Kapitel 1
»Du bist gefeuert«, haut Jens mir um die Ohren, als ich nach dem Meeting an seinem Schreibtisch sitze, weil er mich sprechen wollte. Ich habe wohl mit vielen gerechnet. Mit einer Gehaltserhöhung für die letzten Anzeigen, die ausgezeichnet beim Kunden ankamen oder wenigstens einem Lob, aber garantiert nicht mit einer Kündigung.
»Was bin ich?« Ich bin schockiert.
»Finny, ehrlich, es tut mir leid. Aber was soll ich machen? Wir müssen Stellen abbauen und du bist nun mal zuletzt eingestellt worden«, erklärt Jens kläglich. Er wirkt ungewohnt reserviert.
Ich rümpfe die Nase. »Du wolltest doch, dass ich hier anfange. Du hast mich vor neun Monaten abgeworben und gesagt, ich sei das, was der Firma fehlt. Ich soll meinen Job kündigen und wechseln. Außerdem hast du mich regelrecht dazu überredet und jetzt lässt du mich schnöde fallen?«
Jens steht auf. Er atmet tief durch und nickt beharrlich mit dem Kopf. »Das ist scheiße, verstehe! Noch mal, es tut mir leid! Vielleicht kannst du zurück zu Schilling-Printmedien?«, schlägt er vor, dabei weiß er genau, dass das keine Option ist.
»Ich soll dahin zurück, wo ich mit wehenden Fahnen weggegangen bin? Wo ich meiner Chefin gesagt habe, sie könne mich mal und wo ich eine Tasse habe mitgehen lassen?«
»Du hast eine Tasse mitgehen lassen?«
»Ach, Jens! Das ist mies! Gibt es keine andere Möglichkeit? Komm schon, lass dir etwas einfallen!« Ich brauche diesen verdammten Job. Wenn ich an die Stromnachzahlungsrechnung denke, die noch unbezahlt zu Hause liegt, wird mir übel.
»Das kann ich nicht tun. Wenn ich für dich eine Ausnahme mache, wollen alle eine Sonderbehandlung. Ich muss fair bleiben, Finny. Wirklich, es tut mir leid«, sagt er abermals.
»Und du willst mir jetzt sagen, dass das nichts damit zu tun hat, weil ich dich vor Kurzem verlassen habe?«, hake ich wütend nach.
»Wo denkst du hin? Ich trenne Berufliches und Privates, das weißt du. Das hier hat rein gar nichts mit uns zu tun.«
Ich glaube ihm kein bisschen. Jens hatte ziemlich sauer reagiert, als ich ihm mitteilte, dass ich keine Zukunft für uns beide sehe. Es war nie die große Liebe, sondern eher eine Freundschaft mit Zulage. So zumindest habe ich es gesehen. Jens hingegen teilte mir jedoch mit, dass er mehr für mich empfindet. Er versuchte mich zu überreden, es noch einmal mit ihm zu probieren. Doch mir war klar, dass das zwischen uns nichts wird und ich bin gegangen. Nun, kurze Zeit später kommt die Kündigung. Das kann doch kein Zufall sein.
Schnaubend stehe ich auf und möchte gerade hinausgehen, als Jens sich räuspert, worauf ich stehen bleibe.
»Solltest du vorhaben, hier auch eine der Tassen mitgehen zu lassen, will ich, dass du weißt, dass ich es niemandem verraten werde.«
»Toll. Eine Abfindung«, erwidere ich abschätzig und verlasse sein Büro.
Dämlicher Vollidiot!
Wie konnte es nur so weit kommen? Klar habe ich gesehen, dass einige Stellen abgebaut werden, aber ich war mir sicher, dass ich nicht dazuzähle. Jens selbst hat mich wochenlang überredet, hier anzufangen und dann so was. Er kann mir erzählen, was er will. Es liegt daran, weil sein Ego gekränkt ist.
An meinem Schreibtisch zurück, kommt Linda, meine Kollegin und mittlerweile auch Freundin angerannt.
»Ist es wahr, was ich gehört habe?«, fragt sie atemlos und mit großen Augen und ich nicke nur. »Nein, hör auf. Ich gehe sofort zu Jens und beschwere mich!«
»Dann wirst du auch gekündigt«, warne ich sie.
»Stimmt. Blöde Idee!«, rudert sie verlegen zurück. »Aber was machst du denn jetzt?«
Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung. Was soll ich machen? Ich werde mir eine neue Arbeit suchen und das so schnell es nur irgendwie geht. Ich kann es mir nicht leisten, arbeitslos zu sein.«
»Denkst du, er hat dich rausgeschmissen, weil du mit ihm Schluss gemacht hast?«
»Was glaubst du wohl? Natürlich tut er es deswegen. Ich mache einen verdammt guten Job und das weiß er auch!«, betone ich.
»Dann musst du ihn verklagen«, meint Linda.
»Und dann? Was habe ich für Beweise? Es werden doch tatsächlich Stellen abgebaut. Ich habe nichts in der Hand und für Jens wäre es nur ein gefundenes Fressen.« Frustriert verschränke ich die Arme vor der Brust. »Nein, wenn er meint, er bekommt nochmals so eine brillante Mediengestalterin wie mich, dann soll er sich mal auf die Suche machen.«
Linda schaut mich traurig an. »Du wirst mir hier sehr fehlen.«
Nun werde ich ebenso wehmütig. »Du mir auch, Linda. Du mir auch!«
Mit einem Glas Rotwein sitze ich gleich am nächsten Abend auf der Couch, mein Laptop auf dem Schoß und scrolle durch die Stellenangebote. Tatsächlich sieht es ziemlich mau aus, was mich schon wieder frustriert.
Da gibt es eine Stelle als Mediengestalter im Bereich für Digitalmedien von erotischem Spielzeug. Nein, danke. Da fühle ich mich nun wirklich nicht zu Hause. Obwohl ich nicht gerade prüde bin, ist mir das dann doch zu viel des Guten. Eine andere Stelle verweist auf die vielen Sonderzulagen, die sich anscheinend als Obstkorb in den Bürogebäuden tarnen. Dieser soll wohl das unterirdisch schlechte Gehalt rechtfertigen.
Ich schnaufe und trinke einen Schluck aus meinem Glas. So schwer kann es doch nicht sein, einen anständigen und gut bezahlten Job zu finden.
Motiviert und mit dem Bestreben, erst aufzuhören, wenn ich weiß, wie ich die nächsten Rechnungen bezahlen kann, suche ich weiter.
Dann stoße ich auf ein Stellenangebot, das sich interessant liest. Es handelt sich um eine einmonatige Stelle, bei der es darum geht, einem Unternehmer all seine Wünsche zu erfüllen. Offenbar ist dieser ein bekannter Inhaber in der Umgebung, der nicht ganz so einfach zu bedienen ist. Natürlich wird das mit wohlklingenden Worten wie herausfordernd und anspruchsvoll umschrieben. Das Gehalt ist sagenhaft und die Ansprüche und Qualifikationen, die gefordert werden, erfülle ich alle. Der Name des Unternehmens wird allerdings nicht genannt, was mich noch neugieriger macht.
