Prolog
Lynmouth, 1807
Jemand trug sie.
Eine kleine Gestalt, fast so klein wie sie selbst, bemerkte Ophelia, erschöpft und ganz benommen von der durchdringenden Kälte. Irgendein wichtiger Gedanke ließ ihr keine Ruhe, doch was es war, wollte ihr einfach nicht einfallen. Derjenige, der sie trug, ächzte und blieb kurz stehen, bevor er seinen Weg entschlossen fortsetzte.
„Bin ich nicht zu schwer?“, murmelte sie, das Gesicht in die Halsbeuge des Fremden gedrückt, der eigenartig roch, wie nach Pferden oder nassem Hund. Immer müder wurden ihre Hände, immer schwerer fiel es ihr, sich festzuklammern.
„Du bist nicht schwerer als … ein Sack Kartoffeln, schätze ich mal“, erwiderte die Stimme eines kleinen Jungen in einem sanften, wohlklingenden Tonfall, den sie noch nie zuvor gehört hatte. „Aber lass nicht los. Immer schön festhalten.“
Sie wollte etwas erwidern, doch die Anstrengung war so groß, dass ihr Herzschlag zu flattern begann. Ihre Gedanken verwirrten sich, und es zog sie mit aller Macht nach unten. Ein Wimmern drang aus ihrer Kehle.
„Ich hab dich im Griff“, hörte sie die vor Anstrengung gepresste Kinderstimme sagen.
Ich erfriere, hätte sie am liebsten geschrien, doch ihre Lippen waren ganz taub. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber die Kälte brannte ihr wie Feuer bis ins Mark. Das war doch widersinnig. Wie konnte einem kalt und heiß zugleich sein?
Wieder ächzte der Junge, bevor er stehenblieb und ein paarmal keuchend nach Luft schnappte. „Ich schaffe das“, murmelte er und beugte sich noch tiefer, sodass Ophelia höher auf seinem Rücken und den Schultern zu liegen kam.
Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihre Glieder und ließ sie erschauern. Er hielt sie fest gepackt, während er vor sich hin murmelte, einen Fluch vielleicht oder auch ein Stoßgebet. Dann schleppte er sich weiter. Aus den dunklen Wolken fiel ein leichter Sprühregen, und Donner grollte wie zur Warnung, dass noch mehr herunterkommen würde.
„Ich schaffe es“, wiederholte er. „Ich schaffe es. Ich muss es einfach schaffen.“
Er stolperte, fing sich jedoch sofort wieder und wuchtete das Mädchen erneut höher auf seinen Rücken.
Ophelia fiel auf, dass der Atem des Jungen stoßweise ging und ihm Schweiß über das Gesicht lief. Ohne recht zu verstehen, was geschah, hatte sie das Gefühl, dem Fremden Mut zusprechen zu müssen. Mühsam, da ihre Kehle so rau war, als hätte sie geschrien, stieß sie die Worte hervor: „Ich weiß, dass du es schaffst.“
Plötzlich stockte Ophelia vor Entsetzen der Atem. Sie erinnerte sich wieder daran, wie ihre Kutsche in den hochgehenden Fluss gestürzt war. Miss Kinney, ihre Gouvernante, hatte zuvor noch gesagt, wie alt und reparaturbedürftig die hölzerne Brücke, die zu dem Landsitz führte, sei. Und dann das entsetzliche Krachen, als das Holz zersplitterte. Die aufgewühlten Fluten hatten Ophelia rasend schnell mitgerissen, und sie erinnerte sich noch an Miss Kinneys Schreie und an die verzweifelten Versuche der Diener und des Kutschers, sie zu fassen zu kriegen.
Verängstigt klammerte sie sich noch fester an den fremden Jungen. Sie wusste nicht, wie lange er sie schon schleppte, doch es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Zum Glück drangen nun ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolkenmassen, und etwas von der Kälte wich aus ihren Gliedern.
„Wir sind da“, keuchte er schließlich, richtete sich ein wenig auf und ließ Ophelia vorsichtig von seinem Rücken gleiten. Ihr taten alle Knochen weh, doch sie unterdrückte einen Schmerzensschrei und kam ein wenig unsicher zum Stehen. Der Junge stand noch immer vornübergebeugt da, als fehlte ihm die Kraft sich aufzurichten.
Sie berührte leicht seine Schulter. „Geht es dir gut?“
„Ja“, antwortete der Junge nach kurzem Zögern, bevor er sich mit einem Ruck aufrichtete und sie ansah. Er war ziemlich klein und mager und etwa in ihrem Alter – Ophelia war im vergangenen Monat acht geworden. Sein schwarzes Haar klebte ihm an der Stirn, und kleine Regenrinnsale liefen ihm über die hohlen Wangen. Er bebte am ganzen Körper und ballte die Fäuste, als könnte er damit das Zittern unterdrücken. Vor Mitleid krampfte sich ihr Herz zusammen. „Dir ist auch kalt“, flüsterte sie und nahm ihn fest in die Arme.
Ein abwesender Ausdruck trat in seine dunkelgrünen Augen. „Du warst im Fluss und wurdest davongetrieben. Ich bin dir nachgesprungen.“
Noch nie zuvor hatte Ophelia so schöne, lebendige Augen gesehen.
Er scharrte mit den Füßen und verzog bekümmert das schmutzverschmierte Gesicht. „Wahrscheinlich macht sich meine Mama Sorgen. Ich habe sie schreien gehört, als das Wasser uns davontrug.“
„Du bist verletzt.“
„Nur ein bisschen am Rücken und am Fuß. Das wird bald wieder gut.“
„Du hättest mich nicht tragen sollen, so klein wie du bist“, murmelte sie und ärgerte sich, dass ihre Lippen so zitterten. „Aber ich bin dir unglaublich dankbar. Ich werde dich für deine Freundlichkeit belohnen, das verspreche ich dir.“
Er reckte die schmächtige Brust. „Ich bin schon zwölf. Ich bin nicht klein.“
„Du bist so groß wie ich, und ich bin erst acht.“
Verächtlich entgegnete er: „Ich bin größer.“
Das stimmte eher nicht, aber sie schwieg, weil er so gerne glauben wollte, er sei groß und stark.
Wieder scharrte er ein wenig verlegen mit den Füßen, und Ophelia bemerkte, dass sein Blick auf ein schlichtes strohgedecktes Cottage gerichtet war. Im gleichen Moment wurde ihr zu ihrem Schrecken bewusst, dass sie sich mitten in einem Wald befanden. Sie blickte sich um, doch in weitem Umkreis standen die Bäume dicht an dicht. Warum lag das Cottage mitten in dieser Einöde? „Ist das dein Zuhause?“, fragte sie.
Er blickte sie verblüfft an. „Nein, so groß ist unser Cottage nicht.“
Mit ungläubigem Blinzeln starrte sie wieder auf die winzige Behausung. Er lebte mit seinen Eltern in einem noch kleineren Haus? Das war kaum zu glauben. „Wie hast du hierher gefunden?“, fragte sie und trat neben ihn.
„Reiner Zufall. Ich bekam einen Ast zu fassen, der ins Wasser ragte, und konnte uns beide ans Ufer ziehen. Dann habe ich dich auf den Rücken genommen und bin stromaufwärts gegangen. Ich weiß nicht, wie lange ich gelaufen bin, aber mir tun die Füße weh.“
Ophelia folgte ihm, als er auf das Cottage zuging. Die Tür war versperrt, doch der Junge ging entschlossen um das Haus herum, wo er ein offenes Fenster fand. Er zwängte sich hindurch und öffnete die Haustür von innen.
„Komm schon“, rief er und winkte ihr. „Hier ist niemand.“
Zögerlich stieg Ophelia die wenigen Eingangsstufen hinauf und trat ein. Das Häuschen, das nur aus einem einzigen Raum bestand, wirkte sehr ordentlich. Es gab eine Kochstelle, einen Kamin, einen Sessel und ein durchgesessenes Sofa. An der Rückwand neben dem kleinen Fenster stand ein Bett.
„Was meinst du, wer hier wohnt?“, flüsterte sie.
Der Junge war damit beschäftigt, Feuer im Kamin zu machen, und antwortete ohne aufzublicken: „Vielleicht ein Wildhüter.“
Ophelia nickte hustend und rieb sich die schmerzende Brust.
Der Junge blickte sie mit gerunzelter Stirn an. „Wirst du etwa krank?“
„Ich bin nur müde“, antwortete sie, schlurfte hinüber zum Sofa und ließ sich darauf sinken. Es war erstaunlich bequem, und sie bemerkte schuldbewusst, dass ihre feuchten Kleider Flecken auf dem Stoff hinterließen.
„Schlaf ruhig ein bisschen“, hörte sie die Stimme des Jungen wie von weither. „Ich passe schon auf dich auf.“
Ophelia nickte beruhigt. Die müden Augen fielen ihr zu, und mit einem Gähnen sank sie in einen tiefen Schlaf.
***
Einige Zeit später wurde sie von einem köstlichen Duft geweckt. Der Junge war nicht im Cottage, doch er hatte eine Decke über sie gebreitet, und sie fühlte sich warm und behaglich. Sie schob die Decke weg und kam leicht schwankend auf die Füße. Rasch öffnete sie die Tür und spähte hinaus. Auf der Lichtung vor dem Haus saß der Junge auf einem Stück Baumstamm. Er hatte ein Feuer gemacht und drehte einen Spieß mit einem Stück Fleisch daran über den Flammen. Es duftete so köstlich, dass Ophelia der Magen knurrte. Sie ging zu ihm hinüber und setzte sich neben ihn. „Was ist das?“
„Ein Kaninchen.“
„Hast du es getötet?“
Er zögerte. „Ja.“
Oh! Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. „Hattest du Angst davor?“
„Das Kaninchen zu töten?“
„Ja.“
„Nein“, antwortete er nachdenklich. „Warum sollte ich?“
„Töten ist böse und macht einem Angst.“
Er lächelte, und sie fand, er sei trotz seines schmutzigen Gesichts ein sehr hübscher Junge. „Nicht, wenn es einem den Magen füllt“, erwiderte er.
Dann sprang er auf, rannte ins Haus und kam mit der dünnen Decke wieder. Er legte sie ihr um die Schultern und reichte ihr einen Becher mit Wasser. Ophelia starrte auf das verbeulte Gefäß. So etwas hatte sie noch nie im Leben gesehen. Wie ungewöhnlich. Dann stürzte sie das Wasser gierig hinunter. „Danke, ich hatte solchen Durst.“
Wieder grummelte ihr Magen vernehmlich.
„Und Hunger“, bemerkte der Junge mit breitem Lächeln. „Deshalb bin ich auf die Jagd gegangen, während du schliefst.“
Lächelnd zog Ophelia die Decke enger um sich, sah zu, wie das Kaninchen sich über dem Feuer drehte, und freute sich schon auf den Braten. Dabei dachte sie, was für ein sonderbarer kleiner Junge er war. Er konnte ein Feuer machen, hatte keine Angst, ein Kaninchen zu töten und konnte es sogar zubereiten. Und dabei war er erst zwölf.
Wie überaus ungewöhnlich.
***
Sie war wie eine der Feen in den Geschichten, die ihm sein Vater erzählt hatte. Noch nie hatte Niall eine so schöne kleine Lady gesehen.
