, aber ich habe Angst, dass er sie dann in eine Anstalt steckt. Man würde sie einsperren oder ihr Laudanum verabreichen, damit sie die ganze Zeit schläft. So ein Leben verdient sie nicht.“

„Ihr solltet eine Pflegerin für sie einstellen und nachts ihr Schlafgemach absperren. Das wäre sicherer.“

Lady Rose nickte und schaute ihn an. „Ich weiß, dass Ihr recht habt. Doch bisher nahm ich an, dass sie nicht in Gefahr wäre. Da habe ich mich scheinbar getäuscht.“ Sie rückte ihren Überwurf zurecht, um den Blick auf ihr Nachthemd zu kaschieren.

„Wenn es nicht so unerhört wäre, würde ich Euch bitten, mich ins Bett zu bringen“, sagte sie vorsichtig. Ein spöttischer Ausdruck huschte über ihr Gesicht. „Aber das muss ich dann wohl selbst tun.“

„Denkt Ihr wirklich, dass ich das zulassen werde?“ Er wollte ihr unbedingt helfen, wusste jedoch, dass er danach sofort gehen müsste. Und im Augenblick wünschte er sich, noch ein paar Minuten mehr mit Lady Rose verbringen zu können.

„Klingelt einfach nach Calvert“, bat sie. „Er wird mir helfen.“

„Eher rufe ich die Dämonen der Hölle an.“ Er zog die Knie an, um so zu tun, als beabsichtige er, weiterhin auf dem Boden zu sitzen.

„Calvert ist gar nicht so übel. Und wenigstens kann ich mich darauf verlassen, dass er mich trägt. Er ist alt genug, um mein Vater zu sein.“

„Großvater“, verbesserte Iain. „Und er ist so verbiestert wie ein kastrierter Hahn unter lauter Hennen.“

„Ganz genau.“ Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr Lachen zu unterdrücken. Als sie ihre Belustigung wieder unter Kontrolle hatte, nahm sie ihn in Augenschein. „Warum seid Ihr fast jedes Mal halbnackt, wenn ich Euch begegne, Mr. Donovan?“

Mit einem Blick auf den biederen Überwurf, in den sie vom Kinn bis zu den Knöcheln eingehüllt war, grinste er sie schelmisch an. Das sackartige Rüschengewand erinnerte an eine Ritterrüstung. „Und wieso seid Ihr jedes Mal voll angezogen, wenn ich Euch begegne, Lady Rose?“

Sie lachte wieder, und er hatte das Geräusch bereits liebgewonnen. Einen Moment lang blieb er ihr gegenüber sitzen, und allmählich baute sich Spannung zwischen ihnen auf. Ihm gefiel, wie ihr geflochtenes braunes Haar über eine Schulter fiel und ein paar rötliche Strähnen ihr Gesicht umrahmten. Sie hatte die Beine unter dem Körper angewinkelt und wirkte in ihrem schneeweißen Gewand wie ein Engel.

Er spürte ein teuflisches Verlangen, sich vornüber zu beugen und ihre sagenhaften Lippen zu küssen. Er wollte sie auf seinen Schoß ziehen und ihre liebliche Haut schmecken. Und wäre er ganz kühn, würde er ihren Überwurf zur Seite schieben und eine Spur über den dünnen Musselinstoff bis hinunter zu ihren Brustwarzen küssen, die sich unter seinen Lippen verhärten würden. Welch eine Wonne es wäre, ihr Verlangen zu wecken!

Er musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht vollends die Beherrschung zu verlieren. „Streckt die Arme aus, damit ich Euch zurück ins Bett tragen kann.“

Er stützte sich auf ein Knie und streckte die Hände nach ihr aus, doch sie wich vor ihm zurück gegen den Türrahmen. „Ihr wisst genau, dass das unerhört wäre, Sir.“

Das stimmte zwar, doch Iain scherte das wenig. Ohne ein weiteres Wort hob er sie hoch und stand auf. Ihr widerstrebte seine Initiative, doch er sah wirklich keinen Grund, den kaltherzigen Calvert zu bemühen.