Schnell stelle ich das Glas zur Seite und suche nach dem berühmten Haar in der Suppe. Ein Job, der so gut bezahlt wird und noch nicht vom Markt ist, muss einen Haken haben.
Plötzlich sehe ich das eine Detail, das mir bisher entgangen ist. Diese Stelle befindet sich direkt am Timmendorfer Strand an der Ostsee, sechs Fahrtstunden entfernt.
Sofort lasse ich die Schultern fallen und greife zu der Schokolade, die neben mir liegt. Nachdenklich stecke ich mir ein Stück in den Mund und überlege, an welchem Ort an der Ostsee ich in den Ferien als Kind immer war. Ich weiß, dass meine Großeltern irgendwo ein Ferienhaus haben und dort bin ich in jedem Jahr mit meinen Eltern und meiner Schwester gewesen. Irgendwann waren Anna und ich zu alt dafür und hatten keine Lust mehr, mit unseren Eltern in den Urlaub zu fahren. Schon gar nicht an die Ostsee, die wir ziemlich öde fanden, nachdem wir jedes Jahr dort waren. Wenn ich doch nur wüsste, wie der Ort hieß.
Während ich beginne, mir ein Abendessen zuzubereiten und die Nudeln in das kochende Wasser gebe, komme ich nicht umher, mir weiterhin Gedanken um diesen Job zu machen. Er ist einfach zu lukrativ. Ich würde einen unglaublichen Betrag für vier Wochen Arbeit erhalten und hätte danach die Möglichkeit, mir in aller Ruhe zu überlegen, wie mein nächster Schritt aussehen soll. Ich müsste mir keine Sorgen um Geld machen. Keine Ahnung, wann das mal der Fall in meinem Leben gewesen wäre. Es wäre eine Chance, mich bei großen Firmen zu bewerben, zu pokern und mir eine Arbeitsstelle zu suchen, die meinen Vorstellungen entspricht.
Während das Nudelwasser sprudelnd vor sich her kocht, suche ich in meinem Regal nach einem Fotoalbum aus meiner Kindheit. Meine Mutter hat für Anna und mich jeweils eines erstellt, und als ich es durchblättere, erkenne ich einige Urlaubsbilder. Mich am Strand im Badeanzug, auf einem Pferd sitzend und im Meer schwimmend. Doch wo das genau war, steht nirgends.
Kurzerhand schalte ich den Herd ab, ziehe mir meine Schuhe an und verschwinde mit einem zerzausten Dutt auf dem Kopf und ohne Make-up zur Tür hinaus.
Ich steige in meinen kleinen Renault und fahre die Viertelstunde einige Straßen weiter zu meinem Elternhaus, wo glücklicherweise noch Licht brennt. Das ist tatsächlich um neun Uhr am Abend nicht mehr so selbstverständlich. Ich steige aus und klingle, ehe ich nach dem Schlüssel greife und aufschließe.
»Hallo?«, rufe ich, als ich hereintrete.
»Finny? Bist du das?«, schreit meine Mutter vom ersten Stock runter und kommt parallel die Treppe herab. »Was machst du denn so spät hier?«
»Ist etwas passiert?«, fragt mein Vater, als er aus dem Wohnzimmer kommt und mich im Flur stehen sieht.
»Wo waren wir immer im Urlaub?« Sofort werde ich argwöhnisch von meinen Eltern angeschaut.
»Du kommst extra hierher, um das zu fragen?« Meine Mutter deutet mir, ihr zu folgen. In die Küche setze
ich mich an den Tisch und sie bereitet sofort Tee, wie sie es immer tut.
»Ja, Entschuldigung, dass ich euch so spät störe, aber es ist wirklich sehr wichtig«, sage ich. »Also, wo waren wir immer im Urlaub, als Anna und ich Kinder waren? Es war irgendwo an der Ostsee, soviel ist mir klar.«
»Scharbeutz«, antwortet mein Vater knapp. »Du erinnerst dich nicht mehr?«
Genau in dem Moment, in dem er das sagt, fällt es mir selbst auch wieder ein und ich erinnere mich. »Das war es, stimmt.« Auf meinem Handy suche ich nach der Entfernung zwischen Scharbeutz und dem Timmendorfer Strand und bin erfreut, als ich feststelle, dass es lediglich ein zehnminütiger Fahrtweg ist.
»Warum lächelst du denn jetzt?«, hakt mein Vater nach.
»Okay, es ist ein wenig seltsam und eigentlich steht gar nichts fest. Ich meine, ich muss die Stelle erst mal bekommen. Aber wenn es klappt, wäre es bestimmt fantastisch. Außerdem ist es ja nur für einen Monat. Was ist schon ein Monat, nicht wahr?«, plappere ich wild drauflos.
»Finny, was ist los?«, fragt mein Vater bestimmt und ich sammle mich.
»Also schön, es ist so, ich habe meine Stelle verloren. Ja, ich weiß, schrecklich«, sage ich, ehe ich mir anhören darf, dass ich meine alte Stelle niemals hätte aufgeben dürfen. Meine Eltern waren von Anfang an dagegen und mochten Jens nie leiden. »Aber da gibt es ein Jobangebot direkt am Timmendorfer Strand, und es scheint perfekt für mich zu sein. Ehrlich, dieser Job ist wie für mich gemacht und dauert nur vier Wochen. Wenn ich in dem Haus von Oma und Opa unterkommen könnte, müsste ich nicht einmal Miete zahlen. Das alles wäre kein Problem.«
»Und was ist das für eine Arbeit?«, hakt mein Vater nach, der wie immer skeptisch ist.
»Das ist zu kompliziert, um dir das jetzt zu erklären. Ich muss mich beeilen, wenn ich nicht will, dass mir jemand die Stelle vor der Nase wegschnappt. Aber glaubt mir, es wäre fantastisch.«
»Aber du hast es dort immer gehasst«, erinnert meine Mutter mich.
Ich nicke kurz in Gedanken versunken. »Ja, ich weiß, aber das spielt doch keine Rolle. Ich ziehe dort ja nicht hin, sondern bleibe nur vier Wochen dort. Das ist eine so kurze Zeit, das schaffe ich schon.«
»Ich weiß ja nicht, Finny. Wieso solltest du eine Arbeit für einen Monat annehmen, anstatt dir gleich eine vernünftige Stelle zu suchen?«
»Weil man das heutzutage eben so macht, Mama. Man geht mal ein Risiko ein. Es ist nicht mehr alles so, wie es früher war. Nicht jeder Job befindet sich in einem Büro gleich um die Ecke von acht bis fünf Uhr. Hin und wieder muss man auch mal etwas wagen und ich habe ein so gutes Gefühl bei der Sache«, erkläre ich leicht genervt vom Pessimismus meiner Eltern.