Ihre Haut war blass und weich, ihre Augen von einem satten Goldbraun. Auf ihren Wangen bildeten sich Grübchen, wenn sie lächelte, und ihr Haar war schwarz wie Rabenschwingen. In einer Kaskade von Locken fiel es ihr über die Schultern und hinunter bis auf die Hüften. In seiner Masse schien es zu schwer für ihren Körper. Jetzt neigte sie anmutig den Kopf und lächelte ihm zu.
„Wie heißt du?“
Er räusperte sich. „Niall.“
Ihre schön geschwungenen Lippen formten seinen Namen. „Niall klingt wirklich hübsch und ausgefallen.“
Ihm wurde ganz warm ums Herz. „Meine Großmutter hat mir den Namen gegeben. Und wie heißt du?“
Sie zog das Näschen kraus. „Mein Name ist nichts Besonderes. Ophelia.“
Niall runzelte die Stirn darüber, dass sie irgendetwas an sich gewöhnlich finden konnte. Feen waren nie gewöhnlich. „Für mich klingt Ophelia sehr schön. Aber wir könnten dir ja einen besonderen Namen geben.“
Ihre goldbraunen Augen leuchteten. „Und welchen?“
Er dachte eine Weile nach. „Ich könnte dich ja … Fifi nennen“, sagte Niall schließlich leise, streckte die Hand aus und strich ihr behutsam eine Haarsträhne hinter das Ohr. Er wunderte sich selbst über diese vertrauliche Geste.
Ihre Augen funkelten vor Freude. „Fifi! Das gefällt mir!“
Also dann Fifi.
Niall achtete darauf, dass sie reichlich von dem Braten aß, und später in der Nacht, als sie schlief, lag er auf dem bequemen Sofa und überlegte, wie er sie weiterhin beschützen oder sie zu ihrer Familie zurückbringen konnte. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden, und außerdem hatte er sich die Fußsohle verletzt, was höllisch wehtat. Seine Eltern und seine beiden kleinen Schwestern würden sich schreckliche Sorgen um ihn machen. Noch immer gellte ihm der Schrei seiner Mutter im Ohr, als er ins Wasser gesprungen war. Die Angst und der Schmerz in ihrer Stimme ließen ihn nicht los.
Niall musste bald zu seiner Familie zurückkehren, aber er musste sich auch um Fifi kümmern.
„Ich werde einen Weg finden, dich nach Hause zu bringen“, flüsterte er in die Stille, bevor er seinen Kopf in die Polster sinken ließ und die Augen schloss.
***
Am nächsten Tag führte er Fifi zu einem kleinen Fluss, damit sie ein Bad nehmen konnte. Ein Stück grober Seife hatte er in der Hütte gefunden. Zunächst weigerte sie sich heftig errötend, doch als er versprach, sich umzudrehen und Wache zu halten, falls jemand käme, watete Fifi an einer seichten Stelle ins Wasser und wusch sich, so gut es ging. Verblüfft erfuhr er, dass sie sich zu Hause nicht selbst badete und es für sie eine neue, aufregende Erfahrung gewesen war.
Niall wanderte in verschiedene Richtungen in der Hoffnung, auf jemanden zu stoßen, der ihnen helfen konnte. Doch er fand weder andere Häuser noch einen Landsitz, zu dem das Cottage gehören mochte. So verging ein Tag nach dem anderen, und jetzt, am fünften Tag, waren die beiden Kinder noch immer zusammen.
Niall war beunruhigt, weil seine Familie und Fifis Eltern sich bestimmt Sorgen machten. Außerdem schmerzte seine Fußsohle jeden Tag mehr.
Soeben hatten sie gebratene Wachteln verspeist, und Fifi gähnte zufrieden. Die Abenddämmerung färbte den Himmel goldgelb. „Ich möchte noch gar nicht hineingehen“, sagte sie, wobei sie jedoch den Wald mit bangem Blick musterte.
„Das müssen wir ja nicht.“
„Wirklich?“ Sie strahlte.
„Wir könnten noch ein paar Minuten draußen bleiben.“
Ihre lebhaft gefärbten Augen leuchteten vor Freude, und sie nickte glücklich. Die kühle Abendluft drang durch ihr schmutziges Kleid und ließ sie erzittern. Daraufhin zog Niall seine abgetragene Jacke aus und legte sie ihr um die schmalen Schultern.
Sie rümpfte das winzige Näschen. „Deine Jacke riecht komisch.“
Niall wurde schamrot. Er wusch sich nicht so häufig wie sie, vielleicht nur einmal die Woche oder noch seltener. Bestimmt wusch sie sich zu Hause täglich mit Rosenseife. Seine Eltern hatten ihm erklärt, dass es Menschen auf der Welt gab, die sich einen solchen Luxus leisten konnten.
Die Scham brannte in seinem Magen, und er murmelte: „Ich hole die Decke.“
Sie griff nach seiner Hand. „Die Jacke riecht auch nach dir.“
„Du meinst, sie stinkt?“
„Nein“, entgegnete sie mit erstauntem Blick. „Sie riecht nach Eichenmoos. Wie der Wald, wo wir heute gespielt haben.“
Niall wusste nicht, was für einen Geruch sie meinte, aber was sie sagte, gefiel ihm. Ihm gefiel auch, dass sie seine Jacke nicht auszog, sondern sie eng um sich zog. Zum Glück war die Jacke lang genug, um sie vor der rauen Witterung zu schützen. Ihm selbst drang die beißende Kälte bis auf die Knochen, doch er atmete tief durch, entschlossen, es zu ertragen, solange Fifi hier draußen bleiben wollte. Das Gras wiegte sich im leichten Wind, und die Bäume standen als scharfe Umrisse vor dem blassen Abendhimmel.
„So spät bin ich noch niemals draußen gewesen“, flüsterte sie. „Es ist schon fast dunkel … und so schön. Es ist ganz herrlich, auch wenn es mir ein bisschen Angst macht. Stell dir nur vor, wie die Tiere des Waldes uns gerade beobachten!“
„Keine Angst, ich passe auf dich auf.“
Sie blickte lächelnd zu ihm hoch. „Ich weiß.“
Bei ihren Worten krampfte sich Nialls Herz zusammen. Ich werde dich immer beschützen.
Plötzlich zog sie besorgt die Stirn kraus. „Dir ist kalt, Niall.“ Ophelia rückte auf dem Baumstamm ein wenig beiseite. „Wir passen beide unter die Jacke. Sie ist wirklich groß.“
„Mein Papa hat sie mir gegeben“, antwortete er leise und ließ sich neben ihr nieder.
Sie zog einen dünnen Arm aus dem Ärmel, sodass er auch unter die Jacke schlüpfen konnte. Sogleich umfing ihn Wärme und ihr einzigartiger Duft nach Beeren. So saßen sie aneinandergeschmiegt, und obwohl Niall sich noch immer Sorgen wegen seiner Familie machte, durchdrang ihn ein ungewohntes Glücksgefühl. Fifi summte leise vor sich hin, während sie in den samtigen Nachthimmel starrte.
„Was summst du denn da?“
„Es ist eine Melodie zum Tanzen. Ich habe es vor ein paar Monaten gelernt.“
„Was, tanzen?“
„Ja.“
„Wozu?“
„Wenn ich mal heiraten will, muss ich es können.“
Niall runzelte die Stirn. „Heiraten?“
„Ja. Miss Kinney sagt, für eine Heirat ist sowas besonders wichtig.“
„Du scheinst mir aber noch zu klein zum Heiraten zu sein.“
Als sie lächelte, hatte er plötzlich einen Kloß im Hals.
„Miss Kinney sagt, ein junges Mädchen muss sich schon früh auf die Ehe vorbereiten. So klein bin ich nicht mehr. Vergiss nicht, ich bin schon acht“, erwiderte sie und hielt zur Bekräftigung acht Finger in die Höhe. „Ich zeige es dir, Niall“, setzte sie spontan hinzu.
Sie stand auf, machte eine anmutige Verbeugung und begann zu tanzen, wobei ihr schmuddeliges Kleid ihr bei jeder Drehung um die Knöchel wirbelte. Niall fand die Vorstellungen reicher Leute sonderbar, doch Fifi wirkte hübsch und gelöst in ihrem Tanz.
Ein Gedanke ließ ihm jedoch keine Ruhe. „In welchem Alter wirst du denn heiraten, Fifi?“, fragte er schließlich. „Doch bestimmt nicht sofort.“ Er wusste, was verheiratete Leute taten; sie küssten sich und ähnliches. Ob ihr das auch klar war? Seine Mutter und sein Vater umarmten und küssten sich jedenfalls andauernd.
Sie verharrte mitten in einer Pirouette. „Mit siebzehn oder achtzehn werde ich mein Debüt haben, und danach soll ich Peter Warwick, den zukünftigen Earl of Langdon, heiraten.“
Niall staunte; der Kerl war ja ein ganz feiner Pinkel. „Du weißt jetzt schon, wen du heiraten wirst?“
„Mama weiß es, aber ich habe ihn noch nie gesehen.“
Reiche Leute waren wirklich sehr seltsam.
Ein Schatten zog über Ophelias Gesicht, und ihr Blick schweifte in die Ferne, als hätte sie sich in sich selbst zurückgezogen. Schließlich ließ sie sich mit einem tiefen Seufzer wieder auf dem Baumstamm nieder. Niall erschrak über ihre plötzliche Traurigkeit und tippte ihr mit einem Finger ganz leicht auf die Nase. „Was ist denn?“
„Ich vermisse meinen Vater und mein Zuhause. Glaubst du, sie werden uns finden?“
„Ja“, antwortete er zuversichtlich, obwohl er sich keineswegs sicher war. Er kannte sich in der Gegend nicht aus und hatte jeden Tag stundenlang vergeblich einen Weg nach Hause gesucht. „Deine Eltern werden bestimmt nach dir suchen“, fügte er beruhigend hinzu.
„Ich fürchte, meine Mama mag mich nicht besonders. Ich weiß nicht, warum mir der Gedanke gerade jetzt kommt.“
„Wir sind seit fünf Tagen hier, und sie fehlt dir doch“, stellte er fest.
Der ruhige Blick ihrer großen goldenen Augen war auf ihn gerichtet. „Ja, ich glaube schon. Aber ich frage mich, ob ich ihr auch fehle.“
Niall wusste nicht viel, doch er war überzeugt davon, dass ein kleines Mädchen nicht an der Liebe seiner Mutter zweifeln sollte. „Ich wette doch“, erwiderte er bestimmt. Ophelia sollte sicher sein, dass man sie gern hatte.
„Sie umarmt und küsst mich nicht. Mein Vater schon“, flüsterte das Mädchen mit traurigem Blick.
„Meine Mutter sagt immer, jede Mama liebt ihre Kinder. Und Papa sagt, dass Mama immer recht hat.“
Sie schaute ihn groß an. „Deine Mutter scheint viel Fantasie zu haben, und dein Vater … vielleicht hat er ja ein wenig Angst vor deiner Mutter.“
Bei dem Gedanken mussten sie beide lächeln.
„Meine Mutter liebt mich … und ich vermisse sie.“ Seine Stimme versagte, und er räusperte sich verlegen und straffte die knochigen Schultern.
„Was vermisst du an deiner Mutter am meisten?“, wollte Ophelia wissen.
