1
Caissy
Beschwingt öffne ich die gläserne Eingangstür der Kanzlei. Köstlicher Duft von frisch gemahlenem Kaffee steigt in meine Nase. »Einen wunderschönen guten Morgen!«
Frau Grimm an der Rezeption schaut auf und schiebt mit dem Zeigefinger ihre Hornbrille höher auf die Nase. Mit einem strahlenden Lächeln erwidert sie meinen Gruß. Sie springt auf und greift nach der dampfenden Tasse, die auf dem Sideboard auf mich wartet. »Pünktlich wie immer.« Schmunzelnd drückt sie mir das heiße Getränk in die Hand.
»Ihr Timing ist aber auch nicht übel.« Ich puste und trinke einen kräftigen Schluck. Genüsslich lecke ich mir über die Lippen. Ein schwarzer Kaffee ist genau das, was ich zum Start in den Tag brauche. Genauso wie die brandaktuellsten Steuertipps auf dem Handy.
»Neues Outfit?« Sie deutet erst auf meinen weinroten Trenchcoat, dann auf die gleichfarbigen High Heels und nickt anerkennend. »Steht Ihnen.«
»Danke«, antworte ich lächelnd und gehe in Richtung meines Büros. Jeder meiner schnellen Schritte klingt auf dem marmorierten Fliesenboden nach.
»Frau Sullivan«, hallt Frau Grimms Stimme über den Gang. »Fast hätte ich es vergessen …«
Ich mache auf dem Absatz kehrt und hebe die Augenbrauen.
»Ihr elf Uhr fünfzehn Termin hat sich schon für acht Uhr dreißig angekündigt. Ich hoffe, das ist in Ordnung.«
Ich stocke kurz. »Ja … danke«, antworte ich, obwohl sich in meinem Magen ein Grummeln bemerkbar macht. Wie oft habe ich Frau Grimm gebeten, Termine nicht ohne Rücksprache mit mir zu verschieben. Und hierbei handelt es sich ausgerechnet um den Besuch von Ingo Müller-Engelhardt. Dieser Kerl ist ein harter Brocken. Jetzt bleibt mir maximal eine halbe Stunde, um mir noch mal das neueste Urteil des Bundesfinanzhofs zum Thema Auslandsgeschäfte durchzulesen, mit dem ich mich zu meinem Glück bereits gestern eingehend beschäftigt hatte. Darin geht es nämlich genau um das, was Ingo Müller-Engelhardt vorhat: dubiose Geschäfte mit einer ihm nicht mal persönlich bekannten Firma in Indien.
Vor meiner Bürotür mache ich halt. Caissy Sullivan – Steuerberaterin steht auf dem Türschild. Mann, war ich stolz, als ich den in Plexiglas eingefassten Schriftzug vor knapp sieben Jahren zum ersten Mal las. Es ist, als wäre es eine Ewigkeit her. Wer wohl in dieses Büro einzieht, wenn ich hier weg bin? Mit dem Ellenbogen drücke ich die Klinke hinunter, trete ein und stoße die Tür mit dem Po hinter mir zu.
Auf dem gläsernen Schreibtisch am Ende des großzügigen Raumes stelle ich die Tasse ab und lege meine Lederhandtasche auf den Rollcontainer.
Ich blicke aus dem Fenster. Über den Dächern der Münchner Innenstadt ist es bewölkt. Doch ich hoffe, die Sonne kommt nachher raus. Ich hänge den Trenchcoat an den Haken neben der Tür und setze mich. Dann fahre ich den Computer hoch und öffne die Website des Immobilienmaklers, der mir meine zukünftige Kanzlei vermittelt hat. So viel Zeit muss sein. Reserviert prangt in Großbuchstaben über der Anzeige und mein Herz hüpft vor Freude. Seit dem Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität habe ich von einer eigenen Steuerkanzlei geträumt und nun wird dieser Traum Wirklichkeit. Endlich! Der Steuerberater, der die Kanzlei samt Mandanten verkauft, ist zwar erst achtundfünfzig, doch er möchte von nun an das Leben genießen und mit seiner Ehefrau nach Madeira auswandern, wie er mir berichtet hat. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, als ich daran denke, dass ich mich gegen drei andere Bewerber durchgesetzt habe.
Die Büroräume haben zwar nur knapp siebzig Quadratmeter, aber ich hätte mir ohnehin keine größeren Räumlichkeiten leisten können. Der Preis ist unschlagbar und die fantastische Lage an der Isar unglaublich. Das Geld, das Mutter für mich seit meiner frühesten Kindheit zurückgelegt hat, reicht für den kompletten Kaufpreis. Nur für die Einrichtung muss ich ein Darlehen aufnehmen, was laut meines Bankberaters ein Klacks ist. Zufrieden grinse ich in mich hinein, nehme einen Schluck des dampfenden Kaffees und lehne mich zurück.
Schon am Freitag ist der Notartermin und im Anschluss werde ich direkt hier kündigen. Noch weiß niemand in dieser Kanzlei etwas davon. Nur vor Andrea, meiner Büronachbarin, habe ich es angedeutet.
Ich atme tief durch. Eine wohlige Wärme breitet sich in mir aus und ich schließe die Augen. Ich sehe mein zukünftiges Büro klar vor mir. Direkt vor dem lichtdurchfluteten Fenster mit Blick auf die Isar steht der höhenverstellbare Schreibtisch in schlichtem Weiß …
Die eindringliche Melodie des Telefons reißt mich aus meinen Gedanken. Ich öffne die Augen und nehme ab.
»Sullivan«, melde ich mich und nippe erneut am Kaffee.
»Guten Tag, hier spricht Mr Ryan aus Greenkenny«, meldet sich eine freundliche, aber ernste Stimme auf Englisch.
»Greenkenny? Nie gehört«, antworte ich in seiner Sprache. Ich runzle die Stirn.
»Ich rufe aus Irland an«, erklärt er. »Dem Geburtsland Ihrer Mutter.«
Woher weiß dieser Mann, wo Mutter geboren wurde?
Auf dem Bildschirm poppt die Outlook-Erinnerung auf, dass der Termin mit Ingo Müller-Engelhardt in fünfzehn Minuten ansteht. Energisch klicke ich das Fenster weg.
»Ich bin Nachlassverwalter, Miss Sullivan.« Er räuspert sich und es herrscht kurz Stille in der Leitung. »Es tut mir leid, ich muss Ihnen eine traurige Nachricht überbringen. Ihr Großvater John Sullivan ist gestorben.«
»Mein was?« Ich richte mich kerzengerade auf. Um Himmels willen, was erzählt dieser Mr Ryan da?
»Ihr Großvater! Der Vater Ihrer Mutter.«
»Meine Großeltern sind seit langem tot. Das muss ein Missverständnis sein.«
Es kann gar nicht anders sein. Außerdem hieß mein Großvater nicht John. Oder doch? Verdammt, ich erinnere mich nicht.
»Sind Sie nicht Miss Caissy Sullivan?«
»Doch … doch, die bin ich«, stottere ich. Auch wenn ich mir nach wie vor sicher bin, dass das alles ein großer Irrtum sein muss, ist dieser Anruf dermaßen kurios, dass ich zunehmend nervöser werde. Angespannt trommle ich mit den Fingern auf die Schreibtischplatte.
»Dann handelt es sich definitiv um ihren Großvater«, bleibt er beharrlich bei seiner Aussage. »Ihre Mutter hieß Maggie?«
Er hat recht, doch ich kann und will ihm nicht glauben. »Hören Sie Mr …«, setze ich an, umwickle mit dem Finger eine meiner Locken und presse den Telefonhörer an die Ohrmuschel.
»Ryan.«
»Hören Sie Mr Ryan … hier muss sich jemand einen üblen Scherz erlaubt haben.«
Warum habe ich das nicht auf Anhieb durchschaut? Erleichtert über meinen Geistesblitz atme ich auf und blicke durch das bodentiefe Fenster zu den beiden Türmen der Frauenkirche hinüber. Die Sonne lugt zwischen den Wolken hervor und ich warte darauf, dass Mr Ryan das Missverständnis aufklärt. Bestimmt lacht er gleich lauthals los und erzählt mir, dass er gar kein Nachlassverwalter ist und alles ein großer Spaß von wem auch immer ist.
»Ich scherze nicht, Miss Sullivan. Die Aktenlage täuscht uns nicht.« Er betont mit seiner durchdringenden Stimme jedes Wort, als wäre ich schwerhörig. »Ihr Großvater ist gestorben. Daran besteht kein Zweifel. Er hat Sie namentlich in seinem Testament erwähnt.« Mr Ryan nennt wie zum Beweis mein Geburtsdatum und das von Mutter.
