Leseprobe Eine geheimnisvolle Lady

1. Kapitel

Ägypten

1818

„Da ist der Mann, von dem ich dir erzählt habe“, sagte Ali und wies mit seinem kleinen schmutzigen Zeigefinger nach vorne. „Er soll Ramses heißen, aus England kommen und ein Mädchen kaufen wollen. Sie sagen, er bezahlt mit Gold.“

Ramses? So wie der berühmte Pharao? Aus dem dunklen Schatten der schmalen Gasse heraus entdeckte Ayisha den Ausländer sofort, der die Männer auf dem Marktplatz ausfragte. Er überragte alle um einen Kopf.

Ramses war ein komischer Name für einen Engländer.

Er war nicht so wie all die anderen, die in der Vergangenheit hinter ihr her waren.

Dieser Mann hier war sauber.

Und er war schön. Er war keiner dieser glatten hübschen Jungen, doch dank seiner markanten, beinahe strengen Gesichtszüge wirkte er elegant und anziehend. Er war ein Mann wie in Marmor gemeißelt.

Seine Haut war leicht gebräunt, aber noch heller als die der meisten Leute hier. Sie glich eher ihrer eigenen Hautfarbe, die sie sorgsam unter den Kleidern verhüllte. Er trug einen hellbraunen Hut, um sein Gesicht vor der Sonne zu schützen, und fremdländische, eng anliegende Kleidung, die keine Luft zur Kühlung an den Körper heranließ. Unter seiner dunkelblauen, schmal geschnittenen Jacke zeichneten sich breite, muskulöse Schultern ab. Darunter trug er ein weißes Hemd und um den Hals ein Tuch mit einem verschlungenen Knoten.

Dieser Mann trug viel zu viele, zu enge Kleider aus zu schwerem Stoff.

Dennoch wirkte er weder verschwitzt, noch erhitzt oder gar so zerknittert wie andere Engländer, die neu ins Land kamen. Dieser Mann war eher kühl und gelassen, beinahe schon hart.

Sie konnte den Blick nicht abwenden von seinen langen, muskulösen Beinen, die von sandfarbenen Reithosen umhüllt waren. Dazu trug der Fremde hohe, schwarz glänzende Stiefel. Dieser Engländer wirkte anziehend und attraktiv.

Die Männer, denen Ayisha sonst begegnete, trugen lose fließende Gewänder oder bauschige Hosen und weite lange Hemden. Ihre Kleider verhüllten die Körper und ließen nicht einmal erahnen, was sich darunter verbarg. Sie waren nicht zu vergleichen mit dieser beinahe schamlosen Kleidung, an der sich jede sehnige Muskelwölbung abzeichnete. Ayisha schluckte.

Auch ihre Kleidung verbarg, wer sie wirklich war. Andernfalls hätte sie hier nicht all die Jahre als Junge namens Azhar leben können.

Sie beobachtete das Muskelspiel des Engländers, der mit der geschmeidigen Kraft eines Löwen durch den Staub und das Menschengewirr auf dem Marktplatz schlenderte.

Obwohl sie im kühlen Schatten stand, wurde ihr plötzlich heiß.

Ramses. Der Name passte zu dem Mann.

„Er hat ein Bild von dem Mädchen dabei, das er kaufen will“, fuhr Ali fort. „Er hat es gestern vielen Leuten auf dem Marktplatz gezeigt. Gadi hat es gesehen. Es ist ein fremdländisches Mädchen. Er sagte, es könnte deine kleine Schwester sein, wenn du eine hättest.“

Ayisha erschrak. Was hatte Gadi gesagt? Es gäbe eine Ähnlichkeit zwischen der Zeichnung eines jungen fremdländischen Mädchens und dem listigen ägyptischen Gassenjungen Azhar?

Ayisha erinnerte sich sofort an das Porträt, das ein englischer Gast vor mehr als sechs Jahren von ihr gezeichnet hatte. Der Mann war so gut, dass man beinahe glaubte, das Bild sei lebendig. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie andächtig sie den Gast bei seiner Arbeit beobachtet hatte. Sein Stift schien nur so über das Papier zu fliegen. Staunend blickte sie wenig später auf ihr Ebenbild. Damals war sie dreizehn Jahre alt gewesen und noch ein Kind.

Dieser Fremde dort konnte unmöglich genau diese Zeichnung besitzen.

Nein, der Engländer hatte das Bild damals mitgenommen, als er Ägypten in Richtung China verließ. Sie war zu schüchtern gewesen, um ihn darum zu bitten.

Wie sollte diese Zeichnung in die Hände dieses Fremden dort geraten sein? Warum zeigte er das Bild herum? Und warum bot er Geld für das Mädchen auf dem Bild?

Es könnte deine kleine Schwester sein.

Diese Zeichnung konnte ihr ganzes Leben ruinieren.

Sie hielt den Blick auf den hochgewachsenen Ausländer gerichtet und versuchte, die Antworten auf ihre Fragen in seinem Gesicht abzulesen.

Im Souk hinter ihr röstete gerade ein Gewürzhändler Sesam, Koriander und Kreuzkümmel mit Haselnuss- und Cashew-Kernen, um Dukkah herzustellen. Ayishas Magen knurrte, als ihr das köstliche Aroma in die Nase stieg. Dennoch konnte sie den Blick nicht von dem Fremden wenden. Als ob er ihr Interesse spürte, änderte er plötzlich seine Richtung und schlenderte auf die Gasse zu, in der sie sich versteckte. Die Menge teilte sich wie selbstverständlich vor ihm, doch das lag nicht allein daran, dass er so groß und fremd war. Es lag an dem Mann selbst. Er bewegte sich so selbstbewusst und herrschaftlich wie ein Sultan und die Menge reagierte instinktiv.

Dieser Mann war es gewohnt, dorthin zu gehen, wo er wollte.

Dieser Mann war es gewohnt zu bekommen, was er wollte.

Diesmal wird er es nicht bekommen. Mich bekommt er nicht, schwor sie sich im Stillen.

„Es heißt, er sei ein angesehener englischer Lord“, wisperte Ali. „Er soll so viel Gold besitzen, dass er sich alles kaufen kann, was er will. Aber wieso macht sich einer wie er auf so eine weite Reise zu uns, nur um ein Mädchen zu kaufen? Gibt es in England keine Mädchen?“

Ayisha schnaufte verächtlich. „Natürlich gibt es dort Mädchen. Nur ein Narr schmeißt sein Gold so in den Staub.“ Ein kühles Grummeln in ihrem Magen strafte diese selbstsicheren Worte Lügen.

„Gadi sagt, wenn du jünger wärst, würde er dich als Mädchen verkleiden und dich an diesen Ramses verkaufen. Dann wäre er ein gemachter Mann.“ Ali lachte herzlich über diesen heimlichen Scherz. In ganz Kairo wussten nur er und Laila, dass Azhar das Mädchen Ayisha war.

Ayishas schnürte es die Kehle zu. Sie musste unbedingt an dieses Bild kommen und es vernichten. Gadi dachte, sie ähnle dem Mädchen auf der Zeichnung, doch er war ein dummer junger Mann. Er verstand gar nichts. Aber wenn er es weiterhin so leichtfertig dahinerzählte, könnten es schnell die falschen Leute hören.

Bittere Erinnerungen stiegen in ihr hoch.

Gadis Onkel war einer der Männer, die vor Jahren hinter ihr her gewesen waren. Wenn er das Bild jetzt sehen, wenn Gadi ihm im Scherz von seinem Plan erzählen würde.

Gadis Onkel war klug. Er wusste, wie sie früher ausgesehen hatte.

Sobald die Leute anfingen, sich Azhar, wenn auch zum Spaß, als Mädchen vorzustellen, würde die Wahrheit sehr bald herauskommen.

Gadis Onkel war nicht der Einzige, der ihr vor Jahren nachgestellt hatte.

„Gadi redet einen Haufen Unsinn“, sagte sie zu Ali.

Ali schüttelte den Kopf. „Nein, Gadi weiß viel über die Welt.“

Ayisha schwieg. Ihr kleiner Freund war zehn Jahre alt und Waise. Er neigte dazu, selbst im größten Taugenichts einen Helden zu sehen. Wieso nahm er sich keinen rechtschaffenden Mann zum Vorbild? Allerdings blieb Ali keine große Wahl. In den engen Gassen von Kairo traf man höchst selten rechtschaffende Männer. Wer anständig und redlich war, hatte es schwer, in der bitteren Armut der Elendsviertel zu überleben. Wer wusste das besser als sie?

Ayisha drückte sich tiefer in den Schatten und wartete darauf, dass der Engländer näher kam. Sie wollte ihn aus der Nähe sehen, wollte ihm in die Augen schauen. Das war gefährlich, aber sie musste wissen, was für ein Mann er war.

Erkenne deinen Feind.

Der Fremde schlenderte gelassen durch das Gedränge. Der Lärm, das dichte Gedränge, die schubsenden Menschen und sogar der ganze Schmutz schienen ihm nichts anzuhaben. Nie zuvor hatte Ayisha einen Mann für schön gehalten. Aber dieser Mann vor ihr war atemberaubend männlich, markant und schön. Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden.

Er war wie einer jener Männer aus den schaurig-schönen Geschichten, die ihre Mutter ihr früher immer erzählt hatte. Ihre Mutter hatte ihr viele wunderbare, aber auch Gruselgeschichten erzählt, von denen einige wahr, andere aber frei erfunden waren. Die Kunst bestand darin, den Unterschied zu erkennen.

Aber Ayisha war kein großäugiges staunendes Kind mehr und erst recht keine leichte Beute für Männer. Sechs Jahre lebte sie nun schon auf der Straße. Die Zeit hatte sie verändert. Sie war geschickt, gerissen, schlau wie ein Fuchs.