„Sie hat eine wunderschöne Stimme“, antwortete Niall. „Papa sagt immer, ihre Stimme ist so schön, als wäre sie ein Engel aus dem Himmel. Sie singt die ganze Zeit, besonders beim Kochen.“
Ophelias Lippen formten ein erstauntes O. „Deine Mutter kocht?“
„Ja, deine nicht?“ Vielleicht war das Mädchen deshalb so zierlich.
„Nein. Dafür haben wir eine Köchin, Mrs. Clovis. Sie kann sehr gut kochen und backt mir immer meinen Lieblingskuchen.“ Bevor er etwas sagen konnte, fuhr sie fort: „Und dein Vater, singt der auch?“
„Nein, aber er denkt sich Geschichten aus. Jede Menge.“
Das Mädchen seufzte wehmütig. „Meiner liest mir vor.“
Wieder mussten beide lächeln, und in Nialls Brust breitete sich ein unbekanntes, wunderbares Gefühl aus.
„Ich werde für dich singen. Dann vermisst du deine Mama vielleicht nicht mehr ganz so sehr“, erklärte Ophelia und stimmte unvermittelt ein Lied an. Plötzlich konnte Niall keinen klaren Gedanken mehr fassen, denn ihre Stimme war rein und vollkommen. Nicht einmal seine Mutter brachte einen Klang zustande, wie er aus dieser zarten Kehle drang. Hingerissen starrte Niall sie an, denn jeder Ton schien an seine Seele zu rühren und ungeahnte Gefühle zu wecken. Die Liebe, von der sein Vater oft gesagt hatte, dass er sie erleben würde, wenn er einmal erwachsen war und der richtigen Frau begegnete, diese Liebe traf ihn hier und in diesem Augenblick.
Er spürte es genau. Ein Ziehen im Herzen … schmerzlich und hoffnungsfroh zugleich; der dringende Wunsch, sie stets zu beschützen; der Entschluss, sie für immer glücklich zu machen. All das empfand er in diesem Moment, und es veränderte seine Träume von der Zukunft.
Sein Vater hatte Arbeit als Schreiner auf dem Landgut eines Squires in Lambeth gefunden. Das bot seiner Familie eine große Chance, ihre Lebensumstände zu verbessern, und Niall gab es die Möglichkeit, bei seinem Vater in die Lehre zu gehen. Doch in diesem Augenblick zerstob der Traum wie Asche im Wind. Niall wollte nicht länger Schreiner wie sein Vater werden.
Er wollte mehr … auch wenn er nicht wusste, worin dieses Mehr bestand.
„Warum weinst du?“, fragte sie leise.
Rasch wischte er sich die Tränen von den Wangen. „Ich weine nicht. Ein Junge weint nicht.“ Er atmete tief durch und setzte hinzu: „Deine Stimme ist so schön.“
Vor Freude über sein Lob klatschte sie lachend in die Hände. „Meine Mama mag es nicht, wenn ich singe, und Papa sagt, ich soll es nur heimlich tun.“
„Das ist dumm“, bemerkte Niall mit finsterem Blick.
„Das habe ich mir auch gedacht“, flüsterte sie und setzte hinzu: „Glaubst du, uns findet jemand?“
„Ja, aber du brauchst keine Angst zu haben, Fifi. Niemals. Ich werde dich beschützen, bis sie uns finden. Ich würde nie zulassen, dass dir etwas passiert – das verspreche ich.“
Sie starrte ihn als, als wüsste sie nicht so recht, was dieser feierliche Schwur zu bedeuten hatte, und Niall spürte, wie seine Ohren vor Verlegenheit ganz heiß wurden.
„Du bist der beste Freund, den ich jemals hatte“, sagte sie schließlich ein wenig schüchtern. „Ich werde dich auch beschützen.“
Wieder lächelten sie einander zu, doch diesmal, das spürte Niall, war es anders. Und plötzlich bekam das kleine Geschenk, das er für sie gemacht hatte, um sie aufzuheitern, eine völlig neue Bedeutung. Er streckte die Hand aus und berührte mit zitternden Fingern ihre Wange. Doch als er sah, wie rau und schmutzig seine Finger waren, zog er sie schnell zurück, wieder einmal beschämt darüber, dass er so anders war als sie.
„Ich … ich habe etwas für dich“, begann er zaghaft.
„Was denn?“ Sie blickte ihn neugierig an.
Er schluckte, griff in seine Tasche und zog den Ring heraus, den er aus grünen Ranken und einer Blume geflochten hatte. Reglos sah er zu, wie sie mit verständnislosem Blick auf seine Gabe starrte.
„Was ist das?“, murmelte sie schließlich mit einem leisen erregten Unterton in der Stimme, als hätte er ihr die ganze Welt zu Füßen gelegt.
„Ein Ring.“
„So einen seltsamen Ring habe ich noch nie gesehen“, antwortete sie mit einem kleinen Lächeln. „Und den hast du selbst gemacht?“
„Ja. Für dich.“ Er räusperte sich und versuchte, so erwachsen zu klingen, wie es seinem Vater gefallen hätte. „Ich verspreche dir, ich werde … werde …“ Dich immer lieben, hätte er gerne gesagt, doch die Worte wogen zu schwer, um sie leichtfertig dahinzusagen. „Ich werde immer für dich da sein. Willst du mich heiraten?“
Fifi starrte ihn mit ernster Miene an, als wäre ihr die Bedeutung seiner Worte vollkommen bewusst. Niall selbst verstand sie nicht völlig, aber er wusste, was es bedeutete, verheiratet zu sein – so wie seine Mutter und sein Vater. Sie waren immer zusammen. Papa lächelte Mama häufig an, selbst wenn sie nichts zu essen hatten und sich auf ihrem Hof die Finger wund arbeiten mussten. Mama sang ihm oft etwas vor, und ständig küssten sie sich auf den Mund. Das war eben Familie. Man war nie alleine. Für Niall war es gleichbedeutend mit Ehe, und er wünschte sich, mit Ophelia sein ganzes Leben lang zusammen zu sein.
„Ja“, antwortete sie schließlich mit ernstem Nicken und einem süßen Lächeln. „Ich will dich heiraten, Niall.“
Niall wurde ganz schwindlig, denn sein Herz klopfte auf einmal zum Zerspringen. Er musste ein paarmal tief Luft holen, bis er wieder ganz bei sich war. „Bist du sicher?“
Sie nickte glücklich.
„Was ist mit Lord Peter …?“ Den zweiten Namen hatte er vergessen.
„Den kenne ich gar nicht, aber dich kenne ich, und du bist einfach ganz wunderbar“, sagte sie mit scheuem Lächeln.
Hand in Hand blickten sie zu den Sternen auf, bis es draußen zu kalt wurde. Dann ging Niall mit ihr in die Hütte, wo er aus dem ganzen Reisig und Feuerholz, das er zuvor gesammelt hatte, ein Feuer im Kamin entfachte, bevor er sich zu Ophelia umdrehte.
Sie war damit beschäftigt, den einzigen Sessel ans Feuer zu ziehen. Er half ihr dabei, dann holte er die Lampe, in der sich zum Glück noch etwas Öl befand, und machte Licht.
„Ich habe noch ein paar Beeren, falls du Hunger hast“, sagte er. Sie nickte und griff nach einer kleinen Tasche, die sie fest umklammert hatte, als der tobende Strom sie davontrug. Ophelia öffnete sie und zog ein dickes ledergebundenes Buch heraus.
„Das ist eines meiner Lieblingsbücher. Es hat ein paar Wasserflecke abbekommen, aber es sind ganz wundervolle Geschichten darin. Möchtest du es lesen?“
Plötzlich hatte er einen Kloß im Hals, und zum ersten Mal im Leben schämte er sich seiner Unwissenheit. „Ich … ich kann nicht lesen.“
Sie blickte ihn erstaunt an. „Ich dachte, jeder kann lesen.“
Niall räusperte sich. „Meistens nur Leute, die viel Geld haben. Die Armen können keinen bezahlen, der es ihnen beibringt.“
Sie überlegte kurz. „Warum hat dein Vater es dir nicht beigebracht?“
Niall wurde rot. „Er … kann auch nicht lesen. Deshalb denkt er sich die Geschichten aus, die er mir, meinen Schwestern und Mama erzählt. Das kann er besonders gut. Ich wette, seine Geschichten sind besser als die in den Büchern.“
„Da bin ich sicher“, stimmte sie fröhlich zu. „Möchtest du vielleicht, dass ich dir etwas vorlese?“
„Ja.“
Sie saßen eng aneinandergekuschelt vor dem Feuer, und während draußen der Regen gegen das Haus prasselte, las sie mit ihrer sanften Stimme eine spannende Geschichte von einem kleinen Mädchen, das sich im Wald verirrt und ein verzaubertes Königreich findet. Entzückt betrachtete Niall ihre lebhafte Mimik und lauschte ihrer Stimme, die sie der jeweiligen Figur anpasste. Dabei musste er daran denken, dass Ophelia zu den feinen Leute gehörte, daran bestand kein Zweifel. Und er war ein Niemand.
„Ist dein Vater sehr reich?“, unterbrach er sie.
Sie blickte auf. „Papa ist ein Earl, und Großvater ist ein Marquess. Heißt das, dass sie sehr reich sind?“
Niall tat einen tiefen Atemzug, denn zu seiner großen Verzweiflung war er jetzt sicher, dass sie nicht nur reicher war als er, sondern wirklich und wahrhaftig eine richtige Lady.
„Mein Papa ist Schreiner … ein guter, aber eben nur ein Schreiner.“ Und arm noch dazu, fügte Niall im Stillen hinzu. Sein Vater verdiente kaum genug, um seine Familie zu ernähren. Wie konnte er selbst jemals gut genug für Fifi sein? Er war nur ein kleiner Junge, wie sie ganz richtig bemerkt hatte, dennoch war er sicher, dass sie seine Zukunft war.
„Woran denkst du?“
Er holte tief Luft. „Ich habe überlegt, wann wir wohl heiraten können.“
Sie warf einen zufriedenen Blick auf den selbstgemachten Ring an ihrem Finger. „Miss Kinney sagt, ich kann erst heiraten, wenn ich mindestens siebzehn bin.“
Er zählte rasch mit den Fingern nach. „Dann bin ich einundzwanzig.“
Sie klappte das Buch zu und schaute ihn ganz aufgeregt an. „Wäre das nicht herrlich? Dann könnten wir für immer Freunde bleiben. Mama hat einmal gesagt, eine Ehe wäre für das ganze Leben. Das heißt, wir würden zusammen leben und alt werden. Wie meine Großeltern. Die sind wirklich alt.“
Niall nickte erleichtert. „Ich werde hart arbeiten, damit ich für dich sorgen kann.“
Sie strahlte ihn an, dann beugte sie sich zu seinem Schrecken vor und drückte einen raschen Kuss auf seine Wange, ohne sich an seinem schmutzigen Gesicht zu stören. Niall blickte Fifi wortlos an, und sein Herz raste vor Freude. Und weil er nicht wusste, wie er ihr seine Zuneigung beweisen sollte, streckte er die Hand aus und tippte ihr mit dem Finger leicht auf die Nasenspitze. Ihr leises Lachen sollte er nie mehr vergessen.
