Kapitel 1
Solange sich Amanda ihrer zweiunddreißig Jahre erinnern konnte, hatte ihre Mutter ihr aufgetragen, aufzupassen, wo sie hintrat. Nicht, dass Amanda besonders ungeschickt gewesen wäre – ausgenommen der Sommer ihres zwölften Geburtstages, als sie im Laufe weniger Wochen mehrere Zentimeter gewachsen war und sowohl der Schneider als auch der Tanzlehrer die Hände vor Verzweiflung ob ihrer Unbeholfenheit über dem Kopf zusammenschlugen.
Nein, die Unbeholfenheit, um die sich Mama sorgte, betraf vor allem ihr Verhalten in der Gesellschaft. Verhielt sich Amanda angemessen? Sagte sie das Richtige zu den richtigen Leuten? Erregte sie weder zu viel noch zu wenig Aufmerksamkeit? Für den Geschmack ihrer Mutter war Amanda stets etwas zu neugierig, etwas zu gewagt.
Es war zu hoffen gewesen – zumindest hatte Amanda dies –, dass ihre Mutter sich entspannen würde, als ihr, im Alter von neunzehn, der heißbegehrte Antrag des Earls von Kingston gemacht wurde, welchen sie annahm. Wenn nicht dann, sicher sobald die Gelübde in St. George’s vor Hunderten Gästen ausgetauscht wurden. Oder sobald der notwendige Erbe sowie ein weiterer Sohn geboren waren.
Aber tatsächlich hatte Mama es nie erlaubt, dass der Rat in Vergessenheit geriet, sie konnte ihn bald wieder anwenden, als Amanda sich in der Position einer jungen, höchst begehrenswerten Witwe wiederfand.
Obwohl sie ihre Mutter liebte, war es ihr zuwider, gesagt zu bekommen, sie solle auf sich aufpassen.
Für immer auf ihre Schritte zu achten, bedeutete doch nur, sich mehr um die Gedanken anderer, denn die eigenen zu machen. Sich selbst kleinzureden, besorgt darüber, Platz zu vergeuden. Immer den Blick zu senken, anstatt aufzublicken.
Doch wenn die wundervolle Junisonne am blauen Himmel schien, welcher gepunktet war von weißen Wölkchen, so groß und fröhlich, als seien sie von einem begeisterten Fünfjährigen auf die Leinwand gepinselt worden, wer könnte dann an einem solchen Tag nicht nach oben schauen?
Ungeachtet des Potenzials für Klatsch und Tratsch oder Sommersprossen, wandte Amanda ihr Gesicht dem Sonnenschein zu, genoss die Wärme und beobachtete die rosa eingefärbte Quadrille, welche Licht und Schatten über ihre Augenlider tanzen ließ. Die Geräusche und Düfte der Bond Street strömten über und um sie wie ein reißender Fluss über unbeweglichen Stein. Ihr Päckchen – eine Ausgabe von Pascals Abhandlung über Geometrie im französischen Original – mit einer der scharfen Ecke gegen ihre Rippen an sich gepresst, tat sie einen tiefen Atemzug und …
Ein heftiger Stoß gegen ihre linke Schulter und ihren Ellbogen katapultierte sie aus ihrem entrückten Moment. Ihr Kinn klappte nach unten und sie riss die Augen weit auf, als sie das in Papier eingeschlagene Buch aus ihren Händen fliegen sah. Bevor sie den Mann, der sie angerempelt hatte, recht erfassen konnte, war er bereits in der Menge verschwunden.
Der Diener, der sie auf ihrem Ausgang begleitet hatte – auf Anweisung ihrer Mutter, da Amanda die Meinung vertrat, eine Witwe könne sicherlich alleine die Buchhandlung besuchen –, hatte bisher einen respektvollen Abstand zu ihr eingehalten. Nun stürzte er heran und wäre auf Verfolgungsjagd gegangen, hätte Amanda ihn nicht mit zitternden Bewegungen angewiesen, das Päckchen zu retten, welches einige Meter weit entfernt auf den Gehweg geschleudert worden war. Das Buch, welches sie für Jamies Geburtstag besorgt hatte, lief jeden Moment Gefahr, von unaufmerksamen Füßen in den Dreck getreten zu werden.
Kurz bevor es durch einen dampfenden Haufen, welcher von einem Zugpferd hinterlassen worden war, ein unehrenhaftes Ende gefunden hätte, konnte der Diener das Päckchen schnappen. Im nächsten Moment war es wieder in ihren geschickten Händen, das Papier etwas versehrt und angerissen, doch die Schleife noch intakt. Kein richtiger Schaden war entstanden. „Danke, Lewis. Ich danke Ihnen.“ Einmal mehr drückte sie das Buch an ihre Brust, ungeachtet des dazugekommenen Schmutzes.
„Mir tut es nur leid, dass ich den Burschen nicht erwischt habe, der Euch so respektlos behandelt hat, Mylady.“ Zorn und Scham ließen sein junges Gesicht bis zum Rand seiner gepuderten Perücke erröten, was leider nicht gerade mit seiner rostroten Livree harmonierte. „Mrs West wird mir die Ohren langziehen.“
Ihre Augen wanderten in die Richtung, in welche der Fremde gegangen war, aber natürlich war er lange schon außer Sichtweite. Sie hatte nicht mehr als einen kurzen Blick auf ihn werfen können, nur die Rückseite seines tristen farblosen Mantels und hohen Hutes, eine Aufmachung, die identisch mit derer Dutzender Gentlemen, welche auf der Straße auf und ab spazierten, war.