Der Engländer blieb stehen, schob den Hut in den Nacken und hob den Kopf so, als suche er einen Windhauch in der stickigen staubigen Luft. Er war ihr nun so nah, dass sie sein Gesicht deutlich erkennen konnte. Ayisha bestaunte die markant geschnittenen Linien seiner Wangenknochen, seine gerade kühne Nase und seine breite hohe Stirn.

Seine Haut war makellos glatt und leicht gebräunt, nur neben seinem Mund schimmerte eine kleine helle Narbe. Seine Lippen waren so geschwungen, dass sie wie zusammengepresst wirkten. Sie waren so faszinierend, dass Ayisha zu gerne mit dem Finger darüberstreichen würde, um zu prüfen, ob sie weich wurden.

Doch seine mandelförmigen Augen faszinierten sie noch mehr. Sie blitzten unter müden Lidern hervor, was ihnen einen leicht verschlafenen Ausdruck verlieh.

Doch der Fremde war alles andere als schläfrig. Ayisha überlief eine Gänsehaut. Er wirkte auf sie wie eine Kobra. Seinen Augen entging nichts. Und nun blickte er direkt in ihre Richtung.

Er konnte sie unmöglich sehen, denn die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Ayisha drückte sich in den dunkelsten Schatten der Gasse. Sie hatte ihr Versteck mit Bedacht gewählt. Die Gewürzgasse war die dunkelste auf dem Markt. Gewürze vertrugen keine Sonne.

Er stand immer noch da und schien mit seinen Augen den Schatten zu durchbohren. Ayisha hatte das Gefühl, als würde er sie mit seinem Blick aufspießen. Sie erstarrte regungslos wie eine Maus vor einem Python und blickte ihm in die Augen. Ein eiskalter Schauer lief ihren Rücken entlang.

Noch niemals in ihrem Leben hatte sie solche Augen gesehen. Ihr kaltes helles Blau erinnerte sie an den Himmel kurz vor Tagesanbruch, wenn die Hoffnung am größten war und die Seelen die Erde verließen. In diesen Augen lagen keine Wärme, keine Hoffnung und kein Mitleid. Dieser Fremde hier vor ihr war ein Mann, für den Leben und Tod keine Bedeutung hatten. Es wunderte sie nicht, dass die Menschen ihm eilig den Weg frei machten.

Sie drückte sich noch stärker gegen die Lehmziegel der Mauer. Sie war sich sicher, dass er sie nicht sehen konnte und dennoch war sein Blick zermürbend.

Der Gewürzhändler in ihrer Nähe begann, die Dukkah-Mischung mit Salz zu vermengen.

Bei der geringsten Bewegung des Fremden würde sie fliehen. Ayisha kannte jede Gasse in der Stadt, jeden Souk und jeden Schlupfwinkel. Sie wartete angespannt.

Der Geruch der Gewürze zog in ihre Nase und raubte ihr den Atem.

Der Engländer zog seine dunklen Augenbrauen zusammen und blickte verkniffen. Seine Nasenflügel bebten so, als wittere er Beute. Englische Lords jagten Füchse. Ihr Vater hatte ihr davon erzählt und ihr versprochen, eines Tages mit ihr nach England zu reisen und sie zur Fuchsjagd mitzunehmen.

Auch ihr Vater war ein großartiger Geschichtenerzähler gewesen. Ayisha hatte ihm alle Geschichten geglaubt. Welches Kind zweifelte schon an dem, was sein Vater ihm sagte?

Doch dann war er gestorben und seine Geschichten hatten sich als Lügen entpuppt. Ayisha würde niemals dieses schöne grüne England aus den Erzählungen ihres Vaters sehen.

Und selbst wenn, würde auch der mächtigste englische Lord sie nicht dazu zwingen können, Füchse zu jagen.

Sie selbst war zu oft gejagt worden, um an so etwas jemals Gefallen finden zu können.

Allerdings sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen englischen Lord. Waren ihm die Fuchsjagden so langweilig geworden, dass er die weite Reise übers Meer antrat, um nun in Ägypten Jagd auf Mädchen zu machen?

Von der anderen Seite des Marktes drang Lärm und Geschrei zu ihnen herüber. Es gab Streit bei einem Orangenverkäufer. Der Engländer blickte für einen kurzen Moment in die Richtung. Ayisha nutzte die Gelegenheit und verkroch sich blitzschnell hinter den Decken eines Verkaufsstands.

Durch die Ritzen in den Stoffbahnen hindurch sah sie, wie der Fremde nach einem flüchtigen Blick auf das Handgemenge am Orangenstand wieder auf die Stelle starrte, wo sie zuvor im Schatten gekauert hatte.

Stirnrunzelnd suchte er mit seinen Augen die Umgebung ab. Dann heftete sich sein Blick auf den Verkaufstand. Der Fremde kniff die Augen zusammen, als wisse er, dass sie sich unter den rot-weiß gestreiften Stoffbahnen versteckte. Dabei konnte er sie unmöglich sehen. Immerhin war er kein Dschinn und auch kein Zauberer.

Ayisha glaubte nicht an diesen Unsinn. Die abergläubischen Leute, unter denen sie seit sechs Jahren lebte, mochten an Dschinns, Afarit und andere böse Geister glauben, Ayisha zählte sich nicht dazu. Anders als viele Menschen hier im Souk konnte sie lesen und schreiben, und sie verstand mehrere Sprachen. Außerdem war sie Christin und hielt Dämonen und das Auge des Bösen für ausgemachten Unsinn.

Dennoch bekreuzigte sie sich im Stillen.

Plötzlich schlenderte der Fremde weiter über den Marktplatz und blickte aufmerksam um sich herum.

Ayisha atmete erleichtert auf.

Nein, er war keineswegs mit den Männern zu vergleichen, die sie früher gejagt hatten. Dieser Ausländer dort war wesentlich gefährlicher als alle anderen.

Sie wartete, bis er am anderen Ende des Marktplatzes um eine Ecke bog und verschwand, bevor sie unter der Bude hervorkroch und hinter Ali hinterherrannte, der zielstrebig den Platz überquerte. Sie packte ihn am Kragen und riss ihn herum.

„Autsch!“, murrte Ali.

„Du schleichst diesem Mann nicht nach“, zischte sie streng. „Er ist gefährlich.“

Ali prustete mürrisch. „Aber ich kann doch “ Ayisha fuhr ihm über den Mund.

„Ich meine es ernst, Ali.“ Sie fasste ihn grob an seinen mageren Schultern. „Du schleichst ihm nicht nach und du sprichst ihn nicht an. Hast du mich verstanden?“

Er wand sich verlegen unter ihrem strengen Blick. „Aber Ayisha, ich will das Bild sehen. Ich will wissen, ob es dir so ähnlich sieht, wie Gadi sagt.“

„Es sieht mir nicht ähnlich.“

„Woher willst du das wissen, wenn du es nicht gesehen hast?“

„Weil Gadi nur blöde Geschichten erzählt.“

Ali schmollte. „Wenn ich etwas von seinem Gold hätte, könnten wir das Haus in Alexandria kaufen.“

„Und wie willst du an das Gold kommen?“

Ali wandte verlegen den Blick.

„Ali! Du denkst doch nicht etwa daran, diesen Engländer zu bestehlen?“

Ali ließ den Kopf hängen und murrte: „Gadi sagt, der Engländer hat so viel Gold, dass er gar nicht merkt, wenn ihm etwas davon fehlen würde.“

„Dann soll Gadi versuchen, ihn zu bestehlen. Aber denk an meine Worte, wenn sie ihn erwischen und ihm zur Strafe die Hand abhacken.“ Sie schnaufte verächtlich. „Dieser Mann mag zwar aussehen wie ein harmloser Ausländer, aber er ist das genaue Gegenteil davon.“

Ali blickte sie mürrisch an und zog die Schultern hoch. „Du könntest mir doch das Stehlen beibringen.“

„Tu ich aber nicht. Stehlen ist böse und es ist gefährlich.“

„Du stiehlst doch auch.“

„Tu ich nicht.“ Sie zog ihn an der Hand durch das Gewirr schmaler Gassen und Durchgänge, ohne überlegen zu müssen. Dieses Labyrinth war ihr Zuhause.

„Aber du hast gestohlen“, brummte Ali aufmüpfig, „und damals warst du nicht älter als ich jetzt. Gadi sagt“, er stockte.

„Gadi redet zu viel. Ich habe gestohlen, als ich klein war, aber nur, um nicht zu verhungern. Aber jetzt arbeite ich und arbeiten ist ehrlich. Du“, sie kniff ihn leicht in seine magere schmutzige Wange, „musst nicht verhungern, solange Laila und ich am Leben sind. Du hast es viel besser.“

„Aber“, knurrte Ali.

„Schluss damit!“ Ayisha schüttelte seinen Arm. „Es würde Laila umbringen, wenn dir etwas zustößt. Du bist ihr Ein und Alles, obwohl ich nicht nachvollziehen kann, was ihr an einem garstigen schmutzigen Jungen liegt, der für sein Leben gern Dieb werden will.“

„Ach, Ayisha.“ Ali verdrehte die Augen und verzog das Gesicht beleidigt, um sich nicht anmerken zu lassen, wie geschmeichelt er sich fühlte.

„Stöhne nicht!“ Sie schubste ihn zur Hintertür ihres Hauses. Ein köstlicher Duft empfing sie. „Geh lieber in die Küche und hilf Leila beim Backen, aber iss nicht zu viel von den Fladen. Und halte dich von dem Engländer fern.“

„Ramses“, fiel Ali ihr ins Wort. „Aber ich will das Bild unbedingt sehen. Ich will dir zeigen 

Ayisha fiel ihm zornig ins Wort. „Schluss jetzt! Kein Wort mehr über diesen Mann und das Bild!“, befahl sie. „Geh endlich!“

Es dauerte nicht lange, bis sie den Engländer wieder gefunden hatte. Abgesehen von seiner Kleidung, fiel er durch seine imposante Größe auf.