Okay. Er scheint es tatsächlich ernst zu meinen. Ich halte die Luft an. Dieser Mann behauptet also wahrhaftig, dass mein bis dato unbekannter Großvater tot ist. Hitze steigt in mir auf. Kurzerhand greife ich nach einem Notizblock und wedle damit hektisch vor dem Gesicht herum. Ich fasse es nicht!
Habe ich eben dazu tendiert, Mr Ryans Anruf ins Lächerliche zu ziehen, rast mein Herz nun im Galopp und vor mir türmt sich ein Berg von Fragen auf. Ich schlucke. Ist mein Großvater nicht gestorben, als Mutter im Teenageralter war, wie sie mir erzählt hat? Warum hat sie … warum …? Bestimmt hat sie nicht gewusst, dass er noch am Leben war. So muss es sein. Niemals hätte sie mich belogen.
»W… was ist mit meiner Großmutter?«, stammle ich.
»Sie ist schon viele Jahre vor ihrem Großvater gestorben.«
Genau das erzählte Mutter mir auch.
»Woher haben Sie überhaupt meine Telefonnummer?«
»Der Name Caissy Sullivan ist in Deutschland nicht allzu oft vertreten.«
Damit hat er zweifellos recht.
Es klopft an der Tür und meine Sekretärin steckt den Kopf herein. »Ihr Termin ist da«, flüstert sie.
Meine Armbanduhr zeigt zehn nach acht. Ich verdrehe die Augen und deute auf den Hörer. »Komme gleich«, forme ich mit den Lippen und versuche, mich wieder auf das Telefonat zu konzentrieren, was aufgrund der sich drehenden Gedankenspirale in meinem Kopf kaum möglich ist.
Ich klemme den Telefonhörer zwischen Ohr und Kinn und greife nach Mutters Fotografie, die in einem schwarzen Rahmen auf dem Schreibtisch steht. Wie gern würde ich sie fragen, ob sie diese Nachricht genauso wie mich überraschen würde. Liebevoll streiche ich über ihre Wangen, die sich hinter dem Glas unangenehm kühl anfühlen. Dabei rutscht mir der Notizblock aus der anderen Hand und segelt auf das Parkett.
»Miss Sullivan? Hallo? Sind Sie noch am Apparat?«
Ich schiebe die Unsicherheit, die meinen ganzen Körper einzunehmen scheint, energisch beiseite. Ich muss jetzt einen klaren Kopf bewahren und genau zuhören, was Mr Ryan mir zu sagen hat.
»Ja, ich bin noch dran. Bitte sprechen Sie weiter.«
»Die Testamentseröffnung ist in zweieinhalb Wochen.«
»Hat mein Großvater …«, wie absurd sich dieses Wort aus meinem Mund anhört, »… ich meine, hat er … hat er mich denn überhaupt in seinem Testament bedacht?«
»Wie gesagt, er hat Sie erwähnt. Aber über die Details sprechen wir, wenn Sie hier sind. Ich freue mich, Sie auf der Beerdigung am Freitag kennenzulernen. Ich gebe Ihnen kurz den Ort, Uhrzeit und …«
»Freitag?«, unterbreche ich ihn entsetzt. »Das geht nicht.« Unmöglich kann ich am Freitag in Irland sein. Schließlich findet da der Termin statt, auf den ich nahezu mein komplettes Berufsleben lang hingefiebert habe.
2
Caissy
Um kurz nach elf gehe ich ins Bett. Ich ziehe die Daunendecke bis zu den Schultern und versuche abzuschalten. Doch ich kann nicht einschlafen. Wie gerne würde ich jetzt mit Mutter sprechen und ihr von den aufwühlenden Ereignissen des Tages berichten. Gerade heute fehlt sie mir besonders. Seit sie nicht mehr da ist … Ich kralle meine Finger in die Bettdecke. Fünfzehn Jahre ist das schon her. Unfassbar, wie die Zeit vergeht. Sie hat all das nicht mehr miterlebt, was ich so gern mit ihr geteilt hätte: meine Volljährigkeit, das Bestehen der Führerscheinprüfung und mein Studium. Sie weiß nicht einmal, dass ich jetzt als Steuerberaterin tätig bin. Und sie hat mich nie in meiner ersten eigenen Wohnung besuchen können. Ob sie wohl all meine Schritte von oben aus mitverfolgt hat? Ob sie mit allem einverstanden gewesen wäre? Ganz sicher. Schließlich hatte sie mir stets zu verstehen gegeben, dass alles, wofür ich mich entscheide, richtig sei, sofern ich dahinterstünde. Niemand auf der Welt habe je das Recht, mir meinen Weg vorzugeben. So war ihre eindeutige Meinung.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie mir erzählte, warum sie Irland schon vor meiner Geburt den Rücken gekehrt hatte. Offensichtlich sah sie nach dem frühen Tod ihrer Eltern in München bessere Chancen für sich als Alleinerziehende. Dort hatte sie vor knapp zweiunddreißig Jahren ein großartiges Jobangebot bei einer internationalen Softwarefirma bekommen, die schon damals für ihre Angestellten eine betriebliche Kindertagesstätte bieten konnte. Augenscheinlich erhielt sie eine Sondergenehmigung, da sie Vollwaise war. War die Arbeitsstelle in Deutschland wirklich der Grund, warum sie ihre Heimat verlassen hatte? Mittlerweile hege ich Zweifel daran. Je mehr ich in den vergangenen Stunden darüber nachgedacht habe, desto weniger glaube ich, dass sie die Wahrheit gesagt hat. Sie muss doch gewusst haben, dass ihr Vater noch gelebt hat. Aber warum hat sie mir diese Geschichte aufgetischt?
Während die Gedanken in meinem Kopf kreisen, nicke ich ein. Dann wache ich wieder auf und bin schweißnass. Der Vollmond scheint durch das Fenster und blendet mich. Völlig übermüdet schiele ich auf den Wecker. Es ist zwei Uhr dreißig. Erneut denke ich an den Vormittag und lasse das Telefonat mit Mr Ryan Revue passieren. Unruhig wälze ich mich in den Laken. Plötzlich halte ich den Atem an und eine fast vergessene Erinnerung kommt in mir hoch. Kurz nach Mutters Tod erhielt ich den Anruf eines Mannes, der behauptete, mein Großvater zu sein. Meine Güte, wie konnte ich das nur so weit von mir schieben, dass es mir erst jetzt wieder eingefallen ist? Ich hatte ihn damals gar nicht richtig zu Wort kommen lassen. Ich hielt ihn für einen durchgeknallten Spinner oder gar Erbschleicher. Welchen Grund hätte ein wildfremder Mann sonst direkt nach ihrem Tod gehabt, mich zu kontaktieren, dachte ich mir damals. Ich hatte ihm damit gedroht, die Polizei zu verständigen, sollte er mich nicht in Ruhe lassen. Danach hörte ich nie wieder etwas von ihm. War das etwa tatsächlich mein Großvater gewesen?
Ich seufze. Mein Leben lang habe ich von intakten Familienverhältnissen geträumt. Wie gerne hätte ich meinen Vater kennengelernt, mit dem Mutter im Urlaub nur eine einzige Nacht verbracht hat. Eine, in der ich entstanden bin. Hätte sie sich beim Abschied doch nur nach seiner Adresse erkundigt, dann hätte sie sich nicht solche Mühe geben müssen, mir die komplette Familie in einer Person zu sein. Was ohnehin nicht nötig gewesen wäre, denn offenbar war unser letzter Verwandter bis vor Kurzem noch am Leben.
Ich setze mich im Bett auf und knipse die Nachttischlampe an. Gähnend halte ich mir die Hand vor den Mund und reibe mir die Müdigkeit aus den Augen. Ich schlüpfe in die Plüschpantoffeln, die ordentlich nebeneinander vor dem Bett auf mich warten. Dann schnappe ich mir den Morgenmantel, der über dem Stuhl am Schminktisch hängt, und kuschle mich hinein. Mit schweren Beinen schlurfe ich über den flauschigen Teppich und verlasse das Schlafzimmer. In der Küche trinke ich ein Glas Wasser. Dann steuere ich die Schublade mit den Süßigkeiten im Wohnzimmer an und hole die letzte Tafel Karamellschokolade heraus. Auf der Couch mache ich es mir damit gemütlich, scrolle durch die neuesten Artikel der Tagesschau und habe die Schokolade innerhalb kürzester Zeit verputzt. Erschrocken über meine Gier knülle ich die Alufolie zu einem Ball und zerreiße das Papier in kleine Stücke. Beides stopfe ich in den Mülleimer in der Küche. Es ist, als hätte die Schokolade nie existiert.