„Mr. Donovan, bitte, Ihr könnt nicht–“

Sie hatte den Satz noch nicht vollendet, da lag sie bereits wieder im Bett. „Möchtet Ihr, dass ich Euch zudecke?“

„Das schaffe ich schon“, knirschte sie. „Und jetzt fort mit Euch, sonst glauben meine Diener noch, dass wir hier ein Schäferstündchen halten.“

Im Augenblick klang das ungeheuer verlockend. Er konnte sich sehr gut vorstellen, auf ihr zu liegen und seine Erektion zwischen ihre Schenkel zu schmiegen. Inzwischen musste er seine gesamte Willenskraft aufbringen, um sein Verlangen zu unterdrücken. „So, würde Euch das etwa gefallen?“ Er behielt einen scherzhaften Ton bei, gab sich jedoch sonst keine Mühe zu verbergen, wie sehr er sich zu ihr hingezogen fühlte.

„Redet keinen Unsinn. Ihr habt mir ins Bett geholfen und jetzt könnt Ihr gehen.“

Als er die Decke über sie breitete, spürte er deutlich ihre Körperwärme. Er setzte sich auf die Bettkante und deckte sie fest zu. „So, jetzt. Wie wäre es mit einer Gutenachtgeschichte?“, raunte er in verruchtem Tonfall, was ihm einen wütenden Blick einbrachte.

„Raus. Jetzt.“ Sie war sichtlich aufgebracht. „Wo ist mein Laubrechen, wenn ich ihn brauche?“ Stattdessen griff sie sich eins ihrer kleineren Kissen und hielt es wie einen Schutzschild vor den Körper.

Doch ihrer Drohung zum Trotz verriet ihr Blick noch etwas anderes. Nicht Furcht oder Abscheu – sondern ebenfalls Anziehung. Im schummrigen Kerzenlicht des Raumes ruhten ihre braunen Augen auf ihm, als würde sie alles andere ausblenden. Anstatt sich vor ihm zu verkriechen, beugte sie sich mit ihrem Kissen nach vorn.

Diese Einladung würde er nicht ablehnen. „Ich weiß, was uns noch fehlt, a chara. Ein Gutenachtkuss.“

Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Und doch ließen ihre Hände das Kissen locker, während sie sich auf den Handgelenken abstützte. Sie wirkte überhaupt nicht wie eine Dame, die sich vor einem kleinen Kuss zierte. Stattdessen stand ihr Mund leicht offen und ihre Wangen waren gerötet.

„Ganz gewiss nicht. Ich werde schreien, wenn Ihr es auch nur versucht.“

Er war überaus verlockt, sich nach vorne zu beugen und auszunutzen, wie sie sich ihm darbot. Wie wäre es wohl, ihren weichen Körper an seinem zu fühlen, über ihren Rücken zu streicheln? Würde sie die Arme um seinen Hals schlingen und sich ihm öffnen wie eine Sommerblüte?

Iain rückte ein wenig näher und beobachtete dabei ihre Reaktion. Einen Augenblick lang verharrte sie in ihrer Position. Doch statt Begierde gewahrte er nun die ersten Anzeichen von Angst in ihren Augen.

Bevor sie erneut protestieren konnte, küsste er sie auf die Stirn. „Angenehme Träume, Lady Rose.“ Dann wandte er sich zum Gehen. Zwar hatte er sich den Kuss ganz anders vorgestellt, doch immerhin würde sie ihm auf diese Weise nicht böse sein.

Allerdings täuschte er sich. In der Tat schien es sie zu ärgern, dass er ihr nicht doch einen richtigen Kuss gestohlen hatte. „Ihr seid ein armseliger Kerl“, teilte sie ihm mit, als er auf ihre Schlafzimmertür zuschritt. In einer Hand hielt sie immer noch das Kissen.

Grinsend zögerte er einen Moment. „Wie bitte?“ Dann hob er eine Hand ans Ohr und sagte: „Ihr möchtet Euch also dafür bedanken, dass ich Euch ins Bett gebracht habe? Na dann – es war mir ein Vergnügen, a chara.“

Sprach’s, und schloss leise die Tür hinter sich. In der nächsten Sekunde hörte er, wie das Kissen mit einem leisen, dumpfen Laut auf dem Holz aufschlug.