»Und wir sollen Oma und Opa fragen, ob du in das Haus kannst?«, hinterfragt Mama weiter. »Dir ist klar, dass seit Jahren niemand mehr dort war. Das Haus ist sicherlich in einem miserablen Zustand.«
»Ach was, das bekomme ich schon hin. Wie gesagt, es sind nur vier Wochen.« Ich zucke locker mit den Schultern.
»Es wird bestimmt mehr zu tun sein, als du ahnst. Auch für vier Wochen musst du einige Dinge dort in Angriff nehmen und ich kann dich nicht begleiten. Nicht nach meinem Bandscheibenvorfall vor fünf Wochen«, meint mein Vater.
Ich muss zugeben, dass es schön gewesen wäre, hätte er mich begleiten können. Aber ich bin eine dreißigjährige Frau und werde verdammt noch mal selbst damit fertig werden. Es wäre doch gelacht, wenn ich das nicht hinbekommen würde.
»Ich schaffe das schon«, beschwichtige ich ihn, doch er scheint wenig überzeugt und zieht die Augenbrauen nach oben.
»Also, ich weiß ja nicht«, sagt meine Mutter nur. »Das alles hört sich ziemlich befremdlich an.«
»Mama, bitte«, erwidere ich lediglich und schaue sie mit einem Blick an, den ich seit der Pubertät perfekt drauf habe. Der Blick mit den großen Augen, der dafür gesorgt hat, dass ich den Roller bekommen habe oder mit auf ein Festival durfte, als alle meine Freundinnen zu Hause bleiben mussten.
»Gut, schön. Ich rufe deine Großeltern morgen an. Sie haben bestimmt nichts dagegen, also schreib deine Bewerbung«, sagt sie und knickt endlich ein.
Freudig springe ich auf und umarme sie. »Danke, danke, danke!«
»Aber du meldest dich sofort, wenn du dort angekommen bist«, fordert mein Vater streng.
»Erst mal muss ich die Stelle bekommen. Aber wenn, dann rufe ich natürlich direkt an. Es ist das Erste, was ich mache, wenn ich ankomme«, verspreche ich. Ich grinse wie ein Honigkuchenpferd und schlürfe an meiner Tasse Tee, die Mama mir hingestellt hat. In Gedanken gehe ich meine Bewerbungsunterlagen durch und kann es kaum erwarten, sie abzuschicken.
Kapitel 2
Zwei Wochen sind vergangen, seitdem ich meine Bewerbung an Villa Bergmann versendet habe. Nur einen Tag später hatte ich ein telefonisches Gespräch mit der leitenden Sekretärin, die mich über das Unternehmen aufklärte. Es handelt sich dabei um das größte Ferienhausunternehmen an der gesamten Ostseeküste. Sie vermieten rund um das Jahr Ferienhäuser und auch Wohnungen. Angefangen bei kleinen Ein-Zimmer-Wohnungen für die Berufstätigen, über Ferienhäuser für Familien mit kleinem Garten bis hin zur pompösen Villa mit eigenem Pool und Tennisplatz. Es ist alles vertreten. Auf der Internetseite habe ich recherchiert und dabei festgestellt, dass es sich um ein Familienunternehmen handelt, geführt vom Vater Leopold Bergmann.
Als mir gesagt wurde, dass mit meiner noch über dreißig weitere Bewerbungen eingegangen sind, hatte ich kaum Hoffnungen darauf, die Stelle zu bekommen. Doch es dauerte lediglich eine knappe Woche, als ich endlich den Anruf erhielt, dass ich den Job bekomme und so schnell wie möglich anfangen soll.
Nun bin ich im Auto unterwegs nach Scharbeutz und mein erster Arbeitstag soll bereits morgen stattfinden.
Mit Jens habe ich ein ernstes Wörtchen gesprochen und um einen Aufhebungsvertrag gebeten, damit ich aus der Firma so schnell wie möglich raus bin. Auch habe ich ihm durch die Blume angedroht, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, sollte er mir Steine in den Weg legen. Kurz darauf war er nur zu gerne bereit, mir entgegenzukommen, und wir haben uns einigen können.
Laut des Navigationssystems dauert es nur noch dreißig Minuten, ehe ich an meinem Ziel, dem Ferienhaus meiner Großeltern, ankomme. Anhand der Landschaft erkenne ich deutlich, dass ich mich von der Großstadt entferne und der Ostsee immer näherkomme. Für Mai ist es erstaunlich warm. Ich habe das Fenster heruntergelassen und lasse ein wenig frische Luft hinein.
Straße für Straße nähere ich mich meinem Ziel und beobachte die Umgebung genau. Die vielen Häuser, die so ganz anders aussehen als bei uns im Rheinland. Während man bei uns viele Betonklötze sieht, die hoch hinausragen gen Himmel, sieht man hier eher kleine und bescheidene Häuschen. Die meisten besitzen einen eigenen Garten mit einer Schaukel, einem Trampolin und einem Grill. Die Nachbarn unterhalten sich angeregt. Die Kinder spielen auf den Wegen, ohne zu fürchten, von einem Auto angefahren zu werden. Als ich noch ein Kind war, haben sich meine Eltern ständig Sorgen gemacht, wenn ich draußen spielen war. Anna und ich mussten uns immer wieder zu Hause melden und Bescheid geben, dass alles in Ordnung war. In einer Großstadt aufzuwachsen hat viele Vorteile, aber eben auch einige Nachteile. Das bemerke ich allerdings erst jetzt durch die spielenden Kinder und die Entspannung, die ich in den Gesichtern der Eltern erkennen kann. Solch eine Entspannung habe ich noch nie im Gesicht meiner Mutter gesehen.
Doch heute als erwachsene Frau wäre mir das Leben hier vermutlich zu langweilig. Ich mag den Trubel der Stadt, die Lichter, den Lärm und dass immer etwas los ist. Wenn ich um zwei Uhr morgens Lust auf ein italienisches Gericht habe, dann finde ich immer ein Restaurant, das offen hat. Die angesagten Clubs sind nur wenige Meter von mir zu Hause entfernt und ich kann mich darauf verlassen, dass ich niemals Langeweile verspüren muss, wenn ich es nicht unbedingt will.
Ich fahre weiter, biege an der nächsten Kreuzung rechts ab und befahre die Straße, in der das Haus stehen muss, in dem ich für die nächsten vier Wochen wohnen werde. Auf beiden Seiten befinden sich wunderschöne Häuschen, die allesamt sehr gepflegt aussehen. Sofort weiß ich, dass keines davon das ist, in denen ich unterkomme. Als ich dann ein Stück weiter auf der rechten Seite ein Haus erblicke in einem nicht ganz so hervorragenden Zustand, ahne ich bereits, dass dies das Haus meiner Großeltern sein muss. Wie mir scheint, gibt mir das Navigationsgerät recht und verrät mir, dass ich mein Ziel erreicht habe.