***
Die folgenden Tage vergingen im gleichen Rhythmus. Niall stand früh auf und ging in den Wald, um Tiere zu jagen und Beeren zu sammeln. Das Reisig im Wald war so nass, dass es mehr Rauch als Feuer erzeugte, und er dachte besorgt daran, dass der kleine Brennholzstapel am Haus des Wildhüters nicht mehr lange vorhalten würde. Gewissenhaft holte er jeden Morgen so viel Wasser vom Brunnen, dass sie genug für den Tag hatten und Ophelia sich waschen konnte. Niall selbst hatte sich angewöhnt, jetzt jeden Tag ein Bad im Bach zu nehmen und nicht nur einmal die Woche wie zuvor.
Außerdem hatte Ophelia es sich in den Kopf gesetzt, ihm das Lesen beizubringen, und er errötete vor Freude, als sie ihn wegen seiner Fortschritte lobte. Heute stand eine Tanzstunde auf dem Programm. Er wunderte sich noch immer darüber, dass vornehme junge Mädchen so etwas können mussten. Lesen und Malen und Tanzen, und all das nur, um einmal heiraten zu können. Niall konnte sich nicht vorstellen, wofür das alles in einer Ehe gut sein sollte, aber Ophelia sagte, dass ihre Gouvernante diese Dinge für äußerst wichtig hielt.
Und wenn sie für Fifi wichtig waren, dann musste er sich eben Mühe geben und sie auch lernen. Sein Vater sagte immer, in einer Ehe sei es wichtig, dass die Frau zufrieden war, auch wenn man selbst dafür manchmal zurückstecken musste. Niall sagte sich das immer wieder vor, während er die verhassten Tanzschritte übte und dabei den pochenden Schmerz in seinem angeschwollenen Fuß ignorierte.
„Ich habe ja selbst erst angefangen, tanzen zu lernen“, erklärte Ophelia mit niedlich gerunzelter Stirn. „Mr. Bloomfield, mein Tanzlehrer, sagt, das Menuett wäre ein sehr eleganter, aber etwas schwieriger Tanz. Aber du bist sehr klug, Niall, und du wirst ihn schnell lernen.“
Eine knappe Stunde später lachten sie beide wie verrückt über all die falschen Schritte, die sie gemacht hatten.
Plötzlich wurde Ophelia wieder ernst und flüsterte schüchtern: „Ich habe etwas für dich.“
„Was denn?“, fragte Niall überrascht.
Sie hielt ihm etwas krumm Gebogenes hin. Es waren grob geflochtene Ranken und Blumen, die eigentlich keine rechte Form ergaben. Trotzdem freute er sich schrecklich darüber.
„Das ist mein Geschenk für dich. Vielleicht könnte man es auch als Ring nehmen.“
Niall schluckte. Das also hatte sie vorhin im Wald gemacht. Ein unbekanntes Gefühl erfüllte ihn so vollkommen, dass es fast seinen kleinen Körper sprengte. „Ich werde es immer in Ehren halten“, sagte er.
Fifi hielt die Hand hoch, damit er seinen Ring aus Ranken und Blumen an ihrem Finger erkennen konnte. Bestimmt drückte und stach er in ihre Haut, doch sie trug ihn trotzdem.
„Genauso wie ich deinen Ring, Niall“, murmelte sie mit scheuem Lächeln.
In diesem Augenblick ging die Tür auf. Die beiden fuhren erschrocken herum und erblickten einen großen Mann, der erstaunt stehenblieb, als er die Kinder in seinem Haus entdeckte.
Niall trat beschützend vor Ophelia und reckte herausfordernd das Kinn. Selbst als sie ihn mahnend in den Arm kniff, rührte er sich nicht von der Stelle. Sie wollte um ihn herumgehen, doch er stellte sich immer wieder vor sie. So musste sich Ophelia damit begnügen, neugierig hinter Nialls Rücken hervorzulugen.
„Bist du zufällig die kleine Lady Ophelia?“, fragte der Unbekannte schließlich.
Sie nickte eifrig, während Niall den Mann mit zusammengekniffenen Augen musterte. „Und wer sind Sie?“
Der Mann lächelte freundlich, nahm den Hut ab und schlug damit gegen sein Bein. „Ich bin der Wildhüter des Viscount Henry Roderick. Die ganze Gegend ist in Aufruhr, und alle suchen nach der kleinen Lady.“
„Mein Papa auch?“, fragte Ophelia.
„Und deine Mama“, antwortete der Mann freundlich. „Zusammen mit den übrigen Gästen von Viscount Roderick und vielen anderen Leuten suchen sie die Wälder nach euch ab.“
Ophelia fiel dem Jungen um den Hals. „Wir sind gerettet, Niall!“
Der Wildhüter warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, während Ophelia zum Sessel hinüberlief. Bevor sie ihr Buch in die Tasche steckte, strich sie liebevoll mit dem Finger über den Buchrücken. Dann drehte sie sich um und hielt es Niall hin.
Der hatte auf einmal einen Kloß im Hals, da er wusste, wie sehr sie das Buch liebte. „Das kann ich nicht annehmen.“
Sie lief zu ihm, dass ihre wirren Locken wippten. „Bitte. Du bist mein bester Freund, und ich möchte so gerne, dass du es bekommst und alle Geschichten darin liest. Wir werden viel Spaß dabei haben, darüber zu reden, das verspreche ich dir.“
Mit einem Räuspern machte sich der Mann bemerkbar.
„Kommt jetzt. Wir müssen los, bevor es anfängt zu regnen.“
Sie gingen hinaus, wo der Wildhüter sein Pferd bestieg und Ophelia zu sich in den Sattel hob. Doch sie versuchte, wieder abzusteigen, um mit Niall zu gehen. Schließlich gab der Mann murrend nach und schaffte es, beide Kinder irgendwie hinter sich auf dem Pferderücken unterzubringen. Dann ritten sie los.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie an den Waldrand kamen und in der Ferne ein großes Haus erblickten.
„Ist dort mein Papa?“, fragte Ophelia, rieb sich die Augen und gähnte.
„Ja, kleine Miss.“
Sie nickte und lächelte Niall zu. Dann ließen sie sich vom Pferderücken gleiten, fassten sich bei den Händen und wanderten nebeneinander her, ohne die Einwände des Wildhüters zu beachten.
Endlich erreichten sie das Herrenhaus, wo hektische Betriebsamkeit herrschte. Man hatte sie offensichtlich schon bemerkt, denn zwei Dienstmädchen rannten aufgeregt ins Haus, und gleich darauf kam ein gut gekleidetes Paar herausgeeilt. Als sie Ophelia entdeckte, sank die Dame an die Brust ihres Mannes.
„Das sind meine Eltern“, flüsterte Ophelia und drückte Nialls Hand.
Als könnte sie es nicht mehr abwarten, ließ die Lady ihren Mann stehen und lief auf die Kinder zu. Ohne auf ihr feines Kleid zu achten, kniete sich die schöne Frau auf die Erde und breitete mit Tränen in den Augen die Arme aus. Ophelia zögerte, als wüsste sie nicht, was sie von dieser liebevollen Geste halten sollte. Nach einem tränenfeuchten Blick auf Niall ließ sie seine Hand los und warf sich der Lady in die Arme. Niall konnte sie beide schluchzen hören.
„Du bist wieder da“, sagte die Dame schließlich. „Ich … wir alle haben uns solche Sorgen gemacht. Ich habe dich schrecklich vermisst, Ophelia! Gott sei Dank bist du heil und gesund nach Hause gekommen!“
Niall stand dabei und blickte sich um, ob er irgendwo seine Eltern sah. Doch sie waren nicht da und hatten vermutlich auch nicht zu dem Suchtrupp gehört. Die Dame ließ Fifi los und lächelte dem großen, gutaussehenden Mann, der ihr beim Aufstehen half, liebevoll zu. Dann fragte sie: „Und wer ist dieser junge Mann?“
Ophelia schenkte ihr ein reizendes Lächeln. „Das ist Niall, Mama. Er ist in den Fluss gesprungen, um mich zu retten.“
Ophelias Eltern keuchten erschrocken, doch sie fuhr ungerührt fort: „Er hat für mich gesorgt, ist auf die Jagd gegangen und hat Kaninchen und Vögel am Spieß gebraten. Und wenn ich siebzehn bin, werden wir heiraten.“
Der Gentleman bekam einen Hustenanfall, und die Lady wurde ganz starr.
„Wie bitte?“, sagte sie in einem so scharfen Ton, dass es Niall durch und durch ging.
„Ja“, bekräftigte er, um ihnen seine Absichten klarzumachen. Obwohl sein Herz wie verrückt pochte, fuhr er tapfer fort: „Eines Tages wird Fifi meine Frau.“
„Ich finde es unglaublich mutig von dir, dass du unsere Tochter gerettet hast. Wie alt bist du, Junge?“, fragte der Gentleman freundlich. „Sieben Jahre?“
Mit brennenden Ohren warf sich Niall in die Brust. „Ich bin zwölf und alt genug, um zu wissen, was unser Versprechen bedeutet“, erwiderte er in ernstem Ton, weil er nicht töricht oder unwissend erscheinen wollte. Er spürte, dass sein Erfolg vom Einverständnis dieses großen, beeindruckenden Mannes abhing. „Fifi und ich werden heiraten. Sie will Peter Warwick, den Earl of Langdon, nicht.“
Der Gentleman, dem die Sache offensichtlich Spaß machte, lachte, die Lady hingegen nicht. Sie wirkte eher düpiert. Niall nahm an, das sei das richtige Wort dafür. Jedenfalls benutzte es seine Mutter immer, wenn feine Leute so dreinschauten, wie Fifis Mutter jetzt gerade.
„Komm, Ophelia, Liebes“, sagte sie und griff nach der Hand ihrer Tochter. „Eine Lady deines Standes heiratet niemanden von gewöhnlicher Herkunft, sondern einen wohlhabenden und einflussreichen Herrn, einen Adligen. Wenn du älter bist, wirst du das besser verstehen.“
Nialls Herz begann heftig zu klopfen, als die Lady mit Fifi davonging. Gewöhnliche Herkunft?
Da drehte Fifi sich um und winkte ihm traurig zu. Sie brachten sie einfach fort, obwohl sie beide doch Freunde waren! Zu seinem Verdruss spürte er, dass ihm die Tränen kamen.
Der Gentleman reichte ihm einige Münzen, doch Niall hielt die Hände hinter den Rücken. „Ich … ich will kein Geld dafür, dass ich Fifi gerettet habe.“ Dafür würde er niemals Geld annehmen.
„Du siehst aus wie ein halb verhungerter, verflohter Bettler, Junge. Kannst du dir wirklich leisten, das Geld abzulehnen?“
Ein halb verhungerter, verflohter Bettler. Er schämte sich in Grund und Boden, doch dann fiel ihm wieder ein, dass sein Vater immer sagte, selbst ein Armer müsse stets seinen Stolz und seine Würde bewahren. Niall blickte dem Gentleman fest in die Augen und stieß mit gepresster Stimme hervor: „Ja. Ich nehme kein Geld für Fifis Rettung.“
„Nun gut“, erwiderte der Mann mit hochgezogenen Brauen. „Mein Diener hier wird dich in die Küche führen und dafür sorgen, dass du etwas Warmes in den Magen bekommst. Dann werde ich den Viscount bitten, dich in einer Kutsche nach Hause zu bringen.“
„Danke, Sir“, sagte der Junge respektvoll, wie es ihm seine Mutter beigebracht hatte.
