Kapitel 1
Lady Phoebe Bellamy blieb wieder einmal stehen, um auf ihren kleinen Bruder Dauntry zu warten – oder Doddy, wie seine Familie ihn nannte –, der trödelte, wie nur vierzehnjährige Brüder trödeln konnten.
Phoebe schnaubte und wollte mit ihm schimpfen.
Doch als sie sich umdrehte, war er nicht da.
Stattdessen flatterte ihr ein bezaubernder Schmetterling entgegen.
»Wen haben wir denn da?«, murmelte Phoebe und bestaunte das große schwarze und purpurrote Prachttier. »Was tut Ihr denn hier so ganz alleine, Euer Gnaden?«
Der Schmetterling kam näher und landete auf ihrer Schulter.
Was für ein reizendes Insekt – groß, bunt schimmernd und geradezu herzoglich. Erst der zweite Duke of Burgundy, den Phoebe bisher kennengelernt hatte.
»Habt Ihr meinen Bruder gesehen?«, fragte sie den Schmetterling, der langsam und majestätisch die Flügel schlug. »Ja, sehr schön«, sagte sie geistesabwesend und schirmte mit der Hand ihre Augen ab, um Doddy in der prallen Sonne ausfindig zu machen.
Sie klemmte ihr Päckchen mit alter Kleidung zwischen Hüfte und Ellbogen und bildete mit den Händen einen Trichter um ihren Mund.
»Dooooodddyyyyy!«
Sie war viel laut und kam sich rüpelhaft dabei vor, die friedliche Stille mit ihrem Gebrüll zu zerstören. Der Duke of Burgundy hielt jedenfalls nichts davon und flatterte hinfort in ruhigere Gefilde.
Phoebe wartete eine Antwort ab, doch alles, was sie hören konnte, war das leise Summen von Insekten und das gelegentliche Zwitschern eines Vogels.
»Du kleiner Bengel«, nuschelte sie vor sich hin. Dann legte sie ihr schweres Päckchen in die Wiese und machte sich auf den Weg zurück zum Queen’s Bower, dem idyllischen Tudor-Haus, das sie und ihre Familie bewohnten.
Phoebe hätte die kleine Nervensäge niemals auf ihren Ausflug mitnehmen sollen, aber er war in letzter Zeit so niedergeschlagen, dass sie entgegen besserer Einsicht nachgegeben hatte.
Doch nicht nur Doddy war niedergeschlagen.
Es war nicht leicht, gute Laune zu bewahren, wenn die Umstände von Tag zu Tag schlechter wurden und die eigene Mutter jede Gelegenheit nutzte, um dem Vater das deutlich zu machen – lautstark und oft.
Phoebe verfluchte ihren Bruder und stapfte in die Richtung, aus der sie gerade gekommen war.
Sie hatte gehofft, rechtzeitig von ihrem Ausflug zurück zu sein, um noch mit Mrs. Parks, der Haushälterin und Köchin, über den Speiseplan der kommenden Woche sprechen zu können.
Phoebe war dafür verantwortlich, das karge wöchentliche Essens-Budget so aufzuteilen, dass nicht nur die acht Familienmitglieder davon satt wurden, sondern auch die drei Bediensteten, die die Familie noch hatte. Mrs. Parks würde sich bestimmt freuen, wenn sie erfuhr, dass Phoebe dank vieler kleiner Einsparungen genug Geld angesammelt hatte, um eine Lammkeule fürs Sonntagsessen zu kaufen.
Nach dem Einkauf wollte Phoebe einen Zwischenstopp in Nanny Fletchers Cottage machen und ihr beim wöchentlichen Backen helfen. Mit neunzig Jahren und kaum noch Augenlicht sollte man die alte Familiengehilfin eigentlich nicht einmal in die Nähe eines Herds lassen, aber ihre Scones waren ihr nun einmal heilig.
Schade, dass Nanny nicht bei ihnen wohnen konnte, aber es gab schlichtweg keinen Platz für sie in Queen’s Bower. Es gab kaum genug Platz für die Familie, woran ihre Mutter, die Countess of Addiscombe, ihren Mann und ihre Kinder gerne erinnerte.
Phoebe war völlig in Gedanken verloren. Ehe sie sich versah, war sie schon fast zu Hause.
»Verflucht!« Sie blieb stehen und versuchte es noch einmal. »Doddy!«
»Hier drüben, Pheeb!«
Doddys dumpfe Stimme ließ sie zusammenzucken. »Wo?«
»Beim Bach.«
»Du kleiner Lump«, nuschelte sie. »Wart’s ab, bis ich dich in die Finger kriege.« Phoebe stieg über einen umgefallenen Baumstamm und bahnte sich ihren Weg durch die Bäume, zwischen denen immer wieder die hellen, flachsblonden Locken ihres Bruders hindurchblitzten – noch ein Grund, um wütend auf ihn zu sein. Warum würde Gott solch eine Haarpracht einem Jungen schenken?
Phoebe schob den Gedanken beiseite, genau wie die heimtückischen Brombeer-Ranken, die sich beinahe in ihrem Rock verfangen hätten.
Ihr Bruder stand unter einem gigantischen Kastanienbaum und schaute nach oben.
»Du hast versprochen, dass du keinen Ärger machst, Doddy.«
Dauntry richtete seine großen, klaren und trügerisch unschuldigen blauen Augen auf sie.
Ihr Bruder erinnerte Phoebe an die bunten Dschungeltiere, die ihre Schwester Aurelia manchmal beauftragt wurde, zu malen. Die Tiere waren wunderschön, aber das waren sie nur, damit sie ihre Beute anlocken und sie stechen, beißen oder vergiften konnten.
Doddy sah aus wie ein Engel, aber er war ein Teufelsbraten, von seinen abgenutzten Sohlen bis hin zu seinem blonden Lockenschopf.
Er zeigte auf den massiven Baum. »Silas ist da oben, er will nicht runterkommen.«
»Du hast deine Ratte zur Kleiderspende mitgebracht?«
Doddy spannte entrüstet den Kiefer an. »Er ist ein Eichhörnchen, Pheeb, und das weißt du.«
»Nenn mich nicht Pheeb.«
Phoebe hatte die immer geringer werdende Hoffnung, dass ihre Familie endlich aufhören würde, sie bei ihrem Spitznamen zu rufen, wenn sie nur genug darauf bestand.
»Um deine Frage zu beantworten, Pheeb, ich habe ihn nicht mitgebracht, er ist selbst gekommen. Silas ist sein eigener Herr und geht dorthin, wo er möchte.«
»Na schön, dann soll er seinen eigenen Weg vom Baum herunter finden.«
»Das ist zu gefährlich.«
Phoebe verkniff sich die Antwort. Sie würde sich bloß zum Affen machen, würde sie mit ihrem unsinnigen kleinen Bruder über sein verlaustes Hausvieh diskutieren.
Sie ballte die Fäuste und stemmte sie in die Hüften. »Dann ruf ihn jetzt her!«
Doddy verengte die Augen, wandte seinen Blick auf die aufgerüschte Baumkrone und runzelte die Stirn. »Das habe ich. Er will einfach nicht runterkommen.«
»Er findet bestimmt nach Hause.« Phoebe zeigte auf das mit braunem Papier umwickelte Päckchen, das sie Doddy mitgegeben hatte. Es war schmutzig und zerlumpt, als hätte er es den ganzen Weg von Queen’s Bower hierher über den Boden geschleift. »Nimm die Kleidung und komm mit. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Ich kann ihn nicht einfach hierlassen.«
»Er ist ein Eichhörnchen, Doddy. Eichhörnchen mögen die Natur. Wahrscheinlich kann er die Hutschachtel in deinem unaufgeräumten Zimmer sowieso nicht leiden.«
»Er hat sein ganzes Leben dort verbracht – er könnte hier draußen gar nicht überleben, so ganz allein.« Seine Lippen zitterten.