»Na großartig.« Wenig begeistert stelle ich den Motor ab und betrachte das Haus vor mir. Sicherlich war das Reetdachhaus mal in einem wunderschönen und guten Zustand, wovon leider nicht mehr viel übrig ist. Hinter dem wild gewachsenen Vorgarten erkenne ich kaum etwas von der Schönheit, die es mal gehabt haben muss. Doch einige Erinnerungen meiner Kindheit blitzen in mir auf. Ich entsinne mich, wie schön es einmal gewesen war, als der weiß-blaue Fassadenanstrich noch frisch gewesen war und die Blumen an den einzelnen Fenstern erblühten. Auch erinnere ich mich an die Fensterläden, die wir als Kinder abends immer schließen durften, weil keine Rollläden vorhanden waren. Für Anne und mich war es ein Spaß. Als Kinder fanden wir dieses charmante Detail wunderschön. Heute würde ich einen elektrischen Rollladen bevorzugen.
Zaghaft steige ich aus dem Auto und schiebe mir die Sonnenbrille von der Nase auf den Kopf. Durch die vielen Bäume erhalte ich genügend Schatten, sodass ich sie nicht benötige.
Ich lasse die Straße mit dem Kopfsteinpflaster auf mich wirken. So wie die Häuschen aufgereiht sind, hat es den gleichen Charme wie in dem Film Herr der Ringe. Durch die vielen Reetdächer wirken sie wie viele kleine Hügel. Alles hat seinen ganz eigenen Liebreiz, den man wirklich nirgends anders findet.
»Also schön, dann wollen wir mal«, spreche ich mir Mut zu und zücke den Schlüssel, den meine Mutter mir vorgestern vorbeigebracht hat. Dann kämpfe ich mich durch den zugewucherten Vorgarten. Tatsächlich ist Gartenarbeit etwas Fremdes für mich und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich daran Spaß haben könnte, aber ich muss hier dringend den Weg freimachen. Unter gar keinen Umständen werde ich mich hier vier Wochen langen mit meinen teuren Outfits vorbeiquetschen. Wahrscheinlich bleibe ich mit einem meiner Lieblingskostüme an irgendeinem Gestrüpp hängen. Kommt nicht infrage. Dafür greife ich sogar eigenhändig zur Heckenschere. Wäre doch gelacht, wenn das nicht in einer Stunde erledigt ist.
An der kleinen blauen Haustür angelangt, schließe ich auf und mit einem Quietschen geht sie auf. Kurz lasse ich den ersten Eindruck auf mich wirken und betrete dann das Haus. Es ist alles verschmutzt, was zu erwarten war. Überall liegt zentimeterdick der Staub, und ich frage mich, warum meine Großeltern nicht ein wenig Geld investiert haben, um das Haus zu verkaufen. Oder es wenigstens zu vermieten. Sicherlich suchen hier viele ein geeignetes Ferienhaus. Mit etwas handwerklichem Geschick könnte man ein echtes Schmuckstück zaubern.
Als ich ein kleines Loch im Dach feststelle, durch das die Sonne hineinstrahlt, bin ich nicht mehr so zuversichtlich.
»Ein bisschen mehr als handwerkliches Geschick«, nuschle ich vor mich her. Aber für das Gehalt schaffe ich es, vier Wochen unter solchen Umständen zu hausen. Die meiste Zeit werde ich vermutlich ohnehin in der Firma sein. Da kann es mir egal sein, wie es hier aussieht.
Um frische Luft in das Haus zu lassen, öffne ich die Fenster und die Fensterläden, wovon einer sofort herunterfällt. Aber auch davon lasse ich mich nicht abschrecken und gehe weiter. Ich erinnere mich an die kleine Küche mit dem Holzofen und die Einrichtung aus den Siebzigerjahren. Es bringt mich ein wenig zum Schmunzeln. Ich denke zurück an einen Urlaub, als ich mit Anna zusammen versucht habe, Marshmallows am Herd zu rösten. Damals war ich vielleicht acht oder neun Jahre alt und das Streichholz wollte nicht so ganz, wie wir es wollten. Plötzlich jedoch hat die gesamte Packung zu brennen begonnen und wir haben sie einfach fallen lassen. In einem Haus, das zum Großteil aus Holz besteht, natürlich fatal. Wir haben geschrien wie am Spieß, bis mein Vater hereinkam und das kleine Feuer gelöscht hat.
Meine Güte, diesen Ärger werde ich mein Leben lang nicht vergessen.
Neben dem Wohnzimmer gibt es noch zwei Schlafzimmer und ein Badezimmer, das mit einer Badewanne statt einer Dusche ausgestattet ist. Doch auch das werde ich irgendwie meistern. Schließlich weiß ich, wofür ich das alles mache.
Ich muss gestehen, dass ich mich wohler fühlen würde, wäre mein Vater an meiner Seite. Hätte er nicht kürzlich diesen Bandscheibenvorfall gehabt, hätte er mich heute begleitet. Er würde sich um die ersten Reparaturen kümmern, mir alles zeigen und erklären, was wichtig ist und ein paar Tage hierbleiben, bis so weit alles in Ordnung ist. Nun muss ich allein klarkommen und kann nichts weiter tun, als ihn anrufen, wenn ich nicht weiterweiß.
Allerdings sollte ich mit meinen dreißig Jahren wohl imstande sein, mich um solche Angelegenheiten selbst zu kümmern. Wir reden hier schließlich von ein paar Kleinigkeiten, wenn man das Dach mal außer Acht lässt.
Voller Tatendrang gehe ich zurück zum Auto, lade die Koffer aus, die ich gepackt habe, und bringe sie zurück ins Haus. Was sich schwerer gestaltet, als mir lieb ist. Der Vorgarten erschwert mir mein Vorhaben und ich beschließe, mich noch heute dieser Aufgabe zu stellen. Wenn ich darüber nachdenke, dass ich später mit einer Menge von Einkäufen hier entlang muss, sollte der Weg zumindest frei sein.
Mühsam bringe ich die Koffer ins Haus, stelle sie dort ab und mache mich auf die Suche nach einer Heckenschere oder anderen Gartengeräten. Im hinteren Garten steht ein Holzhäuschen, doch dieses ist verschlossen, und wo der Schlüssel ist, weiß ich nicht. Auch der hintere Garten entpuppt sich als die reinste Katastrophe. Zwar habe ich nicht viel Ahnung von Blumen, Gärten oder Wildwuchs, aber mir ist klar, dass das hier das Resultat absoluter Vernachlässigung ist.
Wieder einmal stelle ich mir die Frage, wieso meine Großeltern niemanden engagiert haben, um hier gelegentlich nach dem Rechten zu sehen?