„Ich bin sicher, es war ein Unfall, Lewis. Ich hätte nicht inmitten des regen Treibens anhalten sollen.“ Die Menge wogte um sie herum, den Vorfall ignorierend. „Dennoch denke ich, es ist das Beste, wenn meine Mutter nichts hiervon erfährt. Nun.“ Sie deutete in die entgegengesetzte Richtung. „Machen wir uns auf den Weg nach Bartlett House?“
Lewis blickte auf das Päckchen. Hätte er es getragen, wie es seine Pflicht gewesen wäre, hätte der Fremde es nicht einfach so aus seinen Händen schlagen können. Aber Amanda hatte es ihn nicht nehmen lassen, als sie damit aus dem Laden getreten war, und sie antwortete nicht auf die Wiederholung dieses Angebots. Er verneigte sich. „Wie Ihr wünscht, Mylady.“
Die Menge dünnte sich aus, je weiter sie sich von der Bond Street entfernten und doch waren die Straßen von Mayfair nicht leer. Ruhig genug, um einzelne Vogelstimmen aus den hohen Bäumen zu vernehmen. Dann und wann war die Luft erfüllt von fröhlichen Kinderstimmen, welche kaum in den Zimmern zu halten waren, deren Fenster aufgrund der frischen Morgenluft weit geöffnet waren. Mit einem Gefühl von Reue bewegte Amanda ihre schmerzende Schulter, verlangsamte ihre Schritte, doch hielt sie nicht wieder an. Sie hatte ein wenig die Lust daran verloren, sich im Sonnenschein zu baden. Vielleicht später, in der Sicherheit ihres Gartens von Bartlett House, während die Jungen ihre Beobachtungen zu ihrem Bienen-Projekt machen würden. Aber erst hatte sie vor, sich mit der Haushälterin wegen der Menüs der Woche zu treffen, sollte Mama dies nicht schon getan haben. Anschließend hatte sie einige Einladungen, auf welche sie antworten wollte, sollte Mama dies nicht schon in ihrem Namen getan haben. Und natürlich hatte George, Lord Dulsworthy, für heute seinen Besuch angekündigt und Mama war darüber, wie vorherzusehen, entzückt …
Ein unterdrücktes Seufzen senkte ihre Schultern noch ein wenig weiter herunter. Wie war es so weit gekommen?
Als sie Bartlett House erreichten, hielt sie einen Moment inne und sammelte sich, während Lewis bereits die Stufen erklomm. Er hielt ihr die Tür auf, während sie hinaufging, den Blick auf ihre Zehen in den braunen Lederstiefeln gerichtet, welche bei jedem Schritt unter ihren Röcken hervorblitzten.
Drinnen war alles still – beunruhigend, wenn man bedachte, dass zwei junge Burschen im Haus waren.
Matthews, der Butler, trat mit einem vorwurfsvollen Blick auf Lewis an sie heran und hob ihr eine Hand entgegen, um das Päckchen in Empfang zu nehmen. Doch bevor er sie überhaupt erreichte, fiel die Hand wieder an seine Seite und seine Bewegung wandelte sich zu einer Verbeugung. Lewis musste ihm, ob durch angedeutete Worte oder Gesten, bedeutet haben, dass dies nicht willkommen sein würde.
„Mrs West klingelte vor nicht ganz einer Viertelstunde nach ihrem morgendlichen Kakao, Mylady“, berichtete Matthews. Mama hatte ausgeschlafen? Gut.
„Und die Jungen?“
„Im Salon mit dem Fechtmeister, Mylady.“
„Oh? Ist heute … Dienstag?“
Dem Butler entschlüpfte beinahe ein Lächeln. „Nein, Mylady. Als Mr Jacobs hier eintraf, deutete er an, Lord Dulsworthy habe diese Veränderung veranlasst.“
Ah. Nicht, dass sie es George übel nahm, dass er etwas bei der Erziehung ihrer Söhne zu sagen hatte. Das Testament ihres Ehemannes hatte sie immerhin beide zu Vormunden ihrer Söhne ernannt. Und in den ersten Monaten ihres Witwendaseins war sie dankbar gewesen, einen Freund in Lord Dulsworthy zu haben, an den sie sich wenden konnte, wenn sich unvermeidbare Fragen auftaten. Dankbar auch für ihre Mutter, die nach Bartlett House gekommen war und das Kommando übernommen hatte, sodass sich Amanda ganz um ihre trauernden Jungen kümmern konnte.
Aber Monate waren zu Jahren geworden. Beinahe drei schon. Und obwohl die Countess von Kingston sich wunderbar selbst um alles kümmern konnte, schienen dies die Leute mit der Zeit vergessen zu haben.
Einschließlich Amanda selbst.
„Erwähnte Mr Jacobs, wesha-?“ Sie unterbrach ihre Frage, doch würde sie sie später erneut stellen. Und zwar Mr Jacobs selbst, oder George, wenn er seinen Besuch machte. „Danke, Matthews. Bitten Sie Mrs Hepplewythe zu mir in den Salon.“
Wenn Mama spät aufgestanden war, waren die Menüs für diese Woche noch nicht entschieden und Amanda könnte endlich eine Woche ohne –
„Aber sicher, Mylady. Sobald sie von dem Treffen mit Mrs West zurückkehrt.“ Obwohl sie versucht war, sog Amanda weder scharf Luft ein, noch schnitt sie eine Grimasse, noch schüttelte sie den Kopf. Wie ihre Mutter sie oft erinnerte, bemerkte die Dienerschaft alles und wusste noch viel mehr, weshalb sie in deren Nähe am meisten auf ihre Schritte achten musste.