Er befand sich im Haus von Hassan, dem ehemaligen Gärtner ihres Vaters. Auch wenn ihr nicht bereits fünf Leute berichtet hätten, dass ein großer ausländischer Herr gekommen war, um mit Hassan zu sprechen, hätte sie gewusst, dass er bei ihm war. Seine hohen schwarz glänzenden Stiefel standen neben der Eingangstür.

Sie war versucht, sie wegzunehmen, um sie an anderer Stelle zu verstecken. Das sollte ihm eine Lehre sein, hinter ihr her zu schnüffeln! Sollte er doch auch auf nackten Füßen durch Kairo laufen wie sie. Aber es standen zu viele Leute herum.

Sie hatte seit sechs Jahren nicht mit Hassan gesprochen. Sie hatte seit dem Tod ihres Vaters mit keinem ihrer ehemaligen Bediensteten gesprochen. Nach allem, was passiert war, hatte sie es nicht gewagt. Aber sie kannte sich auch in dieser Gegend gut aus.

Hassans Haus war klein und alt. Die ganze Familie teilte sich nur zwei kleine Räume. Der große Engländer würde darin kaum Platz finden. Vielleicht hatten sie die Hintertür geöffnet, auch weil es so heiß war. Von hinten könnte sie vielleicht etwas sehen.

Sie huschte in einen Durchgang, kaum breiter als ihre Schultern, kletterte unbeobachtet über eine Mauer und ein paar Steinstufen hoch auf das Dach des Nebenhauses. Die Häuser standen so dicht beieinander, dass sie einen freien Blick in den winzigen Innenhof von Hassans Haus hatte, wo sich eine Frau an der Feuerstelle zu schaffen machte. Sie brühte Tee auf und trug ihn für den Gast ins Haus, wobei sie die Türen offen ließ.

Ayisha lag flach auf dem Bauch und lauschte. Sie schützte ihre Augen mit den Händen vor der gleißenden Sonne und versuchte ins Haus zu spähen. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das Halbdunkel dort drin. Sie konnte den Engländer sehen, der das Bild aus der Innentasche seiner Jacke nahm und es Hassan zeigte. Hassan sah es sich an. Er nickte langsam, sagte etwas und schüttelte den Kopf.

Sosehr sie sich auch bemühte, Ayisha konnte kein Wort verstehen. Viele Engländer sprachen so laut, dass die ganze Nachbarschaft erfuhr, worum es ging, doch dieser verfluchte Kerl redete nur leise. Ayisha konnte kaum mehr als ein Raunen hören.

Ayisha lag in der sengenden Sonne. Sie schwitzte, sie war durstig und verärgert. Schließlich stand der Engländer auf, drückte Hassan etwas in die Hand und ging gebückt durch die Tür. Vermutlich hat er ihm Gold gegeben, dachte sie verbittert.

Sie kletterte vom Dach und rannte den schmalen Durchgang entlang nach vorne. Aus Angst, sie könne ihn wieder aus den Augen verlieren, bog sie eilig in Hassans Gasse ein und kam schlitternd im Staub zum Stehen.

Der Engländer hob den Kopf und sah in ihre Richtung. Er sah ihr direkt in die Augen. Er war im Begriff, seine hohen Stiefel anzuziehen, doch als er Ayisha sah, erstarrte er. Er kniff seine kalten Augen zusammen und zog seine dunklen Augenbrauen ahnungsvoll zusammen.

Ayisha fluchte leise. Sie kehrte sofort um und rannte in die andere Richtung. Nun musste sie ein paar Häuser umrunden, um ihn später wieder einzuholen.

Er hatte sie bemerkt und sie verwundert angestarrt.

Wie dumm sie war, so auf sich aufmerksam zu machen! Wie dumm und leichtsinnig zugleich. Natürlich hatte er den Kopf gehoben. Jeder hätte das getan, wenn ein wild gewordener Junge wie ein Verrückter auf die Straße rannte, sofort wieder kehrtmachte und davonlief.

Ihr Herz klopfte wild. Er kann unmöglich wissen, wer ich bin, redete sie sich ein. Kein Bekannter ihres Vaters hatte sie in den letzten Jahren gesehen. Außerdem lebte sie jetzt als Junge. Wenn ihre Verkleidung so leicht zu durchschauen wäre, hätte sie niemals sechs Jahre auf der Straße überlebt. Ein alleinstehendes Mädchen wurde in den Souks nicht geduldet, und schon gar keine alleinstehende Frau, die in Männerkleidung herumlief. Das war eine Todsünde, ein unverzeihliches Verbrechen. Es wurde nach dem Gesetz streng bestraft. Ayisha schüttelte sich bei dem Gedanken an die grausigen Möglichkeiten.

Nein, ihre Verkleidung war gut. Mit Ausnahme von Ali wusste kein Mensch, dass sie ein Mädchen war. Und Ali war wie ein kleiner Bruder für sie, der nachts neben ihr auf einer Strohmatte schlief. Auch Laila hatte den Schwindel vor Jahren durchschaut, doch sie bewahrte das Geheimnis und half Ayisha, ihre Verkleidung zu verbessern. Laila wusste um die Notwendigkeit.

Für alle anderen war Ayisha der Straßenjunge Azhar.

Wer ihre Eltern waren, wusste niemand. Nicht einmal Laila hatte sie es verraten. Dieses Geheimnis war mehr wert als Ayishas Leben.

Nein, es war ebenso wertvoll wie ihr Leben.

Dieses Geheimnis durfte sie keinem Menschen anvertrauen. Sie vergaß es, so gut es ging, und erinnerte sich nur daran, wenn wieder einmal jemand begann, sie zu jagen.

Jemand wie dieser Engländer.

Aber er konnte unmöglich nur durch einen Blick hinter ihr Geheimnis gekommen sein. Es war lediglich unvorsichtig von ihr gewesen, dass sie so kurz vor ihm zum Stehen gekommen war und dass sie so offen ihr Interesse an ihm gezeigt hatte. Normalerweise würde sie diesem kurzen Moment keine Bedeutung beimessen. Doch seine durchdringenden blauen Augen schienen einfach alles zu sehen.

In Zukunft musste sie besser aufpassen.

Wenig später entdeckte sie ihn wieder. Mittlerweile hatte sie den staubigen blauen Turban gegen ein weißes Stück Stoff getauscht, in den ein roter Streifen eingewebt war. Sie trug stets einen andersfarbigen Stoff bei sich, den sie sich um die Mitte band. Im Gedränge der Souks suchten die Menschen einander anhand ihrer Kopfbedeckungen. Wer den Turban wechselte, wurde ein anderer Mensch.

Sie beschattete den Fremden den ganzen Tag über, hielt sich dabei aber wohlweislich im Schatten oder in Hauseingängen verborgen oder sie versteckte sich hinter anderen Passanten. Der Engländer drehte sich immer wieder um und ließ seinen Blick über die Gassen schweifen, so als spüre er seine Beobachterin, doch zum Glück war Ayisha klein und schäbig und zu geschickt darin, nicht aufzufallen.

Unermüdlich suchte er nahezu alle ehemaligen Bediensteten ihres Vaters auf. Er ging dabei ausgesprochen sorgsam vor, wesentlich sorgfältiger jedenfalls als die anderen vor ihm.

Jedes Mal zog er die Ledermappe mit ihrem Bild aus der Innentasche seiner Jacke hervor und zeigte es herum. Jeder, dem er das Bild zeigte, nickte wissend mit dem Kopf. Anschließend aber schüttelten sie den Kopf oder zuckten ratlos mit den Schultern.

Für Ayisha ergab sich nicht die geringste Chance, das Bild zu stehlen. Eine dicht gedrängte Menschenmenge wie auf dem Markt wäre das ideale Umfeld für sie, doch der Engländer mied die Souks.

Den ganzen Nachmittag klapperte er die kleinen Häuser in den engen Gängen und Sachgassen ab. Es ergab sich keine günstige Gelegenheit für einen Dieb wie sie, der aus der Übung gekommen war, obwohl der Fremde nur von wenigen Neugierigen und Bettlern verfolgt wurde. Einige von ihnen kannten Azhar und würden natürlich weitertratschen, dass er Interesse an der Zeichnung hatte.

Nun stand der Engländer vor der Haustür eines Mannes, der früher einmal Gelegenheitsarbeiten für ihren Vater verrichtet hatte. Der Angestellte war mittlerweile dick geworden, aber sie erinnerte sich noch ganz genau an Gamal. Sie hatte ihn nie leiden können. Es wäre höflich gewesen, den Ausländer ins Haus zu bitten, so wie alle anderen es vor ihm getan hatten, doch Gamal wollte, dass alle Nachbarn seinen vornehmen Besucher sahen und ließ ihn deshalb in der prallen Sonne stehen.

Ayisha wollte sich Gamals Unhöflichkeit zunutze machen. Wie nicht anders zu erwarten, hatte sich eine kleine Gruppe Neugieriger um ihn und seinen Gast gebildet. Sie drängte sich näher.

„Ha! Ich wusste doch, dass du gelogen hast. Du interessierst dich ja doch für ihn“, flüsterte eine Stimme an ihrem Ellbogen.

„Ali! Was suchst du hier?“ Leise fluchend zerrte sie den Jungen von der Menge weg. „Du solltest doch Laila beim Backen helfen.“

„Hab ich auch“, entgegnete Ali trotzig, „aber jetzt soll ich Grünzeug für die morgigen Fladen pflücken.“ Er hielt einen kleinen Jutesack hoch.