Nachdem ich das gesamte Haus nach irgendwelchen Geräten abgesucht habe, ist mir nichts anderes in die Hände gefallen als eine gewöhnliche Küchenschere. Damit begebe ich mich in den Vorgarten und beschließe, es auf diese unkonventionelle Art zu versuchen. So ein paar Äste werden sich wohl wegschneiden lassen.
Glücklicherweise ist niemand draußen zu sehen und auch umliegende Nachbarn scheinen nicht zu Hause zu sein, sodass mich niemand beobachtet, während ich versuche, mit einer kläglichen Schere das Gestrüpp zu entfernen. Selbstverständlich funktioniert es weniger gut als erhofft und alles, was ich erreiche, sind ein paar abgetrennte Blätter.
»So ein Mist aber auch«, schimpfe ich.
»Habe ich doch richtig gesehen«, höre ich plötzlich eine Männerstimme rufen und sehe mich hastig um. Auf der anderen Straßenseite erblicke ich einen Mann, der mein Alter haben dürfte, stehen. Er schaut zu mir herüber.
»Wie bitte?«, frage ich nach.
Lächelnd kommt er näher. »Habe ich doch richtig gesehen«, wiederholt er sich und bleibt am kaum sichtbaren Gartenzaun stehen. »Seit Jahren ist niemand mehr in diesem Haus gewesen.«
»Oh, ja. Es gehört meinen Großeltern«, erkläre ich kurz. Nicht, dass er denkt, ich dürfte nicht hier sein.
»Die Fischers sind deine Großeltern? Wie geht es ihnen?«
»Ähm, ganz gut, danke. Und wer bist du?«, frage ich nach.
»Ach, entschuldige. Ich bin Malte. Ich wohne gleich gegenüber.« Er deutet auf ein baugleiches Haus in einem tadellosen Zustand. Der liebevoll gepflegte Vorgarten stammt aus einem Bilderbuch. Die Fensterläden sind alle vorhanden und wirken stabil.
Fast schäme ich mich für die Umgebung, in der ich stehe. »Sieht sehr schön aus.« Ich nicke bekräftigend. »Dafür braucht es hier einiges an Arbeit.«
»Wenn du Hilfe brauchst, dann sag gerne Bescheid. Ich habe zwei geschickte Hände«, meint er, doch winke ich sofort ab.
»Nein, danke. Das bekomme ich schon selbst hin.«
»Du wohnst jetzt also hier?«
»Nur die nächsten vier Wochen«, sage ich schnell, um klarzumachen, dass ich keineswegs vorhabe, hier länger zu bleiben als unbedingt notwendig. »Daher mache ich nur das Nötigste.«
»Wie den Weg frei?« Er deutet mit einer Kopfbewegung auf die Schere in meiner Hand.
»Genau.« Krampfhaft versuche ich, nicht rot anzulaufen. »Natürlich ist das kein richtiges Handwerkzeug. Ich war gerade auf dem Weg in den nächsten Baumarkt, um mir etwas Anständiges zu besorgen.«
»Dann hast du aber ein Problem«, erwidert Malte und wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wir haben bereits nach sechs Uhr. Der nächste Baumarkt, der jetzt noch offen hat, wird geschlossen sein, sobald du ankommst.«
»Wie bitte? So früh?«, hake ich skeptisch nach.
»Du kommst aus der Stadt?«
»Was spielt das für eine Rolle?«
Malte grinst. »Du solltest dich daran gewöhnen, dass die Uhren hier anders laufen. Hier wird der Feierabend für den Einzelhandel großgeschrieben und die Geschäfte schließen viel früher. Aber ich kann dir gerne eine Heckenschere ausleihen, wenn du magst?«, bietet er freundlicherweise an.
»Das wäre klasse.« Inzwischen sehe ich ein, dass ich unmöglich weiterkomme mit dem Werkzeug, das ich zur Hand habe.
»Ich hole mal was und bin gleich wieder da«, sagt Malte und ich nicke. »Ach, hast du eigentlich auch einen Namen?«
»Oh, klar, ich bin Finny.«
»Hi, Finny. Willkommen an der Ostsee«, begrüßt er mich, lächelt und geht zu seinem Haus.
Kapitel 3
Eine Viertelstunde später kommt Malte mit einer Schubkarre voll mit Handwerkzeug zu mir herüber. Auch zwei Flaschen mit kühler Limonade hat er dabei und reicht mir eine.
»Auf eine gute Nachbarschaft«, sagt er und wir stoßen an. Jetzt, wo er so dicht vor mir steht, erkenne ich erst, wie attraktiv er aussieht mit seinen dunklen Augen und dem lässigen Dreitagebart. Er trägt ein weißes Shirt und darüber ein offenes Flanellhemd. Die Ärmel hat er hochgekrempelt und man sieht bei jeder seiner Bewegungen ein Muskelspiel in seinen Armen, was durchaus schön anzusehen ist.
»Also, du nimmst die Heckenschere und ich kümmere mich um die morschen Äste am Baum dort«, schlägt er vor und zeigt auf den Baum gleich am Zaun.
»Die sind morsch?«
»Allerdings, schau genauer hin. Siehst du die vielen Ästen voller Blätter?«
Ich nicke.
»Und dann siehst du die Äste, die vollkommen blattlos sind. Daran erkennst du, dass sie abgestorben sind. Das kann schnell gefährlich werden. Bei einem der nächsten Stürme können sie abfallen«, erklärt Malte und wie mir scheint, hat er wirklich Ahnung von dem, was er tut. Wenn ich mir seinen Vorgarten anschaue, dann überrascht das mich wenig.
»Gut, dann schneide ich hier mal alles zurecht!«
So beginnen wir mit der Arbeit, trinken zwischendurch unsere Limonade und hören gar nicht mehr auf zu reden. Oder anders gesagt, ich rede.
»… Dann habe ich meinen Job verloren und natürlich musste schnell etwas Neues her. Aber ich wollte nicht einfach wieder irgendeine Stelle anfangen und wie es der Zufall will, habe ich hier eine neue Chance bekommen.«
»Eine neue Chance? Für vier Wochen? Das klingt aber interessant. Was ist das für eine Chance?«, fragt Malte interessiert nach.
»Ich fange bei Villa Bergmann an. Das soll wohl ein wahnsinnig großes Unternehmen sein und bekannt ebenso. Sagt dir die Firma etwas?«, frage ich Malte, während ich die abgeschnittenen Reste in die Mülltonne lade.
»Ähm, ja, das sagt mir was. Und denkst du, du wirst es die nächsten vier Wochen hier aushalten, wo du doch das Stadtleben gewohnt bist?« Malte streckt sich, um den nächsten Ast abzuschneiden. Dabei wird ein Stück seines Bauches sichtbar und ich riskiere einen kurzen Blick.