Der Mann wandte sich ab und war im Begriff zu gehen.
„Sir?“
„Ja, Junge?“
Niall schluckte schwer. „Ich habe versprochen … Fifi und ich haben einander versprochen, dass wir heiraten und immer gute Freunde sein werden.“
Wieder lächelte Ophelias Vater, als amüsierte ihn die ganze Situation. Nun war es an Niall, düpiert zu sein, denn er meinte es völlig ernst. Er wölbte den Brustkorb vor in der Hoffnung, größer und wichtiger und nicht wie ein halb verhungerter, verflohter Bettler zu wirken. Sein Vater hatte ihn gelehrt, dass ein Mann, der sein Ehrenwort nicht hielt, ein nichtswürdiger Schuft war.
„Ich kann mir gut vorstellen, dass du sie heiraten und ihr Freund sein möchtest. Doch das ist eine Anmaßung, weil beides unmöglich ist. Der Mann, den meine Tochter einmal heiratet, wird reich, mächtig und von guter Herkunft sein – und du bist nichts davon. Du musst lernen, nicht nach den Sternen zu greifen, Junge, sondern dich mit dem zu begnügen, was dir zusteht.“
Damit ging der Mann davon, und Niall blieb trostlos zurück. „Fifi!“
Da packte ihn eine Hand am Kragen und zerrte ihn zurück, doch Niall grub die Hacken seiner abgetretenen Stiefel in den Kies. „Fifi!“
Dieses Mal hörte sie ihn, weil sie sich noch einmal umdrehte, bevor sie durch die Tür des großen Hauses trat.
„Warte auf mich …“ Wie eine inständige Bitte drang es aus seiner Kehle.
Ihre Mutter zog sie ins Haus, und die Tür fiel mit einer Endgültigkeit zu, dass es in seiner Seele widerhallte.
Warte auf mich …
Kapitel 1
15 Jahre und sechs Monate später
Berkeley Square, London
Lady Ophelia Darbys Finger huschten anmutig über die Tasten des Flügels und spielten eine muntere Melodie. Plötzlich spürte sie, dass jemand hinter ihr das Musikzimmer betreten hatte. Sie ließ die Hände sinken und drehte sich auf der Klavierbank um. Ihre Mutter stand mit breitem Lächeln in der Tür. Die Marchioness of Shelton, eine hochelegante Dame, trug ein leuchtend gelbes Kleid, das ihrer schlanken, aparten Figur schmeichelte. Ihr hellbraunes, mit goldblonden Strähnen durchsetztes Haar war an diesem Tag nicht in einen strengen Knoten gefasst, sondern fiel ihr als üppige Lockenmähne über die Schultern.
Der glückliche Ausdruck in ihren blauen Augen und die Freudentränen, die darin schimmerten, ließen sie viel jünger wirken als ihre fünfundvierzig Jahre. Und, was noch wichtiger war, sie trug weder ein dunkles Kleid, noch wirkte sie so bleich und mutlos wie in den Tagen, als sie mit dem Tod ihres Gatten rechnen musste.
Mit zitternden Händen erhob sich Ophelia und schaute ihre Mutter an. „Die Ärzte hatten eine gute Nachricht?“, fragte sie leise und mit einem Anflug neuer Hoffnung.
„Dein Vater …“ Ihre Mutter räusperte sich. „Deinem Vater geht es viel besser. Die Ärzte sagen, die Gefahr ist vorbei und er wird wieder ganz gesund.“
Vor Erleichterung lachte Ophelia laut auf, raffte ihre Röcke und sprang mit einem Satz über die Klavierbank.
„Ophelia, was ist denn das für ein wildes Treiben!“, rief ihre Mutter scheinbar empört, doch ihre Augen funkelten vor Lachen. „Und Schuhe und Strümpfe hast du auch nicht an, du freches Kind!“
Im Hinausrennen drückte Ophelia ihrer Mutter einen raschen Kuss auf die Wange. „Freche Lady, Mama. Schließlich bin ich vierundzwanzig.“
Mit gerafften Röcken rannte Ophelia die Wendeltreppe hinauf und wischte sich dabei die Tränen von den Wangen. Vor dem Schlafzimmer ihres Vaters blieb sie stehen, um der sonderbaren Gefühle Herr zu werden, die sie stets beim Anblick ihres Vaters überfielen. Erst zwei Wochen zuvor hatte er sie an sein Krankenbett rufen lassen, um mit ihr zu reden. Damals musste sie befürchten, es könnte das letzte Mal sein, dass sie ihn lebend sah.
Mit düsterer Miene hatten sich ihre Mutter, die Dienstboten und auch Ophelia selbst auf den Tod des Marquess gefasst gemacht. Ihre Mutter hatte jeden Tag geweint und gebetet, und Ophelia hatte oft an seinem Bett gesessen und ihm vorgelesen oder von alltäglichen Begebenheiten erzählt. Da auch ihr Vater mit seinem baldigen Ableben rechnete, hatte er ihr eines Tages ein Geheimnis oder besser gesagt eine Tatsache anvertraut, die das liebevolle Verhältnis zwischen ihnen beiden zutiefst erschüttert hatte. Seit jenem Tag musste sich Ophelia jedes Mal zwingen, ihrem Vater heitere Unbeschwertheit vorzuspielen. Er durfte auf keinen Fall erfahren, dass seine Enthüllungen sie noch immer jeden Tag quälten.
Sie klopfte an und wartete höflich, bis sie seine Stimme hörte.
„Komm rein, Ophelia.“
Sie öffnete die Tür und schlüpfte in das große, luftige Schlafzimmer. Ihr Vater saß in einem hohen Lehnsessel am Fenster, auf den Knien eine Wolldecke. Er trug einen purpurroten Morgenrock, unter dem sein Hemd und ein ordentlich gebundenes Halstuch hervorschauten. Er wirkte nicht mehr wie der mächtige und kraftvolle Marquess, als den sie ihn immer gekannt hatte, ihr Papa, der jedes noch so schwierige Problem lösen konnte.
„Woher wusstest du, dass ich es bin, Papa?“, fragte sie lächelnd, während sie zu ihm ging und ihn auf die Wange küsste.
„Du magst dich ja sehr zurückgehalten haben, aber trotzdem konnte ich die Ungeduld in deinem Klopfen hören.“
Ophelia zog die Nase kraus, ließ sich ihm gegenüber auf einer Chaiselongue nieder und zog die Füße auf das Polster. Als sie heranwuchs, hatte sich ihr Vater oft über ihre unbändige Energie beklagt und darüber, dass sie nie stillsitzen konnte. Er hatte sogar bemerkt, ihr ungestümes Temperament hätte besser zu einem Sohn gepasst, woraufhin Ophelia auf sehr undamenhafte Weise die Augen verdreht … und damit seine Einschätzung bestätigt hatte.
Mit einem raschen Blick stellte sie erfreut fest, dass ihr Vater eine frischere Farbe hatte und kräftiger wirkte. Seit ihn die Herzkrankheit befallen hatte, war er deutlich dünner geworden, tiefe Furchen hatten sich neben seinen Mundwinkeln eingegraben, und die Haut spannte sich über den fein geschnittenen Wangenknochen. Und dennoch lag in seinen Zügen eine Kraft, welche die Krankheit nicht hatte schmälern können. Auch wenn das Haar an seinen Schläfen mit grauen Strähnen durchzogen war, blieb ihr Vater nach wie vor ein verteufelt gut aussehender Mann in den besten Jahren.
„Die Ärzte haben sich sehr zufrieden geäußert, Papa. Mama ist überglücklich. Bald schon wirst du wieder mit ihr auf dem Ball tanzen und im Park ausreiten.“
„Das wäre schön“, antwortete er leise, wobei seine tief goldbraunen Augen, die den ihren so ähnlich waren, aufleuchteten.
Seit Beginn seiner Krankheit war die Marchioness nicht von seiner Seite gewichen, hatte keine Besucher mehr empfangen und all ihre wohltätigen Pflichten abgesagt. Mit grimmiger Entschlossenheit hatte Ophelia die Führung des Haushalts übernommen, denn sie verstand nur zu gut, dass ihre Mutter dieser Aufgabe vorübergehend nicht gewachsen war.
„Und du wirst auch bald wieder mit Mama spazieren gehen, Papa.“
„Davon gehe ich aus, Schätzchen. Wie sehr ich mich darauf freue, Hand in Hand mit deiner Mutter durch den Garten zu spazieren und dem Gesang der Vögel und dem Plätschern der Brunnen zu lauschen.“
Ihr Vater lächelte angesichts ihrer bloßen Füße, die unter dem Saum ihres Kleides hervorlugten, und der wilden Haarmähne, die ihr bis auf die Hüften fiel. So schicklich sich Ophelia auch in Gesellschaft anderer geben mochte, so fiel das alles von ihr ab, sobald sie sich in ihrem Elternhaus befand. Und er hatte sie auch nie gezwungen, sich den Erwartungen anderer anzupassen.
„Papa …“ Als ihre Blicke sich trafen, war ihr plötzlich die Kehle wie zugeschnürt, und sie starrte ihn mit brennenden Tränen in den Augen an.
„Warum weinst du?“, fragte er barsch.
„Ich weine ja gar nicht“, entgegnete sie und hob trotzig das Kinn, um zu verhindern, dass ihr die verflixten Tränen über die Wangen liefen.
Reglos lagen seine Hände auf den geschnitzten Armlehnen des Sessels. Auch er spürte die Spannung, die in der Luft lag.
„Erzählst du mir von ihr?“, fragte Ophelia schließlich mit heiserer Stimme.
„Nein.“
„Papa –“
„Du brauchst nichts über sie zu wissen, niemals.“
Ophelia war es, als hätte sich ihre ganze fest gefügte Welt plötzlich in Luft aufgelöst. „Was meinst du damit, Papa?“
Mit düsterer Miene, die von seiner inneren Anspannung zeugte, antwortete er: „Die Marchioness war dir eine wunderbare Mutter, und du hattest ein behagliches und glückliches Leben. Lassen wir es damit bewenden!“
Sein scharfer Ton verschlug ihr die Sprache. Als er glaubte, dem Tod nahe zu sein, hatte er ihr etwas gebeichtet, was sie von Grund auf erschüttert hatte. Doch nun wurde ihr klar, dass sie nicht mit weiteren Enthüllungen rechnen durfte.
„Sag mir, Papa“, flüsterte sie, „war sie eine böse Frau? Vielleicht unfreundlich und selbstsüchtig? So schlimm, dass ich nichts von ihr erfahren soll?“
„Nein“, antwortete ihr Vater, und sein Blick schien sich in der Ferne einer längst vergangenen Zeit zu verlieren. „Du bist ihr so ähnlich. Deine Stimme ist so schön wie ihre … vielleicht sogar noch schöner. Auch sie war eine geübte und leidenschaftliche Sängerin und Pianistin.“
Es war, als löste sich ein Knoten in Ophelias Brust. „Dann erzähl mir mehr von ihr. Bitte, Papa! Sag mir wenigstens ihren Namen.“
Die Augen ihres Vaters füllten sich mit Tränen. Seine Kehle arbeitete, doch es kam kein Laut. Er wandte den Blick ab und starrte lange aus dem Fenster. „Miss Sally Martin“, sagte er schließlich.