„Das Grünzeug dazu wächst unten am Flussufer und nicht hier. Also geh! Ich habe dir gesagt, du sollst dich von diesem Mann fernhalten.“

„Ach Ayisha, Grünzeug pflücken ist Frauenarbeit.“

Sie hatte keine Geduld, sich sein ständiges Nörgeln anzuhören. „Und essen und ungehorsam sein ist die Aufgabe eines Jungen? Willst du etwa mal werden wie Omar?“

Ali verzog genervt das Gesicht. Er hasste es, mit Omar verglichen zu werden.

Denn Lailas Bruder Omar war ein Nichtsnutz. Laila arbeitete, um Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen. Sie buk Brot und Gebäck in dem kleinen Lehmofen auf ihrem winzigen Innenhof und fertigte Füllungen für ihre Pasteten aus Wildkräutern und einem kleinen bisschen Käse. Sie sammelte Holz, Reisig und getrockneten Tierdung als Brennmaterial. Sie war eine geborene Köchin und ihre Backwaren fanden reißenden Absatz.

Obwohl sie selbst keine Kinder hatte, war sie eine echte Mutter. Das Elend der Straßenkinder zerriss ihr das Herz. Zu gerne würde sie jedes von ihnen durchfüttern, doch Omar hatte es ihr verboten. Er nahm Laila jede Münze ab, die sie verdiente, da er als Familienoberhaupt das Recht dazu hatte.

Jede Münze, von der er wusste. Aber Laila und Ayisha hatten einen perfekten Plan ausgeklüngelt.

„Omar ist kein Mann, er ist ein Blutegel“, sagte Ayisha bestimmt. „Und so etwas wie Frauenarbeit gibt es nicht, es gibt nur Arbeit. Wenn Laila dich also bittet, Kräuter zu sammeln, tust du es! Kapiert?“

Ali nickte seufzend. Dann äugte er sehnsüchtig zu dem fremden Engländer in seinen hohen schwarzen Stiefeln hinüber. Er war so groß, so imposant und so viel aufregender als diese Kräuter. „Können wir ihn nicht bitten, uns das Bild zu zeigen?“

„Nein.“

„Warum nicht? Ich will es aber sehen. Wieso bist du denn hier?“

„Ich bin zufällig vorbeigekommen und aus reiner Neugier stehen geblieben“, entgegnete sie beiläufig. „Aber ich habe zu tun, genau wie du, mein kleiner Kräutersammler. Also, lauf los!“ Sie gab ihm einen leichten Schubs in Richtung Fluss.

Ali blickte sie mürrisch an und trollte sich widerwillig. Doch dann hellte sich seine Miene auf und er flitzte los. Ayisha schmunzelte. Man musste Ali einfach gern haben. Sie drehte sich nach dem Engländer um, der seinen Weg vollkommen in sich gekehrt fortsetzte.

Gamal blieb vor seinem Haus stehen und prahlte vor der kleinen Schar Neugieriger, die nun näher rückte. Ayisha schlich sich von hinten an, um zu hören, was Gamal zu sagen hatte.

„Mein Besucher ist ein großer Lord aus England. Er heißt Ramses und ist ein Bruder des englischen Königs.“

Pah, dachte Ayisha verächtlich. Als ob ein englischer Prinz ganz allein mit einem Dolmetscher, aber ohne bewaffnete Leibgarde durch die schmutzigen Gassen von Kairo spazieren würde. Selbst wenn der englische König dies seinem Bruder gestatten sollte, Mehmet Ali, der Pascha von Kairo, würde es verbieten.

Gamal warf sich in die Brust: „Er hat die lange Reise von der anderen Seite der Welt gemacht, nur um mit mir zu reden. Er hat mich nach dem anderen Engländer gefragt, der früher in der rosafarbenen Villa am Flussufer gewohnt hat.“

„Ist der andere nicht tot?“, fragte jemand.

„Ja“, antwortete Gamal. „Aber etwas aus seinem Besitz ist verloren gegangen, und die Familie des Engländers will es wiederfinden.“

Etwas aus seinem Besitz ist verloren gegangen. Ayisha spürte einen eiskalten Schauer auf ihrem Rücken.

„Hast du es gestohlen, Gamal?“, scherzte ein Umstehender und alle anderen lachten, allerdings nicht freundlich.

„Wie sollte einer wie ich, der mit englischen Lords verkehrt, mich mit so unwissenden Fellachen abgeben?“ Gamal sah seine Nachbarn hochmütig an, ging zurück ins Haus und schloss die Tür.

Die Männer brummten verärgert und zerstreuten sich in kleinen Grüppchen. Von ihnen würde Ayisha nichts erfahren.

Sie holte den Engländer und seinen Dolmetscher wieder ein, als sie in eine schmale gepflasterte Gasse einbogen. Der Mut drohte sie zu verlassen. Sie kannte die Gasse. Das drittletzte Haus war in gewissen Kreisen wohl bekannt.

Es war Zamils Haus.

Natürlich klopfte der Engländer an dessen schwerer eisenbeschlagenen Tür.

Ayishas Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Was konnte der Fremde von Zamil wollen?

Sie drängte sich in den Schatten, während der Übersetzer mit jemandem durch das kleine Gitterfenster sprach. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet und die Männer traten ein. Die schwere Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.

Jede Faser in ihr schrie auf und riet ihr, schleunigst zu verschwinden. Sie machte kehrt, blieb dann aber unschlüssig stehen. Sie musste wissen, womit sie es zu tun hatte.

 

„Was hast du vor Zamils Haus zu suchen, du Zwerg?“, knurrte eine tiefe Stimme hinter ihr.

Sie fuhr herum. Vor ihr türmte sich ein riesiger Mann auf, dessen hässliches, vernarbtes Gesicht ein mächtiger schwarzer Schnauzbart zierte. Ayisha erkannte ihn sofort. Jeder, der auf der Straße lebte, kannte ihn als Zamils Griechen, den bösartigsten und schnellsten Messer-Mann in ganz Kairo.

„Na, rede schon! Willst wohl einen heimlichen Blick auf Zamils Ware werfen, was?“ Hämisch grinsend beugte er sich ganz nah an Ayishas Gesicht und zeigte dabei seine braunen Zähne, von denen einige spitz geschliffen waren. Sein Atem stank faulig.

Es wäre ein Fehler, vor einem solchen Mann Angst zu zeigen. Ayisha wies gleichmütig mit dem Kinn zur Tür. „Mein Herr, dieser englische Lord, ist dort drin.“

„Dein Herr!?“, höhnte der Grieche laut. „Kein Kunde von Zamil und schon gar kein englischer Lord würde einen mageren zerlumpten Straßenköter wie dich in seine Dienste nehmen. Hau ab, du Bengel, es sei denn“, der Grieche musterte sie mit hinterhältigem, lüsternem Blick, „es sei denn, du hast etwas zu verkaufen.“

Ayisha erschauderte unmerklich. „Nein, ich verkaufe nur Informationen, Effendi. Wer denkst du, hat den ausländischen Lord zu diesem Haus geführt? Meinst du etwa, sein einfältiger Diener hätte gewusst, wo Zamil wohnt?“

Sie schnaufte verächtlich und sah dem Riesen frech in die Augen. „Vielleicht könnte der große Zamil oder sein hochverehrter Vertrauter sich dafür erkenntlich zeigen, wie?“

Der Grieche stutzte, dann lachte er dröhnend und warf belustigt seinen Kopf in den Nacken. „Du gefällst mir, Zwerg“, sagte er und schlug Ayisha kräftig auf den Rücken.

Seine fleischige Faust schlug gleich darauf krachend gegen die Tür. Das Gitterfenster wurde geöffnet. „Dieser freche Affe hier meint, er sei alt genug, um sich Zamils Ware anzusehen. Lass ihn rein zu seinem Herren.“ Als die Tür aufging, sagte er an Ayisha gewandt: „Pass auf deine großen Augen auf, Zwerg.“

„Meine Augen?“, fragte sie stirnrunzelnd.

„Dass sie dir nicht aus dem Gesicht fallen, wenn du Zamils Weiber siehst“, antwortete er, und beide Männer lachten dröhnend über den Witz.

Ayisha gelang es, halbherzig zu lächeln, dann schlenderte sie scheinbar unbekümmert drauflos. Dabei schlug ihr Herz laut und wild. Das Tor fiel hinter ihr gemächlich ins Schloss. Sie befand sich in einer anderen Welt, die nichts mit der staubigen lärmenden Stadt da draußen zu tun hatte.

Sie stand in einem weiten Innenhof, der mit honigfarbenen glatten Steinplatten gepflastert und von erhabenen Arkaden umgeben war, die auf reich verzierten Steinsäulen ruhten. In der Mitte des Hofes plätscherte ein Springbrunnen mit einer kleinen Wasserfontäne in einem Marmorbecken, in dem kleine Seerosen schwammen. An einem verschnörkelten Spalier aus Gusseisen rankte sich ein blühender Jasmin empor, der einen betörenden Duft verströmte.

In einiger Entfernung unterhielten sich etwa ein Dutzend kostbar gewandeter Männer miteinander wie Zuschauer, die auf den Beginn einer Vorstellung warteten. Vor einem verdunkelten Eingang stand ein großer Türke, der an unsichtbare Menschen im Raum Befehle erteilte.

Ayisha wusste, worauf die Männer warteten. Ihr Magen verkrampfte sich. Zu gerne würde sie jetzt auf die andere Seite des schweren eisenbeschlagenen Tores fliehen.