 

***

 

Der Morgen graute bereits, doch Rose lag hellwach im Bett, während ihre Gedanken unaufhörlich kreisten. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt geschlafen hatte. Sie konnte nicht fassen, was Mr. Donovan sich ihr gegenüber herausgenommen hatte – und das auch noch mit nacktem Oberkörper. Als er sich zu ihr gebeugt hatte, um sie zu küssen, hatte sie die Hitze seines maskulinen Körpers deutlich gespürt und prompt eine Gänsehaut auf den Armen bekommen. Immer wieder schalt sie sich selbst, dass sie nicht einen ihrer Diener herbeigerufen hatte. Wenn sie nur die Stimme erhoben hätte, wäre jemand gekommen.

Doch das hatte sie nicht getan. Rose schloss die Augen und spürte, wie ihre Wangen vor Scham glühten. Der Kuss hatte sich in ihre Haut eingebrannt und wirkte immer noch nach. Obwohl er lediglich mit dem Mund ihre Stirn berührt hatte, konnte sie nicht aufhören darüber nachzudenken, was dieser Kuss in ihr ausgelöst hatte – er war beinahe liebevoll gewesen.

Du hast nicht geschrien. Du hast ihm erlaubt, dich zu küssen.

Sie vergrub ihr Gesicht im Kissen. Der sündige Moment belastete sie. Lord Burkham hatte ihr Briefe geschrieben, ihr in freundlichen Worten versprochen, standhaft zu bleiben und ihr seine Zuversicht auf ihre Genesung ausgedrückt.

Wie hatte sie sich bloß dazu hinreißen lassen können, das zu vergessen?

Sie hätte ihren Gedanken niemals erlauben dürfen, sich auf einen anderen Mann zu richten. Der Ire hatte ihr geschmeichelt und dafür gesorgt, dass sie sich begehrenswert fühlte. Und obwohl es bei dem Kuss auf die Stirn geblieben war, hatte sie sich doch nach mehr gesehnt.

Das war es, was sie am meisten wurmte – ihre eigenen heimlichen Gefühle belasteten sie inzwischen.

Ihr verräterischer Verstand hatte schon mit dem Gedanken gespielt, wie es wohl wäre, von ihm auf die Lippen geküsst zu werden. Hätte er sich ihrer wie ein Wüstling bemächtigt, sie geküsst, bis sie der Verführung nachgegeben hätte? Oder hätte er es bei unschuldigen Küssen belassen wie Lord Burkham? Thomas hatte ihr bislang nur ein paarmal die Hand geküsst und ihr einmal draußen bei einem Spaziergang einen Kuss auf den Mund gegeben. Nie hatte er sie zu mehr gedrängt.

Anders der Ire. Sie vermutete, dass er von ihr Gefügigkeit fordern würde, wenn sie nur den flüchtigsten Kuss zuließe. Die ganze Nacht hatte sie von ihm geträumt und sich vorgestellt, wie sein Mund ihre Haut berührte.

Genug. Rose ballte über der Decke die Fäuste, weil ihr bewusst war, dass solche Gedanken nichts Gutes verhießen. Sie seufzte und stemmte sich in Sitzhaltung hoch. Auf dem Tisch neben ihr lag eine Glocke, mit der sie Hilfe herbeirufen konnte. Doch sie hatte es satt immer zu warten, bis ihr jemand half. Sie wollte eigenständig sein.

Sie schob mit den Händen ihre nutzlosen Beine über die Bettkante und bereitete sich innerlich vor. Ich werde wieder gesund. Innerhalb von sechs Monaten hatte sie sich von der grausamen Krankheit erholt, die sie unempfindsam und bewegungsunfähig gemacht hatte. Kaum zu fassen, dass Nahrung ihren Körper derart vergiftet hatte, dass sie sich nun nicht mehr rühren konnte.

Doch sie würde weiterhin ihre täglichen Ausflüge in den Garten machen, um frische Luft und Sonnenschein zu genießen – egal, wie lange es dauern würde. Es frustrierte sie, dass viele Dinge, die früher für sie selbstverständlich gewesen waren, inzwischen ausgeschlossen waren. Einfache Handlungen, wie etwa einen Morgenmantel anzuziehen und durchs Zimmer zu gehen, waren unmöglich geworden.