Manches Mal fragte sie sich, ob sie nicht besser daran täte, ab und an ein wenig von ihrer Frustration zu zeigen.
Sie nickte Matthews zu und erklomm die Treppen zu ihren eigenen Räumen auf der Rückseite des Hauses. Sie durchquerte ihr Schlafzimmer mit seinen fröhlichen, gelben Vorhängen und geblümten Wänden, ließ ihren Umhang, ihre Haube und die Handschuhe im Ankleideraum fallen; und kam zu guter Letzt in ihren kleinen Salon, der zur Hälfte von einem samtenen Diwan, einem gut gepolsterten Stuhl, dem ein Tisch mit Marmorplatte zur Seite stand und ihrem Sekretär gefüllt war. An diesem eleganten Schreibtisch, der zwischen zwei Fenstern, welche den Garten überblickten, positioniert war, setzte sie sich.
Der überschaubare Stapel Einladungen lag immer noch in der Mitte des Tisches. Wenigstens hatte Mama sich nicht die Freiheit genommen zu antworten – noch nicht. Nichtsdestotrotz hatte sie ihre Meinung kundgetan, dass es nötig sei, alle abzulehnen.
Aber warum sollte Amanda ihre sozialen Kontakte weiter einschränken? Sie trug nicht länger Trauer. Sicherlich dachte niemand, es sei ungebührlich für sie, einen Abend mit den Hursts im Theater zu verbringen?
Diesmal entwich ihr ein Seufzen, doch die Stille des Raumes verschluckte es sogleich.
James Bartlett, der verstorbene Earl von Kingston, war zwanzig Jahre älter als sie und ein ruhiger Gentleman mit einer Vorliebe für Bücher und Abneigung gegen Frivolitäten gewesen. Und obwohl er vor bereits drei Jahren verschieden war, hatte Amanda noch nicht die Möglichkeit gehabt, die sogenannten Freiheiten einer Witwe ihrer Stellung zu entdecken. Denn nun war es Mama, welche die Post durchging. Und Mama hatte entschieden, dass die einzige Einladung, die anzunehmen angemessen war, die war, welche zuoberst gelegen hatte: die Einladung zu Lord Dulsworthys Ball. Denn George war sowohl ein alter Freund als auch der Vormund der Jungen. Weil er sich immer äußerst angemessen verhielt. Weil allgemein bekannt war, dass er beabsichtigte, Amanda eines Tages zu –
Genug davon.
Sie legte das Päckchen aus dem Buchladen auf die Einladung und drückte es sanft nach unten, als könnte es die gefaltete Nachricht zerdrücken. Sie dachte lieber über den Schatz nach, den sie gefunden hatte und über das Leuchten in Jamies Augen, wenn er ihn entdecken würde.
Doch der Blick auf das Päckchen brachte die Erinnerung an den heftigen Zusammenstoß mit dem Fremden zurück. Sie konnte das Buch aus ihren Fingern gleiten sehen, wie es durch die Luft flog und zwischen den Füßen der Menge verloren ging. Mit einem Gefühl von Unbehagen fuhren ihre Finger an den Rissen im Papier und dem ausgefransten Band, mit welchem das Paket verschnürt war, entlang. Hatte der Sturz wohl den Einband des Buches beschädigt?
Es gab nur einen Weg, dies herauszufinden. Sie suchte nach ihrem Brieföffner, durchtrennte damit die Verschnürung und entfernte das braune Papier, welches ein kleines, in grünes Leder gebundenes Buch enthüllte.
Vor ihrem inneren Auge tauchten die dünnen, tintenbefleckten Finger des Verkäufers auf, der ihr die schmale Ausgabe überreicht hatte. Aber war der Einband des Buches, das er ihr gereicht hatte, nicht blau gewesen …?
Sie ertappte sich dabei, wie sie die Luft anhielt, während sie den grünen Einband anhob. Konnte sie sich getäuscht haben? Einen Moment lang, während sie durch die Seiten blätterte, fühlte sie sich durch das, was sie sah, bestätigt.
Französische Worte. Zahlen.
Aber während die Seiten vorbeiflogen, gefächert zwischen ihrem Daumen und ihren Fingern, entdeckte sie mehr und mehr, das nicht in eine mathematische Abhandlung gehörte.
Dies war … nun, dies war ein … ein Kochbuch? Gefüllt mit Rezepten für aufwendige Gerichte, so schien es, obwohl ihr Wissen über das Backen ausschließlich von der verzehrenden Seite der Dinge rührte. Die Küche war ein weiterer Ort, in welchen eine Dame ihrer Stellung keinen Fuß setzte, laut ihrer Mutter.
Die Haushälterin ist deine Vermittlerin zwischen dir und den niederen Bediensteten, Liebes; sie muss zu dir kommen.
„Oh, verflixt.“ Scheinbar hatte der Angestellte das falsche Buch eingepackt oder ihr das Päckchen eines anderen Kunden gegeben. Nun würde sie einen weiteren Ausflug in den Laden machen müssen, um die Dinge richtigzustellen und zwar so schnell wie möglich. Was, wenn sie inzwischen den Pascal versehentlich an jemand anderen verkauft hatten? „Oh –“ Ein stärkeres Wort kam ihr in den Sinn, doch selbst in der Sicherheit ihrer eigenen Räumlichkeiten unterdrückte sie es aus Gewohnheit. „Verflixt“, rief sie erneut aus, diesmal jedoch leidenschaftlicher.