Zurück im Schlafzimmer öffne ich den nostalgischen Holzkleiderschrank, den ich von Mutter geerbt habe. Er ist das einzige alte Möbelstück in meiner Wohnung. Auf Zehenspitzen versuche ich, die Blechkiste im oberen Regalfach zu greifen. Sie ist zu weit hinten. Mehrmals springe ich nach oben, bis ich sie schließlich in den Händen halte. Ich setze mich damit zurück aufs Bett. Liebevoll streiche ich über die mit Blumenmuster bedruckten Seitenwände. Sie ist mein größter Schatz. Es ist Jahre her, dass ich sie geöffnet habe. Auf der Oberseite liegt trotz des Lagerplatzes im Kleiderschrank eine dünne Staubschicht. Behutsam streife ich sie mit den Fingern ab, lege den Deckel auf die Matratze und krame nach dem Stammbuch. Schließlich entdecke ich es zwischen einigen Babyfotos und der Karte, die nach meiner Geburt am Krankenhausbettchen hing. Langsam blättere ich durch die Seiten, lese Wort für Wort, komme aber zu keiner neuen Erkenntnis. Ich drehe und wende das mit Samt überzogene Buch, in der Hoffnung, dass es irgendeinen weiteren Hinweis ausspuckt. Dann lege ich es zurück. Ich finde auch Mutters Auszug aus dem irischen Geburtenregister, auf dem erwartungsgemäß die Namen ihrer Eltern, John und Lea Sullivan vermerkt sind. Ich entdecke auf der Urkunde nichts, was mir nicht schon bekannt gewesen wäre. Auch dass ihr Geburtsort in Beaufort war, wusste ich längst. Ganz unten in der Kiste finde ich mein Babyarmband. Heute würde ich es nicht mal um zwei meiner frisch manikürten Finger bekommen, so winzig ist es.
Ob ich jemals selbst Kinder haben werde? Seit der gescheiterten Beziehung mit Tim glaube ich nicht mehr daran. Unsere ständigen Streitigkeiten wurden zuletzt unerträglich. Er war Mr Super-Perfekt und ich sollte mich ändern. Ich war ihm zu verkopft, zu unnahbar, zu steif … zu was weiß der Kuckuck noch alles. Okay, ich geb‘s ja zu, vielleicht hatte er ein wenig recht mit seinen Vorwürfen, aber was hätte ich denn tun sollen? Es fällt mir nun mal noch immer unheimlich schwer, die Kontrolle abzugeben. Traurig senke ich den Kopf. Ich hole tief Luft und lege die Hand auf meinen Brustkorb. Eine liebevolle Umarmung wäre jetzt schön. Eine Schulter, an die ich mich anlehnen könnte, und starke Arme, die mich einfach nur einen Moment lang halten würden.
***
In der Kanzlei gebe ich mir die größte Mühe, die sich ewig kreisenden Gedanken der Nacht zu ignorieren, was kaum möglich ist. Ein Mandant, mit dem ich soeben eine halbe Stunde diskutiert habe, verlässt das Büro und schließt die Tür hinter sich. Ein Wunder, dass ich bei dem Gespräch halbwegs klar denken konnte.
Ich atme tief durch. Mein Blick fällt auf den Tischkalender und natürlich auf den Freitag. Mein Bauch zieht sich schmerzhaft zusammen. Ich kann den Notartermin nicht absagen. Schließlich handelt es sich hierbei nicht um ein aufschiebbares Vorhaben wie etwa einen unliebsamen Zahnarztbesuch, sondern, ich möchte fast behaupten, er ist richtungsweisend für mein zukünftiges Berufsleben. Aber genauso wenig kann ich von der Beerdigung meines Großvaters fernbleiben. Das gehört sich einfach nicht. Egal ob ich ihn kannte oder nicht. Doch ich muss mich wohl entscheiden. Ich stecke gewaltig in der Klemme.
Zwischen zwei weiteren Mandantenterminen greife ich kurzentschlossen zum Hörer, weil mich die Fragen in meinem Kopf schier verrückt werden lassen. Nach zweimaligem Läuten bin ich mit dem Büro des Nachlassverwalters verbunden. Die freundliche Dame an der Vermittlung leitet mich unverzüglich weiter.
»Miss Sullivan, schön, von Ihnen zu hören«, meldet sich Mr Ryan.
»Guten Tag. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich störe.«
»Sie stören keineswegs. Was kann ich für Sie tun?«
»Ihr Anruf gestern kam sehr überraschend.«
»Das kann ich mir denken.«
»Sagen Sie … wissen Sie, warum ich erst nach Großvaters Tod von seiner Existenz erfahren habe?«
Es herrscht eine Pause. Kurz halte ich die Luft an, um meine Anspannung zu unterdrücken.
»Tut mir leid, Miss Sullivan. Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Auch ich habe erst durch Johns Brief und sein Testament von Ihnen erfahren.« Er nennt ihn John. Dann muss er ihn näher gekannt haben.
»Aber es gibt doch sicher irgendjemanden in Greenkenny, dem mein Großvater von seiner Familie erzählt hat und der mir Antwort geben kann.«
»Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich kannte Ihren Großvater wirklich gut. Wir haben jede Woche zusammen Twenty-Five gespielt und das eine oder andere Guinness dabei geleert. Doch selbst ich war stets fest davon überzeugt, dass er weder Kinder noch Enkel hatte. Ich glaube, mit dieser Annahme war ich nicht alleine.«
Hatte ich zuvor noch Zweifel, ist mir nun klar, dass ich nach Irland fliegen und der Sache auf den Grund gehen muss. Auf den Grund gehen will. Zum einen bin ich es meinem Großvater schuldig, dass ich mich zumindest von ihm verabschiede, wenn ich ihn schon nicht persönlich gekannt habe. Außerdem nagt das schlechte Gewissen an mir, dass ich ihn nach seinem zaghaften Versuch, mich zu kontaktieren, so rüde habe abblitzen lassen. Zum anderen scheint es ein Geheimnis in meiner Familie zu geben und das muss ich lüften. Nie mehr könnte ich ruhig schlafen, geschweige denn in den Spiegel sehen, wenn ich nicht dorthin fliegen würde. Aber genauso wichtig ist der Notartermin. Ich werde beim Makler anrufen und um Verschiebung bitten. Erneut greife ich zum Hörer. Es wird alles gut werden. Ganz bestimmt.
»Guten Tag, Frau Sullivan«, begrüßt mich der Makler freundlich. »Na? Sind Sie schon aufgeregt vor dem großen Tag?«
Ich schlucke einmal kräftig und ignoriere seine Frage. »Ich habe eine Bitte«, komme ich stattdessen sofort zur Sache. »Aufgrund eines Todesfalls in meiner Familie muss ich den Termin am Freitag leider verschieben.« Obwohl meine Stimme fest klingt, ist die Anspannung in mir unerträglich. Ich wechsle den Hörer in die andere Hand und wische die schweißnasse an meiner Bundfaltenhose ab.
Zunächst ist es stumm in der Leitung. Dann vernehme ich, wie der Makler Luft holt. »Nun … ich fürchte, wenn Sie den Termin nicht wahrnehmen können, ist der Deal geplatzt.«
»Wie bitte? Ich möchte doch nach wie vor kaufen.«
»Sicher, sicher«, pflichtet er mir bei. »Allerdings hat der Kanzleibesitzer, Herr Wüllenweber, strikt gefordert, dass er seine Kanzlei nur an eine zuverlässige Person verkaufen will. Wenn jemand den vorgeschlagenen Termin nicht annimmt, ist dies für ihn leider ein K.-o.-Kriterium und Indiz für Unzuverlässigkeit.«
Das Blut rauscht in meinen Ohren und ich presse die Lippen aufeinander.
»Er befürchtet bei derartigen Aussagen wie Ihrer, dass der Käufer nur Zeit schinden will und deshalb fadenscheinige Ausreden auftischt.«
So hätte ich den Kanzleibesitzer gar nicht eingeschätzt, aber Äußerlichkeiten können offensichtlich täuschen. »Kann man da gar nichts machen?«, frage ich flehend.