Rose kroch mühsam über die Decke, bis sie den hinteren Bettpfosten erreichte. Ihre Arme waren von Tag zu Tag stärker geworden und sie war zuversichtlich, dass sie es eines Tages schaffen würde aufzustehen. Sie hatte noch Gefühl in den Beinen, selbst wenn diese nicht ihr ganzes Gewicht tragen konnten.

Sie holte tief Luft, umschlang den Bettpfosten mit beiden Armen und umklammerte ihn fest, um sich vorsichtig auf den Boden gleiten zu lassen. Ihre Beine rutschten von der Decke, und wieder einmal gaben sie unter ihr nach wie die Glieder einer Marionette. Mühsam versuchte sie sich aufrecht zu halten, indem sie sich an den Bettpfosten klammerte. Doch es war aussichtslos. Ihre Beine würden sie nicht tragen.

Es klopfte an der Tür und Rose hoffte, dass es ihre Zofe Hattie war. „Tritt ein“, antwortete sie.

Lily kam genau in dem Moment ins Zimmer, als ihre Arme nachgaben und sie auf dem Boden zusammensackte. „Rose, was treibst du da?“

„Ich erniedrige mich.“ Auf Augenhöhe mit dem Nachttopf war es schwer, den Stolz zu bewahren. Mit zerknirschtem Blick hob sie das Gesicht vom Boden. Lily eilte zu ihr und half ihr beim Aufsetzen, bevor sie ihrer Schwester einen Arm um die Taille legte und sie zurück aufs Bett hievte.

„Du weißt doch, dass du nicht versuchen sollst aufzustehen“, schimpfte Lily. „Hattie hätte dich vielleicht erst in einer Stunde gefunden. Du kommst ja nicht an die Glocke.“

Das war Rose klar, und doch beabsichtigte sie nicht, ihre Versuche aufzugeben. Sie zog es vor, das Thema zu wechseln. „Wie geht es Mutter heute Vormittag?“ Sie wischte sich eine Haarlocke aus den Augen und versuchte so zu tun, als wäre alles in Ordnung.

„Hast du gehört, was gestern Abend passiert ist?“ Ein schuldbewusster Ausdruck huschte über Lilys Gesicht. Obwohl Mr. Donovan es ihr erzählt hatte, schüttelte Rose den Kopf und tat, als wüsste sie von nichts. „Sag’s mir.“

Ihre Schwester schilderte, wie ihre Mutter sprungbereit über die Balustrade geklettert war und Mr. Donovan eingegriffen hatte. „Ich glaube, er hat ihr das Leben gerettet, Rose.“

„Ich bin froh, dass er zur Stelle war“, stimmte sie zu. Doch obwohl sie ihm in der Tat dankbar war, hatte sie nach wie vor ein schlechtes Gewissen wegen des verbotenen Moments in ihrem Zimmer.

„Findest du, wir sollten ihm zum Dank eine Belohnung anbieten?“, fragte Lily.

Rose zögerte. „Ich weiß nicht, ob das so klug wäre. Er gibt an, der Earl of Ashton zu sein – was ich beileibe nicht glauben kann –, und sagt, dass Großmutter ihn hierher eingeladen hätte.“

Lily blickte sie skeptisch an. „Kann das wirklich sein?“

„So wie er aussieht, glaube ich das nicht.“ Und doch … ganz sicher war sie sich nicht. Er wirkte wie ein Mann, der es gewohnt war, seinen Willen durchzusetzen. Sein Auftreten entsprach ganz und gar nicht dem eines Untergebenen.

Ihre Schwester schien ihr zuzustimmen. „Wenn Großmutter einen unverheirateten Earl auftreiben kann – egal woher –, ist ihr so etwas schon zuzutrauen. Sie setzt doch wirklich alles daran, eine passende Partie für uns zu finden.“

Rose lächelte ihre Schwester matt an. „Ich weiß, dass sie nur helfen will. Aber ich beabsichtige nicht, mich zur Heirat zu stellen. Zumindest nicht, bis ich wieder laufen kann.“

„Hoffst du immer noch, dass Lord Burkham um deine Hand anhalten wird?“, fragte Lily. Ihre Schwester warf einen Blick auf die sechs Briefe, die Thomas geschickt hatte. Rose hatte eine Schleife darum gebunden, und ihr Anblick machte sie zuversichtlich, dass er tatsächlich auf sie warten würde.