»Ha ha! Guter Versuch, Doddy.«
Der mitleiderregende, flehende Blick ihres Bruders löste sich schneller in Luft auf als eine Sahnetorte beim Nachmittagstee.
Phoebe schnalzte. »Du Heuchler.«
Doddy sah fast stolz auf diesen Vorwurf aus und verschränkte die Arme. »Entweder du hilft mir, ihn runterzuholen, oder du bringst die Kleider selbst zur Spende.«
»Ich kann nicht fassen, dass du lieber ein Frettchen aus einem Baum befreien würdest als deiner Pflicht nachzugehen, deine Mitmenschen mit dringend nötiger Kleidung zu versorgen.«
»Denkst du wirklich, Mrs. Thompkins will meine ausgebeulten Pantalons und deine abgenutzten Unterröcke?« Er warf ihr einen spöttischen Blick zu, der ihn sehr viel älter aussehen ließ, als er war. Phoebe nannte es den »Gutherren-Blick«, der ihm sicherlich noch viel bringen würde, wenn er eines Tages Earl werden würde – vorausgesetzt, es wäre dann noch irgendetwas davon übrig, worüber er als Earl herrschen könnte. »Lass mich ihn kurz runterholen, dann komme ich mit.«
Phoebe warf ihm einen finsteren Blick zu. »Na gut. Wie soll ich dir dabei helfen?«
Doddy grinste triumphal und seine blendend weißen, geraden, fast schon ungerecht perfekten Zähne kamen zum Vorschein.
Phoebe fuhr verunsichert mit der Zunge über ihren Schneidezahn, von dem ein Stück abgebrochen war, als sie mit zehn Jahren im Wych House die Treppe hinuntergerutscht war.
»Ich übernehme den schwierigen Teil«, sagte er. »Stell du dich einfach so nah an die Baumwurzel wie möglich.«
»Warum sollte ich das tun?«, wollte sie wissen.
»Wenn du am Baumstamm stehst, dann sieht er dich nicht.«
»Und was soll das bringen?«
»Wenn er dich sieht, dann wird er nicht runterspringen.« Doddy musterte sie von oben bis unten und warf ihr einen missbilligenden Blick zu. »Er mag dich nicht.«
Phoebe schnaubte. »Wie tragisch. Ich zähle jetzt bis hundert, und wenn du deine Ratte dann immer noch nicht gefangen hast, dann gehe ich ohne dich. Und dann kannst du Mama ja erklären, warum du ihren Wunsch nicht erfüllt hast.«
Die Angst vor dem Zorn ihrer Mutter trieb ihn an, sich zu beeilen. Er stellte sich unter den niedrigsten Ast, der immer noch knapp zwei Meter über dem Boden ragte, und sprang auf der Stelle wie ein Äffchen. Als er den Ast zu fassen bekam, zog er sich daran hoch, bis er schließlich ein Bein darüber schwingen konnte.
»Vorsicht, Doddy.«
Er erwiderte ihren Kommentar mit einem Raunen und bahnte sich seinen Weg durch die Äste – so flink wie das Tierchen, das er zu fangen versuchte. Sie sah ihm dabei zu, bis er schließlich in der Baumkrone verschwand. Plötzlich war außer ein paar raschelnden Blättern nichts mehr zu hören.
Während sie wartete, betrachtete Phoebe ihre Handschuhe. Sie waren eine Schande – der linke hatte ein Loch, aus dem ihr kleiner Finger herausguckte, und ihr rechter Zeigefinger blitzte unter dem überspannten Leder hervor. Die Handschuhe waren einmal eierschalenbeige gewesen, doch inzwischen waren sie trüb und grau wie Spülwasser.
»Da ist er«, rief Doddy triumphierend.
Phoebe blickte nach oben und sah, wie ein Teil des Baumes raschelte. »Du bist gefährlich weit oben. Bitte sei vorsichtig.«
»Ich komme.«
Laub rieselte auf sie herunter und ihr Herz klopfte wie das eines ausgebüxten Pferdes. Sie musste sich auf die Unterlippe beißen, um ihn nicht mit irgendwelchen gekreischten Anweisungen zu erschrecken. Doch als er ausrutschte, konnte sie nicht anders, als loszuschreien.
»Verdammter Mist!« Das Geräusch von krachendem Holz verlieh Doddys Fluchen Nachdruck.
Phoebe schaute mit offenem Mund nach oben, als plötzlich ein rotbraunes Fellknäuel vom Himmel fiel.
»Doddy!« Das Nagetier schloss sich quiekend ihrem Gekreische an und Phoebe taumelte orientierungslos vom Baum weg, als könnte sie dadurch das Geschöpf loswerden, das gerade in ihrem drittbesten Hut herumwühlte.
Etwas Jungenförmiges rammte sie und packte sie mit rauen Händen an der Schulter.
»Halt still, du Verrücktgewordene. Hör auf, zu zappeln, dann hole ich ihn von dir runter. Du machst ihm Angst.«
»Nimm ihn weg!«, kreischte Phoebe und prallte von hinten gegen einen Baum.
Doddy grub seine Finger tief in ihre Oberarme. »Du musst dich bücken, Pheeb.«
Sie neigte hastig den Kopf und kniff die Augen zu, falls das kleine Mistvieh sich aus irgendeinem Grund gerade durch den Hut nagte. Phoebe konnte es schon kauen hören. »Könntest du dich bitte beeilen?«
Doddy warf sie zu Boden und sie rutschte ein Stück auf den Knien, bevor sie sich mit den Händen bremste. Doch leider schrammte sie dabei eine Baumwurzel, die ihren Handschuh an der Handfläche aufriss.
»Au!«
»Ach, sei still«, nuschelte er vor sich hin und zog so fest an ihrem Hut, dass er schier ihr Ohr abriss.
»Warte, Doddy. Lass mich den Hut aufschnüren.«
Phoebe zog das Band mit einem Ruck über ihr Kinn und schürfte sich dabei die Haut auf. Dann schleuderte sie den Hut – mitsamt dem Eichhörnchen – in Richtung ihres Bruders.
»Pass auf, Pheeb«, schimpfte Doddy.
Phoebe strich sich die Haare aus dem Gesicht und blickte fassungslos auf das zerrupfte Strohkonstrukt in Doddys schmutzigen Händen.
»Oh, Doddy, schau mal, mein Hut – er ist ruiniert.«
Silas hatte binnen weniger Sekunden ein Loch, so groß wie das Ei eines Moorhuhns, in den Hut gebissen.
Meine Haare!
Phoebe fasste sich sofort an den Kopf und atmete erleichtert auf, als sie keine kahle Stelle zu spüren bekam.
»Du bist ein freches kleines Eichhörnchen, Silas«, sagte Doddy in einem liebevollen Tonfall, der ganz und gar nicht zu seiner Wortwahl passte.
Das kleine Nagetier legte seine winzigen Klauen um die Finger ihres Bruders, kletterte an seinem Arm hoch und hockte sich auf seine Schulter. Dann richtete es seine glänzenden, schwarzen Augen auf Phoebe.
Sie machte einen angewiderten Ton. »Dieser kleine Wüstling weiß ganz genau, was er mit meinem Hut angestellt hat!« Sie riss ihr zerfetztes Accessoire aus den Händen ihres Bruders, der keine Anstalten machte, daran festzuhalten.
Stattdessen rieb er die Wangen an seinem Haustier. »Er meinte es nicht böse. Er muss sich wohl erschreckt haben, als ich ausgerutscht bin.«
Phoebe verkniff es sich, ihrem nervtötenden Bruder zu erklären, was sein Ausrutscher ihrem Herz angetan hatte. Es würde wahrscheinlich nie wieder heil werden.
Genau wie ihr Hut. Sie blickte stirnrunzelnd auf die ramponierte Krone und schüttelte den Kopf.
»Willst du zurück nach Hause und dir den Fummel ausziehen?«, fragte Doddy.