»Wie bitte? Ach, aber natürlich. Ich bin ziemlich anpassungsfähig und ich weiß ja auch, dass es nur ein Monat ist. Das ist doch gar nichts. Außerdem wird hier nicht alles so hinterwäldlerisch sein«, sage ich lachend.
»Stimmt, es ist schlimmer. Vor allem, wenn man es nicht gewohnt ist«, warnt Malte.
»Was heißt, es ist schlimmer?«
»Schlimmer für dich. Wir sind es gewohnt, aber du musst dich wohl sehr anpassen.«
»Das wird schon«, sage ich und spiele die Warnung herunter. Was bitte soll schon so schlimm werden können? Gut, dann schließt der Baumarkt eben um sechs Uhr. Na und? Das bringt mich sicherlich nicht zum Haare raufen.
»Und du bist dich sicher, dass du im Haus alles unter Kontrolle hast?« Malte trinkt einen Schluck aus seiner Flasche und reibt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
»So gut es geht«, antworte ich ausweichend.
Malte lacht. »Soll ich es mir mal anschauen?«
»Meinst du?«, frage ich zögernd, bin allerdings sehr dankbar für sein Angebot. Auch wenn ich es nur ungern zugebe, weiß ich doch schon, dass ich allein ziemlich aufgeschmissen bin. So gehen wir zusammen ins Haus und während ich nur große Augen mache, nickt Malte vor sich hin.
»Schlimm?«, frage ich nur.
»So in der Art habe ich es mir vorgestellt«, meint er. »Darf ich?«
»Aber bitte, nur zu.«
Schon macht Malte sich selbstständig. Er läuft durch das Haus, dreht einen Wasserhahn nach dem anderen auf, testet die Lichtschalter und klopft an Wände. Nach rund zehn Minuten steht er wieder vor mir und reibt sich den Schmutz von den Händen.
»Also, zuerst das Gute. Es scheint, als wäre keine Feuchtigkeit und kein Schimmel zu sehen.«
»Das klingt doch gut«, sage ich strahlend.
»Kommen wir zu den schlechten Nachrichten. Der Wasserboiler scheint defekt zu sein. Das bedeutet also kalt duschen. Die Glühbirnen müssen beinahe alle ausgetauscht und die Leitungen sollten definitiv mal genauer untersucht werden. Das mit dem Dach ist, glaube ich, selbsterklärend, allerdings keine große Angelegenheit, da das Loch nicht groß ist. Den Holzofen möchte ich lieber einmal testen, ehe du ihn verwendest«, listet er auf.
Ich kann meinen Ohren kaum trauen. »Okay«, sage ich schließlich lang gezogen. »Das ist dann alles?«
»Das ist wenig. Das Haus steht sein über einem Jahrzehnt leer und es hat sich niemand mehr drum gekümmert. Da muss man damit rechnen«, erklärt mir Malte ruhig. »Aber wie gesagt, ich kann dir gerne helfen.«
»Das ist sehr aufmerksam, aber sicher werde ich mich nicht um all das kümmern. Es reicht, wenn ich die Schäden, die brennen, flicke und um den Rest kümmern sich dann andere, wenn ich wieder weg bin.«
»Auch beim Flicken kann ich dir helfen, solltest du nicht zurechtkommen. Melde dich dann einfach«, bietet Malte an und plötzlich herrscht eine Stille zwischen uns. »Und, was hast du heute vor? Allmählich wird es draußen dunkel und im Vorgarten wirst du wohl nicht mehr viel ausrichten können.«
»Da hast du wohl recht«, bemerke ich nach einem Blick aus dem Fenster. »Ich schätze mal, ich suche gleich einen Supermarkt auf, dann wird gekocht. Mehr passiert hier heute nicht mehr.«
»Du willst in einen Supermarkt?«
»Ja, sicher«, antworte ich.
Malte lacht. Wieder mal. »So viel zu der Anpassungsfähigkeit. Die kannst du gleich mal unter Beweis stellen, denn einen Supermarkt wirst du nicht finden. Keinen, der noch geöffnet hat.«
»Ach, komm schon. Das ist doch wohl ein schlechter Scherz«, schimpfe ich entrüstet.
»Aber ich mache dir einen Vorschlag. Wenn du Lust hast, kannst du in Ruhe deine Koffer auspacken und ich koche dir was.«
»Du möchtest mir etwas kochen?«, wiederhole ich fragend.
»Klar, warum nicht? Du bist den ersten Abend hier und anscheinend muss ich dich davon überzeugen, wie schön es hier sein kann«, meint Malte mit einem Lächeln.
»Also wenn es dir nicht zu viel Aufwand ist, dann nehme ich gerne an.« Meinen knurrenden Magen kann ich leider nicht anpassen.
»Ganz und gar nicht. Dann komm gerne rüber, wenn du so weit bist«, meint Malte und geht zur Haustür. »Die Gartenwerkzeuge lasse ich da. Wir sind nicht fertig da vorn.«
»Ist gut, danke. Bis gleich«, verabschiede ich mich und sobald Malte weg ist, fange ich an, meine Koffer auszupacken.
Das Bett im größeren Schlafzimmer beziehe ich frisch, lege all meine Kleider in den Schrank und verstaue meine Badeutensilien im Badezimmerschrank. Nach einer Dusche in der Badewanne, die weniger erholsam war, als mir lieb ist, suche ich mir ein neues Outfit raus. Ich entscheide mich für eine lässige Jeans und ein enges Oberteil. Bloß nicht zu schick, sonst denkt Malte noch, ich würde mich seinetwegen herausputzen.
Allmählich bricht die Dämmerung über uns herein und ich schalte ein Licht an, um mich im Haus zurechtzufinden. So ganz allein in diesem doch recht fremden Haus, während es draußen dunkel wird, ist mir unangenehmer, als ich gedacht hätte.
Komm schon, Finny. Du bist eine erwachsene Frau. Mach dir jetzt bloß nicht ins Hemd.
Eigentlich bin ich es gewohnt, allein zu sein. Doch seltsamerweise fühle ich mich zu Hause nicht so einsam. Das liegt vermutlich daran, dass immer etwas los ist und ich all meine Freunde in der Nähe habe und ich sie jederzeit treffen kann. Das bleibt mir die nächsten vier Wochen verwehrt. Umso glücklicher bin ich gerade, dass ich einen so freundlichen Nachbarn wie Malte habe, und ich hoffe sehr, die anderen Nachbarn sind ebenso freundlich.
Einige Augenblicke später stehe ich vor Maltes Haustür und klingle, als er auch schon öffnet und mich hereinbittet. Für einen kurzen Moment fühle ich mich wie ein Eindringling in die Privatsphäre eines fremden Mannes. Ich meine, wir kennen uns erst seit wenigen Stunden und schon essen wir zusammen. Ich hätte das Örtchen hier für weniger schnelllebig gehalten, doch versuche ich, mich einfach darauf einzulassen. Wie oft habe ich in einem Club einen Mann kennengelernt, und wir haben Nummern ausgetauscht und uns tags drauf getroffen. Meist hatten wir uns weniger unterhalten als Malte und ich in den letzten Stunden.
»Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht.« Malte geht vor in die Küche, die in ihrem Landhausstil perfekt zu dem Haus passt. Die Geräte sind alle top modern und auch wenn es den Anschein hat, als hätte alles einen alten und urigen Charme, so ist es doch in einem hervorragenden und hochwertigen Zustand. »Und ich hoffe, du isst gerne Fisch?«
»Fisch? In unseren Urlauben hier haben meine Großeltern meiner Schwester und mir immer Fisch vorgesetzt. Sie sagten, wenn wir an der Ostsee sind, müssen wir auch Fisch essen. Leider kam das bei uns beiden weniger gut an und mein Vater hat meist schnell ein paar Burger auf den Grill gelegt«, erzähle ich lachend.
»Tja, ich sage es dir nur ungern, aber deine Großeltern hatten recht. Wenn du schon hier am Meer bist, dann musst du einfach Fisch essen. Vielleicht magst du ihn probieren? Wenn er nicht schmeckt, habe ich vorzügliche Cornflakes für dich«, erwidert Malte schmunzelnd, und ich lache.
»Das klingt deliziös.«
Wir setzen uns hin und während Malte damit beschäftigt ist, die Teller vollzuladen, schaue ich mich unbemerkt um. Von meinem Platz aus kann ich direkt ins Wohnzimmer schauen. Auch dieses sieht sehr hochwertig aus, wenn auch gleichzeitig gemütlich und ebenso in dem Landhausstil gehalten, den Malte offenbar ziemlich gerne hat. Das dunkle Sofa dominiert den Raum, und das Bücherregal, das voller Bücher ist, hat gläserne Türen. Zudem ist es beleuchtet und strahlt so eine gewisse Wärme aus. Die Vorhänge sind ebenfalls in einem dunklen Ton gehalten und verwandeln den Raum zu einem behaglichen Rückzugsort. Ein Schaukelstuhl aus einem Korbgeflecht lädt zum Hineinkuscheln ein. Mit einem Glas Wein und einem guten Buch könnte ich es mir dort vermutlich die nächsten Stunden gemütlich machen, denke ich, und träume vor mich hin. Wenn ich mir das so anschaue, werde ich ein wenig neidisch. Im Gegensatz zu diesem heimeligen Zuhause gleicht meines eher einer Bruchbude, die so rein gar nichts Behagliches an sich hat.
»So, ich hoffe, es schmeckt dir«, sagt Malte und reißt mich somit aus meinen Gedanken, als er mir einen vollgeladenen Teller hinstellt. »Wir haben hier Zanderfilet auf Hummer-Sahne-Tagliatelle. Dazu gibt es Bratkartoffeln«, preist er an.
Ich bin mehr als begeistert. »Wow, das nenne ich mal ein Essen. Du kannst also so richtig gut kochen.«
»Probiere lieber, bevor du zu loben beginnst«, warnt er und greift nach seinem Besteck.
Auch ich beginne zu essen und bevor das erste Stück Fisch in meinem Mund landet, hoffe ich inständig, dass es schmeckt. Wie peinlich wäre es, müsste ich nach diesem Aufwand zu den Cornflakes greifen. Doch zu meiner Überraschung schmeckt es ausgezeichnet und meine Augen werden groß. »Es ist himmlisch«, schwärme ich. »Wirklich, ich weiß nicht, wann ich schon einmal so lecker gegessen habe.«
»Das freut mich. Was kochst du denn so?«, will Malte wissen.
Ich frage mich, ob ich ihm wirklich die Wahrheit sagen soll, entscheide mich jedoch dagegen, ihm irgendwelche Märchengeschichten zu erzählen. »Also eigentlich koche ich nur sehr selten, wenn man das überhaupt als Kochen bezeichnen darf. An den meisten Tagen esse ich einfach bei der Arbeit in der Kantine oder ich hole mir etwas auf dem Heimweg, beim Chinesen oder dem Italiener um die Ecke. Mehrmals die Woche treffe ich mich auch mit meinen Freunden und wir gehen gemeinsam etwas essen.«
»Dann bist du also viel unterwegs?«
»Du nicht?«, hake ich nach.
Malte hält mir eine Flasche Weißwein entgegen und ich nicke. Damit füllt er mein Glas, das vor mir steht.
»Nein, eigentlich bin ich nicht sonderlich viel unterwegs. Natürlich treffe ich mich manchmal mit dem ein oder anderen Kumpel auf ein Bier oder wir gehen Angeln oder dergleichen. Aber viele Clubs findest du hier nicht und der Typ dafür war ich noch nie. Außerdem koche ich viel zu gerne, um mir täglich was vorsetzen zu lassen.«
Ich muss schmunzeln, weil wir so wenig gemein haben und doch zusammen an einem Tisch sitzen. Manchmal spielt das Leben merkwürdige Züge.
»Und es macht dir nichts aus, für dich allein zu kochen?«
»Wer sagt, dass ich für mich allein koche?« Malte nippt an seinem Glas.
Scheiße!
»Oh, so meinte ich das nicht. Ich … ich bin nur davon ausgegangen«, stammle ich vor mich her und bin sichtlich beschämt. Noch keine einzige Sekunde habe ich darüber nachgedacht, ob Malte nicht vielleicht eine Freundin oder sogar eine Frau haben könnte. Zwar sehe ich keinen Ehering an seinem Finger, aber das muss ja nichts bedeuten. Im Gegenteil, so wie er sich handwerklich betätigt, ist es nicht verwunderlich, wenn er keinen Schmuck trägt. Aber wo genau ist die Frau dann jetzt? Und was würde sie sagen, würde sie mich hier vorfinden bei Kerzenschein und einem Glas Wein?
Ohne den Kopf zu bewegen, versuche ich nach Bildern Ausschau zu halten, die Malte mit einer Frau zeigen, doch finde ich nichts.
»Alles gut«, erwidert er amüsiert. »Du hast ja recht. Meistens koche ich für mich allein, aber es macht mir nichts aus. Warum sollte es auch? So wie andere einen Film schauen oder ein Buch lesen, beschäftige ich mich gerne in meiner Küche«, erklärt er.
Hm, das verrät mir nicht viel. Meinte er, dass er eine Freundin hat, wenngleich auch nicht wirklich eine Ehefrau?
Na und? Was interessiert es dich denn? Kann dir doch egal sein.
»Also ist es eine Art Hobby für dich«, stelle ich fest.