Diener reichten den wartenden Männern zur Erfrischung Tee, kalte Fruchtsäfte und kleine Delikatessen. Der würzige Essensduft stieg Ayisha in die Nase. Sie war hungrig, denn sie hatte den ganzen Tag über noch nichts gegessen. Aber selbst wenn man ihr etwas angeboten hätte, was natürlich nicht geschah, an diesem Ort hätte sie keinen Bissen davon herunterbekommen.

Sie entdeckte den Engländer am anderen Ende des Innenhofs. Seine fremde Kleidung zog neugierige, aber auch feindselige Blicke der umstehenden Männer an, die ihn offenbar nicht bekümmerten. Er begutachtete seine Umgebung mit kühler Distanz.

Ayisha senkte den Kopf und schlenderte möglichst unauffällig über den Hof. Sie stellte sich mit einigem Abstand hinter ihn und drückte sich wie ein bescheidener Diener an die Mauer.

Der Engländer sagte etwas zu seinem Dolmetscher, der sich daraufhin dem Mann näherte, der auf einem Podest in der anderen Ecke des Innenhofs saß. Es war ein beleibter Mann in fließenden Seidengewändern. Zamil.

Nach wenigen Schritten traten ihm Zamils Leibwächter in den Weg, die ihn allerdings nach einem kurzen Gespräch zu Zamil geleiteten. Kurz darauf winkte Zamil den Engländer zu sich.

Ayisha huschte durch die Wartenden näher.

Er zog den Lederumschlag aus der Tasche und zeigte Zamil das Bild. Zamil schaute es an und zuckte die Schultern. Der Engländer sagte etwas, was Ayisha nicht hören konnte.

Sie schlich näher und dann hörte sie Zamil sagen: „Nein, eine junge weiße Jungfrau bringt einen guten Preis und vor sechs Jahren“, er neigte seinen Kopf hin und her und schien nachzudenken, „wer weiß, was aus ihr geworden ist. Aber eines ist jedenfalls sicher, eine Jungfrau ist sie jetzt nicht mehr.“

Er blickte in das ausdruckslose Gesicht des Engländers und lachte leise. „Frischer Fisch schmeckt nun einmal besser als alter, nicht wahr?“ Er wies mit einem wulstigen Finger zum Podium. „Die Auktion fängt bald an, wenn Sie kaufen wollen.“

Aber der Engländer verabschiedete sich nur mit einer kurzen Verneigung und schritt durch die Gruppe der Käufer, als wären sie Luft. Und wie das einfache Volk auf dem Marktplatz machten auch ihm diese Männer hier Platz. Ayisha folgte ihm.

Sie hatte Mühe, Schritt zu halten, denn niemand machte einem verwahrlosten Straßenjungen Platz. Der Engländer war bereits auf der Straße, als Ayisha die Unruhe der Wartenden hinter sich hörte.

Sie beschleunigte ihre Schritte.

Sie wollte es nicht sehen, aber sie hörte es.

Es ging um eine Sklavin. Ayisha hörte das erwartungsvolle Raunen der Kunden, bevor Zamils Mann die Frau anpries. „Eine junge Tscherkessin, eine garantierte und beglaubigte Jungfrau.“ Das Raunen verstärkte sich in wachsender Erregung.

Ayisha schluckte den Brechreiz herunter, der in ihr aufstieg und taumelte zum Ausgang.

Der Wächter lachte, als er Ayishas aschfahles Gesicht sah. „So viel nacktes Fleisch ist wohl zu viel für einen Grünschnabel wie dich! Der Grieche hat dich doch gewarnt. Aber der Anblick wird dir heute Nacht süße Träume bescheren, du Zwerg!“ Er lachte dreckig und entriegelte das Portal. „Von nun an wirst du beim Anblick einer verschleierten Frau sofort wissen, was sie darunter verbirgt, nicht wahr?“

Ayisha drängte sich an ihm vorbei und rannte, bis ihr die schmerzhaften Stiche im Brustkorb die Luft zum Atmen nahmen. Sie röchelte und schluchzte resigniert.

2. Kapitel

Sie rannte hinunter bis zum Nil, die endlos fließende Quelle von Leben, Fruchtbarkeit, aber auch Tod. Der Fluss hatte stets eine tröstliche Wirkung auf sie. Und mahnte sie daran, niemals unachtsam zu werden. Denn hier lauerten überall Krokodile.

Im Wasser und an Land.

Sie kauerte sich ans Ufer, zog die Beine bis zu den Knien an und blickte über das glitzernde Wasser. Und mit einem Mal kamen die Erinnerungen mit geballter Wucht zurück.

Ayisha hörte das krachende Splittern von Holz unter den gewaltigen Schlägen gegen die Tür. Ein Klirren bedeutete ihr, dass die Riegel brachen. Die Räuber waren gekommen. Sie wussten immer, wann sie zuschlagen mussten.

Die Diener waren bereits alle beim ersten Anzeichen der Seuche geflohen.

Es gab niemanden, der sie hätte aufhalten können, außer Ayisha und ihrer sterbenden Mutter. Ihr Vater war bereits tot.

Ihre Mutter hatte verzweifelt ihre Hand gedrückt. „Versteck dich“, wisperte sie und deutete unter das Bett.

Ayisha kroch blitzschnell darunter und lag mucksmäuschenstill. Sie wagte es kaum zu atmen. Über sich hörte sie die schweren Atemzüge ihrer Mutter. Sie atmete in immer größeren Abständen ein und aus und ein und aus.

Zwei riesige schmutzige Männerfüße näherten sich vorsichtig dem Bett und blieben davor stehen.

Ayisha hielt den Atem an. Die langen Fußnägel des Mannes waren verhornt und schmutzig gelb.

„Tot“, hörte sie die tiefe Männerstimme über sich.

Nicht Mama, dachte sie verstört. Noch nicht. Auch Mama wird sich bestimmt verstecken.

„Irgendeine Spur von dem Kind?“, fragte ein anderer Mann.

„Nein, aber sie muss hier sein.“

Sie spannte jeden einzelnen Muskel an, bestimmt würde sie jeden Moment entdeckt und aus ihrem Versteck gezerrt.

„Such sie! Eine weiße Kindjungfrau bringt einen besseren Preis auf dem Sklavenmarkt als alles andere hier.“ Sie hörte, wie der Schmuck ihrer Mutter in den Händen des einen Räubers klimperte.

Mama hatte ihre Augen geöffnet und ihn mit ihrem letzten Atemzug verflucht.

Ayisha umschlang fröstelnd ihre Knie und blickte auf das endlos fließende Wasser des Flusses. Nichts brachte ihn aus seiner Ruhe, nichts bekümmerte ihn. Alles verging.

Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag und ihre Übelkeit wich.

Es hatte keinen Sinn, an Dinge zu denken, die nicht zu ändern waren. Ihr Ziel bestand einzig darin, zu überleben. Es war töricht gewesen, zu Zamil zu gehen. Nun war sie nur wieder krank vor Angst und Abscheu. Was hatte sie erwartet?

Sie raffte sich auf. Es war spät geworden und statt Geld zu verdienen, hatte sie fast den ganzen Tag damit vergeudet, dem Engländer zu folgen.

Da sie nur wenige Münzen eingenommen hatte, wollte sie Laila wenigstens Reisig für ihren Backofen bringen.

Sie sammelte trockenes Schilf, dürre Zweige, welkes Gras und trockenen Kameldung. Die Arbeit beruhigte sie. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Laila ihr zu essen gegeben und Ayisha hatte ihr zum Dank trockenen Reisig gebracht. Daraus war eine innige Beziehung zwischen ihnen entstanden.

Sie hatte es seither weit gebracht. Sie war nicht mehr das halb verhungerte, verängstigte Kind, sondern eine junge Frau, der viele Möglichkeiten offen standen. Sie musste sie nur ergreifen.

 

Die Sonne stand tief am Himmel, als sie ihr Bündel nach Hause schleppte. Sie zahlte zwar immer noch für ihr Essen, aber Laila war inzwischen so etwas wie ihre Familie geworden. Sie hatte zuerst Ayisha unter ihre Fittiche genommen und später Ali. Ginge es nach ihr, würden beide Kinder mit in ihrem Haus wohnen, doch Omar hatte es verboten.

Die Hütte mit den zwei Kammern, der gesamte Hausrat, ja sogar Laila gehörte Omar.

Ayisha betrat den winzigen Innenhof durch die Hintertür und stapelte das Brennmaterial sorgfältig neben dem Lehmofen. Laila würde es morgen brauchen.

Mmrrau? Ihr Kater Tom begrüßte sie wie immer von der hohen Mauer, die den Hof umgab. Tom betrachtete sich die Welt gern von oben.

Ayisha schmunzelte, als er sich streckte und heruntersprang, um ihr um die Beine zu streichen. Sie hob ihn hoch und streichelte ihn zärtlich. Schnurrend rieb er sein Köpfchen an ihrem Gesicht.

„Wo ist denn Ali?“, fragte sie den Kater mit einem Blick auf den leeren Strohsack unter der Bank. „Er müsste doch schon längst zu Hause sein.“

Sie klopfte leise an die Tür. Ali und sie betraten nur selten das Haus. Omar erlaubte Laila zwar zähneknirschend, sich um verwahrloste Straßenbettler zu kümmern, aber sie durfte keinen von ihnen ins Haus lassen oder auch nur einen Piaster für sie ausgeben.

Deshalb schliefen Ayisha und Ali im Innenhof auf einem Strohsack unter der Bank. Es war gar nicht so schlecht. Im Winter, wenn es kalt war, schliefen sie neben dem Backofen, der auch dann noch Wärme spendete, wenn die Glut schon lange erloschen war. Tom schlief zu Ayishas Füßen und hielt sie warm. Und im Sommer war es im Freien sogar kühler als im Haus. Es war wesentlich angenehmer, als auf der Straße zu schlafen.