»Leider nicht«, sagt er bestimmt. »Hören Sie, Frau Sullivan, wenn Ihnen die Kanzlei wirklich wichtig ist, werden Sie sicher eine Lösung finden.«
»Ich habe keine Wahl, oder?«, stelle ich betrübt fest.
»Nein. Entweder Sie erscheinen am Freitag im Notariat oder Herr Wüllenweber wird an einen der anderen Interessenten verkaufen.«
Verzweifelt starre ich auf den besagten Tag im Kalender. Mist, was mache ich nun? Soll ich mich doch gegen die Beerdigung entscheiden?
Ich brauche Bedenkzeit. »Ich melde mich zeitnah wieder bei Ihnen. Ist das in Ordnung?«
»Ja sicher. Geben Sie mir bitte spätestens morgen Bescheid.«
Nach dem Gespräch bin ich wie in einer Schockstarre. Mein Brustkorb schmerzt und ich bin unfähig, mich zu bewegen. Krampfhaft suche ich nach einer Lösung und habe bald einen genialen Einfall. Ich könnte Freitag wie geplant zum Notartermin und kommende Woche in aller Ruhe nach Irland reisen. Möglicherweise ergibt es sogar mehr Sinn, mich ohne den Beerdigungstrubel von meinem Großvater zu verabschieden. Die Idee gefällt mir. Und nur weil ich nicht am Tag der Beisetzung dort erscheine, bedeutet das nicht, dass ich ihm nicht dennoch die letzte Ehre erweisen kann. Außerdem würde es in Greenkenny ohnehin niemanden interessieren, ob ich da bin oder nicht.
Kaum habe ich den Gedanken zu Ende gesponnen, meldet sich das schlechte Gewissen. Du kannst das nicht tun. Es gehört sich nicht, die Beerdigung eines so nahestehenden Verwandten zu versäumen. In meinem Kopf dreht sich alles und ich weiß nicht mehr, was richtig ist und was falsch. Ich muss mit jemandem sprechen. Sofort! Sonst drehe ich durch. Rasch suche ich nach Silkes Nummer in meinem Handy und baue die Verbindung auf. Es ist lange her, dass ich mich bei meiner Freundin gemeldet habe. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich in den vergangenen Monaten wegen der Suche nach einer Kanzlei echt viel um die Ohren hatte.
»Hallo, hier ist Caissy«, melde ich mich freundlich.
»Kennen wir uns?«, entgegnet sie spitz.
Zerknirscht wiederhole ich meinen Namen.
»Ach, Caissy … nett, dass die Dame geruht, sich auch mal wieder zu melden.«
Ihr Tonfall klingt, als hätte ich mich Jahre nicht gemeldet. Dabei erinnere ich mich noch gut an unser Treffen kurz vor Weihnachten … oder war es das im vorherigen Jahr?
»Wie geht‘s dir?«, frage ich kleinlaut.
»Bei mir ist alles in bester Ordnung … und bei dir?« Die zurückhaltende Kälte in ihrer Stimme ist selbst durch die Leitung deutlich spürbar.
Ich räuspere mich. »Sag mal, wollen wir uns mal wieder treffen? Wir haben sicher viel zu bequatschen.« Eigentlich wollte ich sofort mit der Sprache herausrücken, was mir jetzt wie ein Ding der Unmöglichkeit vorkommt.
»Tut mir leid, Caissy. Ich habe kein Interesse. Da hättest du dich ein paar Jahre früher melden müssen.«
Ihre Worte schlagen auf mich ein wie ein Dutzend Ohrfeigen. Sie hat ja recht. Ich bin so eine unfassbare Idiotin. Das wird mir unweigerlich klar. Während des Fixierens auf meinen Job und des Trubels um die Kanzleisuche habe ich ihre Kontaktversuche tatsächlich immer wieder abgeblockt. Natürlich hatte ich es nicht böse gemeint. Ich hatte einfach so viel um die Ohren. Aber mir ist klar, dass ich meine Freundin damit schwer enttäuscht habe.
»Außerdem ist es momentan ziemlich ungünstig«, blafft sie und es knackt in der Leitung. Hat sie wirklich aufgelegt?
Sprachlos starre ich auf das Handydisplay. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Ich beiße die Zähne aufeinander und schlucke hart.
3
Caissy
Akribisch falte ich das extravagante Etuikleid, das ich mir passend zu dem klassischen Kurzmantel in der angesagten Boutique am Isartor gekauft habe, und lege es in den Hartschalentrolley. Nicht dass ich nicht genügend dunkle Kleidung im Schrank hätte. Doch nichts davon erschien mir angemessen für Großvaters Beerdigung.
Beim Gedanken an die kommenden Tage bekomme ich Herzklopfen. Was wird mich in Irland erwarten? Wie ich unvorhersehbare Situationen hasse. Ich hoffe, ich bereue es nicht, dass ich den Notartermin abgesagt und mich stattdessen für die Reise nach Greenkenny entschieden habe.
Ich lege Jeans, Bluse und ein Seidennachthemd in den Trolley und schließe ihn, nachdem Toilettenartikel, Föhn und ein paar Wechselschuhe sorgfältig darin verstaut sind. Vorsorglich versehe ich den Koffer mit einem Zahlenschloss und schiebe ihn in den Flur.
Am nächsten Morgen hetze ich in aller Herrgottsfrühe mit dem Gepäck im Schlepptau von meiner Zwei-Zimmer-Wohnung zur S-Bahn Haltestelle Fasanerie. Ich habe den ersten Flug gebucht, der heute den Dubliner Flughafen ansteuert. Mein Frühstück besteht aus einem Kaffee im Pappbecher, den ich mir bei Barmüllers in der Feldmochinger Straße gekauft habe.
Auf der knapp halbstündigen Fahrt nippe ich im Drei-Minuten-Takt an dem Getränk. Zwischendurch checke ich die E-Mails auf dem Handy, die im Kanzlei-Postfach eingegangen sind. Es ist Routine, dass ich sie jeden Morgen abrufe, bevor ich die Treppe zum Bahnsteig hinunterhaste. Ein entscheidender Nachteil in einer Millionenstadt wie München ist, dass die Wege ausnahmslos lang sind. Selbst für ein paar Kilometer braucht man mindestens eine halbe Stunde. Besonders schlimm ist es, wenn man im Feierabendverkehr unterwegs ist, eingequetscht zwischen genervten Berufspendlern, die entweder auf dem Weg nach Hause oder zum Einkaufen sind.
Der Flug vergeht dank der Wirtschaftsnews, die ich am Flughafen als Reiselektüre erstanden habe, zügig. Obwohl ich keine Flugangst habe, bin ich jedes Mal wieder erleichtert, festen Boden unter den Füßen zu spüren.
Die Fahrt mit dem Leihwagen empfinde ich dank des Linksverkehrs als absolut abenteuerlich. Vor allem in den mehrspurigen Kreisverkehren gerate ich ins Schwitzen.
Wenn es das Verkehrsaufkommen erlaubt und ich nicht krampfhaft die Straße fixieren muss, schaue ich nach draußen. Als ich die Autobahn verlasse, lädt mich die hügelige, mit Moos bedeckte Landschaft zum Träumen ein. Grüne Wiesen erstrecken sich bis zum Horizont und werden nur von vereinzelten Felsformationen und kleinen Wasserfällen unterbrochen. Warum haben Mutter und ich nie in Irland Urlaub gemacht? Schließlich sind wir doch beide Irinnen. Komischerweise hat es mich in den vergangenen Jahren nie hierhergezogen und ehrlich gesagt habe ich auch gar keinen Bezug zu diesem Land. Alles hier ist neu und fremd. Es fühlt sich nicht nach Heimat an, obwohl mir bei dieser traumhaften Landschaft beinahe die Luft wegbleibt. Im Herzen bin ich durch und durch Münchnerin. Soweit ich zurückdenken kann, ist die Großstadt mein Zuhause und es gab nur Mutter und mich. Und mit Sicherheit war mein Vater kein Ire. Nachdem mein Haar nicht so rot ist, wie das vieler irischer Frauen, sondern die Blondtöne darin deutlich überwiegen, könnte er prinzipiell aus beinahe jedem Land der Welt kommen.
***
Bis eben hat es noch in Strömen geregnet. Die Luft riecht angenehm frisch. Die Wiese neben Großvaters Grab ist matschig. Ständig versuche ich verzweifelt, die Beine so zu positionieren, dass ich mit meinen High Heels nicht im Schlamm versinke. Es erscheint nahezu unmöglich.