»Mama würde dir die Ohren langziehen, wenn sie hören würde, dass du Worte wie Fummel in den Mund nimmst.«
Doddy zuckte mit den Schultern. »Dann sag’s ihr nicht. Gehen wir nun oder was?«
Phoebe wollte sich tatsächlich umziehen, aber wenn sie so nach Hause ging, würde sie sich eine Standpauke von Mama darüber anhören müssen, dass sie herumlief wie eine Vogelscheuche.
Außerdem hätte sie dann keine Zeit mehr, Nanny einen Besuch abzustatten und sie davor zu bewahren, sich zu verbrühen und ihr Cottage in Brand zu setzen.
Phoebe seufzte. »Nein, Mrs. Thompkins wird sich nicht um meinen zerlumpten Hut scheren.«
»Am besten legst du ihn gleich zu den aussortierten Kleidern«, schlug Doddy schmunzelnd vor.
Phoebe warf ihm einen finsteren Blick zu und rappelte sich auf. Den ramponierten Hut fest in der einen Hand, klopfte sie sich mit der anderen die Erde vom Kleid.
Ihr Kleid hatte am Knie einen Riss und Schmutzflecken an der Stelle, wo Doddy sie zu Boden gestoßen hatte. Vielleicht hatte ihr Bruder recht. Eigentlich sollte Phoebe sich ihre Kleider selbst spenden.
Es dauerte kurz, bis Phoebe ihre Kleidung glattgestrichen, Frisur und Hut gerichtet und Doddy Silas in seine Manteltasche gesetzt hatte, wo er einen kleinen Hubbel unter dem Revers bildete.
Schon bald machten sie sich wieder auf den Weg.
Mit einem Eichhörnchen in der Tasche war es um Einiges schwerer, das Kleiderbündel zu transportieren. Doddy ließ es immer wieder fallen.
»Ach, gib es einfach mir, Doddy. Ich trage es, bis ich meins wiederhabe, aber danach musst du es wieder nehmen, ich kann nämlich nicht beide tragen. Schau mal«, sie hielt das Bündel hoch, sodass ihr Bruder den Riss im braunen Papier sehen konnte. »Wenn du nicht besser aufpasst, landet am Ende alles auf der Straße.«
Doddy reagierte nicht darauf.
Stattdessen zog er seine Mundharmonika aus der Tasche und stimmte eine heitere Melodie an, die er mit Sicherheit von irgendeinem Stalljungen gelernt hatte – damals, als sie noch Pferde und Bedienstete gehabt hatten.
Phoebe konnte nicht lange auf ihn wütend sein und zauste ihm liebevoll die Haare. Dabei musste sie feststellen, dass ihr kleiner Bruder inzwischen größer war als sie – was nicht viel bedeutete, denn Phoebe war kaum größer als ein Meter fünfzig.
Zusätzlich zu seinen aus Gold gesponnenen Haaren und kristallklaren blauen Augen hatte Doddy auch die biegsame, schlanke Figur ihres Vaters geerbt.
Phoebe hingegen war weder biegsam noch schlank. Einmal hatte sie mitgehört, wie ihre Mutter sie als »stämmigen kleinen Klumpen« bezeichnet hatte, und sich danach eine Woche lang in den Schlaf geweint.
Aber das war Jahre her. Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden, dass sie das schlichteste der Geschwister war, welche alle auf ihre eigene Art besonders waren.
Sie würde nie wohlgeformt und elegant wie ihre Schwester Aurelia sein, oder golden strahlend und engelsgleich wie Selina, oder feenhaft und grünäugig wie Hyacinth, oder eine kastanienbraunhaarige Schönheit wie ihre kleine Schwester Katie.
Nein, sie war bloß der braunäugige, brünette, stämmige kleine Klumpen Phoebe.
»Pheeb?«
»Hmm?«
»Denkst du, Papa wird mit Queen’s Bower seine Schulden begleichen, und wir verlieren unser Zuhause?«
Phoebe blieb wie angewurzelt stehen und sah ihren Bruder an. »Wie kommst du darauf?«
Er zuckte mit den Schultern und seine hohen Wangen erröteten.
Phoebe hatte bereits eine Ahnung, wo er das Gerücht aufgeschnappt hatte. Sie hatten nur drei Bedienstete und Doddy trieb sich gerne in der Küche herum. Sie musste Mr. und Mrs. Parks und Maisy unbedingt anweisen, sich in Zukunft gefälligst mit ihrem Getratsche vor Phoebes Bruder zurückzuhalten.
Natürlich war letztendlich ihr Vater schuld, dass ihre Bediensteten überhaupt Grund zum Tratschen hatten.
Der Earl hatte vor Kurzem ihre letzten Pferde verkauft – zwei alte Gäule – und nur zwei Monate zuvor ihren Stallmeister und Stallburschen entlassen.
Seitdem war Doddy am Boden zerstört. Es war die erste Notlage, die er je erlebt hatte. Alle anderen waren das Elend schon gewohnt, denn die Familie befand sich seit Jahren auf dem finanziellen Abstieg.
Erst hatten sie Wych House vermieten und in das sehr viel kleinere Queen’s Bower ziehen müssen.
Dann eine erfolglose Ballsaison für Aurelia – die eher erleichtert als bestürzt darüber gewesen war.
Kurz darauf musste das Haus in London vermietet werden, um der Familie dringend nötige Einkünfte einzubringen.
Doch ein fehlendes Haus in London bedeutete eine ausgebliebene Ballsaison für Selina, was ein Jammer war, denn sie war mit Sicherheit das schönste Mädchen in England.
Und schließlich, vor etwa zwei Jahren, hatte ihr Vater das Haus in London endgültig verkauft.
Nun machte ein grausiges Gerücht die Runde, dass ihr Vater womöglich gezwungen sein würde, Queen’s Bower zu verkaufen, wenn er keinen Mieter für Wych House fand.
»Pheeb?« Ihr Bruder ließ nicht locker.
»Wir werden Queen’s Bower nicht verlieren«, versicherte sie ihm mit sehr viel mehr Überzeugung, als sie tatsächlich verspürte.
»Mrs. Parks hat gesagt, Papa hat das Haus verspielt.«
Phoebe knirschte mit den Zähnen. Sie musste dringend ein Wörtchen mit Mrs. Parks reden.
»Papa geht nicht mehr Kartenspielen, Doddy.«
»Doch, tut er – er spielt den ganzen Tag in der Bibliothek.«
»Ich meinte, er spielt nicht mehr um Geld.«
»Warum mussten wir dann Castor und Pollux verkaufen und Jem Philpot entlassen?« Seine schmalen, jungenhaften Gesichtszüge verzogen sich gequält.
Phoebes Herz brach entzwei. Eines Tages würde er der Earl of Addiscombe werden, doch bis dahin würde nichts mehr übrig sein.
Nicht, dass Phoebe und ihre Schwestern rosigere Aussichten hatten.
Wenn nicht mindestens eine von ihnen heiratete – und wer würde schon eine Frau ohne Mitgift heiraten? –, dann würden sie sich bald eine Anstellung als Gouvernante oder Gesellschafterin suchen müssen, um weiterhin ein Dach über dem Kopf zu haben.
Phoebe schaute ihrem Bruder in seine besorgten blauen Augen und entrang sich ein Lächeln. »Komm, lass uns weiterlaufen, und ich versuche, dir zu erklären, warum wir die Pferde verkaufen und Jemmy und Ned, die Armen, entlassen mussten.«
Phoebe lief los. Es wurde langsam warm und es kam ihr vor, als würde sie seit Stunden auf dieser Straße umherirren.