„Mama, Mama! Du musst kommen und uns zusehen! Mr Jacobs sagt, ich bin ein – ein –“ Philip war bereits zur Hälfte im Raum, hereingestürzt irgendwann zwischen dem ersten und dem zweiten verflixt, und schlängelte sich zwischen dem Stuhl und dem kleinen Tisch hindurch, dessen feine Platte sich gefährlich drehte. Sie wandte sich ihm zu, froh über sowohl die Ablenkung als auch die Energie, die er ausstrahlte.
„Naturtalent“, ergänzte sein älterer Bruder, einen Schritt hinter ihm und warf sein dunkles Haar mit einer schnellen Kopfbewegung nach hinten. „Aber ich würde es an deiner Stelle nicht als so ein Kompliment sehen, Pip. Onkel George bezahlt ihn, weißt du.“
Kräftiger und fast so groß wie Jamie, trotz seiner zwei Jahre, die er jünger war, sah Philip überraschend beeindruckend aus, als er seine Schultern streckte und seine Arme vor der Brust überkreuzte. Schweißperlen standen auf seinem runden, geröteten Gesicht und befeuchteten seine blonden Haare. „Vielleicht ist das so“, gab er zurück, während er seinen Bruder anvisierte. „Trotzdem habe ich dir deinen Degen aus der Hand geschlagen, oder nicht? Zweimal.“
„Jungs!“ Amandas Mutter schwebte als Nächstes in den Raum, in einem hellblauen Morgenkleid, ein hauchdünnes Tuch um ihre Schultern. Dank des kunstvollen Arrangements ihres Mädchens schien ihr Haar immer noch mehr blond als grau. „Was habe ich euch über das Hereinplatzen in die Räume eurer Mama gesagt? Du und dein Bruder seid junge Gentlemen, und Gentlemen unterbrechen nie die notwendige Ruhezeit einer Dame.“
„Oh, pfff, Großmama.“ Philip tat den Einwand mit einer Handbewegung ab, während Amanda vermutete, dass er nicht die leiseste Ahnung hatte, was Ruhezeit war. „Mama mag ein bisschen Lärm von Zeit zu Zeit, stimmt doch?“, insistierte er und wandte sich zu ihr.
Ja, wollte sie aufschreien. Ja. Während der Monate der Krankheit ihres verstorbenen Ehemannes, und während der Trauerzeit, die folgte, war sie eingehüllt in eine Welt von Leid und Trauer gewesen. Selbst jetzt versuchte ihre Mutter noch, sie in Watte zu packen. Sie war der Stille in Bartlett House beinahe so überdrüssig, wie sie es leid war, auf jeden ihrer Schritte zu achten, wenn sie es verließ.
Doch die Antwort blieb ihr, aufgrund ihres ältesten Sohns Jamie, dem elfjährigen Earl von Kingston, erspart. Ein Schatten von Sorge lag auf seinen zarten Zügen und seinem blassen Gesicht. „Sorgst du dich wegen etwas, Mama?“
Er sprach leise, seine Stimme fast unhörbar zwischen Philips Geschrei, der vor seiner Großmutter mit seinen Fechterfolgen angab.
Amanda konnte nicht widerstehen, ihm die dunkle Haartolle aus den Augen zu kämmen, obwohl er inzwischen alt genug war, um diese Geste lästig zu finden. „Wieso fragst du, Liebling?“
„Du sagtest ‚oh, verflixt‘, als wir hereinkamen. Ist etwas passiert?“ Schon vor der Erkrankung seines Vaters war Jamie die Art von Junge gewesen, die immer vom Schlimmsten ausging. „Du kommst doch, Mama, nicht?“, warf Philip ein. „Ich will, dass du siehst, wie ich ihn noch mal erwische.“
„Sprich nicht so, Philip“ ermahnte ihn seine Großmutter. „Und sag nicht ‚ihn erwischen‘“, ergänzte Amanda. „Und du, mach dir keine Sorgen, Jamie.“ Sie wandte sich wieder ihrem ältesten Sohn zu, während sie das braune Papier, das Band und das Buch, gemeinsam mit den Einladungen, auf welchen es gelegen hatte, in die flache Schublade ihres Schreibtisches verfrachtete. „Ich sorge mich um nichts. Und ihr solltet das auch nicht.“
„Ich würde warten“, sagte Philip, „bis du ihn fechten siehst. Was soll aus ihm werden, wenn er alt genug ist, um herausgefordert zu werden?“
„Sei gnädig, Philip.“ Amanda vermied den Blick ihrer Mutter, während sie ein Lachen unterdrückte. „Warum sollte jemand deinen Bruder zu einem Duell herausfordern?“
Philip überlegte einen Moment, bevor er leichthin antwortete. „Oh, das Übliche eben. Beim Spielen betrügen, Ärger mit einem Rock oder –“
„Das reicht, junger Mann“, sagte ihre Großmutter und schob Philip aus dem Zimmer. Jamie zuckte mit den Schultern und folgte ihnen. Auf der Türschwelle wandte sich Amanda zu ihrem Schreibtisch zurück. Die Angelegenheit des Buches würde bis später warten müssen.
Sehr viel später.
Die nächste Stunde wurde dem Fechten im Salon gewidmet, bei welchem Philip jeden Treffer bejubelte. Trotz der Sticheleien seines Bruders war Jamie kein gänzlich hoffnungsloser Fall, obwohl Mr Jacobs mehr an Fechtposen interessiert schien, als den Jungen tatsächlich etwas beizubringen. Amanda dachte daran, dies Lord Dulsworthy gegenüber zu erwähnen. Es folgte das Mittagessen: „Du isst nie die Rüben in Sahnesoße, Liebes.“ Mama beobachtete sie mit übertriebener Sorge. „Ich verstehe nicht, warum, da ich Mrs Trout speziell darum bitte, sie für dich zuzubereiten.“ Anschließend erklärten die Jungen, es sei der perfekte Zeitpunkt, die Bienen bei ihrer Arbeit an den Frühlingsblumen zu beobachten, obwohl es wohl keine Übertreibung sein würde, die Sonne um drei Uhr als heiß zu bezeichnen.