Förmlich schüttle ich einem älteren vollbärtigen Mann die Hand und zwinge mich zu einem Lächeln. Sein Händedruck ist fest und er sieht mich mit verzerrtem Gesichtsausdruck an. Im Anschluss spricht mir eine gepflegte Dame in den Sechzigern ihr Beileid aus. Dabei zuckt sie nervös mit den Augenlidern. Ihre betrübte Miene geht mir durch und durch. Mir wird schwer ums Herz. Es scheint, als erlebte ich gerade ein Déjà-vu. Schon einmal musste ich als einzige Hinterbliebene eine Flut von Beileidsbekundungen bewältigen. Bei Mutters Beerdigung war ich erst siebzehn und völlig unsicher. Damals war ich wie gelähmt gewesen und die Panik in mir, wie ich es fortan ohne ihre Unterstützung schaffen sollte, war kaum auszuhalten.
Ich schenke der Frau, die meine Hand fest umschlossen hält, einen freundlichen Blick und wende mich dem nächsten Trauergast zu. Das Händeschütteln nimmt kein Ende. Ich ahne allmählich, wie beliebt Großvater gewesen sein muss.
Zwischendurch sehe ich erst verstohlen auf meine Armbanduhr und dann auf die Schlange, die sich von der Mauer des Klosterfriedhofs bis zum Grab gebildet hat. Ich reibe mir die feuchten Hände an meinem Mantel ab.
In knapp dreißig Minuten wäre der Notartermin gewesen. Ich ziehe tief Luft durch die Nase und beiße mir auf die Unterlippe. Mit dem verpassten Termin ist nicht nur mein Großvater, sondern vorläufig auch der Traum der eigenen Kanzlei gestorben. Doch ich bin mir sicher, Mutter hätte niemals den Kauf einer Steuerkanzlei vor die Beerdigung eines Familienangehörigen gestellt. Wobei wir niemals einen Verwandten gemeinsam beerdigt hatten. Allerdings hätte sie mir gesagt, dass alles im Leben seinen Sinn hat und bestimmt demnächst eine noch besser zu mir passende Kanzlei auf mich wartet. An diesen Gedanken klammere ich mich fest wie an einen Rettungsring.
Ich mustere die Trauergäste, die in Grüppchen zusammenstehen und hinter vorgehaltener Hand flüstern. Unauffällig rücke ich den schwarzen Hut zurecht, der mein Gesicht zur Hälfte mit einem Netzschleier bedeckt. In meinem schicken Outfit komme ich mir absolut fehl am Platz vor. Wie konnte ich mich nur dermaßen aufdonnern? Kein Wunder, dass eine ältere Frau mit lockigen Haaren und Sommersprossen mich abschätzig mustert, als wäre ich eine Schaufensterpuppe. Ich bin so eine Idiotin. Die meisten Bewohner dieser irischen Kleinstadt tragen schlichte, dunkle Kleidung, die wahrscheinlich schon jahrelang in ihren Schränken hing, aber für den heutigen Anlass auf diesem schlammigen Friedhof schlichtweg ihren Zweck erfüllt. Mein Blick streift das Friedhofstor. Am liebsten würde ich verschwinden, einfach davonrennen und meinem Großvater an einem stillen Ort gedenken.
Die Menschen hier wirken vertraut miteinander und die Bindung, die zwischen ihnen herrscht, ist spürbar. Je länger ich hier stehe, desto bewusster wird mir, dass ich nicht hierhin gehöre. Vielmehr noch: Ich gehöre nicht dazu. Und es versetzt mir einen Stich. Ich bin mit niemandem, absolut niemandem, derart verbunden. Mein Mund ist staubtrocken. Ein wehmütiges Gefühl macht sich in mir breit. Die nächste Beileidsbekundung kostet all meine Kraft. Vor allem, weil ich in einer Tour an den Tag denke, an dem Mutter beerdigt wurde und sämtliche Erinnerungen an diesen schwarzen Tag mit einem Schlag wieder präsent sind. Meine Hände zittern und ich hoffe, der Trauergast bemerkt es nicht.
Der Wind pfeift mir unter den Mantel, aber ich wage nicht, ihn weiter zuzuknöpfen. Warum habe ich keinen Schal mitgenommen? In München war es bereits frühsommerlich warm, doch hier hängt die trübe, schwere Luft über den Gräbern. Meine Füße fühlen sich an wie Eisklötze und die Kälte zieht über die Beine bis in meinen Rumpf.
Aus dem Augenwinkel heraus schiele ich auf Großvaters schwarz eingerahmtes Profilfoto in Übergröße, das auf einer hölzernen Staffelei neben dem Grab aufgestellt ist. Mit seinem grau melierten Vollbart und den strahlenden Augen sieht er absolut sympathisch aus. Ob wir gut miteinander ausgekommen wären?
Ich denke zurück an die wenigen Tage, die mir vor der Beerdigung geblieben sind. Nichts habe ich herausgefunden, was erklären könnte, weshalb Mutter ihn zeit ihres Lebens verschwiegen hatte. Nicht den kleinsten Anhaltspunkt. Ein Kloß steigt in meinem Hals auf und mein Herz zieht sich zusammen. Doch ich bewahre Haltung und lasse mir nicht anmerken, dass in mir völliges Chaos herrscht. Die Gedanken um das immer wiederkehrende Warum wirbeln wie im Schleudergang einer Waschmaschine durcheinander. Ich beiße mir auf die Unterlippe, schüttle weiter tapfer Hände und betrauere den Tod eines Unbekannten.
Abseits, unter den Bäumen, entdecke ich einen grauhaarigen Mann in einem abgetragenen Sakko, der auf den Boden starrt. Es scheint, als würde er mit sich sprechen. Ob er hier genauso fremd ist wie ich? Zumindest ist er ohne jegliche Gesellschaft.
Nach unendlich vielen Beileidsbekundungen verlassen die Trauergäste nacheinander den Friedhof und ich bleibe alleine zurück. Auch der grauhaarige Mann steuert mit gesenktem Kopf auf den Friedhofsausgang zu. Eine Frau um die siebzig, deren kurze, stämmige Beine in enge Halbschuhe gepresst sind, humpelt einige Meter hinter ihm her.
»Conor!«, ruft sie.
Er scheint völlig in Gedanken versunken zu sein und reagiert nicht auf sie.
»Warte«, versucht sie erneut, den Mann auf sich aufmerksam zu machen. Nachdem er unbeirrt weitergeht, ohne sich nach ihr umzudrehen, bleibt sie kopfschüttelnd stehen, holt ein Taschentuch aus ihrer schwarzen Handtasche und schnäuzt hinein.
Ich wende meine Aufmerksamkeit von ihr ab und stöckele näher an das tiefe Erdloch heran. Beklommen sehe ich auf den Sarg hinab, der mit einem Kranz und unzähligen Blumen bedeckt ist. Krampfhaft versuche ich, ein Gefühl für meinen Großvater aufkeimen zu lassen. Ruhig atmend spüre ich in mich hinein. Doch da ist nichts. Rein gar nichts. Auch wenn die Emotionen heute mit mir Achterbahn fahren, sehe ich in Großvaters Bild nicht mehr als ein fremdes Gesicht ohne Leben. Ich empfinde nicht den kleinsten Funken von Trauer. Verdammt, das macht mir wirklich zu schaffen. Dieser Mann war schließlich mein Großvater, mein einziger übrig gebliebener Verwandter. Bin ich wegen meines Berufes so gefühlskalt? Jeden Tag jongliere ich Unmengen von Zahlen. Ich tue alles für das Wohl meiner Mandanten, helfe ihnen, Steuern zu sparen, wo es nur möglich ist. Oder liegt es daran, dass ich mich schon fast mein halbes Leben ohne meine Mutter durchschlagen musste? Ich schiebe meine Ungerührtheit auf die Tatsache, dass ich diesen Menschen dort unten im Sarg nicht gekannt habe. Nun mit aller Gewalt Tränen hervorzupressen, ist unmöglich.
Erneut betrachte ich die Fotografie und lege den Kopf schief. Ist das Grübchen neben Großvaters rechtem Mundwinkel nicht das Gleiche, das Mutter hatte, wenn sie lächelte? Wie es sich wohl anfühlen würde, ihn zu umarmen und seinen vollen Bart an meiner Wange zu spüren? Je länger ich mir das Foto ansehe, desto mehr umhüllt mich trotz des schmuddeligen Wetters eine wohlige Wärme.
»Wir werden ihn vermissen, deinen Grandpa«, vernehme ich eine angenehme, tiefe Stimme.