»Wych House steht gerade leer, und bis Papa einen neuen Mieter findet, müssen wir die Bediensteten und anderen Haushaltsausgaben aus eigener Tasche zahlen. Wenn wir einen neuen Mieter gefunden haben, wird alles wieder gut.«
»Warum will niemand dort einziehen? Wych House ist wunderschön.«
Ihr Kindheitshaus war bezaubernd, aber es war mehr als baufällig. Oh, beim Gedanken daran kamen Phoebe schier die Tränen.
Der Bauernhof auf dem Grundstück brachte nicht ansatzweise genug Erträge ein, um auch nur das Haupthaus versorgen zu können.
Obendrein hatte ihr Vater all die veräußerlichen Teile des Anwesens verkauft, sodass es auf eine bescheidene Größe geschrumpft war. Die wenigen noch übrigen Pachthöfe waren in solch einem kümmerlichen Zustand, dass die Hälfte von ihnen leer standen oder immer nur vorübergehend und nicht besonders profitabel verpachtet werden konnten.
Doch sie konnte ihren Bruder nicht mit all diesen Fakten belasten.
Stattdessen sagte sie: »Wych House braucht einen ganz besonderen Mieter, Doddy – jemanden, dem es nichts ausmacht, eine große Menge Geld für ein Haus auszugeben, das er niemals kaufen wird.«
Anders gesagt, nur ein Idiot würde diese Baracke für den Wucherpreis haben wollen, den ihr Vater verlangte.
Sie kamen dort an, wo sie ihr Kleiderpäckchen am Wegrand abgelegt hatte.
Phoebe hielt Doddy sein Bündel entgegen. »Na los, streck deine Arme aus.«
Er tat, was sie verlangte, und sie verkniff sich ein Lächeln über den Anblick. Er war aus seinem Mantel herausgewachsen und die kurzen Ärmel entblößten seine knochigen Handgelenke und zahnstocher-dürren Arme. Seine Kniehosen hatten früher seinem Vater gehört und waren für ihn enger genäht worden, jedoch mit Blick auf seinen bevorstehenden Wachstumsschub nicht zu eng, sodass sie an seinen Hüften hinunterhingen wie Vorhänge.
Doddy war in dem unangenehmen Alter, in dem man kein Junge mehr war, aber ein Mann auch noch nicht.
Aus irgendeinem Grund bildete sich ein Kloß in Phoebes Hals. Sie musste schlucken, um nicht zu weinen.
Sie liefen weiter.
Phoebe hatte gehofft, dass sich das Thema Wych House damit für ihren Bruder erledigt hatte, aber dem war offenbar nicht so.
»Wenn Papa keinen Mieter für Wych House findet, dann könnten wir doch dorthin zurückziehen, damit er stattdessen Queen’s Bower vermieten kann.«
Wie es aussah, würde ihr Vater Queen’s Bower eher verkaufen, und sie müssten sich ein kleines, grässliches Haus mieten, wo sie vor sich hinvegetieren und darauf warten würden, dass jemand Wych House mietete.
Doch auch das sprach Phoebe nicht aus.
Sie klemmte das Kleiderpäckchen noch höher unter ihren Arm und legte den anderen um Doddys drahtige Schultern.
»Gerade sieht es vielleicht nicht rosig aus, aber es wird alles gut werden. Die Bellamys leben schon seit sechshundert Jahren im Wych House. Wir haben schon Bürgerkriege, Seuchen und Schlimmeres überstanden. Wir werden auch das überstehen.«
Er lächelte sie an, doch sie merkte, dass er nicht ganz überzeugt war.
Phoebe allerdings auch nicht.
***
Als sie die Kleiderspende – die sich als äußerst willkommen erwiesen hatte – abgegeben und bei den Thompkins noch einen Tee getrunken hatten, war die maximale Tageshitze erreicht.
Auf dem Rückweg wurde Doddy immer langsamer und im Gesicht immer röter. Seine blonden Locken klebten verschwitzt auf seiner Stirn. Nirgends war Schatten, bis sie bei der Abkürzung ankamen, die sie immer nahmen, um nicht am Wych House vorbeilaufen zu müssen – denn alle Familienmitglieder außer Doddy fanden den Anblick viel zu deprimierend.
»Sollen wir eine Pause machen?«, fragte Phoebe.
Er schüttelte den Kopf, obwohl er inzwischen knallrote Flecken auf seinen blassen Wangen hatte. Vor zwei Jahren war er schwer erkrankt, und seitdem wurde er schnell schwach.
Phoebe wollte darauf bestehen, dass sie anhielten, als hinter dem Hügel vor ihnen ein Galopp ertönte.
Sie traten von der festgetrampelten Erde auf das Unkraut am Straßenrand, als ein Pferd mit einem Reiter am Gipfel des Hügels erschien.
Doddy machte einen jungenhaften staunenden Ton und auch Phoebe konnte nicht anders, als zu starren.
Das Pferd war groß – besser gesagt riesig –, vielleicht siebzehn Handbreit. Doch selbst dieses gigantische Biest sah neben seinem mächtigen Reiter mickrig aus.
Der Mann bemerkte sie erst spät und zügelte sein Pferd zu einem Trab.
Er trug die Kleidung eines Gentlemans, doch seine Statur glich der eines Bauern – oder eher der eines Ochsen. Feinster Baumwollstoff war scheinbar hektarweise um seine breiten Schultern gehüllt. Er trug keinen Übermantel, vermutlich wegen der Hitze, doch selbst sein schwarzer Frack musste an solch einem warmen Tag eine Qual sein.
Sein Halstuch war blendend weiß und unkompliziert gebunden, seine Kniehosen aus dunklem, fast schwarzem Wildleder gefertigt, und seine Stiefel waren – trotz der feinen Staubschicht auf ihnen – die edelsten, glänzendsten Schuhe, die Phoebe seit Jahren gesehen hatte.
Auf seinen kurzen, aber modern frisierten Haaren trug er einen hohen, leger zur Seite geneigten Kastorhut, und wie Phoebe erkannte, als er näherkam, sah er nicht ansatzweise gut aus.
Er war geradezu hässlich. Er hatte einen strammen, einnehmenden Kiefer, schmale, ausdruckslose Lippen und eine messerscharf hervorspringende Nase.
Seine Augen waren vom Schatten der Krempe seines Huts bedeckt – den er im Übrigen nicht vor ihnen zog – und er machte ein nüchternes, missbilligendes, ja geradezu arrogantes Gesicht.
»Ich suche Wych House, Bursche.«
Seine Stimme klang so rau, wie er aussah, und seine monotone Aussprache glich der eines Kaufmanns, was sich völlig mit seinem edlen Kleidungsstil widersprach.
Doddy war so hingerissen vom Pferd, dass er die Frage gar nicht wahrnahm. Er ging mit ausgestreckter Hand auf das gewaltige Tier zu.
»Bursche!«
Seine Stimme schallte durch die Luft wie eine Peitsche, Phoebe und Doddy erstarrten.
»Bist du noch bei Trost?«, fragte der Mann und neigte seinen Kopf, sodass Phoebe nun endlich seine zornigen Augen sehen konnte.
Sie waren schockierend grau und seine Pupillen wirkten in der prallen Sonne wie Stecknadelköpfe.
»Zurücktreten«, schnauzte er Doddy an. »Coal würde dir am liebsten ein Stück Hand wegfressen.«
Coal – Kohle. Was für ein perfekter Name für solch ein majestätisches, samtschwarzes Pferd.
Coal sah kein bisschen freundlicher als sein Reiter aus, er stand mit gekrümmtem Hals und missbilligendem Blick da.
Das Pferd – das gepflegter aussah als Phoebe – musterte spöttisch ihren zerkauten Hut, ihren zerrissenen und befleckten Rock und ihr schweißüberlaufenes Gesicht.
»Der Weg nach Wych House, aber dalli, Jungchen«, wiederholte der Mann.
Doddy verengte misstrauisch die Augen. Der Tonfall des Mannes gefiel ihm gar nicht – und erst recht nicht, dass er ihn Jungchen nannte.