Der Name ihrer leiblichen Mutter war also Sally Martin.
„Papa …“
„Nein! Was vorbei ist, ist vorbei“, entgegnete er mit rauer Stimme. „Wenn ich nicht …“ Er kniff die Lippen zusammen, als könnte er es nicht über sich bringen, die Worte auszusprechen.
Ein scharfer Schmerz durchzuckte Ophelia. „Wenn du nicht geglaubt hättest, sterben zu müssen, hättest du mir nichts davon gesagt“, flüsterte sie mit erstickter Stimme. Von ihren Gefühlen überwältigt, konnte sie nur mit äußerster Mühe die Tränen zurückhalten.
„Du hast es mir nur erzählt, um dein Gewissen zu erleichtern. Dann hättest du in Frieden diese Welt verlassen können, doch du hättest eine verwirrte und verletzte Tochter zurückgelassen, deren abgöttisch geliebter Vater sich als fehlbarer Mensch erwiesen hatte. Du hättest mich mit meinen Zweifeln und meiner Einsamkeit allein gelassen, und ich hätte niemanden gehabt, an den ich mich wenden konnte. Aber du bist nicht gestorben, Papa. Du lebst, und ich habe so viele Fragen. Ich bitte dich inständig, sie mir zu beantworten.“
Er schloss die Augen, und seine Miene wirkte auf einmal hart und bitter. „Wir werden nie wieder darüber reden.“
Sein Ton war endgültig, und als er sie ansah, wirkte sein Blick hart und undurchdringlich. Es war der Blick des mächtigen Marquess und nicht der ihres liebevollen Vaters. Ophelia schaute ihn mit wachsender Verzweiflung an. „Papa …“
„Deine Mutter …“ Ihr Vater räusperte sich und fuhr in schroffem Ton fort: „Deine Mutter darf damit nicht behelligt werden. Lassen wir die Sache für immer ruhen.“
Da wurde Ophelia klar, dass es für ihren Vater am wichtigsten war, die Gefühle seiner Frau zu schonen, selbst wenn er dafür die Liebe seiner Tochter verlor und sich seiner eigenen Ehrlosigkeit stellen musste. Er nahm dafür auch in Kauf, dass sich Ophelia mit Verwirrung und Zweifeln quälte.
Sie stand auf, machte einen knappen Knicks und lief aus dem Zimmer. Draußen lehnte sie sich gegen die geschlossene Tür und ließ ihren heißen Tränen freien Lauf. Seit dem Geständnis ihres Vaters hatte Ophelia all ihre Zweifel und Bestürzung wie einen Stein tief in ihrer Seele versenkt, sodass sie sie nicht mehr beunruhigen konnten. Jeden Tag hatte sie mit ihrer Mutter um seine Genesung gebetet, denn sie liebte ihn von ganzem Herzen und wollte ihn nicht verlieren.
Dabei war sie sicher gewesen, dass er ihr mehr erzählen würde, sobald es ihm besserging.
„… die Marchioness hat dich nicht geboren. Verzeih mir, dass ich es dir so lange verschwiegen habe“, hatte er auf dem Krankenbett mit schwacher Stimme geflüstert.
Ophelia hatte ihn nur verwirrt angestarrt. „Aber du bist doch mein Vater, oder?“
„Ja.“
Schmerz und Schock hatten sie beinahe überwältigt. Nicht meine Mutter …
Mit Mühe hatte sie ihre Gedanken geordnet. Ihre Eltern hatten kurz zuvor ihren fünfundzwanzigsten Hochzeitstag gefeiert. Sie waren also schon verheiratet gewesen, als Ophelia zur Welt kam. Wie konnte da jemand anderer als die Marchioness ihre leibliche Mutter sein? Diese Frage hatte sie ihrem Vater gestellt, während sie seine Hände hielt. Sie sei das Kind seiner Geliebten, hatte er zur Antwort gegeben.
„Wollte sie mich nicht?“, hatte Ophelia leise gefragt. Sie konnte die ganze absurde Geschichte noch gar nicht richtig begreifen. Bestimmt waren es nur die Hirngespinste eines kranken Mannes, hervorgerufen durch die Schmerzen und das Laudanum.
Vielleicht war ihr Vater wirklich von der Opiumtinktur benebelt gewesen, denn er murmelte: „Ich ließ ihr keine Wahl. Ich habe dich ihr weggenommen, obwohl sie mich weinend anflehte, es nicht zu tun.“
Dann war er mit einem erleichterten Seufzer in einen tiefen Schlaf gesunken, als wäre ihm ein Stein vom Herzen gefallen.
Ich habe dich ihr weggenommen …
An jenem Tag waren all ihre Gewissheiten über die Ehre ihres Vaters, die Zuneigung ihrer Mutter und ihr liebevolles, glückliches Elternhaus in sich zusammengefallen.
Ophelia hatte das Leben als Tochter eines reichen Marquess genossen. Sie wurde von ihren Eltern geliebt und mit allem beschenkt, was ihr Herz begehrte. Doch das alles war auf den Schmerzen und der Qual eines anderen Menschen gegründet, den ihr Vater benutzt und in den Staub getreten hatte.
Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es war, wenn einem das eigene Kind auf Nimmerwiedersehen entrissen wurde. Warum hatte ihr Vater das getan, und weshalb war er nicht dafür bestraft worden? Doch was hatte die Frau schon gegen den mächtigen Marquess ausrichten können? Als Mätresse hatte Sally Martin vermutlich weder über Geld noch über Beziehungen verfügt und konnte daher dem einflussreichen Adligen nicht die Stirn bieten.
Fragen über Fragen drängten sich Ophelia auf.
War Sally Martin noch am Leben? Wie war sie damit fertiggeworden, dass ihr Beschützer ihr das Kind weggenommen hatte? Hatte sie getrauert und sich am Ende wieder gefangen? Hatte sie einen anderen Beschützer gefunden? War sie an gebrochenem Herzen gestorben? Wie war sie überhaupt? Lächelte und sang sie noch immer? Oder waren ihre Lieder für immer verstummt, als der Marquess ihr das Herz gebrochen hatte? Spielte sie noch immer Klavier mit der gleichen Begeisterung und Leidenschaft wie Ophelia selbst?
Mit zitternden Fingern wischte sie sich die Tränen ab, während sie sich all die Fragen stellte, vor denen sie zuvor zurückgeschreckt war.
Worin sind wir uns sonst noch ähnlich?
Das Herz in ihrer Brust krampfte sich zusammen, als sich Ophelia an die Zeit erinnerte, als sie noch klein war. Damals hatte ihre Mutter ihre Gegenwart kaum ertragen. Niemals hatte die Marchioness sie als Kind in den Arm genommen, mit ihr gespielt oder ihr vorgelesen, wie es der Vater tat, obwohl sich Ophelia so sehr nach der Liebe ihrer Mutter gesehnt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich immer im Boudoir ihrer Mutter versteckt und sie heimlich beobachtet hatte. Wie gerne wäre sie damals zu ihr gelaufen, um in ihren Duft und ihre Wärme einzutauchen.
Ihre Mutter hatte es gehasst, wenn Ophelia sang und durch die langen Korridore ihres Landsitzes tanzte, und die Zurückweisung durch ihre Mutter hätte dem Kind fast einen bleibenden Schaden zugefügt. Ihr Vater hatte versucht, Ophelia damit zu trösten, dass sie und ihre Mutter einfach sehr verschieden wären und dass die Mutter sie eines Tages auch herzen und küssen würde. Das Kind hatte ihm nicht geglaubt, doch dann, nachdem die kleine Ophelia einige Tage lang vermisst worden war, hatte sich alles geändert.
„Jetzt verstehe ich alles, Mama“, flüsterte Ophelia nun, als sie durch den Flur zu ihrem Schlafzimmer ging. „Ich war nicht dein Kind, und außerdem habe ich dich täglich an die Untreue deines Mannes erinnert.“ Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, denn nun liebst du mich.
Dennoch wollten die Trauer und das Gefühl der Verlorenheit, die von ihr Besitz ergriffen hatten, nicht weichen. In ihrem Zimmer angekommen, warf sich Ophelia auf das Bett und starrte an die Decke. Sie stieß ein freudloses Lachen aus, denn erst vor wenigen Wochen hatte sie scherzhaft zu ihrer Mutter gesagt, dass sie beide nichts gemeinsam hätten. Ihre Mutter war so penibel und korrekt, während Ophelia oft von ihren Eltern zu hören bekam, sie solle ihr überbordendes Temperament im Zaum halten.
Die Marchioness hatte mit ihr über den kleinen Scherz gelacht, doch in ihren Augen hatte eine Trauer gelegen, die Ophelia damals nicht deuten konnte. Tatsächlich hatte Ophelia sich und ihre Mutter immer als sehr unterschiedlich empfunden. Die Marchioness war charmant, sanftmütig und über ihre Jahre hinaus weise. Sie selbst, so schien es Ophelia, war nicht viel anders als die übrigen jungen Damen der guten Gesellschaft, obwohl sie zugegebenermaßen nicht viel für leeres Geschwätz und boshaften Klatsch übrig hatte und ihr Leben nicht nur mit Gedanken an den nächsten Ball oder das neueste Gerücht verbringen wollte.
Das war auch der Grund dafür, dass sie Freundschaft mit einigen Damen geschlossen hatte, die zwar in gewisser Weise der High Society angehörten, doch spöttisch als Mauerblümchen bezeichnet wurden. Sie waren durchaus kultiviert und gebildet, galten jedoch als ein wenig verschroben. In dieser Hinsicht passte Ophelia nicht recht in ihren Kreis, denn als Tochter des Marquess of Shelton, das war ihr völlig klar, würde man sie nie brüskieren und zu allen gesellschaftlichen Ereignissen einladen, zu denen ihre Freundinnen keinen Zugang hatten. Sie war ein Mauerblümchen aus eigenem Entschluss, doch niemand würde es wagen, sie offen zu dieser etwas anrüchigen Gruppe zu zählen.
Schwungvoll erhob sie sich jetzt vom Bett, setzte sich vor den Ankleidetisch und sagte zu ihrem Spiegelbild: „Es spielt keine Rolle, wer Sally Martin ist. Ich bin jedenfalls Lady Ophelia, Tochter des Marquess und der Marchioness of Shelton.“
Sich die Worte laut vorzusagen, linderte nicht den furchtbaren Schmerz, der tief in ihrem Herzen brannte. Sie beugte sich vor und presste die Handflächen gegen das Glas. „Nichts hat sich geändert. Ich bin Lady Ophelia … Nichts hat sich geändert“, fügte sie beschwörend hinzu.
Betrübt stellte sie fest, dass ihre Augen rotgeweint und ihre Haut leichenblass war. Wie schrecklich war es, dachte sie, so verletzlich zu sein und es sich auch noch anmerken zu lassen. Dabei hatte ihr Vater sie immer für ihre Stärke gelobt, und auch sie selbst hatte sich stets auf ihre seelische Widerstandskraft verlassen.
Jetzt ist nicht die richtige Zeit, sich hängenzulassen. „Und wovor hast du eigentlich Angst, Ophelia?“
Darauf hatte sie keine Antwort; sie wusste nur, dass sie Sally Martin finden musste.