Ich drehe mich um und sehe geradewegs in die blauen Augen eines breitschultrigen Kerls, der mir bisher nicht die Hand geschüttelt hat. An sein unwiderstehliches Lächeln würde ich mich definitiv erinnern. Im Gegensatz zu den restlichen Besuchern der Beerdigung senkt er den Altersschnitt um Jahre. Ich schätze ihn ungefähr so alt wie mich, maximal fünfunddreißig. Seine schulterlangen dunkelbraunen Haare wehen in sein Gesicht und lassen ihn mit seiner Lederjacke beinahe wie einen Rockstar aussehen. Komisch, ich habe ihn vorhin gar nicht wahrgenommen. War er überhaupt anwesend? Oder ist er eben erst aufgetaucht?
4
Mark
»Mein Beileid und … sorry, wenn ich dich erschreckt habe«, sage ich zu der unbekannten Schönheit und fahre mir durch die Haare. Schon während des Gottesdienstes bin ich ständig an ihren rotblonden Locken kleben geblieben, die auf der harten Kirchenbank direkt vor mir auf und ab wippten, wann immer sie den Kopf drehte. Obwohl sie mit ihrem vornehmen Outfit auf mich wirkt, als könne ihr niemand etwas anhaben, erkenne ich doch eine gewisse Unsicherheit, wenn nicht sogar Zerbrechlichkeit in ihrem Blick.
Ich sehe auf die zierliche Lady hinab. Würde ich sie umarmen, läge ihr Kopf direkt an meiner Brust. Rasch wische ich den Gedanken beiseite. Doch mir entgeht nicht, wie sie mich eingehend mustert.
»Ich bin Mark, ich habe in der Karamellmanufaktur deines Grandpas gearbeitet.« Jetzt, wo ich es ausspreche, drückt es mir die Luft ab und ich atme schwer. Ich fühle mich wie gelähmt, wenn ich daran denke, dass mein alter Freund nicht mehr da ist.
»Nett, dich kennenzulernen«, sagt sie zögernd und streckt mir ihre Hand entgegen. Dann runzelt sie die Stirn. »Anscheinend weiß jeder hier, dass ich seine Enkelin bin, nicht wahr?«
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Na ja, schließlich bist du die einzige Fremde hier. Außerdem hat es sich längst herumgesprochen, dass du zur Beerdigung kommst.«
»So viel also zur Schweigepflicht von Nachlassverwaltern.« Sie rollt mit ihren faszinierenden grün schimmernden Augen. »Ehrlich gesagt kannte ich meinen Großvater überhaupt nicht«, fügt sie entschuldigend hinzu und wirkt bekümmert. »Ich wusste bis Anfang der Woche gar nicht, dass er bis vor Kurzem noch lebte.«
»Das ist bitter«, entgegne ich kaum hörbar.
»Und dass er eine Karamellmanufaktur betrieb, höre ich nun auch zum ersten Mal.« Sie fährt sich mit der Zunge über die Lippen, als würde sie den Geschmack der Karamellen darauf spüren.
Ich senke den Kopf und schiebe mit der Schuhspitze einen Kiesel an den Rand des Grabes. »Wir hier in Greenkenny wussten auch nichts von dir.«
Ich denke an den Moment, als Eilis mich vor ein paar Tagen anrief. Noch immer läuft es mir eiskalt über den Rücken, wenn ich mich an ihre zitternde Stimme erinnere, als sie mir in stockenden Worten von Old Sullivans Enkelin berichtete. Doch das, was mir schier die Sprache verschlagen hat, ist, dass sie all die Jahre von ihr wusste. Eigentlich hätte ich mich nicht darüber wundern sollen. Schließlich war sie seit Jahrzehnten seine Haushälterin. Schon bevor er die Karamellmanufaktur hier in Greenkenny eröffnete.
Nach dieser Nachricht habe ich mich kaum auf den Beinen halten können. Und noch immer fühlen sie sich weich und instabil an. Seitdem will die Tatsache einfach nicht in meinen Kopf, dass Old Sullivan seine Enkelin niemals vor mir erwähnt hatte. Immerhin war ich selbst für ihn wie ein Enkel. Und warum hatten die beiden keinen Kontakt zueinander?
Schweren Herzens denke ich an all das, was ich ihm zu verdanken habe. Er hat mich nicht nur in die Geheimnisse der Karamellherstellung eingeweiht, sondern vor allem war er ab meinem fünfzehnten Lebensjahr mein Zufluchtsort, wenn es im Heim Streit gab. Noch vor einer Woche haben wir zusammen Irish Stew gegessen, das er so gern mochte. Ich habe das Fleisch extra lange gekocht, weil er mit seinem Gebiss Mühe hatte, es zu kauen.
Meine Hand verkrampft sich und ich versuche, mich mit einem tiefen Atemzug zu entspannen. Jetzt kommt es auf die richtigen Worte an. Ich kratze mich am Kopf.
»Kommst du mit ins McCafferty‘s?«, frage ich schließlich. »Alle treffen sich dort und wir wollen ein letztes Mal auf deinen Grandpa anstoßen.«
»Ich weiß. Eine ältere Dame hatte es mir vorhin schon gesagt.« Sie zögert kurz und wirkt verunsichert. »Ja, ich komme mit«, entgegnet sie dann.
Gemeinsam steuern wir auf den Friedhofsausgang zu. Ich halte ihr das Tor auf. Als sie hindurchgeht, bleibt sie stehen und sieht mich an.
»Ich bin übrigens Caissy.«
»Dann auf in den Kampf, Caissy.«
Ein dankbares Lächeln huscht über ihre vollen Lippen.
***
Im Pub ist die Hölle los und ich verstehe mein eigenes Wort kaum, als ich mir mit Caissy den Weg durch die Menge bahne. Würde ich es nicht besser wissen, könnte man glatt annehmen, dass halb Greenkenny sich heute hier versammelt hat. Dementsprechend laut ist es. Die Trauergemeinde lacht, trinkt Guinness und Old Sullivans Lieblingswhiskey. Ich schmunzle und denke an meinen alten Freund, der sich seine Verabschiedung bestimmt genau so fröhlich gewünscht hätte. Kurz verharre ich und erinnere mich an unser Gespräch, als ich ihm mit knapp achtzehn Jahren voller Stolz mein erstes Tattoo auf dem Oberarm präsentiert hatte.
»Mein Junge«, hatte er damals mit besorgtem Ausdruck in seinen sonst so leuchtenden Augen gesagt, »nur weil du dir ein Schwert unter die Haut hast stechen lassen, schützt dich das nicht vor Verwundungen.« Dabei hatte er sanft über den geschwungenen Schriftzug unverwundbar gestrichen, der das Tattoo an der Unterseite abrundet. Und er hatte recht gehabt: Es hat mich nach seinem Tod nicht vor Schmerz und Trauer beschützt. Verdammt! Warum ist er nicht mehr da? Unauffällig wische ich mit dem Handrücken über meine feuchten Lider.
Ich nicke Eilis zu, die mit ihren faltigen Händen ein Stofftaschentuch aus ihrer Handtasche holt und hineinschnäuzt.
Während ich mir mit Caissy einen Weg zum Tresen bahne, wird es ruhiger und die Leute senken ihre Stimmen. Aus allen Ecken ertönen Storys über Old Sullivan. Ich schnappe nur Wortfetzen auf. »Großartiger Kerl … ein Jammer … unvergessen.«
Sam, der abends im McCafferty‘s als Musiker auftritt, erhebt seine kräftige Stimme und verschränkt seine muskulösen Arme. »Einmal hat Old Sullivan mich enorm scharfe Chili-Karamellen probieren lassen. So schnell wie die in meinem Mund waren, hatte ich sie auch wieder ausgespuckt.«
Die Meute, die sich um den wuchtigen Stehtisch aus dunklem Holz versammelt hat, grölt.
Sofort hebt der vollbärtige, bis zum Hals tätowierte Padraig seinen nikotingelben Zeigefinger. »Mir hat er mal statt einer Cola ein Mineralwasser mit Sojasoße vorgesetzt. Ich sag‘s euch, mir war Stunden später noch speiübel.« Er reibt sich über das Schlangentattoo, das vom Kragen seiner Lederjacke halb verdeckt wird.
John und Sean schlagen sich auf die Schenkel, Sam und Padraig bestellen beim Kellner ein weiteres Guinness.
Sam wischt sich mit seinem karierten Hemdsärmel den Bierschaum ab. »Hey, du …«, wendet er sich mit gedämpfter Stimme an Caissy, »dein Grandpa war wirklich sehr besonders. Wir haben ihn alle geliebt.« Dabei zeigt er auf Padraig, John und Sean, die eifrig nicken.