»So könnte man es auch nennen«, bestätigt Malte. Als er mit seinem Essen fertig ist, rückt den Teller von sich weg und lehnt sich mit seinem Glas in der Hand nach hinten. »Was für Hobbys hast du denn so?«
»Hobbys? Dafür habe ich gar keine Zeit, um ehrlich zu sein. In der meisten Zeit arbeite ich, auch wenn ich zu Hause bin. Ansonsten treffe ich mich mit meinen Freunden und wir lassen es uns einfach gut gehen. Oh Gott, das muss sich ziemlich trostlos anhören. Aber glaub mir, mein Leben besteht aus mehr als aus Shoppen, Essen gehen oder arbeiten«, verteidige ich mich, ohne dass Malte mir einen Anlass dazu gegeben hätte.
»Hey, jeder lebt sein Leben, wie er es mag. Das ist doch in Ordnung. Nicht jeder muss gerne in der Küche stehen. Für andere mag mein Leben trostlos wirken«, meint Malte. »Wo ich viel mit mir allein bin. Ich gehe arbeiten, angeln, koche mir etwas und lese ein Buch. So sehen viele meiner Tage aus. Dafür werde ich sicherlich nicht von vielen Menschen beneidet, aber das stört mich nicht.«
Jetzt komme ich mir blöd vor, weil ich mir darüber Gedanken gemacht habe, was Malte von meinem Leben halten könnte. Wo es ihn überhaupt nicht interessiert, was ich oder andere über ihn denken.
»Was arbeitest du denn?«, wechsle ich das Thema abrupt, als ich ebenfalls mit dem Essen fertig bin.
»Ich bin in unserem Familienunternehmen tätig«, sagt er, steht auf und beginnt die Teller abzuräumen. Sofort springe ich ebenfalls auf und helfe ihm. »Ach, bleib ruhig sitzen, ich mach das später.«
»So ein Unsinn. Du lädst mich schon zum Essen ein, da kann ich dir wenigstens beim Abwasch helfen.«
»Oder die Spülmaschine hilft mir«, erwidert er schmunzelnd.
»Dann räume ich sie wenigstens ein.« Ich bestehe darauf, ihm zu helfen, um mich nicht ganz so dämlich zu fühlen. »Also komm, zu zweit geht es viel schneller.«
Zusammen räumen wir den Geschirrspüler ein, wischen den Tisch und die Herdplatte ab und in Nullkommanichts sieht die Küche wieder sauber aus. Wir setzen uns mit unseren Weingläsern in das behagliche Wohnzimmer.
»Was kannst du mir über die Straße und deren Bewohner hier so erzählen?« Ich bin neugierig, da ich heute sonst niemanden angetroffen habe.
Auf dem Sofa nehmen wir nebeneinander Platz und wenden uns gegenseitig zu.
»Wir sind schon ziemlich eigen.«
»Oje, ehrlich?«
»Nein«, sagt Malte lachend. »Im Gegenteil. Eigentlich sind wir ziemlich einfach gestrickt. Direkt links neben dir wohnen Inge und Kurt Fries. Die beiden leben schon seit Jahrzehnten hier und sind wohl so richtig alteingesessene Scharbeutzer. Rechts leben Max und Nina Hansen. Sie haben unser Alter und ich könnte mir vorstellen, dass du dich mit Nina prächtig verstehst. Sie ist eine liebe Person. Am Ende der Straße wohnt Ernst Nielsen. Seine Frau ist vor zwei Jahren verstorben, und seitdem hat er kaum noch das Haus verlassen. Wenn du ihn antriffst und er dich nicht grüßt, sei nicht nachtragend. Seit jenem Tag ist er nicht mehr der gleiche und kann seine Frustration kaum noch verbergen«, zählt er auf und ich lausche gespannt.
»Das klingt aber traurig.«
»Ist es auch. Vor allem, weil Ernst bis dahin ein aktiver Mensch war, der jeden Tag mit dem Rad gefahren ist, am Strand war, viel im Garten zugange war und eigentlich nie stillsaß. Heute jedoch sehen wir ihn kaum noch. Er verbarrikadiert sich in seinem Haus und na ja, der Garten ähnelt schon sehr dem deiner Großeltern.«
»Und da kann man nichts machen?« Ich stelle mir die Situation für ihn unerträglich vor.
»Wir haben oft versucht, ihn aus seinem Haus zu locken – vergebens. Er will nichts mehr wissen. Weder von den Menschen noch von sonst irgendwas. Ich denke, er wartet auf den Tod. Darauf, endlich wieder bei seiner Frau sein zu können.«
»Das ist tragisch«, bemerke ich ein wenig traurig.
»Konzentriere du dich besser auf die Nachbarn gleich neben dir. Mit denen wirst du dich gut verstehen. Du brauchst Freunde, solange du hier bist. Auch wenn es nur vier Wochen sind«, merkt Malte an.
Wenn ich an die Einsamkeit denke, die ich vorhin verspürt habe, dann glaube ich, dass er recht hat.
Noch eine halbe Stunde verbringen wir so die Zeit. Wir reden, lachen und tauschen uns aus, bis ich mich auf den Weg rüber in das weniger gemütliche Haus mache. Beinahe ein wenig wehmütig verlasse ich diese heimelige Atmosphäre, doch es bleibt mir nichts anderes übrig.
»Ich komme die Tage vorbei und sehe nach dem Wasserboiler«, sagt Malte und ich bin ihm dankbar, dass er sich darum kümmert.
»Das wäre klasse. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Finny.«
Kaum bin ich zu Hause angelangt, schließe ich die Fensterläden und werfe dabei noch einmal einen Blick rüber in Maltes Haus. Da das Licht brennt, kann ich ihn genaustens beobachten. Er greift die Weingläser vom Couchtisch und bringt sie in die Küche. Dann kommt er zurück ins Wohnzimmer, schnappt sich ein Buch und setzt sich hin. Für einen Moment denke ich an Jens und daran, wie belanglos und oberflächlich unsere Beziehung gewesen ist. Ich vergleiche ihn mit Malte. Mit den Gesprächen, die wir heute geführt haben. Er weiß mehr über mich, als Jens jemals wissen wollte. Ihn hat nichts sonderlich interessiert, außer Sex und die Arbeit. Das hat mich von Beginn an gestört, aber ich habe es nicht an mich rangelassen und es hingenommen – nur nicht kompliziert sein. Malte würde solch eine Beziehung niemals führen können, dafür ist er viel zu gefühlvoll und tiefgründig.
Warum ich mir darüber Gedanken mache, weiß ich jedoch nicht. Schließlich gehe ich schnurstracks ins Badezimmer, binde mir mein brünettes Haar zusammen und entferne mir das Make-up. Nachdem ich mir die Zähne geputzt habe, wandere ich ins Bett. Als ich so daliege, beschließe ich auch für die kurze Zeit ein wenig Gemütlichkeit in diese vier Wände zu bringen. Es hat mir viel zu gut bei Malte gefallen, um es hier nun so zu lassen, wie es derzeit ist.
Aber darum kümmere ich mich morgen nach meinem ersten Arbeitstag.