„Ich bin mir sicher, dass er das vorhatte.“ Und sie war sich sicher, dass er ihr einen Krankenbesuch abgestattet hätte, wenn sie London nicht wegen ihrer Mutter hätten verlassen müssen. Doch sie schob die Zweifel beiseite und tröstete sich mit den Briefen. Wenn sie erst wieder Laufen gelernt hätte, würde sich alles ändern. Sie würde nach London zurückkehren, einen Heiratsantrag erhalten und Lord Burkhams Viscountess werden.

Sie musste einfach glauben, dass es so kommen würde.

„Glaubst du denn, dass Mr. Donovan ein Earl ist?“, fragte Lily. Rose hob die Arme, damit sie ihr beim Ausziehen des Nachthemds behilflich sein konnte.

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Entweder ist er ein erstklassiger Lügner oder wahrhaftig ein Earl, der vom Pech verfolgt wird.“ Als sie sich Mr. Donovans Gesicht vorzustellen versuchte, musste sie unweigerlich daran denken, wie er sie am Abend zuvor in die Arme genommen hatte. Obwohl er sie lediglich ins Bett getragen hatte, hatte die intime Geste sie ganz durcheinandergebracht. Selbst jetzt noch errötete sie bei der Erinnerung an seinen Kuss. „Er benimmt sich allerdings unanständig.“

„Er ist doch Ire“, betonte Lily. „Vielleicht herrschen dort einfach andere Sitten.“

„Möglich wär’s.“ Doch während Thomas ein halbes Jahr mit einem Handkuss gewartet hatte, hatte Mr. Donovan sie bereits nach einem halben Tag auf die Stirn geküsst. Er gehörte zu der Sorte Mann, die Frauen gefährlich werden können. Denn trotz ihrer Absicht, ihm gegenüber unbeeindruckt zu bleiben, hatte er eine instinktive Reaktion hervorgerufen. Sie konnte nicht nachvollziehen, warum sie so reagiert hatte, und weshalb sie Stunden später immer noch an diesen Kuss dachte.

„Was machen wir mit Mutter?“, fragte sie, geschickt das Thema wechselnd.

Lily fing an, Rose’ Korsett hinten zuzuschnüren. „Sie erinnert sich gottlob überhaupt nicht mehr an gestern Nacht. Aber dass sie uns nach London schicken wollte, weiß sie noch ganz genau.“ Ihre Schwester blickte verdrießlich drein. „Ich wünschte, du hättest der Sache nicht zugestimmt.“

Rose zuckte mit den Schultern. „Bald wird sie sich wieder erinnern, dass ich nicht gehen kann.“

„Ach ja?“ Lily band das Korsett zu. „Vielleicht versucht sie ja, mich unter die Haube zu bringen.“

„Wäre das denn so schlimm?“ Sie lächelte ihre Schwester zögerlich an, doch die war nicht in der richtigen Stimmung.

„Ja, das wäre es“, beharrte Lily. „Ich werde mich nicht den Debütantinnen anschließen, die weiß angezogen blöde die unverheirateten Männer bezirzen. Matthew wird zurückkommen und dann heirate ich ihn.“ Ein liebevoller Ausdruck huschte über das Gesicht ihrer Schwester, denn sie hatte den Mann, den sie liebte, nie aufgegeben.

Doch ihr Tonfall verriet noch etwas anderes, was Rose stutzig machte. „Hat er schon um deine Hand angehalten, bevor er nach Indien gereist ist?“ So etwas hatte sie noch nie gehört.

Lily wurde ganz ernst. Diskret griff sie nach einer silbernen Kette, die sie um den Hals trug, und zog sie unter ihrem Gewand hervor. Ein kleiner goldener Ring baumelte daran.

Doch der Ausdruck eiserner Treue in den Augen ihrer Schwester sagte mehr aus als der Ring. Es war offensichtlich, dass sie den Earl of Arnsbury von ganzem Herzen liebte. „Wann hat er dir den Ring gegeben?“, fragte Rose.

„Im Sommer vor zwei Jahren.“ Lily steckte ihn wieder unter ihr Kleid, doch in ihren blauen Augen erkannte Rose ihren verborgenen Schmerz. Ihre Schwester würde keinen anderen Mann heiraten, ob Lord Arnsbury nun heimkehrte oder nicht. Besonders nicht, da sie ihm bereits versprochen war.