Auch Rose von der Greenkenny Horse Farm schenkt Caissy einen warmen Blick. Sie legt ihren Arm um die Schultern ihres Sohnes Tyler. »Bei uns war er ein gern gesehener Gast. Er brachte immer blendende Laune mit, wenn er uns besuchte.«
Caissy lächelt, doch es wirkt unecht. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich sichtbar. Sie scheint nicht zu wissen, wie sie darauf reagieren soll. Schließlich kann sie schlecht entgegnen, dass sie ihn ebenfalls geliebt hat, zumal sie ihn nicht kannte.
Sam schiebt die Hemdsärmel nach oben und schlingt einen Arm um mich. »Aber am schlimmsten hat es unseren Jungen hier erwischt« Er lehnt den Kopf an meine Schulter. Mein Körper versteift sich. Auch wenn er recht hat, kann niemand hier ahnen, wie schwer Old Sullivans Tod mich tatsächlich getroffen hat. Und dass ich keine Ahnung habe, wie es ohne ihn weitergehen soll ‒ mit der Manufaktur und meinem Leben. Old Sullivan war so viel mehr für mich als ein Arbeitgeber. Mir fehlen unsere abendfüllenden Gespräche und dass wir jederzeit füreinander da waren.
Ich ertrage die mitleidig schauenden Augenpaare um mich herum nicht. Energisch schiebe ich Sams Arm von meiner Schulter. »Lass mich. Ich komme schon klar.«
Ich wende mich von den Männern ab und deute auf einen freien Barhocker am Tresen. »Setz dich, Caissy. Möchtest du ein Bier?« Ich stelle mich neben ihren Hocker an die Bar und versuche, mich wieder zu sammeln.
»Nein, ein Wasser bitte.« Sie legt die Hände in den Schoß und knetet ihre Finger. »Ich muss nachher noch mit dem Auto zu meinem Bed & Breakfast fahren.«
»Bleibst du bis zur Testamentseröffnung?«, hake ich nach und bestelle die Getränke beim Kellner. Nebenbei baue ich aus ein paar Bierdeckeln ein Kartenhaus. Ich wage nicht, sie anzusehen, denn ich habe Angst vor ihrer Antwort. Noch immer hoffe ich, dass ich der Einzige bin, den Old Sullivan in seinem Testament bedacht hat. Schließlich waren wir ein Team und er würde mir doch niemals mein berufliches Zuhause, meine Lebensgrundlage nehmen.
»Die ist erst übernächste Woche.«
Das Kartenhaus stürzt ein und ich schiebe die Bierdeckel zur Seite. Sie kennt den Termin. Das hätte mir klar sein sollen. Im selben Atemzug versuche ich mir einzureden, dass sich alles regeln wird.
»Du sagtest vorhin, niemand hier hat bisher etwas von meiner Existenz gewusst?«
»Nein.« Bis auf Eilis, möchte ich sagen, beiße mir jedoch auf die Zunge. Ich muss selbst erst einmal damit klarkommen, dass sie all die Jahre im Bilde war und ich nicht. »Ich habe wirklich viel Zeit mit Old Sullivan verbracht, aber er hat dich nie erwähnt. Und deine Eltern, was ist mit denen?«, hake ich vorsichtig nach. Auch die hat er totgeschwiegen.
»Ich habe keinen Vater und … meine Mutter ist tot … schon lange.« Ein Schatten huscht über ihr Gesicht.
Augenblicklich bereue ich, dass ich danach gefragt habe. Schließlich hätte ich ahnen können, dass Caissy seine einzige Verwandte war. Sonst wären sie bestimmt auch hier. Ich ringe nach Worten. »Das … tut mir leid.«
Ihre Lider zucken, als hätte ich meinen Finger in eine offene Wunde gelegt. Sie starrt mit leerem Gesichtsausdruck auf den Barkeeper, der ein Pintglas unter den Zapfhahn hält und es mit Guinness füllt.
5
Caissy
Seit Großvaters Beerdigung vergangene Woche kreisen meine Gedanken unaufhörlich um ihn und ich habe allergrößte Mühe, mich in der Kanzlei zu konzentrieren. Nervös wippe ich mit der Lehne des Bürostuhls vor und zurück und tippe mit dem Kugelschreiber auf die Schreibtischunterlage. Immer wieder sehe ich mich an Großvaters Grab stehen. Die Ereignisse wiederholen sich in meinem Kopf wie eine hängengebliebene Schallplatte. Als Kind hatten wir einen Plattenspieler und ich erinnere mich noch genau an das Kratzen und die unerträgliche wiederkehrende Melodie, wenn er hing.
In drei Minuten hat die Sopransängerin Ekaterina Sonka einen Termin bei mir. Seit ihrem Engagement an der Bayerischen Staatsoper haben sich ihre Einnahmen drastisch erhöht. Ich muss ihr heute klarmachen, dass sie mindestens fünfundzwanzig Prozent davon für die Einkommensteuernachzahlung zurücklegen sollte, die im kommenden Jahr auf sie zukommen wird. Nach dem Termin muss ich unbedingt das Chaos von Belegen und Rechnungen vor mir auf dem Schreibtisch sortieren. Eigentlich bin ich doch die Ordnung in Person.
Jetzt drängt sich Mark in meine Gedanken. Ich muss mir eingestehen, dass er mich von der ersten Sekunde an fasziniert hat. Nicht nur seine zuvorkommende Art, mit der er sich um mich gekümmert hat, als ich allein an Großvaters Grab stand, sondern auch sein verwegenes Lächeln hat mich in seinen Bann gezogen. Bei seiner rauen, angenehmen Stimme klopfte mein Herz ohne Vorwarnung eine Spur schneller. Jetzt, wo ich an ihn denke, pocht es wieder etwas lauter. Ich verbiete mir weitere Gedanken, verlasse mein Luftschloss und beuge mich seufzend nach vorne. Ich stütze die Ellenbogen auf dem Tisch ab und lege den Kopf in die Hände. In einer Woche ist die Testamentseröffnung. Welche Überraschungen werde ich dort wohl erleben?
Dann wandert mein Blick zu dem eingerahmten Foto meiner Mutter. Dieses strahlende Lächeln … plötzlich wirkt es aufgesetzt. Ich balle die Hand zur Faust. Wieso hast du es mir nicht erzählt? Resigniert wende ich den Blick ab. Wie konnte sie mich nur für so dumm verkaufen und keine Miene verziehen, als sie mich anlog? Im gleichen Atemzug sehe ich ihr Bild erneut an und tadle mich im Geiste für meine negativen Gedanken. Sie muss einen triftigen Grund gehabt haben, weshalb sie mir Großvater verschwiegen hatte. Wenn ich nur wüsste, welchen.
Es klopft. Ich zucke zusammen. Meine Sekretärin öffnet die Tür und steckt den Kopf ins Zimmer.
»Frau Sullivan, Ihr Termin ist da.«
Schwungvoll rolle ich mit dem Drehstuhl zurück und nippe noch kurz am kalten Kaffee, der seit dem Morgen auf dem Schreibtisch steht. Einen prüfenden Blick in den Handspiegel und einem Lippenstiftstrich später schnappe ich mir die Akte von Ekaterina Sonka und verlasse damit das Büro. Ich eile den langen Gang entlang in Richtung des Konferenzraumes, vorbei an unzähligen Büros, hinter denen Besprechungen und bestimmt auch der eine oder andere Plausch abgehalten werden. Nebenbei richte ich den Kragen meiner weißen Bluse. Äußerlich gebe ich ein perfektes Bild ab. Niemand kann ahnen, welches Durcheinander tief in meinem Inneren herrscht.
Frederic Wagner, einer der Kanzleiteilhaber, läuft in einem dunkelblauen Designeranzug an mir vorbei. Ob er mich ebenso freundlich grüßen würde, wenn er von meiner beinahe stattgefundenen Kündigung wüsste?
Ich fokussiere mich auf den bevorstehenden Termin und lege mir die passenden Worte zurecht. Hoffentlich fordert Ekaterina Sonka nicht wie bei ihrem vergangenen Besuch, dass ich für sie erwirke, dass sie überhaupt keine Steuern in Deutschland zahlen muss. Manche Leute haben wirklich utopische Vorstellungen.
Meine High Heels klackern energisch bei jedem Schritt. Immerhin lassen sie mich größer und selbstbewusster wirken, auch wenn ich mich innerlich mickrig und klein fühle.