Ein leichter Kopfschmerz begann, sich hinter ihren Augen zu formen, bevor sie ins Haus zurückkehrten, wo sie George, Lord Dulsworthy, vorfanden, der in der Eingangshalle mit einem Fremden stritt.
Obwohl, nein. Ein Streit hätte einen Grad von Leidenschaft impliziert, den George, egal unter welchen Umständen, höchst unangebracht gefunden hätte. Erzürnt murmelte er also vor sich hin, seine Bemerkung meist eher an Lewis gerichtet, denn an den Fremden, der etwas abseits der Auseinandersetzung stand. Nach dem hellen Licht des Gartens wirkte das Haus düster und sie musste einige Male blinzeln, bevor sie den Gentleman – groß, schlank und braunhaarig – erkennen konnte. Oder war er kein Gentleman?
„– lassen einen Händler einfach zur Vordertür herein?“ Lord Dulsworthy schalt den Diener.
Sollten der Schnitt und die Art der Kleidung des Fremden kein ausreichender Beweis seiner Stellung gewesen sein, so war es das kleine, in braunes Papier gewickelte Päckchen, das er bei sich hatte.
Und doch war etwas an seiner Haltung, das sie an Georges Einschätzung des Mannes zweifeln ließ.
„Nun, man sollte Matthews diese Angelegenheit melden“, sprach George weiter, und für einen kurzen Moment fragte sich Amanda, ob er es wagen würde, ihre Dienerschaft zu befehligen. Wenn er es nicht tun würde, würde es ihre Mutter, zweifellos.
„Mylord.“ Sie schickte die Jungen, mit einer Hand weisend, in Richtung Bibliothek, während sie näher an die Unterhaltung trat. George, Lewis und der Fremde wandten sich alle zu ihr um, und mit einem Blick über die Schulter sah sie, dass Jamie und Philip ihrer Weisung gefolgt waren. Die beiden verschwanden gerade durch die Tür der Bibliothek, Philip etwas hastig, als würde Jamie ihn am Arm hereinziehen.
Obwohl sie George angesprochen hatte, sprach der Fremde zuerst. „Lady Kingston?“ Er hatte nicht gerade die ehrfürchtigen Manieren eines Händlers inne. Als sie ihm zunickte, verbeugte er sich und hielt ihr das Päckchen entgegen, das er bei sich hatte. „Ich glaube, dies ist die Ausgabe, die Sie heute Morgen in Porter’s Buchhandlung erworben haben? Wie Sie vielleicht bereits bemerkt haben, wurde Ihnen ein Buch übergeben, welches für jemand anderen zurückgelegt war.“
„Es ist mir bereits aufgefallen, ja.“ Sie nahm das Buch entgegen, obwohl sowohl George als auch Lewis schon danach griffen. „Ich danke Ihnen.“
Das antwortende Senken seines Kopfes war nicht die Geste eines einfachen Ladenangestellten. Oder eines Laufburschen. Nein, für einen Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren, mit breiten Schultern und dem Auftreten eines Mannes von Welt, war die Bezeichnung Bursche wirklich höchst fehl am Platz.
Nichtsdestotrotz hatte Lord Dulsworthy es eilig, ihn als solchen abzutun. „Nun. Sie haben erledigt, weshalb Sie hierherkamen, nicht wahr? Dann machen Sie sich mal wieder auf den Weg.“ Seine Hand noch immer erhoben, bedeutete er Lewis, die Tür zu öffnen. Der Fremde bewegte sich kein Stück. Tatsächlich zeigte er keine Anzeichen, George überhaupt gehört zu haben. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht“, sagte er zu ihr, „würde ich das andere Buch gleich mitnehmen.“
„Lewis wird es Ihnen zurückbringen“, sagte Lord Dulsworthy, ein Befehl, den der Diener glücklicherweise nicht auf der Stelle ausführte. Als ihr Blick die Treppen hinaufwanderte, bemerkte sie, dass die dunklen Augen des Fremden jeder ihrer Bewegungen folgten. Sie dachte an das Päckchen, welches in ihrem Sekretär verstaut war, einem Ort, in dem keiner ihrer Dienerschaft herumschnüffeln sollte. „Ich nehme an, ich könnte es sel-“ Lord Dulsworthy unterbrach sie erneut. „Lady Kingston ist zu wohlerzogen, um Ihnen zu erklären, dass Ihre Bitte im Moment höchst ungelegen kommt. Sie hat bereits eine Verabredung zu einer Kutschfahrt. Mit mir. Wie Sie sehen, war sie gerade im Aufbruch.“
Nun veränderte der Fremde seinen Blick und studierte sie, wenn auch kurz, doch ein wenig beunruhigend. Sie trug immer noch ihre grobe Schürze über ihrem Morgenkleid. An ihrer Seite schwang ein Strohhut an den Bändern – ein Zugeständnis an ihre Mutter, die fürchtete, die Sonne würde sie ungebührlich bräunen. Die breite Krempe war allerdings des Öfteren ein Hindernis bei der Beobachtung der Jungen und so hatte sie ihn immer wieder abgenommen und wieder aufgesetzt, sodass ihre Haare völlig durcheinander sein mussten. Tatsächlich konnte sie einige lose Strähnen in ihrem feuchten Nacken spüren.