Laila öffnete. Ihre Lippe war gespalten und mit dunkel verkrustetem Blut befleckt.

„Was ist passiert?“, fragte Ayisha besorgt, als wüsste sie es nicht.

Nach fünfzehn Jahren Ehe hatte Lailas Ehemann sie zu ihrem Bruder Omar zurückgeschickt wie ein unerwünschtes Paket. Er hatte sie fortgeschickt, weil sie ihm keine Kinder gebar. Es bedeutete das Ende all ihrer Träume, denn niemand nahm eine unfruchtbare Frau auf. Nun musste sie bei Omar leben, der gewalttätig, faul und habgierig war.

Ayisha hasste ihn. Er behandelte Laila wie eine niedere Dienstmagd, so als habe sie durch ihre Unfruchtbarkeit jeglichen Wert verloren.

Laila schüttelte den Kopf. „Es ist nichts. Er hat mir nur alles Geld abgenommen und heute hatte ich richtig gut verdient.“

Ayisha blickte vorsichtig in die Kammer hinein. „Ist er fort?“

„Ja, und wir werden ihn nicht eher wiedersehen, bis er alles Geld im Hurenhaus auf den Kopf gehauen hat.“ Sie sah Ayisha resigniert an. „Wir werden es nie schaffen, von hier fortzukommen. Niemals.“

„Doch, wir schaffen es“, widersprach Ayisha heftig und machte sich an einem lockeren Lehmziegel am Ofen zu schaffen. „Von diesem Versteck hier weiß er nichts. Auch wenn er dir dein Geld gestohlen hat, kann ich noch etwas dazutun.“ Sie nahm den Ziegel, griff in den Hohlraum holte einen kleinen Lederbeutel hervor, gab eine kleine Handvoll Münzen dazu und steckte ihn wieder zurück. „Mit jedem Tag haben wir etwas mehr beisammen, jeden Tag kommen wir Alexandria einen Schritt näher.“

Die beiden träumten davon, genügend Geld beiseitezulegen, um Kairo heimlich verlassen und nach Alexandria reisen zu können. Dort wollten sie ganz von vorne anfangen. Omar würde Laila niemals in der Stadt am Mittelmeer vermuten und niemand würde dort nach Ayisha suchen. Sie würden endlich frei sein und sich ein kleines Haus mieten, einen Backofen bauen und Backwaren verkaufen. Die Leute in Alexandria würden Lailas Kuchen, Fladen und Pasteten ebenso lieben wie die Leute hier.

Wer wusste schon, was sie alles erreichen konnten, wenn Omar ihnen kein Geld mehr stahl. Vielleicht würde es sogar für eine Lehrstelle für Ali reichen. Dann wäre er weg von der Straße und nicht mehr in Gefahr.

„Laila, Laila, bist du da?“, rief eine Frau. Die Nachbarin kam aufgeregt angerannt.

Sie öffnete die Vordertür.

„Hast du es schon gehört? Man hat Ali erwischt! Mein Sohn hat es mir grade erzählt.“

Laila unterdrückte einen Schrei.

„Wer hat ihn erwischt? Was ist passiert?“, fragte Ayisha hastig. Die Nachbarin neigte dazu, alles zu dramatisieren.

„Er wollte einen Ausländer bestehlen“, antwortete die Frau. „Aber der Mann hat ihn erwischt und mitgenommen.“

„Oh nein!“ Ayisha wusste sofort, welchen Ausländer sie meinte, und was Ali stehlen wollte. „Dieser Dummkopf.“

„Man wird ihm die Hand abhacken“, flüsterte Laila entsetzt. „Sie machen ihn zum Krüppel, zum Bettler.“

„Wenn die Männer des Paschas ihn erwischt hätten, wäre sein Schicksal besiegelt“, stimmte die Nachbarin zu. „Aber der Ausländer hat ihn mitgenommen. Wer weiß, was Ausländer mit Dieben anstellen?“

„Vielleicht hast du recht“, erwiderte Ayisha. Sie sprach sich selbst Mut zu, obwohl sie Zweifel hatte. „Möglicherweise bekommt er nur eine Tracht Prügel. Engländer hacken einem Kind keine Hände ab.“ Sie sah die Nachbarin erwartungsvoll an. „Wohin hat der Ausländer Ali gebracht?“

„Zu der rosafarbenen Villa am anderen Flussufer. Die mit dem hohen Maulbeerbaum.“

Es war Ayishas früheres Zuhause. Seit dem furchtbaren Überfall war sie nicht mehr dort gewesen. „Ich kenne das Haus“, sagte sie resolut. „Ich gehe hin und hole Ali zurück.“

„Aber wie willst du das anstellen?“, fragte Laila ängstlich. „Wir haben kein Geld und Omar wird uns nicht unterstützen.“

„Ich schleiche mich einfach unbemerkt ins Haus und stehle Ali.“

„Aber “ Laila sah erschrocken zur Nachbarin.

„Ich schaffe es schon, mach dir nur keine Sorgen“, beruhigte Ayisha sie. „Ich habe noch genügend Zeit, bis die Tore schließen.“

Um die Bevölkerung vor gefährlichen Seuchen und vor Verbrechen zu schützen, hatte der Pascha angeordnet, alle Viertel der Stadt bei Einbruch der Dunkelheit mit schweren Toren zu schließen. Die Bewohner Kairos konnten sich nachts nur mit Erlaubnis der Torwächter durch die Stadt bewegen. Wer nachts durch die Gassen schlich, musste zudem eine Fackel oder Laterne bei sich tragen. Dadurch war die Zahl der Einbrüche und Überfälle stark zurückgegangen, doch gegen die Verbreitung von Seuchen vermochten diese Maßnahmen nichts auszurichten.

„Sei unbesorgt, Laila, Ali und ich sind vor dem Morgengrauen wieder zu Hause.“

Sie nahm eine Seilrolle vom Haken an der Mauer und wickelte sie sich um die Taille.

Sie trug stets ein Messer unter dem Hemd. Nun band sie sich einen Lederriemen um das Schienbein und steckte einen schmalen Dolch als Waffe hinein. Sie hoffte jedoch, dass sie ihn nicht brauchen würde.

Laila schloss sie in die Arme. „Allah schütze dich.“

Ayisha nickte. Sie war noch nie gezwungen gewesen, sich mit einem Messer zu wehren, doch sie würde diesen Engländer töten, bevor er ihrer habhaft wurde.

 

Die Falle war vorbereitet. Der Junge schlief tief und fest, und Rafe verließ leise das Zimmer, ohne die Tür zu schließen. Sie stand noch halb offen.

Er trat an die offenen Verandatüren und blickte in die samtschwarze Nacht hinaus. Der Halbmond schien durch dünne Dunstschleier hindurch auf den Nil und verwandelte den Fluss in ein silbern glitzerndes Band. Die Luft war an diesem Abend kühl und feucht und ein leichter Wind fächelte in den Blättern des hohen alten Maulbeerbaums an der Gartenmauer. Rafe glaubte sogar, den schwach würzigen Duft der Wüste zu riechen. Die stinkende staubige Stadt schien Welten von hier entfernt zu sein und nicht nur eine halbe Meile.

Bei Tageslicht wirkte das einst elegante Haus von Sir Henry Cleeve schäbig und vernachlässigt, bei Nacht aber haftete ihm ein verwunschener Zauber an. Zikaden zirpten in den Lotussträuchern und der Duft der Damaszener Rosen wehte süß aus dem Innenhof zu ihm herauf.

Es stimmte ihn traurig, diese Villa als Falle zu nutzen, aber er hatte deutlich gespürt, wie ihm jemand den ganzen Tag über gefolgt war.

Und dieser jemand hatte ihm offenbar diesen Jungen geschickt, um das Bild zu stehlen.

Das Bild und das Gold hatten die Leute neugierig gemacht, genau wie Baxter es vorhergesagt hatte. Und Neugier war ein hoffnungsvolles Zeichen.

Rafe hatte die frühere Cleeve-Villa für drei Wochen mieten können. Es war ein Glücksfall, ebenso wie die Begegnung mit Johnny Baxter, dem Cousin seines Freundes Bertie. Johnny lebte in Kairo und Rafe hatte ihn gleich am ersten Tag aufgesucht.

„Johnny ist der Mann, den du in Kairo brauchst“, hatte Bertie gesagt. „Er weiß alles und er kennt jeden.“

Johnny Baxter war, wie Rafe von Bertie erfuhr, in der Schlacht am Nil schwer verwundet worden und hatte sich entschlossen, in Ägypten zu bleiben, um in der Sonne zu sterben und nicht in einem stinkenden Schiffsrumpf.

Doch Johnny Baxter hatte nicht nur Napoleons Okkupation sowie seine schweren Verletzungen überlebt, er war am Nil auch reich geworden. Er liebte das Land und wollte sein Leben hier beschließen.

„Er ist dort vollkommen integriert“, hatte Bertie Rafe erzählt. „Er hat seine frühere Krankenpflegerin geheiratet und ist glücklich geworden. Leider ist seine Frau im letzten Jahr verstorben, dennoch denkt er nicht daran, nach England zurückzukehren. Er lebt und kleidet sich wie ein Araber und spricht fließend die Sprache. Man würde ihn niemals für einen Engländer halten und schon gar nicht für einen in Eton erzogenen Aristokraten. Seine Familie schämt sich für ihn und hat ihn enterbt.“

Bertie hatte Johnny als ehrlichen und zuverlässigen Freund beschrieben, der mit Bettlern und Herrschern auskam und die Stadt wie seine Westentasche kannte. „Wenn dir jemand weiterhelfen kann, dann ist es Johnny.“

Was Bertie Rafe allerdings verschwiegen hatte, war die Tatsache, dass Johnny Baxter sich strikt weigerte, mit Europäern zusammenzuarbeiten.