***
Heute ist die Testamentseröffnung und wie schon am Tag der Beerdigung habe ich den ersten Flieger am Morgen von München nach Dublin gebucht.
Mit halbstündiger Verspätung landen wir am späten Vormittag sicher auf dem Dubliner Flughafen. Ich sehne mich nach einem Bett. Heute Nacht habe ich kaum ein Auge zugetan. Auch im Flugzeug bin ich nicht eingenickt. Doch an Schlaf ist die kommenden Stunden natürlich nicht zu denken.
Mit dem Leihwagen verlasse ich den Flughafen und stehe sofort eine Viertelstunde im Stau. Als er sich endlich auflöst, fahre ich über die M 50 in Richtung Greenkenny. Mit einer Hand halte ich das Lenkrad und mit der anderen streiche ich ein paarmal über die Falten auf meinem zerknitterten Kostüm. Es war nicht besonders klug, mich schon zu Hause in Schale zu werfen.
Während der Fahrt grüble ich über den anstehenden Termin. Was wird mich in Greenkenny erwarten? Von Minute zu Minute werde ich nervöser. Meine Hände sind feucht und mit jedem zurückgelegten Kilometer klopft mein Herz lauter.
Nach einer knappen Stunde erreiche ich mein Ziel. Vor dem Backsteingebäude, in dem Mr Ryan sein Büro hat, parke ich den Leihwagen zwischen zwei mächtig aussehenden Weißdornbäumen und bin dank des Puffers, den ich mir ursprünglich für eine Essenspause reserviert hatte, pünktlich. Dafür knurrt mir jetzt der Magen.
Ich betrete das Haus und erreiche über geschwungene Holztreppen, die so prachtvoll wirken, als führten sie geradewegs in einen Ballsaal, den zweiten Stock. Hinter einem Holztresen sitzt eine Sekretärin, die mit ihrem strengen Dutt und der spitzen Nase aussieht, als wäre sie direkt einem Harry Potter-Film entsprungen. Ich schildere ihr mein Anliegen. Förmlich bittet sie mich, auf einem der Polsterstühle im Wartebereich Platz zu nehmen. Nervös sehe ich mich um. Außer mir ist kein weiterer Besucher hier. Ich schnappe mir einen der ausliegenden Vermögensratgeber. Gerade habe ich mich in einen interessanten Artikel eingelesen, da ruft mich die Sekretärin auf.
»Ich bringe Sie nun zu Mr Ryans Büro«, erklärt sie steif. Kaum hörbar, als hätte sie Angst, ihn zu stören, klopft sie und öffnet die Tür. »Miss Sullivan ist da«, kündigt sie mich im Flüsterton an.
Ich straffe den Rücken und trete ein. Äußerlich wird mir niemand meine Anspannung anmerken.
Der Nachlassverwalter sitzt mit dem Telefonhörer in der Hand hinter einem wuchtigen Holzschreibtisch, der aussieht, als stamme er aus einem Antiquariat. Bestimmt hat er ihn geerbt. So ein Möbelstück kann sich doch heutzutage kaum jemand leisten. Ein leicht modriger Holzgeruch steigt in meine Nase.
Er sieht auf und mustert mich durch die Gläser seiner Hornbrille. Automatisch zupfe ich an meinem Kostüm. Mit der Hand bedeckt er die Sprechmuschel des Hörers.
»Ich bin gleich so weit, bitte setzen Sie sich.« Er deutet auf einen der beiden Ledersessel vor seinem Schreibtisch und sieht dann vertieft in die Akten vor sich.
Ich nehme auf der kalten Sitzfläche Platz. Am liebsten würde ich die Hände unter meine Pobacken schieben. Doch das gehört sich nicht.
Fasziniert schweifen meine Blicke durch den imposanten Raum, bis hin zu den hohen Decken, die mit Stuck verziert sind. Riesige Gemälde mit mystischen Landschaften und alten Steingemäuern zieren die Wände. Sie wirken beinahe furchteinflößend. Hier ist es fast so kühl wie in meinem Münchner Keller.
»Guten Tag, Miss Sullivan«, begrüßt Mr Ryan mich mit einem knappen Lächeln, nachdem er aufgelegt hat, und reicht mir die Hand.
»Guten Tag, Mr Ryan.«
Er sieht auf die Uhr und dann zur Tür.
Ob noch jemand kommt? Ein mulmiges Gefühl breitet sich in mir aus. Die Anspannung ist unerträglich. Ich falte die Finger ineinander und presse sie in den Schoss. Wie ich Ungewissheit hasse!
Ich lenke meine Aufmerksamkeit auf Mr Ryans Schreibtisch. Dort liegen, fein säuberlich sortiert, einzelne Schriftstücke und Aktenordner, die er in verschiedene Stapel aufgeteilt hat. Er blättert in dem, der direkt vor ihm liegt und sieht mich erneut an.
In dem Moment klopft es an der Tür. Die Sekretärin steckt den Kopf zur Tür herein. »Mr Foley ist da.«
Ich drehe mich um und starre in Marks blaue Augen. Gekleidet mit einer ausgewaschenen Jeans und einem Sakko spaziert er selbstbewusst durch den Raum, als gehörten Testamentseröffnungen zu seinem Tagesgeschäft.
Mir wird ganz warm und zugleich flau. Was will er hier? Warum ist er heute hierhin eingeladen worden? Ich meine … er und Großvater … sie waren doch nicht verwandt. Er hat für ihn gearbeitet, das hat er mir erzählt. Aber mehr doch nicht.
Förmlich schüttelt er Mr Ryan die Hand und wendet sich dann mir zu. »Hallo, Caissy.« Er hängt sein Sakko über die Lehne des freien Sessels und nimmt Platz. Lässig schlägt er ein Bein über das andere und schiebt die Ärmel seines Hemdes nach oben.
Ich grüße knapp zurück und zwinge mich, meine Aufmerksamkeit von seinen behaarten Unterarmen abzuwenden, die einen Teil eines Tattoos freigeben, das sich vermutlich bis zum Oberarm erstreckt.
»Nun, Miss Sullivan, Mr Foley …«
Ich wage kaum zu atmen.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«
Dieser Mann schafft es wirklich, die Spannung zu erhöhen.
»Gerne«, antworte ich so freundlich, wie es mir in dieser angespannten Situation möglich ist.
Mark nickt ebenfalls und Mr Ryan füllt Kaffee, der in einer Thermoskanne auf einem Tablett bereitsteht, in die Tassen.
»Milch?«, fragt er.
Mark nickt erneut.
»Ich trinke ihn schwarz«, entgegne ich.
Nachdem wir alle einen Schluck getrunken haben, streckt Mr Ryan seinen Rücken durch und räuspert sich. Nach der Einleitung und dem Vorlesen der vermutlich üblichen Floskeln eines Testaments kommt er bald zum spannenden Teil. Er fixiert erst mich und dann Mark.
»John Sullivans letzter Wille ist, dass …«, sein Blick wandert erneut zwischen uns hin und her, »… Sie, Mr Foley, eine Summe in Höhe von einhunderttausend Euro erben.«
Ich schnappe nach Luft. Wie bitte? Warum vererbt Großvater einem Fremden so einen saftigen Geldbatzen? Nervös knete ich meine Finger und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie schockiert ich bin. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass ich im Grunde hier die Fremde bin und daher senke ich verunsichert den Kopf. Mein Gesicht fühlt sich binnen Sekunden glühend heiß an. Möglicherweise wurde ich nur der Form halber eingeladen, um zu erfahren, dass ich nichts erbe. Was auch nicht tragisch wäre. Schließlich kannte ich Großvater nicht. Wenn es sein größter Wunsch war, seinem Mitarbeiter sein Vermögen zu vererben, ist das völlig in Ordnung. Was mich nur wurmt, ist, dass Mr Ryans Offenbarung keinerlei Gefühlsregung in Mark ausgelöst hat. Er könnte doch zumindest ein klein wenig Freude zeigen. Stattdessen wirkt sein Gesichtsausdruck nahezu verbissen.
Mr Ryan sieht mich geduldig an. Offensichtlich wartet er, bis ich ihm wieder meine Aufmerksamkeit schenke. »Und Sie, Miss Sullivan … Sie sind die Alleinerbin des restlichen Vermögens.«
Du meine Güte!
»W… was … was bedeutet das genau?«, stottere ich. Meine Hände sind urplötzlich unangenehm feucht. Hat Großvater nicht bereits sein komplettes Geld an Mark vererbt?
Ich schiele zu ihm. Er wird blass um die Nase.