Niemand, nicht einmal ein Handelsmann, könnte sie für eine Dame halten, die bereit war, sich eine oder zwei Stunden unter den feinen Damen im Hyde Park aufzuhalten. Er vermutete sicher schon, dass George versuchte, ihn loszuwerden.
Ihre Wangen, noch immer von der Wärme des Gartens gerötet, nahmen noch mehr Farbe an. Doch der Fremde lächelte nur schmal und nickte zustimmend. „Vergeben Sie mir. Wären Sie so freundlich und teilten mir mit, wann ich es abholen dürfte?“
„Ihr Mädchen wird es in den Laden zurückbringen“, verkündete Lord Dulsworthy, nun die Hand erhebend, um dem Fremden die Schulter zu tätscheln und ihn in Richtung Tür zu bugsieren.
Der Mann bewegte sich nur zögerlich, nicht aus Georges Griff, aber genug, dass George sein Gesicht sehen konnte, welches einen anderen Zug angenommen hatte … Amanda konnte nicht ganz entscheiden, wie sie seinen Ausdruck hätte beschreiben sollen, doch sie entschied sich für streng. George senkte den Arm. „Das Buch, welches Lady Kingston besitzt, ist äußerst selten, Sir“, erklärte der Mann in einem kalten Ton. „Und ein anderer Kunde erwartet es dringend. Ich muss darauf bestehen, es selbst abzuholen.“ Er wandte sich wieder ihr zu, griff in seine Brusttasche und holte eine Karte hervor, die er ihr reichte. „Eine Nachricht an diese Adresse wird mich immer erreichen, Lady Kingston.“
Sein kantiges Kinn spannte sich und seine dunklen Augen wurden ein wenig schmaler. Intensiv war vielleicht ein besseres Wort als streng, um sein Verhalten zu erfassen, aber in jedem Fall lief es ihr eiskalt den Rücken herunter. All das wegen eines Rezeptbuches?
Ungeschickt verlagerte sie das Päckchen unter ihrem Arm, um die Hand freizubekommen. Einmal mehr sah sie aus dem Augenwinkel, wie Georges Hand zuckte, als sei er versucht, die Karte aus den Fingern des Fremden zu reißen. Aber die Karte war sicher in ihren Händen, bevor er eine weitere Bewegung machen konnte. Auf dem kleinen Stück rechteckigen Papiers trafen sich sein fein manikürter Daumen und ihr wesentlich verschmutzterer. Wie der breitkrempige Hut waren auch Handschuhe während wissenschaftlichem Streben ein Hindernis. Ein wenig peinlich berührt, murmelte sie etwas, nahm die Karte und steckte sie zwischen die Bänder des Päckchens. „Ich danke Ihnen. Ich werde mich bald bei Ihnen melden.“
„Ich erwarte Ihre Nachricht, Lady Kingston.“ Er verbeugte sich erneut, machte kehrt und war verschwunden.
Beinahe bevor die Tür geschlossen war, sicher, bevor sie einen Atemzug tun könnte, stürmten die Jungen in die Halle und ihre Fragen hallten von den Wänden wider: „Welches Buch, Mama? Wer war dieser Mann? Darf ich das Paket öffnen?“ Während die beiden darum stritten, wer die Ehre des Öffnens haben würde, fiel George mit seiner tiefen Stimme in die Missklänge im Raum ein und rügte Lewis. Amanda überraschte es, dass weder Matthews noch ihre Mutter hereinstürzten, um alle zum Schweigen zu ermahnen.
Aber niemand kam. Es schien nicht einmal, dass jemand es bemerkte, als sie sagte: „Ich bringe das einmal nach oben, ja? Und mache mich frisch. Es dauert nur einen Moment.“
Die stabile Tür ihres Schlafzimmers hätte die gewohnte Stille bringen sollen, doch selbst jetzt schwirrte ihr der Kopf. Der ungewöhnliche Radau in der Eingangshalle hatte ihre Ohren zum Klingen gebracht. Oder vielleicht war sie zu lange in der Sonne gewesen. Wie auch immer, ihre Nerven summten und klirrten wie ein schlecht gestimmtes Pianoforte.
Aus Gewohnheit griff sie nach der Klingel, um nach ihrem Mädchen zu rufen. Mit ihrer anderen Hand drückte sie das Buch und ihren Hut, nun etwas derangiert, an sich. Ihre Brust hob und senkte sich, anstrengt von dem Gang die Treppe hinauf. Eine Ecke des Buches presste gegen ihre Rippen, seine Schärfe eine Erinnerung an den Zusammenstoß am Morgen. Sie blickte hinunter auf das Päckchen, das Papier, das Band und die Karte, auf der keinerlei Schrift zu sehen war. Sie dachte an den gut aussehenden Fremden. Sie ließ das seidene Band, welches mit der Klingel verbunden war, durch ihre Finger gleiten, ohne daran zu ziehen.
Stattdessen warf sie ihren Hut mit einer schnellen Bewegung auf ihren Ankleidetisch und trat an ihr Bett heran. Auf der elfenbeinfarbenen Seide, die mit zarten Stickereien von gelben und rosafarbenen Rosen und grünen Ranken verziert war, wirkten das raue braune Papier und das Band fehl am Platz. Sie zog die Karte hervor und legte sie ohne einen weiteren Blick beiseite. Nichts war geheimnisvoll, interessant oder aufregend daran gewesen, dass sie heute Morgen das falsche Buch erhalten hatte. Nichts faszinierend an dem Mann, welcher das richtige geliefert hatte.