Er werde Rafe nicht empfangen, weil er keinen Besuch aus England wünsche, ließ er durch einen Diener ausrichten. Doch Rafe ließ sich nicht so leicht abspeisen.

Er wusste aus seiner Zeit bei der Armee, wie viel Zeit und Umwege ein ortskundiger Führer sparen konnte.

Deshalb schickte Rafe seine Karte ein zweites Mal, doch diesmal mit einer knappen handschriftlichen Notiz.

Diesmal empfing ihn Johnny Baxter. Er war in arabische Gewänder gehüllt und nickte stumm, bevor er bei einem Diener Kaffee bestellte. Er ruhte auf einem niedrigen Diwan und beobachtete Rafe mit eiskaltem, schneidendem Blick. Rafe schätzte ihn auf etwa vierzig. Die Narben in seinem wettergegerbten Gesicht stammten vermutlich von Schrapnell-Splittern.

Rafe durchschaute die Taktik und unternahm erst gar keinen Versuch, das Schweigen zu brechen. Stattdessen lehnte er sich in die Polster zurück und wartete. Kaffee wurde serviert. Es war ein bitteres, körniges Gebräu, das abscheulich schmeckte, doch Rafe trank es kommentarlos.

So saßen sie eine ganze Weile.

Schließlich gähnte Rafe. „In der Schule haben wir früher ein ähnliches Spiel gespielt. Damals ging es allerdings darum, den Blick nicht zu wenden. Wer als Erster blinzelte, hatte verloren. Ich habe meistens gesiegt. Ich gewinne gern, müssen Sie wissen.“

„Aber trotzdem haben Sie zuerst gesprochen“, entgegnete Johnny Baxter leise.

Rafe zuckte mit den Schultern. „Heute langweile ich mich schneller. Im Übrigen bin ich kindische Spiele leid.“ Er sah seinen Gastgeber unverwandt an.

Der nickte nach einer Weile und bestellte weiteren Kaffee.

Rafe hob abwehrend die Hand. „Danke, für mich bitte nicht.“

Baxter straffte die Schultern. „Schmeckt Ihnen mein Kaffee nicht?“

„Nein, er ist abscheulich“, antwortete Rafe seelenruhig.

Es entstand eine längere Pause, doch dann lachte Johnny Baxter lauthals auf. „Kaum jemand würde es wagen, mir das direkt ins Gesicht zu sagen, aber Sie haben natürlich vollkommen recht. Mein Koch ist gestern in sein Dorf zurückgekehrt, weil jemand aus seiner Familie gestorben ist. Ich habe noch keinen Ersatz gefunden und keiner meiner Diener ist in der Lage, einen anständigen Kaffee zu kochen. Ist das zu fassen?“

Er lehnte sich zurück und schlug einen freundlicheren Ton an. „Nun erzählen Sie mal, woher Sie meinen Cousin Bertie kennen. Er ist der Einzige aus meiner Familie, der noch mit mir spricht. Ich nehme an, Sie waren zusammen im Krieg?“

Sie plauderten über den Krieg und über Bertie und als alle Höflichkeiten ausgetauscht waren, trug Rafe sein Anliegen vor. „Man hat mir geraten, mich hilfesuchend an die englische Gemeinde in Kairo zu wenden.“

„Und warum befolgen Sie diesen Rat nicht?“

„Ich nehme an, dass die Geschichte des Mädchens längst bekannt wäre, sollte die englische Gemeinde etwas von ihm wissen.“

Johnny Baxter schnaufte verächtlich. „Völlig richtig. Das sind allesamt eingebildete Snobs. Sie wissen nichts über die Einheimischen und behandeln sie schlecht. Ich versuche, möglichst wenig mit ihnen zu tun zu haben.“

Rafe nickte. „Bertie meinte, Sie wären der richtige Mann, der mich über die Besonderheiten hier vor Ort aufklären und mir helfen kann, das Mädchen zu finden.“

Johnny Baxter war von der Geschichte über Sir Henry Cleeves verschollene Tochter fasziniert und versprach Rafe, sich unter den Einheimischen umzuhören. „Zeigen Sie die Zeichnung herum und lassen ein paar Münzen springen. Nur so könnten Sie etwas über den Verbleib des Mädchens erfahren.“

Er erzählte Rafe von der leer stehenden Cleeve-Villa und nannte ihm den Namen des Besitzers. Und er riet ihm, sich mit seinen Nachforschungen zu beeilen. „In den heißen Sommermonaten besteht in der Stadt erhöhte Seuchengefahr.“

„Ich wollte eigentlich vor der großen Hitze wieder in England sein“, erwiderte Rafe.

„Gut. Sie sollten unbedingt auch Zamil aufsuchen. Er ist Sklavenhändler und versteigert Frauen. Wenn das Mädchen noch lebt, und man seit sechs Jahren nichts von ihr gehört hat, steht zu befürchten, dass sie in einem Harem gelandet ist. Es ist eine grässliche Vorstellung, ich weiß, aber in dem Fall wäre es besser, der alten Dame zu sagen, dass ihre Enkelin verstorben ist. Eine junge weiße Jungfrau bringt einen hohen Preis und Zamil handelt nur mit erstklassiger Ware. Sagen Sie ihm, Baxter schickt Sie.“

Also war Rafe zu Zamil gegangen.

Erstklassige Ware. Rafe biss die Zähne aufeinander. Er hoffte inständig, dass das kleine Mädchen auf der Zeichnung nicht an einem solch schrecklichen Ort gelandet war.

Doch auch Zamil hatte nichts von dem Kind gewusst.

Rafe nippte an seinem Brandy und wartete. Die Stille der Nacht täuschte ihn nicht darüber hinweg, dass der Friede nicht ewig anhalten würde.

Er hatte die Zeichnung herumgezeigt und Goldmünzen aufblitzen lassen. Es hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Irgendjemand schnüffelte hinter ihm her und dafür gab es gewiss einen guten Grund.

Auf dem Marktplatz hatte er es zum ersten Mal gespürt, dass er genau beobachtet wurde.

Der Spitzel hatte sich im Schatten der engen Gasse versteckt und war in dem Moment verschwunden, als Rafe von einem Streit abgelenkt war. Aber das unheimliche Gefühl, verfolgt zu werden, blieb den ganzen Tag.

Die anschließende Begegnung mit dem Straßenbengel, der um die Hausecke gerannt kam und bei Rafes Anblick in die entgegengesetzte Richtung floh wie ein gehetzter Hase, gab ihm die letzte Gewissheit. Bei Zamil hatte er kurz den Eindruck gehabt, der Bursche würde in einer hinteren Ecke stehen. Sicher war er sich aber nicht. Und dann hatte später der kleine Junge Ali versucht, ihm das Bild zu stehlen.

Das unheimliche Gefühl zwischen Rafes Schulterblättern verstärkte sich. Irgendwo da draußen in der Dunkelheit lauerte jemand und beobachtete ihn.

War es ein Dieb? War es ein Mörder? War es der Mensch, der Ali befohlen hatte, ihn zu bestehlen?

Er dachte an Ali, der gefesselt und geknebelt im Nebenzimmer schlief. Es war Rafe weiß Gott nicht leichtgefallen, ein Kind gefangen zu halten, aber der Junge war der Schlüssel zu seinem Verfolger und der erste Hinweis, dass Rafe nicht umsonst nach Ägypten gekommen war.

Interessanterweise hatte es der Junge nur auf die Zeichnung abgesehen und nicht auf das Gold.

Der Kleine mochte ein ungeschickter Taschendieb sein, aber mit der richtigen Ausbildung würde aus ihm ein guter Soldat werden. Er hatte eisern geschwiegen und nur seinen Namen verraten, obwohl ihn Rafe mithilfe des Dolmetschers hart ins Verhör genommen hatte. Mit zittriger Stimme hatte er behauptet, keine Familie, kein Heim und keinen Herrn zu haben. Er hatte steif und fest darauf bestanden, dass ihm niemand befohlen habe, das Bild zu stehlen. Er hatte es verdächtig oft behauptet, der tapfere kleine Bettler.

Nur ein Feigling befahl einem Kind, eine wertlose Zeichnung zu stehlen und zu riskieren, eine Hand zu verlieren.

Doch für irgendwen war dieses Bild nicht wertlos.

Rafe war froh, in Ägypten zu sein. Hier verspürte er eine Vitalität wie seit Jahren nicht mehr. Er hatte den ganzen Tag in der sengenden Sonne verbracht, die Hitze war ihm bis in die Knochen gedrungen und er konnte nicht genug davon bekommen. Ihm war so ewig lange kalt gewesen. Er hatte so furchtbar gefroren.

Er setzte sich und wartete. Es war auch lange her, dass er Wache gehalten hatte.

 

Der Mond stand tief am Nachthimmel. Rafe dachte verbittert an die Zukunft, die ihm sein älterer Bruder mit Lady Lavinia Fettiplace vorgezeichnet hatte. Der Plan war getrieben von der Besessenheit, die Erbfolge des Earldoms of Axebridge unbedingt zu sichern.

Ein leises Kratzen an der Hausmauer ließ ihn aufhorchen.

Lautlos zog er sich hinter das offene Fenster zurück.

Ein schmaler Schatten huschte lautlos über den Balkon. Es war ein zweiter halbwüchsiger Junge und nicht Alis Herr, den Rafe zu hassen begonnen hatte.

In Alis Zimmer brannte noch eine Lampe. Rafe konnte durch die offene Tür die Umrisse des schlafenden Jungen erkennen. Der Fremde sah es auch. Er kletterte wie ein Gespenst durchs Fenster und huschte zum Bett.