Plötzlich ließ Doddy seine normalerweise gestrafften Schultern hängen und zog den Hut.
»Wych House?« Er kratzte sich am Ohr. »Hmmm.« Dann schaute er dusselig in der Gegend herum und scharrte mit seinem abgenutzten Stiefel kleine Häufchen Erde auf.
Phoebe musste sich ein Lachen verkneifen, um die meisterhafte Darbietung ihres Bruders nicht zu ruinieren.
Der Fremde seufzte und zog ein kleines Leder-Portemonnaie aus der Tasche.
Doddy machte absurd große Augen. »Ah, Wych House«, leuchtete es ihm plötzlich ein, als sein gieriger Blick auf das Portemonnaie fiel. »Gehen Sie denselben Weg zurück, aber biegen Sie an der Gabelung links ab. Von dort aus ist es keine Meile mehr entfernt.«
Als Doddy Anstalten machte, seine Hand auszustrecken, nahm Phoebe seinen Arm und zog ihn weg, sodass sie dem forschen Reiter den Rücken kehrten.
Sie hörten das Pferd hinter sich traben, doch Phoebe wollte sich nicht umdrehen.
»Zack, zack, Bursche!«
Es war unmöglich, diese Stimme zu ignorieren, und sowohl Phoebe als auch Doddy drehten sich schlagartig um, als zwei in der Mittagssonne glitzernde Münzen auf sie zugeflogen kamen.
Phoebe sah den fremden Riesen angeekelt an, doch er würdigte sie keines Blickes. Stattdessen gab er seinem Pferd einen leichten Klaps, woraufhin es sich im Halbkreis drehte und in die Richtung galoppierte, aus der es gekommen war.
Doddy kniete sich in das Gestrüpp am Straßenrand.
Phoebe seufzte angewidert. »Sieh dich an, Viscount Bellamy, du wühlst auf dem Boden nach Kleingeld.«
»Ich bin nicht gerade stolz darauf, Pheeb. Außerdem glaube ich, eine dieser Münzen war eine Halbe Guinee.«
Phoebe musste lächeln, obwohl es sie schmerzte, mitanzusehen, wie der zukünftige Earl of Addiscombe sich aufführte wie ein Straßenjunge.
»Ha!« Doddy grinste und streckte ihr seine schmuddelige Hand entgegen, auf der nicht eine, sondern gleich zwei Halbe Guineen schimmerten. »Mein Gott, Pheeb! Wer mit so viel Geld um sich schmeißt, muss reich wie Krösus sein.«
»Allerdings«, sinnierte Phoebe mit verengten Augen und schaute zum Hügel, hinter dem der arrogante, widerwärtige Mann verschwunden war.
Er suchte also Wych House?
Mit so einem Dialekt war er vermutlich der Sekretär eines wohlhabenden Händlers oder, wie er wohl sagen würde, Geschäftsmanns.
Sein Dienstherr wollte sich offenbar ein schickes Anwesen zulegen, mit dem er prahlen und auf das er seine unflätigen Kaufmannsfreunde einladen konnte.
Phoebe schnaubte leise. Na ja, ein Glück für ihre Familie, dass Wych House sowieso nicht das war, wonach er suchte. Allein die Vorstellung, dass ein solcher Rüpel im Zuhause ihrer Vorfahren wohnen würde, war kaum auszuhalten.
»Denkst du, er möchte Wych House mieten?«, fragte Doddy. Seine gerunzelte Stirn verriet ihr, dass ihr Bruder genauso wenig von der Vorstellung hielt.
»Mir scheint es, als wäre er bloß der Bedienstete eines wohlhabenden Mannes auf der Suche nach einem geeigneten Landsitz.«
»Sein Dienstherr muss ausgesprochen reich sein, wenn er es sich leisten kann, seinen Bediensteten auf solch einem Pferd loszuschicken.«
»Allerdings.«
Phoebe stellte sich vor, wie der arrogante Mann wohl gucken würde, sobald er ihr reizendes, aber vollkommen verwahrlostes Zuhause zu Gesicht bekam, und musste schmunzeln.
»Ich bezweifle, dass Wych House seinen Ansprüchen entspricht.« Sie sah ihrem Bruder in die Augen. »Wenn ich ein risikofreudiger Mensch wäre, würde ich deine neuen Münzen darauf wetten, dass wir diesen groben, überheblichen Rüpel heute das erste und letzte Mal gesehen haben.«
Schon bald würde Phoebe an diese Worte zurückdenken.
Kapitel 2
Als Paul den zerlumpten und einfältig aussehenden Jungen und seine Begleiterin – deren ramponierter Strohhut aussah, als hätten Ratten ihn zu fassen gekriegt – hinter sich ließ, schüttelte er angewidert den Kopf.
Was ihn anekelte, waren nicht nur diese beiden entstellten Landeier – der lebende Beweis dafür, dass der Earl of Addiscombe seine Leute vernachlässigt hatte – oder der verwahrloste Zustand der Felder auf beiden Seiten der Straße.
Nein, am meisten ärgerte ihn, dass er den ganzen Weg hierher geritten war, wenn er sich die Zustände auch hätte ausmalen können.
Paul war sauer auf sich selbst, weil er töricht gewesen war.
Ein wenig der Entrüstung galt allerdings auch seinem Geschäftspartner Harold Twickham.
Twickham hatte Pauls Neugier geweckt und ihn in diese gottverlassene Ecke der Welt geschickt, die dem Earl of Addiscombe gehörte.
»Der Earl of Addiscombe braucht unbedingt Geld, Paul. Ich wette, er würde dir das Anwesen für einen Spottpreis vermieten«, hatte Twickham vor gerade einmal zwei Wochen bei ihrem monatlichen Finanztreffen gesagt.
»Ich will nicht mieten, Twickham. Ich will mir ein eigenes Haus bauen, statt mein Geld in die verwahrlosten Zweitimmobilien von irgendeinem Schnösel zu investieren.«
Beim Wort Schnösel war der alte Mann zusammengezuckt.
Twickham war selbst in gewisser Hinsicht ein Schnösel, er war nämlich der Enkel eines Barons. Doch seine Familie war in finanzielle Schwierigkeiten geraten, als er noch jung gewesen war, sodass er sein eigenes Geld hatte verdienen müssen. So hatte er vor knapp fünfzig Jahren Pauls Vater kennengelernt – John »Iron Mad« Needham.
»Ich habe die Baupläne gesehen, und ich kann dir sagen, es wird mindestens zwei Jahre dauern, bis dein Haus fertig ist«, sagte Twickham. »Soweit ich weiß, suchst du doch nach einem Ort, an dem Mrs. Kettering und ihre Tochter in der Zwischenzeit wohnen können.«
Paul hatte geseufzt. »Ich merke, du wirst erst Ruhe geben, wenn du mir mehr über diesen Earl – Addiscombe? – erzählt hast, von dem ich noch nie etwas gehört habe.«
Dass Paul den Earl nicht kannte, war nicht überraschend. Er war zwar der zweite Viscount Needham, aber er hielt sich nicht gerne in den Kreisen des bon tons auf.
»Die Bellamys sind eine der ältesten Familien Großbritanniens und –«
»Das muss wohl eines der dämlichsten Dinge sein, die diese Schnösel von sich geben«, spottete Paul. »Jeder stammt von irgendwo, Twickham – sogar der niederträchtigste Schornsteinfeger könnte seinen Stammbaum sechshundert Jahre zurückverfolgen, wenn er die Zeit und das Geld dazu hätte.«
Twickham ignorierte den Kommentar. »Ihr Landsitz heißt Wych House –«
»Witch House? Wohnt da eine Hexe drin oder was?«
Twickham seufzte und schien zu versuchen, die Geduld zu bewahren, wie er es vermutlich auch immer bei seinem zweijährigen Enkel tat.