Dennoch ertappte sie sich dabei, wie sie den Atem anhielt, während sie die Schleife löste, das Papier entfernte und es tatsächlich das freigab, was sie schon beim ersten Mal erwartet hatte: eine Ausgabe von Pascals De l’Esprit géométrique, gebunden in blaues Leder.
Hätte sie etwas wie Enttäuschung empfunden, so verbarg sie es und wickelte das Buch geschickt wieder in das Papier.
Jamie würde sich freuen. Morgen würde sie eine Nachricht an – an –
Es kostete sie mehr Überwindung, als es sollte, die Karte von ihrem Bettüberwurf aufzunehmen. Um Himmels willen. Warum machte sie aus einer Mücke einen Elefanten? Es wurden jeden Tag Fehler gemacht. Sicherlich stellten die Geschäfte Gentleman an, um solche Dinge wieder geradezubiegen. Er hatte gesagt, das Rezeptbuch sei wertvoll. Ein Grund mehr, dafür zu sorgen, dass die Aufgabe, es zurückzubringen, einer vertrauenswürdigeren Person als einem gewöhnlichen Bediensteten überlassen wurde. Nur weil die heutigen Ereignisse ungewöhnlich gewesen waren, ein wenig Farbe in ihr langweiliges, ruhiges Leben gebracht hatten, bedeutete das weder, dass der Tausch noch der Mann tatsächlich interessant waren …
Als sie die Karte durch ihre Finger gleiten ließ, verfing sich eine Ecke an einer der gestickten Rosen und löste ein paar Zentimeter des hellrosafarbenen seidenen Fadens. Abwesend strich sie über das Missgeschick, während sie die Karte wendete und überlegte, wie der Mann wohl hieß.
Aber sie fand auf der Karte keinen Namen und ihr Herzschlag beschleunigte sich wieder trotz ihrer Absicht, Ruhe zu bewahren.
Die Hälfte des cremeweißen Rechtecks wurde von dem Bild eines schwarz-weißen Vogels eingenommen. Er hatte einen langen Federschwanz und spitzen Schnabel. Und nebenbei, gehörte die Adresse nicht zu Porter’s Buchhandlung.
Achte auf deine Schritte, Amanda. Pass auf dich auf.
Worüber genau war sie diesmal gestolpert?
„Nichts. Absolut nichts“, ermahnte sie sich selbst und versuchte, ihre eigene Torheit abzuschütteln. Dann war ihr eben das falsche Buch gegeben worden. Dann hatte der Mann, der beauftragt worden war, das richtige Buch auszutauschen, eben eine ungewöhnliche Karte. Ihre Fantasie ging mit ihr durch.
Je schneller das Durcheinander mit den Paketen erledigt war, desto besser.
Lord Dulsworthy wartete unten, um sie zum Fahren auszuführen und er würde sich fragen, wo sie blieb.
Sie nahm das Buch auf und versteckte es hinter dem Berg von Kissen auf ihrem Bett. Jamie würde nicht danach suchen, doch vielleicht Philip, und sie wollte, dass es eine Überraschung blieb. Dann ging sie zur Tür ihres Salons mit der Absicht, die Karte auf ihrem Sekretär niederzulegen, an welchen sie sich am Morgen setzen und eine Nachricht schreiben würde, welche der ganzen Sache ein Ende bereitete.
Nur der Gedanke an die Neugierde ihrer Mutter, scharf wie die Kanten der Karte des mysteriösen Fremden, ließ sie innehalten. Nach einem kurzen Moment steckte sie sie in ihr Mieder. Sie fühlte sich kalt und glatt gegen ihre Haut an.
Während sie zu ihrer Klingel zurückkehrte, um ihr Mädchen zu rufen, zwickte die Karte bei jeder ihrer Bewegungen, und doch wollte sie sie nicht aus ihrem Mieder entfernen.
Würde Martha sie entdecken, wenn sie ihr beim Umkleiden half?
Sollte sie es tatsächlich bemerken, wäre sie bestimmt leicht mit dem beschädigten Bettüberwurf abzulenken. Das Mädchen hatte ein Auge für Details und ein Talent für Nadel und Faden.
Heute Nachmittag würde sie ihr Versprechen einhalten müssen, mit dem guten alten George Kutsche zu fahren. Aber morgen Abend, wenn das Kochbuch wieder bei seinem Besitzer wäre und sich erneut Stille über das Haus legen würde, würde Amanda genüsslich auf ihrem frisch ausgebesserten Überwurf liegen und mit den Fingern über die Karte des Fremden fahren und sich die Erinnerung an diese kleine Ablenkung in ihr Herz einprägen.
Kapitel 2
Die Treppen von Bartlett House vor sich, hielt Major Langley Stanhope inne und legte seinen Daumen und den Zeigefinger auf den Nasenrücken.
Er fluchte nicht, obwohl ihm einige interessante Sätze in den Sinn kamen, Rückstände einer Jugend, die er in einem Teil von London verbracht hatte, welcher sich sehr von den weiten, mit Bäumen gesäten Straßen von Mayfair unterschied.
Nicht, dass seine Mission gescheitert war. Noch nicht.
Aber er hatte mit einem einfacheren Sieg gerechnet. Es hätte in jedem Fall ein solcher sein sollen. Zunächst hatte er sich gewundert, weshalb General Scott ihn geschickt hatte. Jeder von Scotts gut ausgebildeten Nachrichtenoffizieren hätte geschickt werden können, um das Paket, welches Lieutenant Hopkins in einem Moment der Verzweiflung gezwungen war, zurückzulassen, wiederzubeschaffen. Nichts an dieser Aufgabe verlangte nach, sogar jetzt noch nicht, Scotts bestem Agenten.