Im Lichtschein blitzte etwas auf. Es war ein Messer. Wollte der Eindringling Ali töten? Rafe stürmte los und griff nach der Hand des Fremden. Er hörte einen leisen Schrei, dann schlitterte das Messer klirrend über den Fußboden. Der Eindringling fuhr herum und trat mit seinem Fuß zwischen Rafes Beine.

Rafe wich geschickt aus, sodass ihn der Fuß nur am Oberschenkel traf. Hätte er sein Ziel getroffen, wäre es mit der Erbfolge von Axebridge ein für alle Mal vorbei gewesen. Der Bursche teilte aus wie ein Maultier!

Der Eindringling boxte mit der freien Faust blitzschnell auf Rafe ein. Gleichzeitig versuchte er mit seinem Fuß, Rafe abermals schmerzlich zu treffen. Rafe lag zwar nichts an der Erbfolge, doch er wollte seine Männlichkeit bewahren. Fluchend stieß er dem Halbwüchsigen die Beine weg und brachte ihn so zu Boden.

Der Bursche entdeckte das Messer und griff danach. Rafe schleuderte es mit der Stiefelspitze unters Sofa, drehte sich um und sah, wie der Junge in Richtung Fenster fliehen wollte. Mit einem Sprung warf er sich auf ihn und fiel mit ihm zu Boden.

Der Eindringling rührte sich einen Moment lang nicht. Rafe hörte, wie er nach Atem rang. Er hatte ihm mit seinem Gewicht die Luft aus den Lungen gepresst. Gut so. Er drehte den Einbrecher auf den Rücken. Obwohl der Bursche nach Luft schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen, schlug er erbittert mit den Fäusten um sich und wand sich wie ein Aal. Er versuchte, seine Beine freizubekommen, um Rafe ein Knie zwischen die Schenkel zu rammen.

Er war mager, beinahe halb verhungert, und dennoch kämpfte er wie ein Besessener. Gegen Rafe hatte er zwar keine Chance, dennoch wehrte er sich heftig. Rafe empfand es als lästig. Wenn er den Jungen ausfragen wollte, musste er ihn erst einmal bändigen. Geschickt wich er dem nächsten Fausthieb aus und versuchte dann die Fäuste seines Widersachers zu packen.

„Ich tu dir nicht weh, wenn du dich ergibst“, sagte er auf Englisch. Er bemerkte seinen Fauxpas und widerholte seine Worte auf Französisch.

Der Junge entblößte die Zähne, was Rafe mit einem Lächeln verwechselte. Er lockerte seinen Griff und der Junge schnellte hoch.

„Au!“ Der kleine Mistkerl hatte ihn gebissen. Rafe hatte genug. Mit einem gezielten Faustschlag ans Kinn setzte er ihn außer Gefecht. Der Kopf des Jungen fiel nach hinten. Der Fremde rührte sich nicht mehr.

Rafe verzog das Gesicht. Offenbar hatte er doch härter zugeschlagen als gedacht. Er wollte den kleinen Teufel nur bändigen, nicht ohnmächtig schlagen.

Er umschloss den mageren Körper des Jungen mit gespreizten Schenkeln. Dann richtete er sich auf und musterte seinen Gegner. Im schwachen Lichtschein konnte er nur schemenhaft das dreckverschmierte Gesicht eines Gassenjungen erkennen, der ungefähr fünfzehn Jahre alt sein musste, und ebenso zerlumpt gekleidet war wie Ali. Im Kampf war ihm der Turban vom Kopf gerutscht. Darunter blitzten kurze Haare hervor, die augenscheinlich ohne Spiegel mit einem Messer abgesäbelt worden waren. Nicht mal unattraktiv der Kleine, dachte Rafe. Seine Haare könnten in Mode kommen als Garqonfrisur. Er selbst zog wirres Haar einem gescheitelten Kopf vor.

Die Gesichtszüge des Bengels unter all dem Dreck wirkten seltsam zart.

Guter Gott, dachte Rafe zögernd. Wenn er es nicht besser wüsste.

Der Junge war nicht gerade stark. Ein leichter Schlag mit der Faust ans Kinn hatte ihn schon außer Gefecht gesetzt.

Er starrte auf die Brust des Jungen. Sie war flach wie ein Brett.

Rafe rutschte ein wenig nach hinten, bis er auf den Beinen des Burschen hockte und beäugte die Stelle zwischen dessen Schenkeln. Seine Hosen waren sehr weit.

Es gab nur einen Weg, seinen Verdacht zu bestätigen. Rafe ließ die flache Hand seinen Bauch nach unten gleiten zwischen die Schenkel des Jungen. Er spürte nichts, jedenfalls nichts, was seinen Gefangenen als männliches Wesen ausgezeichnet hätte.

Der Einbrecher war ein Mädchen. Er musterte die Gesichtszüge scharf im schwachen Lichtschein. Und zwar nicht irgendein Mädchen.

Ihre Lider flatterten auf. „Sie widerlicher Schmutzfink!“, fauchte sie ihn auf Französisch an. Im gleichen Moment wurde Rafe bewusst, wo seine Hand lag und nahm sie weg. Augenblicklich wurde das Mädchen unter ihm zur wilden Furie.

Hatte sie vorhin schon unerbittlich gekämpft, so setzte sie sich nun wie besessen zur Wehr. Sie bäumte sich auf, wand sich, schlug um sich, biss und kratzte wie eine Wildkatze.

„Beruhigen Sie sich“, keuchte Rafe auf Englisch. Er versuchte Ayisha zu bändigen, ohne sie noch mehr zu verletzen. „Ich tue Ihnen nichts. Ich will Ihnen helfen.“

Sie kämpfte weiter.

Er wiederholte seine Worte auf Französisch.

Sie spuckte ihm ins Gesicht.

Fluchend packte er ihre Hände, hielt ihre Hüften zwischen seinen Schenkeln gefangen, aber sie hörte nicht auf, sich unter ihm aufzubäumen und zu winden.

„Hören Sie auf, kleine Närrin“, schnaufte er. „Ihre Großmutter schickt mich.“

Sie beschimpfte ihn auf Französisch und stieß bösartigste Schmähungen gegen seine Mutter aus und sagte ihm, er solle sich diese Großmutter sonst wohin stecken. Und dann biss sie ihn ein zweites Mal kraftvoll in den Arm.

„Kleine Hexe! Soll ich Ihnen noch einen Fausthieb versetzen?“, schimpfte er erbost. Er würde es zwar nicht übers Herz bringen, denn bis vor wenigen Minuten hatte er noch keine einzige Frau geschlagen. Dass es ihm bei ihr passiert war, machte ihn wütend.

Sie bäumte sich auf, bekam eine Hand frei und versuchte, ihm die Augen zu zerkratzen. Er wich aus, fasste unsanft ihr Handgelenk wieder und spürte, wie warmes Blut langsam seinen Hals hinunterlief.

„Das wird jetzt aber ausgesprochen lästig“, knurrte er. Am liebsten würde er diese kleine Wildkatze würgen, es würde ihm sogar Spaß machen, denn letztendlich hatte sie keine Chance gegen ihn.

Trotz seiner Überlegenheit wollte das Mädchen partout nicht aufgeben. Es gab nur eine Möglichkeit, es zu bändigen, ohne ihm ernsthaft wehzutun.

In einer blitzschnellen Bewegung warf er sich über sie und presste ihren schmalen Körper auf den Fußboden. Mit seinen kraftvollen Schenkeln hielt er sein Opfer gefangen, das Gewicht seines muskulösen Körpers begrub das Mädchen unter sich.

Sie versuchte immer noch erbittert, sich zu wehren, doch Rafe lag regungslos auf ihr. Sein Gewicht genügte, um sie zu bezwingen.

Sie warf den Kopf von einer Seite zur anderen. Er nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und hielt es fest, stets darauf bedacht, nicht in die Nähe ihrer Zähne zu gelangen.

Mit den Ellbogen presste er ihre Arme auf den Boden. Nachdem sie einsehen musste, dass sie ihm hilflos ausgeliefert war, polterte ein nicht enden wollender Schwall arabischer Worte aus ihr heraus, der mit Sicherheit alle üblen Schimpfwörter der Gosse umfasste.

Rafe wartete, bis sie gezwungen war, eine Atempause einzulegen. Dann sah er sie an. „Diese Mühe war vergeblich. Ich spreche kein Arabisch.“

Augenblicklich wechselte sie ins Französische.

„Wie entzückend“, stellte er im Plauderton fest. „Sie verstehen offensichtlich sogar Englisch.“ Er hätte ihre Augen gerne deutlicher gesehen. Die Konturen ihrer Wangen waren jedenfalls hübsch. Ihre Haut war zwar völlig verschmutzt, doch sie fühlte sich seidig an.

Wieder versuchte sie, sich aufzubäumen. Sie wollte ihn abwerfen wie ein störrischer Gaul, doch das hatte nur zur Folge, dass sich sein Körper ernsthaft regte. Er reagierte auf die intime Nähe zu einer Frau.

Sie bemerkte es ebenfalls und lag plötzlich still unter ihm. „Dreckiges Schwein“, zischte sie auf Französisch.

Er lachte leise.

Sie spannte sich unter ihm an. „Kennen Sie keine Scham?“

„Nicht wirklich. Ehrlich gestanden, bin ich eigentlich nur froh, dass bei mir dort unten trotz Ihrer bösartigen Attacke noch alles in Ordnung zu sein scheint.“

„Attacke?“, zischte sie schneidend. „Sie müssen gerade reden.“ Sie sprach nun Englisch.

Auf diesen Augenblick hatte er gewartet. Er drehte sich mit ihr zur Seite, um ihr ins Gesicht sehen zu können. „Miss Alicia Cleeve, nehme ich an.“