»Nein, W-y-c-h, dort wächst Hexenhasel. Lauter majestätische Bäume, überall auf dem Anwesen. Aber das ursprüngliche Wych House steht nicht mehr dort – es ist während des Bürgerkrieges niedergebrannt. Doch das neue Haus, das in den späten 1660ern gebaut wurde, ist ein Prachtbeispiel für den karolinischen Baustil.« Er hielt inne. »Karolinisch bezieht sich auf –«
Paul warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Meine Güte, du bist schlimmer als mein alter Hauslehrer. Ich weiß, worauf sich das bezieht – auf König Karl – und zwar den Zweiten, nicht seinen geköpften Papa.«
Twickham schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf über Pauls Taktlosigkeit. »Wych House ist ein beeindruckendes Gebäude, das ziemlich renovierungsbedürftig ist, und der Earl sucht jemanden, der das Anwesen mieten möchte.«
Wer hätte es gedacht.
»Ich nehme an, das beeindruckende Anwesen umfasst eine Menge abgewetzte Pachthöfe und auseinanderfallende Nebengebäude?«
»Der aktuelle Earl hat vor einigen Jahren zweiunddreißigtausend Acker verkauft, also alles, was veräußerlich war. Übrig blieben viertausend Acker und der hauseigene Bauernhof.«
»Du weißt nicht zufällig, wer das Land gekauft hat?«
»Albert Freemantle.«
»Freemantle?« Paul runzelte die Stirn. »Er hat vor kurzem erst sein letztes Hemd – und wahrscheinlich auch seine Kniehosen – verloren, als der Orkan drei Viertel seiner Flotte versenkt hat.«
»Stimmt. Er hat vor, sein Eigentum loszuwerden, was ein weiterer Grund für dich ist, dir das Haus anzusehen. Ich weiß, du hast ein anderes Stück Land in Devon im Blick, aber Wych House könntest du für einen Bruchteil davon mieten. So wärst immer noch in der Nähe deines neuen Hauses, bis es fertig gebaut ist.«
»Seit wann steht das Haus leer?«
»Ein Mann von der Marine hatte einen Mietvertrag über vier Jahre, den er nach drei Jahren allerdings hat auflösen lassen. Er hat das ganze letzte Jahr Miete eingebüßt, nur um wegzukommen.«
Paul lachte. »Ich soll also all mein Geld in das Anwesen dieses Earls investieren, wenn ich komfortabel leben möchte. Dann, in vier Jahren – oder noch früher – soll ich es ihm in einwandfreiem Zustand zurückgeben.«
Ein listiger Blick huschte über das Gesicht des alten Mannes. »Genau genommen …«
»Ja?«, fragte Paul gespannt. »Ich kenne diesen Blick, und er bedeutet, dass uns beiden ein großer Batzen Geld winkt.«
»Mieten ist nur ein Teil des Plans.«
»Aha. Ich bin ganz Ohr.«
»Der Earl ist bereit, sein Fideikommiss aufzulösen.«
Paul schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Wenn sein Erbfolger nichts dagegen hat, dass das Anwesen verkauft wird, warum möchte der Earl es dann unbedingt vermieten?«
»Sein Sohn ist nicht einmal fünfzehn.«
»Dann dauert es Jahre – sechs, um genau zu sein –, bis der Junge nicht mehr minderjährig ist und der Earl die Umwandlung des Anwesens in freien Grundbesitz beginnen kann.«
»Das stimmt … gewissermaßen.«
»Was soll das heißen, gewissermaßen? Entweder, der Bursche ist minderjährig, oder nicht.« Paul runzelte die Stirn. »Warum siehst du so verdammt schuldig aus, Twickham?«
Der alte Mann räusperte sich. »Minderjährige können einen Vertrag zwar nichtig machen, aber ein von einem Minderjährigen abgeschlossener Vertrag ist nicht zwangsläufig ungültig.«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Hast du schon vom Verkauf des Anwesens von Lord Hightower in Cumberland gehört?«
»Ich weiß, dass die Angelegenheit jahrelang vor Gericht ausgehandelt wurde. Warum?«
»Die Geschichte hat zwar keinen Präzedenzfall geschaffen, aber sie hat ein paar interessante Möglichkeiten aufgeworfen.«
Paul seufzte. »Drück dich klar aus, bitte.«
»Nun ja, in Hightowers Fall ging es ja um eine klassische Auflösung des Fideikommiss –«
»Was sowieso schon eine Rechtsfiktion ist«, warf Paul gezwungenermaßen ein.
Twickham bestritt dies nicht. »In Hightowers Fall hat der Käufer das Anwesen sofort an eine Drittperson weiterverkauft, welche es wiederum ebenfalls weiterverkauft hat und –«
»Grundgütiger, Twickham – kommst du auch mal zum Punkt?«
»Ich bin kurz davor«, erwiderte Twickham. »Diese Transaktionen fanden vier Jahre vor der Volljährigkeit des Erben von Hightower statt. Der letzte Verkauf ereignete sich zwischen zwei Personen, die rein gar nichts mehr mit der ursprünglichen Auflösung des Fideikommiss zu tun hatten, sodass das Gericht – jedenfalls in diesem Fall – den Verkauf nicht für ungültig erklären konnte.«
»Verdammt, ist das alles kompliziert. Und außerdem etwas … ethisch bedenklich.« Sogar aus der Sicht von Paul, dessen moralischer Kompass bei Geschäftsfragen oft in die falsche Richtung zeigte.
»Ich gebe zu, das Ganze klingt etwas undurchsichtig, aber nicht, wenn man bedenkt, dass Addiscombe kurz davor ist, das kleine Cottage zu verlieren, in dem er und seine Familie leben, seit sie Wych House haben verlassen müssen. Und wenn das passiert, muss er entweder zurück ins Haus ziehen – dessen Instandhaltung er sich nicht leisten könnte – oder seine Familie an einen mehr als unattraktiven Ort umsiedeln. Eigentlich bleibt dem Mann sowieso keine Wahl.«
Paul starrte einen Moment lang vor sich hin, dann fragte er: »Woher weißt du, dass Addiscombe für so eine Abmachung offen ist?«
»Weil er überall seine Köder auswirft.« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Nathan Malvern ist der Erste, der angebissen hat.«
Paul johlte spöttisch, als der Name seines langjährigen Erzfeindes fiel, einem gewissenlosen Schifffahrtsmagnaten, der Pauls Vater nie vergeben hatte, dass dieser den Adelstitel erlangt hatte, den Malvern Jahrzehnte vorher schon im Auge gehabt hatte.
»Du erwähnst Malvern, um mein Interesse zu wecken«, warf Paul seinem Gegenüber vor.
Twickham bestritt es nicht.
»Ich weiß, dass du mir etwas verschweigst, Onkel.«
Twickham war nicht sein Onkel – sie waren überhaupt nicht verwandt –, aber er stand Paul näher, als sein Vater es jemals getan hatte.
Die hauchdünne Haut über Twickhams Wangenknochen färbte sich dunkel.
»Sag schon, du alter Halunke.«
»Addiscombe hat fünf Töchter, allesamt unverheiratet.«
Paul lachte. »Es wird aber auch Zeit, dass du wieder unter die Haube kommst!«
Twickham erwiderte Pauls Kommentar bloß mit einem Schnalzen. Nach einem kurzen Zögern sagte er: »Ich weiß, du hast deinem Vater auf seinem Sterbebett versprochen, dass du –«
»Wenn ich du wäre, Twickham, würde ich es nicht wagen, die Wünsche meines Vaters vor mir aufzusagen. Du erinnerst dich sicherlich an das letzte Mal, als du versucht hast, es ihm recht zu machen«, sagte Paul, dem das Lachen inzwischen vergangen war.
Vor allem, weil das letzte Mal der Grund war, warum Paul im reifen Alter von fünfunddreißig noch immer nicht verheiratet war.
Twickham sah so reuevoll aus, dass Paul ein schlechtes Gewissen hatte, so mit ihm geschimpft zu haben.