„Hast du ihm gesagt, dass du ihn heiraten würdest?“, fragte sie Lily.

Die junge Frau nickte. „Du siehst sicher ein, warum ich nicht diejenige sein kann, die in die Ehe geht. Zumindest nicht, bis Lord Arnsbury zurückkommt.“

Rose seufzte. „Ich kann auch nicht heiraten. Nicht, bis ich wieder laufen kann.“ Sie klammerte sich an diesen Wunsch, denn die Vorstellung, für den Rest ihres Lebens nicht mehr gehen zu können, war einfach zu schlimm für sie. Lily drückte ihre Hand. „Du wirst es wieder schaffen. Und vielleicht finden wir in London einen neuen Arzt, der dir helfen kann.“ Sie half Rose dabei, einen Morgenmantel über den Kopf zu streifen, und begann, ihn hinten zuzuknöpfen.

Rose hatte wenig Vertrauen in Ärzte und verwarf den Gedanken. „Ich gehe nirgendwohin, bevor ich wieder laufen kann.“ Sie zog es vor, hier zu bleiben, wo sie sich in Ruhe erholen und ihre Mutter vor sinnlosem Gerede abschirmen konnte. „Außerdem geht es Mutter nicht gut genug, um zurückzukehren. Du weißt, dass sie sich dort nur aufführen würde.“

„Das Problem wird sein, sie zu überzeugen, dass wir beide nicht hinfahren können“, betonte Lily. „Sie hört nicht auf mich. Anscheinend hat sie sich fest in den Kopf gesetzt, wieder nach London zurückzukehren.“

„Sag ihr, dass ich nicht laufen oder tanzen kann“, insistierte Rose. „Das ist die Wahrheit.“

„Das vergisst sie doch andauernd“, seufzte Lily. „Ich hoffe, dir ist bewusst, dass du uns die Situation eingebrockt hast, weil du von diesem Mann abgelenkt warst.“

Rose rang sich ein schwaches Lächeln ab. „Verzeih mir.“ Dabei wäre jede andere Frau ebenso abgelenkt von Iain Donovan. Nicht nur durch sein unerhörtes kokettes Auftreten – sondern auch, weil er auf eine grobklotzige Art attraktiv war.

Und weil er bei ihrer ersten Begegnung halbnackt gewesen war.

Und vielleicht, weil er sie auf die Stirn geküsst hatte.

„Was wirst du nun mit dem Iren anstellen?“, fragte Lily. „Wir können ihn nicht einfach wegschicken, wenn er wirklich ein Earl ist.“

Rose zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Vielleicht kann er noch einen Tag lang hierbleiben, während wir Nachforschungen anstellen. Und wenn sich herausstellt, dass er wirklich lügt, werfen wir Mr. Donovan hinaus. Dann hat sich das erledigt.“

Sie streckte sich nach dem Bettpfosten, um erneut das Aufstehen zu versuchen. Diesmal wollte sie sich auf Taillenhöhe an dem Pfosten festhalten, sodass es klappen würde.

Doch Lily legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Rose, lass es. Du bist schon heute Früh hingefallen. Du bist noch nicht soweit.“

Noch nicht soweit? Wann würde sie wohl soweit sein, wenn sie es nicht weiter versuchte? Genau, niemals.

Sie hörte nicht auf ihre Schwester und packte den Bettpfosten. „Dann klingle nach Calvert. Er kann mir hochhelfen, nachdem ich auf die Nase gefallen bin.“

„Ich will nicht, dass du dich verletzt. Vor allem jetzt nicht, wo Mutter so krank ist. Warte doch noch ein kleines bisschen, bevor du es wieder versuchst.“ Obwohl Lily vor allem besorgt klang, hörte sie auch einen Anflug von Ungeduld in ihrer Stimme. Es war beinahe, als würde ihre Schwester zwei Kranke pflegen anstatt nur einer.