Doch noch zögerte sie, hin und her gerissen zwischen widerstreitenden Interessen. Ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft beruhte auf dem Reichtum und dem guten Ruf ihrer Familie. Daher betrachtete Ophelia es als ihre Pflicht, sich an die Regeln zu halten und stets die Anordnungen ihres Vaters zu befolgen.
Auch wenn sie zuweilen mit einer rebellischen und exzentrischen Haltung kokettierte, zügelte Ophelia doch immer ihr Temperament, wenn es um die Wünsche ihrer Eltern ging. Sie liebten ihre Tochter, und diese liebte sie. Um sie nicht zu enttäuschen oder zu verletzen, hatte sie sich daher ihren Wünschen kein einziges Mal offen widersetzt.
Ophelia schloss die Augen und gelobte sich, bei ihrer Suche nach Sally Martin die größtmögliche Rücksicht auf die Stellung ihrer Eltern zu nehmen. Doch sie konnte unmöglich so tun, als wüsste sie von der ganzen Sache nichts.
Ich werde dich finden.
Mit allen verfügbaren Mitteln.
***
Devlin Niall Byrne beobachtete die Gestalt, die mit einer so gelassenen Anmut die King Street entlangging, als spazierte sie über die Rotten Row im Hyde Park. Obwohl die Gegend hier nur einen Steinwurf von der St. James's Street entfernt war, hatten Frauen wie sie hier eigentlich nichts zu suchen. Denn in der King Street fand sich allerlei Anrüchiges – Bordelle, Spielhöllen und Meuchelmörder. Und dann gab es noch Männer wie ihn, die sich auf der messerscharfen Grenze zwischen der feinen Gesellschaft und der zwielichtigen Unterwelt Londons bewegten.
Grenzgänger wie Devlin gehörten keiner der beiden Welten richtig an und wurden von beiden Seiten argwöhnisch beäugt.
Damit konnte er leben, denn er hatte schon vor langer Zeit gelernt, sich nur auf seine Schlauheit und seinen Einfallsreichtum zu verlassen.
Das große Tier an seiner Seite – ein Mastiff und sein bester Freund – ließ ein tiefes, kehliges Grollen hören.
„Ruhig, Conan“, murmelte Devlin und klemmte sich den Stumpen zwischen die Zähne, um seinem Kumpel den Kopf zu streicheln. „Mal sehen, wie es weitergeht.“
Er tat einen tiefen Zug an der Zigarre und blies eine Rauchwolke aus, die sich um seinen Kopf kringelte, bevor sie sich in der nächtlichen Dunkelheit auflöste.
Devlin und sein Hund sahen zu, wie die Unbekannte sich der Stelle näherte, wo sie beide sich, von Nebel und Dunkelheit verborgen, befanden. Plötzlich griff die Dame in die Tasche ihres schwarzen Umhangs und zog ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus. Ihre schmalen Absätze klackerten auf dem Kopfsteinpflaster, als sie unter eine der trüben Gaslampen trat und den Zettel las.
Diese Lady war wirklich erstaunlich. Auch ohne ihr Gesicht und die Kleidung richtig erkennen zu können, wusste Devlin, dass sie eine feine Dame war – eine piekfeine sogar. Das sah man nicht nur an ihrer aufrechten Haltung und den gestrafften Schultern, sondern auch an ihrer zierlichen Figur, der weichen Rundung ihrer Hüften und dem sinnlich-eleganten Gang.
Wirklich eine tolle Frau.
Und eine leichtsinnige noch dazu. Denn aus der Dunkelheit einer engen Seitengasse lösten sich zwei Gestalten und kamen ihr immer näher. Die Lady merkte nichts davon, sondern starrte auf die große rote Tür auf der anderen Straßenseite.
Die Golden Tavern. Was hatte sie mit dieser anrüchigen Kneipe zu schaffen?
Ohne ihr Gesicht sehen zu können, spürte Devlin, was sie vorhatte. Mit einem leisen unwilligen Zucken seiner Lippen schickte er sich an, zu ihr zu gehen. Doch plötzlich blieb er instinktiv stehen. Eine der finsteren Gestalten, die auf Raub oder Schlimmeres aus waren, trat auf die Frau zu, während der zweite Mann sich ihr von der anderen Seite näherte. Einer riss ihr die Kapuze des Umhangs vom Kopf und zog dabei ihren Gesichtsschleier mit herunter. Vor Schreck zog sie scharf die Luft ein, dann wirbelte sie mit einer perfekten Pirouette aus der Reichweite der Angreifer.
Plötzlich ein metallisches Zischen, als die Klinge aus ihrem Spazierstock glitt, und sie hielt mit sicherem Griff einen Stockdegen in der Hand. Die Männer blieben stehen und blickten sich an. Zweifellos überlegten sie, ob die Dame auch mit der Waffe umgehen konnte oder ob sie leicht zu entwaffnen wäre.
„Du kannst uns nicht beide zugleich erwischen“, höhnte einer.
„Wenn ihr da so sicher seid, Jungs, könnt ihr euch gerne ins Unglück stürzen.“ Sie hob mit einem Ruck den Kopf, worauf ihr die schwarze Haarmähne über den Rücken fiel.
Devlin stand regungslos da, als wäre sein ganzer Körper eingefroren – bis auf sein Herz. Nur einmal im Leben hatte er solches Haar gesehen, schwarz wie Rabenschwingen mit einem mitternachtsblauen Schimmer.
Nur ein einziges Mal.
Er konnte die Augen nicht abwenden.
Wumm. Wumm. Wumm. Wie eine gewaltige Trommel dröhnte ihm sein eigener Herzschlag in den Ohren. Sie war die Hoffnung gewesen, an die er sich monate- und jahrelang geklammert hatte, bis er schließlich einsehen musste, wie bodenlos dumm das war. Seit jenem Tag, als er die Hoffnung, sie zu finden, aufgegeben hatte, hatte Devlin niemals wieder einen Menschen so nahe an sich herangelassen.
Daher erschreckte und irritierte ihn jetzt seine heftige Reaktion. Am ärgerlichsten daran war, dass er sein Herzklopfen ebenso wenig beherrschen konnte wie die Sehnsucht, die seine Seele schier zu zerreißen drohte.
Die Sehnsucht nach ihr.
Mit der Spitze seines Spazierstocks tippte er zweimal auf die Pflastersteine, worauf die Männer, die wieder näher gerückt waren, sich eilig davonmachten und in der Dunkelheit verschwanden. Verwirrt drehte sich die Frau um, die Waffe noch immer stoßbereit in der Hand, während der Wind mit ihren langen Locken spielte. Lautlos wie ein Dieb in der Nacht kam Devlin näher. Dann blieb er stehen und hüstelte kaum vernehmbar, und sie wirbelte herum und sah ihn an.
Ihr Anblick raubte ihm den Atem, und die Welt schien stillzustehen. Goldbraune Augen, umrahmt von langen schwarzen Wimpern. Augen, die noch leicht geschwollen waren von Tränen, die sie vor Kurzem vergossen hatte. Die blasse Haut, der breite Mund mit den vollen Lippen, wie geschaffen zum Küssen. Zum Lächeln. Und zum Lachen.
Ihre ganze Schönheit war von dieser Art – üppig und erregend.
Sie war es. Fifi.
Das Mädchen, das sein ganzes Leben verändert hatte. Dessen Namen er im Fieberdelirium gerufen hatte, als der Schmerz in seinem Körper wütete. Nach dem er gesucht und das er trotz all seiner Beziehungen und seines Geldes nie gefunden hatte.
Du bist es …
Eine Erinnerung wehte heran, und plötzlich tanzten Worte wie eine Melodie in seinem Kopf. Warte auf mich …
Er hatte schon vor Jahren aufgehört zu warten, als die Erinnerung an sie zu einem fernen Traum geworden war. Und nun war sie hier.
Verborgen im Dunkeln beobachtete er, wie drei livrierte Diener mit besorgter Miene zu ihr eilten.
„Lady Ophelia, bitte kommen Sie mit! Die Marchioness würde uns lebendig rösten, wenn sie wüsste, dass Sie hier sind. Bitte, Mylady!“
Er registrierte ihren Namen und prägte sich sorgfältig die Livree und das Aussehen der Diener ein. Mit diesem Wissen würde es ihm gelingen, ihre Familie ausfindig zu machen. Als eine vornehme Kutsche die Straße entlanggerumpelt kam, zog sie sich eilig die Kapuze über den Kopf und ging mit den Dienern zu dem Wagen hinüber. Das Einstiegstreppchen wurde ausgeklappt, und mit einem letzten Blick auf die rote Tür stieg Ophelia in die Kutsche. Devlin blickte ihr nach, bis das Rumpeln der Räder verklang, dann wandte er sich der roten Tür zu.
Dahinter verbarg sich irgendetwas, das ihr sehr wichtig war.
Lady Ophelia … Fifi … Nachdem ich die Suche aufgegeben hatte, habe ich dich gefunden.
„Und was genau soll ich jetzt machen?“, fragte er halblaut.
Auf Conans leises Grummeln hin sagte Devlin: „Ich glaube, du hast recht, mein Freund. Wir sollten so viel wie möglich über Fifi herausfinden.“
Conan brummte, worauf Devlin ihm den Kopf schubberte. „Ja, es ist das Mädchen, von dem ich dir schon so oft erzählt habe“, erklärte er dem Hund.
Da hörte er ein Schlurfen hinter sich, doch er erschrak nicht, denn er hatte längst bemerkt, dass sich sein Freund Riordan O’Malley im Dunkeln näherte.
„Weißt du“, bemerkte Riordan amüsiert, während er neben Devlin stehenblieb, „mir ist wirklich nicht klar, ob der Hund dich versteht. Jedenfalls scheint er immer zu antworten, wenn du mit ihm redest. Geradezu unheimlich. Aber er hat dir bestimmt nicht aufgetragen, dem Mädchen nachzuspüren. Das ist ganz allein deine Idee, mein Freund.“
„Sein Name ist Conan, und wir verstehen einander“, sagte Devlin und tätschelte dem Tier den Kopf, dass es vor Vergnügen brummte.
„Dann hat er wohl gerade sein Einverständnis gegeben, was?“, bemerkte Riordan.
Die Männer bogen in die St. James's Street ein und näherten sich dem Asylum, einer berüchtigten Spielhölle, an der jeder von ihnen beträchtliche Anteile besaß.
Als Devlin nicht auf seine Bemerkungen über die Frau einging, hakte Riordan nach: „Ist sie es wirklich? Das Mädchen, von dem du schon als Junge gesprochen hast?“
Devlin wand sich innerlich. Er hatte gehofft, sein Freund hätte nicht mitbekommen, was er zu Conan gesagt hatte. „Ja“, antwortete er widerwillig.
„Was wirst du nun tun?“
„Da gibt es nichts zu tun. Sie war nur eine flüchtige Episode in meiner Vergangenheit.“
„Und warum zittern dann deine Hände?“
Devlin zischte unwillig durch die Zähne und vergrub die verräterischen Hände in den Manteltaschen.
„Da habe ich wohl einen Nerv getroffen“, stellte Riordan voller Ironie fest. „Jetzt will ich erst recht mehr über die Lady wissen.“
Devlin schwieg mit ausdrucksloser Miene. Sein Freund musste gespürt haben, wie aufgewühlt Devlin war, denn er verzichtete darauf, ihn weiter zu necken, was für Riordan ungewöhnlich war. Ein rascher Seitenblick verriet ihm, dass Devlin tief in Gedanken versunken war.