»Na gut. Erzähl mir von den Töchtern. Ich nehme an, sie sind kein Augenschmaus«, sagte Paul.
»Im Gegenteil. Ich weiß noch, vor einigen Jahren habe ich seine älteste Tochter gesehen, und sie war hübsch. Die zweitälteste, die inzwischen Anfang zwanzig sein müsste, soll ein wahrer Diamant sein.«
»Warum habe ich dann noch nie von dieser unvergleichlichen Schönheit gehört?«
»Addiscombe war seit dem Verkauf seines Stadthauses nicht in London. Soweit ich weiß, geht die Familie auch auf dem Land nur selten unter die Leute. Ich denke, das ist nicht gewollt, sondern eine reine Sparmaßnahme.«
»Meine Güte, er muss ja völlig pleite sein, wenn er nicht einmal seine Töchter auf irgendwelche Landbälle mitnehmen kann.« Paul seufzte. »Und abgesehen von deinem Bedürfnis, Amor zu spielen – was haben die Töchter mit all dem zu tun?« Er schnaubte. »Ist es wirklich Teil von Addiscombes Abmachung, dass der Käufer seines Anwesens eine seiner Töchter heiraten muss?«
»Nein. Tatsächlich ist Malvern derjenige, der unbedingt die Zweitälteste heiraten möchte – die Hübsche.«
Pauls Magen drehte sich um. »Mein Gott! Der Mann ist ein aufsässiger, verseuchter Perversling. Zieht Addiscombe ihn allen Ernstes in Erwägung?«
»Addiscombe ist nicht froh darüber – kein vernünftiger Mensch würde etwas mit Malvern zu tun haben wollen. Aber Malvern ist so reich, dass man ihn kaum ignorieren kann. Vor allem, wenn man in Addiscombes Lage steckt.«
Twickham, dieser listige Greis, ließ Paul für einen Moment grübeln, bevor er hinzufügte: »Selbst, wenn du dich dagegen entscheidest, eine der Töchter des Earls zu heiraten, liegt immer noch ein unschlagbares Angebot vor, Paul. Wych House muss vielleicht renoviert werden, aber du könntest niemals ein Haus bauen, das auch nur halb so groß ist. Und mit deinem Interesse an Landwirtschaft –«
»Ich bin bloß theoretisch an Landwirtschaft interessiert, Onkel, ich möchte kein Bauer werden. Außerdem ist das Grundstück sowieso nicht groß genug –«
»Das wäre es, wenn du Freemantle vom Verkauf überzeugst«, warf Twickham ein.
»– um diesen riesigen Trümmerhaufen finanziell zu stützen«, beendete Paul den Satz und ignorierte seinen Onkel.
Twickham ließ sich von Pauls Argumentation nicht beirren. »Auch wenn du Freemantle das Land nicht abkaufen kannst, du brauchst es sowieso nicht, um das Anwesen zu finanzieren.«
Nein, Pauls Vermögen reichte, um Dutzende Wych Houses zu versorgen.
»Aber ich kenne dich, Paul. Du magst Herausforderungen. Im Gegensatz diesen ganzen Aristokraten, die sich dem Wandel der Zeit nicht anpassen wollen oder können, hast du die Fähigkeiten und den Ehrgeiz, dieses Projekt in Angriff zu nehmen. Es sind Männer wie du, die das neue Zeitalter bestimmen werden, Paul.«
Paul war nicht danach, philosophische Diskussionen über verarmte Aristokraten oder geldgierige Kaufleute wie ihn zu führen.
»Was das Anwesen und das Land angeht, hast du vielleicht recht, Onkel. Aber wie um alles in der Welt kommst du darauf, dass ich eine Frau will?«
»Du hast erwähnt, dass du deine Tochter verheiraten willst, Paul. Ein Junggeselle kann keine junge Frau auf den Heiratsmarkt bringen – falls du das denn immer noch vorhast.«
»Und was denkst du, wird meine zukünftige Frau davon halten, dass ich meine Bastard-Tochter auf den Heiratsmarkt bringen will? Was würde die Tochter eines Earls über meinen Ruf, mein Leben, meine Vergangenheit denken?«
»Frauen aus gutem Hause sind dazu erzogen, über solche Dinge hinwegzusehen, Paul.«
Er lachte, doch seine Miene blieb ernst. »Na großartig. Dann wird sie also die Nase rümpfen und die Augen schließen, wann immer sie ihren barbarischen Ehemann ansehen, sprechen oder besteigen soll?«
Twickham seufzte. »Du verhältst dich zwar wie ein Barbar, Paul, aber du bist immer noch ein hochgebildeter Mann, und das wissen wir beide. Egal, wie viel Mühe du dir gibst, es zu verstecken. Kaum zu glauben, dass du einfach nicht einsehen möchtest, dass du genauso zum Adel gehörst wie die anderen.«
»Mein Adelstitel ist so neu, dass manche Leute ihn als Beleidigung verstehen. Außerdem bin ich Kaufmann, und dazu stehe ich. Ich werde weiterhin Geschäfte machen, ganz egal, wie viel Geld mein Vater aufgebracht hat, um mich zu einem Lord zu machen. Wir wissen beide, dass eine adlige Frau das niemals gutheißen würde.«
»Ja, dein Titel ist neu, und ja, die hochrangigen Pedanten haben vielleicht etwas daran auszusetzen. Aber mit einer ordentlichen Frau könntest du dich problemlos unter die hohen Gesellschaftsschichten mischen.«
»Und warum sollte ich das tun wollen?«, erwiderte Paul.
»Lucy ist dreizehn, Paul. Wenn du deiner Tochter ein besseres Leben ermöglichen möchtest als –«
»Ich brauche keine Ratschläge, was meine Tochter angeht.« Paul wurde nicht laut. Im Gegenteil, er senkte die Stimme – was sein Gegenüber wie erwartet einschüchterte.
Und doch blieben Twickhams Worte Paul im Kopf, und vor lauter Schuldgefühlen und Angst wurde ihm flau im Magen.
Weder Lucy noch ihre Mutter Ellen lebten gerne in London, und Paul wusste, dass Ellen das Stadtleben nicht guttat. Sie brauchte frische Luft, doch sie weigerte sich, in eine Stadt am Meer oder an einem Gewässer zu ziehen – jedenfalls solange Lucy noch bei ihr war. Und selbstsüchtig, wie Paul war, wollte er auch nicht zu weit weg von seiner Tochter wohnen.
Paul suchte schon seit längerer Zeit nach einem Miethaus – einem Ort, wo sie schnellstmöglich zu dritt hinziehen könnten –, denn das Haus, das er bauen wollte, würde wahrscheinlich erst nach Ellens Tod fertiggestellt werden.
Paul seufzte und schaute in Twickhams gespannte Augen. »Wo war dieses Wych House noch gleich?«
Twickham konnte sich sein Grinsen kaum verkneifen. »Nahe der Marktstadt Little Sissingdon, eine malerische kleine Gemeinde, die noch nicht verpestet ist von Herbergen oder Handel oder –«
»Oder Kohle- und Erzabbau?«, fragte Paul mit gehobener Braue.
»Äh –«
Paul schnaubte. »Keine Sorge. Ich bin vielleicht im Eisen-Geschäft, aber ich will auch nicht in der Nähe davon wohnen.« Er verengte die Augen. »Aber bevor ich irgendwo hingehe und mir irgendetwas ansehe oder mit irgendjemandem rede, wäre es gut, wenn du mir mehr Informationen beschaffst.«
Es dauerte einige Wochen, bis Twickham alle Einzelheiten über die katastrophale finanzielle Situation des Earl of Addicombe in Erfahrung gebracht hatte. Auch Paul hatte einen privaten Ermittler angeheuert, der nach Little Sissingdon gefahren und dort Informationen über die Bellamys und ihre äußerst dürftigen Umstände eingeholt hatte.