Rose verkrallte die Finger. Sie war voller Bitterkeit, die sich allmählich zu Wut auswuchs. „Lily, ich kann seit Monaten nicht mehr laufen. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie das ist?“

Ihre Schwester blickte mitfühlend. „Ich weiß, dass es schwierig sein muss, aber es wird sicher besser. Ehrenwort.“

Obwohl sie innerlich wusste, dass Lily sie nicht hatte kränken wollen, brachen nun die Gefühle aus ihr hervor. „Das kannst du mir gar nicht versprechen. Und dann sagst du mir, ich darf es nicht einmal versuchen? Was soll ich denn sonst tun?“

Sie hasste sich selbst, hasste das Gefühl der Ohnmacht, weil sie sich nicht bewegen konnte. Und Aufgeben kam für sie nicht infrage.

Lily erbleichte und streckte ihr die Hand hin. „Es tut mir leid, Rose. Ich habe es nicht so gemeint.“ Und das wusste sie. Ihre Schwester versuchte nicht, sie zu verletzen. Sie konnte einfach nicht nachvollziehen, wie es war. Rose ließ die Hand ihrer Schwester los und betrachtete sie. „Ich bin es leid, mich in allem auf andere Leute zu verlassen. Ich kann mich nicht einmal selbst ankleiden oder Schuhe anziehen.“

„Das kann ich auch nicht“, erwiderte Lily mit einem matten Lächeln. „Zumindest nicht ohne Hatties Hilfe. Mit all diesen Knöpfen ist das wirklich ein Problem.“

Doch die Scherze ihrer Schwester linderten ihren Schmerz nicht. Stattdessen bestärkten sie sie nur noch weiter, es erneut versuchen zu wollen.

Rose umfasste den Bettpfosten so fest sie konnte und ließ ihre Beine vom Bett gleiten. Doch bevor sie ihn sicher zu packen bekam, fasste ihre Schwester sie überraschend um die Taille. Lily stabilisierte sie einen Augenblick lang. „Sehr gut. Kannst du die Beine strecken?“

Rose versuchte, ihre Knie zu bewegen, doch sie knickten unter ihr ein. Lily fing sie auf, bevor sie zu Boden fiel. „Leg die Arme um meinen Hals.“

„Wenn ich das tue, werden wir beide hinfallen.“ Doch ihre Hände ließen bereits den Bettpfosten los.

„Jetzt“, forderte Lily sie auf.

Sie gehorchte, und ihre Schwester schleifte sie hinüber zur Chaiselongue. Es war erniedrigend, ihre unteren Extremitäten nicht beherrschen zu können. Sie entschuldigte sich bei Lily. „Du hattest recht. Ich bin nicht bereit zu stehen.“

Ihre Schwester widersprach nicht. „Warum probierst du nicht einen Rollstuhl aus? Wenigstens könntest du dich dann leichter durch die Räume bewegen.“

„Wenn ich das täte, käme ich mir wie eine Versagerin vor“, gab Rose zu. Sie hatte ihre Fähigkeit zu laufen bereits vor sechs Monaten verloren. Sicherlich würde sie bald Fortschritte machen, da ihr Körper inzwischen geheilt war. Doch obwohl sie mittlerweile wieder Empfindungen und Belastung in den Beinen spüren konnte, waren sie viel zu geschwächt.

Sie lehnte sich an die Chaiselongue und blickte hinaus aufs Gelände, wo die Sonne über den Baumkronen strahlte. Sie wollte unbedingt ins Freie, denn dort würde sie sich wenigstens nicht wie eine Gefangene im eigenen Körper fühlen. „Geh und hol mir Calvert“, bat sie Lily. Ihr Diener würde sie zur Gartenbank tragen, aber ihr vehement widersprechen, wenn sie ihn bitten würde, Reiten gehen zu dürfen. Es grenzte an ein Wunder, dass er sie am Vorabend zu Beauregard begleitet hatte, obwohl er keine Lust gehabt hatte. Ihre Wangen erröteten leicht, denn das war Iain Donovan zu verdanken. Der Ire hatte ihn dazu überredet. Vermutlich kriegte dieser Mann es hin, dass selbst der Teufel nach seiner Pfeife tanzte.

Ihre Schwester war bereits auf dem Weg nach draußen, blieb dann aber noch einmal im Türrahmen stehen. „Sei vorsichtig, Rose. Überstürze nichts.“

Sie lächelte nur und sagte nichts weiter dazu.