„Du warst über drei Monate fort“, sagte Riordan schließlich leise. „Schön, dass du wieder da bist.“
„Man hat mich mit Sicherheit vermisst“, entgegnete Devlin spöttisch und fügte hinzu: „Ich hatte was in Irland zu erledigen, und das dauerte länger als geplant.“
„Rhys hat sich Sorgen gemacht.“
„Ich bin schon ein großer Junge und kann auf mich selbst aufpassen.“
Riordan grunzte nur. „Vor ein paar Wochen wollte er mit uns feiern, weil bei seiner Frau die Niederkunft kurz bevorstand.“
„Das hatte ich ganz vergessen“, antwortete Devlin bedauernd. „Ich habe meine Eltern nach Irland begleitet. Sie hatten Sehnsucht nach der alten Heimat und wollten unsere Verwandten besuchen. Ist es ein Sohn oder eine Tochter geworden?“
Riordan lächelte. „Eine Tochter. Sie hat seine Augen.“
„Also hat er den anrüchigen Teil seiner Geschäfte aufgegeben und ist solide geworden?“
Sein Freund überlegte kurz, bevor er antwortete: „Die meiste Zeit verbringt Rhys in Derbyshire mit seiner Frau und den Kleinen. Ich missgönne ihm sein Familienglück nicht.“
Eine Frau … Kinder … Ein Traum, den viele Männer ihres Schlages hatten. Eine Familie, das bedeutete Hoffnung und Glück. Devlin wusste das, denn er war bei Eltern aufgewachsen, die ihr Bestes taten, um gut für ihren Sohn und die zwei Töchter zu sorgen. Zwar war ihr Magen so manchen Tag leer geblieben, und im bitterkalten Winter hatte es an Kohlen gemangelt, doch dafür hatte es Lachen und Liebe im Überfluss gegeben. „Ich auch nicht“, erwiderte Devlin mit schiefem Lächeln.
Riordan holte einen Stumpen aus der Tasche, steckte ihn an und zog daran. „Ich kann der Lauferei nichts abgewinnen. Wenn wir eine verdammte Mietdroschke genommen hätten, wären wir jetzt schon am Kasino.“
Devlin, der seinem Freund die aufdringliche Fragerei heimzahlen wollte, fragte: „Hast du schon um Grace Tremaynes Hand angehalten?“
Sein Freund kam aus dem Tritt und wäre fast gestolpert.
„Was sagst du da?“, fragte er und blickte Devlin entgeistert an.
Der hob nur eine Augenbraue. „Ich weiß doch, dass du hinter ihr her bist. Das kann doch jeder Idiot sehen.“
Riordan fuhr sich mit den Fingern durch sein schwarzes Haar. „Verdammt noch mal! Glaubst du, Rhys weiß es auch?“
„Er ist dein bester Freund. Warum sollte er etwas gegen eine Heirat zwischen dir und Grace haben?“
Riordan starrte ihn ungläubig an. „Sie ist seine kleine Schwester! Du weißt doch, dass er alles getan hat, damit seine Familie nicht mehr zum Abschaum gehört … Und ich bin Abschaum.“
Darauf wusste Devlin nichts zu entgegnen, und sie setzten schweigend ihren Weg fort. Riordan O’Malley war der Hauptinhaber des Asylum, einer der verruchtesten und bei der Londoner High Society beliebtesten Spielhöllen der Stadt. Rhys Tremayne, der jetzige Viscount Montrose, war ein Geschäftsmann, der auch unter der Hand mit Informationen handelte. Unter dem Spitznamen „der Makler“ hatte er Jahre damit verbracht, mit großem Geschick die Geheimnisse hoch und niedrig geborener Frauen und Männer aufzudecken und sie an den Meistbietenden zu verkaufen.
Devlin und Riordan waren zwei von Rhys’ Spitzeln gewesen, die sich in Seitengassen herumdrückten, Augen und Ohren offenhielten und das, was sie erfuhren, für ein paar Münzen Rhys zutrugen. Irgendwann waren die beiden Jungen eigene Wege gegangen, doch noch immer waren die drei eng befreundet.
Devlin fragte sich, ob Rhys einer Verbindung zwischen seiner Schwester Grace und Riordan wirklich so abgeneigt wäre.
Schwer zu sagen. Aber jetzt wusste er, warum sein Freund dem Mädchen aus dem Weg ging, es aber zugleich mit unverhohlenem Verlangen anstarrte.
Devlin zog an seinem Stumpen und blies eine Rauchwolke in den wolkenverhangenen nächtlichen Himmel. Er konnte gut nachempfinden, wie es war, sich endlos nach jemandem zu sehnen. Jahrelang hatte er selbst sich vorzustellen versucht, zu was für einer Art von Schönheit Fifi sich wohl entwickelt hatte.
Die Wirklichkeit übertraf bei Weitem seine kindischen Fantasien.
Was würde sie wohl jetzt von ihm denken? Von dem schwächlichen kleinen Jungen, den sie gekannt hatte, war er zu einem … ach, er wusste selbst nicht, was er war. Nur ein einfacher Mann mit einfachen Bedürfnissen, dessen eiserne Entschlossenheit die Bewunderung seiner Freunde erregte.
Der Mann, den meine Tochter einmal heiratet, wird reich, mächtig und von guter Herkunft sein.
Die alten Erinnerungen suchten Devlin wieder heim und machten ihm das Herz schwer. Mit zwölf Jahren hatte er sein kleines Bündel geschnürt und war nach London gegangen, um sich Arbeit zu suchen. Er hätte alles getan, um ein Mann zu werden, der gut genug für seine Fifi war.
Selbst die Tränen seiner Mutter konnten ihn nicht aufhalten, und trotz tiefer Sorgenfalten im Gesicht gab sein Vater ihm seine Zustimmung. Devlin brauchte nur wenige Tage in London, um festzustellen, dass er einem vergeblichen Traum nachgejagt war. Und bald lebte er mit einer Bande von Taschendieben auf der Straße und lernte von ihnen ihr kriminelles Handwerk. Jedes Gefühl von Stolz und Selbstachtung, das sein Vater ihm vermittelt hatte, war dahin.
Der Junge schämte sich dafür, war jedoch fest entschlossen, seinen Weg in der Welt zu machen. Wie sonst sollte er ein Mann werden, der Fifis würdig war? Die Versuchung, auf kriminelle Weise Geld zu machen, war unwiderstehlich. Dann lernte er Rhys Tremayne und Riordan O’Malley kennen, zwei Burschen, nur ein paar Jahre älter als er. Alle drei hatten dasselbe Ziel – sich aus tiefster Armut zu den Höhen des Erfolgs hinaufzukämpfen. Eine Freundschaft entstand, doch Devlin hatte immer wieder das Gefühl, als stünde er außerhalb des engen Bundes von Riordan und Rhys, die sich schon seit Jahren gekannt hatten, bevor er sie traf. Devlin war eher ein Beobachter ihrer Kameradschaft, der sich nur selten an ihren Neckereien und den Familientreffen beteiligte.
Rhys gab sich Mühe, ihn in die Freundschaft einzubinden, doch in seinem Streben danach, sich selbst zu verändern, verließ Devlin seine Freunde tage-, wochen- oder sogar monatelang, um sich umzusehen und mehr über die komplizierte Welt zu lernen, in der er lebte. Denn nur, wenn er sie verstand, konnte er sich einen Platz darin erobern.
Als er das einmal seiner Mutter erklärte, schaute sie ihn mit finsterer Miene an und sagte: „Leute wie wir gehören an ihren Platz. Aufs Feld, in die Docks, in die Kneipen, auf den Markt. Wenn du dich darüber hinauswagst, brechen sie deinen Stolz, zertrampeln deine Würde und töten deine Hoffnung. Du wirst zu Boden gehen, Niall, und niemand wird da sein, der dir wieder aufhilft.“
Sie wollte ihn davor bewahren, leichtsinnig nach Höherem zu streben, wohin er nicht gehörte.
Ihre Warnungen erinnerten ihn an die Worte von Fifis Vater, doch sie spornten ihn nur an, sich noch mehr anzustrengen. Also nahm er jede Arbeit an, sparte sein Geld und übte sich im Lesen, indem er jeden Papierschnipsel entzifferte, den jemand weggeworfen hatte.
Devlin war hungrig gewesen, und er hatte seinen Hunger gestillt.
Jetzt besaß er mehr Geld, als er je im Leben ausgeben konnte. Von dem Verhältnis zwischen Geld und Macht verstand er genug, um es wenn nötig zu seinem Vorteil zu nutzen. Eine gute Bildung jedoch würde ihm für immer versagt bleiben. Mit sechzehn hatte Devlin sich angewöhnt, die zahlreichen Spielkasinos zu besuchen, um alles über das Glücksspiel zu erfahren. Er lernte, Risiken einzuschätzen und seine Gefühle und Reaktionen zu beherrschen, um keine vermeidbaren Fehler zu machen.
Mit achtzehn hatte sich Devlin einen Ruf in der Welt des Glücksspiels erworben, denn er verlor nie. Er wählte den Spieltisch mit Umsicht und Sorgfalt, und niemand konnte ihn zu übereiltem Handeln verleiten. Die anderen Spieler ärgerten sich schwarz, wenn er in ihre Clubs kam und ihnen ihr Geld abgewann, ihre Gutshöfe und Ländereien und einmal sogar Eigentumsanteile an einem Hotel. Er wusste nun auch, dass sich sogar mit Boxkämpfen und Kapitalanlagen Geld verdienen ließ.
Und noch immer hatte er nicht genug.
Devlin ließ nicht locker, bis er ein Vermögen angehäuft hatte, das sich mit dem der meisten Lords messen konnte. Durch Erfahrung hatte er gelernt, gerissen und skrupellos zu sein und ein Mann, der seinen Besitz zusammenzuhalten wusste.
Denn ein Vermögen zu machen, war verdammt schwer gewesen … es zu behalten noch schwerer. Jetzt, mit siebenundzwanzig, hätte er eigentlich zufrieden sein können. Doch er verspürte eine innere Unruhe und stand so manche Nacht, Conan an seiner Seite, im Dunkeln am offenen Fenster und betrachtete schweigend die Schönheit des nächtlichen Himmels.
Ihm war, als ließe er sich einfach durchs Leben treiben, ohne wirklich zu leben.
Verdrossen fuhr Devlin sich mit der Hand über das Gesicht. Er wusste einfach nicht, warum er so unzufrieden war, und was ihm noch fehlte.
Fifi.
Er brauchte nur ihren Namen zu denken, und schon zog die Rastlosigkeit ihre spitzen Klauen ein, und er fand ein wenig Frieden. Ein Gefühl, das er nicht deuten konnte, fuhr wie eine scharfe Sichel durch sein Herz. Devlin blieb zögernd stehen, während Riordan in Gedanken versunken seinen Weg zum Spielkasino fortsetzte. Devlin drehte sich um und schaute die menschenleere Straße entlang. Ein Windstoß wirbelte ein weggeworfenes Zeitungsblatt in die Luft, das gleich darauf unter einer Straßenlaterne zu Boden flatterte.
Was soll ich tun, jetzt, da ich dich gefunden habe?