Zunächst war da Queen’s Bower. Das idyllische Tudor-Haus, in dem die Familie derzeit wohnte, war alles, was Lord Addiscombe noch zum Verkauf übrighatte, sofern er nicht schleunigst einen wohlhabenden, ahnungslosen Mieter fand.
Dann waren da noch Addiscombes sechs Kinder, die alle unverheiratet waren und noch zu Hause wohnten.
Mit fünfundzwanzig war Aurelia Bellamy die Älteste. Sie sah gut aus und war eine erfolgreiche Künstlerin, die der Familie seit Jahren Einkünfte einbrachte, indem sie unter dem Künstlernamen Jacob Forrester Illustrationen für naturalistische Publikationen anfertigte. Aurelia hatte als einzige Bellamy ein Debüt gehabt.
Als nächste kam Hyacinth, zweiundzwanzig, ein wahres Rätsel. Die wenigen Fakten, die der Ermittler hatte in Erfahrung bringen können, ließen darauf schließen, dass es sich um eine schüchterne, nicht besonders schöne Frau handelte, die weder das Bedürfnis danach hatte, unter die Leute zu gehen, noch die Manieren dazu. Genau wie ihre ältere Schwester brachte auch Lady Hyacinth der Familie Geld ein, indem sie sich regelmäßig eine Verkleidung als Junge anlegte – die dem Ermittler zufolge äußerst überzeugend war – und in den örtlichen Spelunken Karten spielte. Im Gegensatz zu ihrem Vater konnte Lady Hyacinth mit Geld umgehen, denn bei allen drei Kartenspielen, die der Ermittler beobachtet hatte, war sie als Gewinnerin hervorgegangen.
Selina Bellamy, einundzwanzig, war bekannt als die schönste Frau des Landes. Sie hatte keine seltsamen Charaktereigenschaften oder fragwürdigen Interessen wie ihre älteren Schwestern, was sie auf die Spitze von Pauls Liste potentieller Kandidatinnen brachte – nicht, dass er überhaupt schon endgültig entschieden hatte, um die Hand einer der Töchter anzuhalten oder hinterrücks das Fideikommiss aufzulösen.
Die vierte Tochter, Phoebe, war zwanzig und galt als das erfolgloseste und unattraktivste Mitglied der Bellamys. Die meiste Zeit verbrachte sie mit Haushaltsaufgaben in Queen’s Bower oder mit Arbeiten, die früher ihre Eltern verrichtet hatten.
Interessanterweise war Phoebe die einzige Bellamy, die schon einmal beinahe geheiratet hätte. Ihre Verlobung mit Sebastian Lowery – dem Sohn eines örtlichen Junkers – vor drei Jahren hatte nur ein paar Monate angedauert, bevor sie aufgelöst worden war.
Es hieß, sie hätte die Verlobung annulliert, nachdem ihr Vater ihre Mitgift verschleudert hatte. Ob Lowery sie dazu gedrängt hatte, war unbekannt.
Katherine Bellamy war mit knapp siebzehn Jahren wohl einerseits eine angehende Schönheit, andererseits jedoch ein anstrengendes, viel zu agitiertes Mädchen.
Der Erbe und einzige Sohn, Dauntry, Viscount Bellamy – auch genannt »Doddy« – war fast fünfzehn. Er war nie zur Schule gegangen. Ein örtlicher Pfarrer und seine älteren Schwestern hatten ihm das Nötigste beigebracht.
Dann waren da noch Vater und Mutter Bellamy.
Der Earl und die Countess, so berichteten alle, konnten sich nicht ausstehen, und das schon, seit ihr fruchtbarer und doch unglücklicher Ehebund vor sechsundzwanzig Jahren geschlossen worden war.
Lady Addiscombe, geborene Helen Framling, war die Tochter eines wohlhabenden Trockenwarenhändlers aus Bristol. Helen hatte eine dringend notwendige Mitgift in Form von Messingwaren in die wankende Grafschaft mitgebracht, die ihr neuer Gatte besorgniserregend schnell verprasst hatte.
Gerald Bellamy, der siebte Earl of Addiscombe, war schon seit Jahrzehnten ein enger Vertrauter des Prinzregenten.
Der Earl genoss im Allgemeinen einen guten Ruf, wobei er auch für seine flatterhaften Tendenzen bekannt war. Seit seinem Umzug aus London hatte er sich im House of Lords nicht mehr engagiert, und auch seine Pflichten als Earl hatte er vernachlässigt. Wie es aussah, litt er an schwerer Spielsucht.
In ihrer Gesamtheit hatten diese Fakten Pauls Interesse geweckt, sodass er sich nun rittlings auf Coal sitzend vor einer Kreuzung wiederfand.
Die rechte Straße führte nach London, und die linke führte, wenn man der Wegbeschreibung des kleinen Rackers Glauben schenken mochte, nach Wych House.
Paul befand sich im wahrsten Sinne des Wortes vor einem Scheideweg.
Twickham hatte genau gewusst, wie er Wych House, die Familie Bellamy und die Bereitschaft des Earls, sein Fideikommiss aufzulösen, beschreiben musste, damit Paul – ein Mann, der Profit aus Meilen Entfernung riechen konnte wie ein Hai frisches Blut – seine Sachen packte und sich auf direktem Wege nach Little Sissingdon begab.
Er hatte das berühmte – oder eher berüchtigte – Wych House noch nicht entdeckt, doch die Verwahrlosung des Ortes, Umlands und der verarmten Bewohner lag förmlich in der Luft, weshalb Paul inzwischen bereute, sich auf diese närrische Reise eingelassen zu haben.
Närrisch? Keineswegs! Das ist eine einmalige Chance, mein Junge, flüsterte ihm eine innere Stimme zu, die verdächtig nach seinem Vater klang.
Paul wollte die Stimme ignorieren, doch sie war genauso laut und beharrlich, wie sein Vater es gewesen war.
Mit deinem Vermögen kannst du diese Gegend auf Vordermann bringen, Paul – und nicht nur ein nobles altes Haus vor dem Verfall retten. Das Dorf, an dem du gerade vorbeigeritten bist, befindet sich auf Land, das der Earl an Freemantle verkauft hat, und es verwildert und verdirbt mit jeder Minute. Wenn du das Haus und das umliegende Anwesen kaufst, wäre es dein Land und die Bewohner deine Leute.
Paul schnaubte über diese absurde Behauptung. Klingt, als wolltest du mich zum Feudalherrn machen, Vater. Außerdem besitze ich schon üppige Grundstücke um meine Häuser herum, warum sollte dieses hier also besonders sein?
Hier wärst du kein hässlicher Sohn eines geldgierigen Neureichen. Hier könntest du dir ein neues Ich erschaffen und ein richtiger Gutsherr werden.
Paul musste lachen.
Sein strebsamer Vater war zwar schon lange tot, aber dieser ganze Plan war genau, was John Needham sich sein Leben lang erträumt hatte: ein Ort, wo er nicht als »Iron Mad« Needham bekannt wäre, sondern als Lord Needham.
Das war dein Traum, Vater, nicht meiner.
Du hast es mir versprochen, Paul, weißt du noch …
Paul schnaubte. Ich würde niemals die dämlichen Versprechen vergessen, zu denen du mich am Sterbebett gedrängt hast.
Er seufzte und streichelte den Hengst an seinem glänzend schwarzen Hals. »Na, Coal, was denkst du? Sollen wir umdrehen und nach Hause reiten? Oder wäre es feige, zu gehen, ohne auch nur einen Blick auf das architektonische Meisterwerk zu werfen?«
Sein Pferd tippelte unruhig umher, doch eine Antwort gab es ihm nicht.
Dann musste Paul die Entscheidung wohl selbst treffen.
»Na gut, alter Junge. Wenn du unbedingt willst«, nuschelte er und lenkte sein Pferd auf die linke Straße in Richtung Wych House.