Und doch, ging Scotts bester Agent ohne das, weshalb er eigentlich gekommen war. Langley kramte in seiner Brusttasche nach seiner Brille und setzte sie vorsichtig auf. Die grünen Schemen der Bäume verschärften sich und formten einzelne Blätter, die in der Nachmittagssonne raschelten und flatterten. Er würde sogar Risse und Fugen in den eleganten Steinfassaden erkennen können, hätte er sich entschieden, hinzusehen.
Er hätte Lady Kingston gerne genauer angesehen, und mehr als nur den Eindruck dunkler Augen, umrahmt von einem Heiligenschein aus goldbraunem Haar, gehabt. Hätte gerne anhand ihres Gesichtsausdrucks die Reaktion abgelesen, die seine Anfrage hervorgerufen hatte.
Aber seine Brille war zu auffällig. Man hätte ihn identifizieren können. Also ging er häufig ohne sie in die Öffentlichkeit, wie auch ohne seine Uniform, ohne irgendetwas, das ihn von den hundert anderen, großen, aber nicht zu großen, braunhaarigen, braunäugigen Gentlemen abhob, die sich angemessen genug kleideten, um die Aufmerksamkeit eines geübten Auges zu erregen.
In dem Durcheinander nach Hopkins’ Zwickmühle war wenig Zeit geblieben, eine ausführlichere Tarnung als „Ladenangestellter“ zu erfinden. Keine Zeit, Informationen über die Dame zu sammeln, welche durch puren Zufall nun die wohl wichtigsten Informationen in England besaß. Langley hatte nicht erwartet, irgendetwas davon zu benötigen.
Deshalb hatte er auch nicht erwartet, dass die verwitwete Countess von Kingston so jung sein würde. Er hatte kein Paar neugieriger Jungen erwartet, die sie außer Sicht gescheucht hatte.
Gerüstet mit einer identischen Ausgabe des Bandes, den sie am Morgen bei Porter’s erstanden hatte, hatte er gehofft, einen einfachen Austausch vornehmen zu können. Er hatte sicher nicht damit gerechnet, seine Karte dort zu lassen. Würde die einfache Zeichnung der Elster ihre Neugierde wecken? Sollte dies der Fall sein, würde er einen Weg finden müssen, diese schnellstens wieder einzuschläfern.
Es war jedoch wahrscheinlich, dass sie nicht einen weiteren Gedanken an ihn verschwendete. Würde sie sich überhaupt daran erinnern, dass sie versprochen hatte, das Buch zurückzugeben? Schlimmer noch, würde sie den Rat des aufgeblasenen Gockels, den er an der Tür getroffen hatte, annehmen und das Buch in den Händen eines gedankenlosen Dieners an den Buchladen zurückschicken? Er würde eine Wache bei Porter’s aufstellen müssen, für den Fall. „Verdammt“, murmelte er – oder möglicherweise hatte er es laut ausgesprochen, wie er dem schockierten Blick einer älteren Dame entnahm, die ihm in der Curzon Street in genau diesem Moment entgegengekommen war.
Er hob einen Finger an die Krempe seines Hutes. „Entschuldigen Sie, Ma’am.“ Sie sollten froh sein, dass es nichts Schlimmeres war.
Vorbei an St. James’s, einer Straße gefüllt von Einrichtungen, die ganz auf Gentlemen ausgerichtet waren – Clubs, diskrete Vergnügungen, sogar eine oder zwei Spielhöllen –, kehrte er in ein Geschäft mit verglaster Front ein. Die Klingel läutete fröhlich und unbeeindruckt von der Wucht, mit welcher er die Tür geöffnet hatte. Die hohen Wände zierten Schubladen und Regale, gefüllt mit Gläsern, alle voll von den unterschiedlichsten Riechpulvern und Tabaksorten, deren Duft die Luft würzte.
„Bin gleich bei Ihnen, Sir“, rief der Inhaber, Mr Millrose, ein beleibter schwarzer Mann mit kurz geschnittenen, silbergrauen Haar. Er befand sich auf einer Leiter und lehnte sich gefährlich zu einem Glas hinüber, welches immer noch außer Reichweite war. Der Kunde am Tresen blickte sich nicht um. Mit einem kräftigen Ruck fischte Millrose das Glas vom Regal und kletterte die Leiter herunter, während er freundschaftlich mit dem Kunden plauderte und dessen Bestellung abmaß und verpackte.
Als sich die Tür hinter dem Kunden geschlossen hatte, und noch bevor die Klingel darüber ihren Tanz beendet hatte, wandte sich Millrose Langley zu. „Nun, Sir?“
Langley breitete seine Hände über dem Tresen aus. „Ich brauche etwas von der Kingston Mischung.“ Millroses Blick wanderte von Langleys leeren Händen zu seinem Gesicht ohne eine Reaktion, weder Erkenntnis oder Überraschung. „Kommt sofort, Sir.“ Als sich Millrose den Regalen hinter sich zuwandte, warf Langley einen kurzen Blick in den Verkaufsraum, bevor er sich bückte, um unter dem Tresen hindurchzuschlüpfen, vorbei an der Leiter, durch eine Tür an der Rückseite des Geschäftes.
Vor einem Dutzend Jahren oder mehr, als der Krieg in Frankreich noch in den Kinderschuhen gesteckt hatte, hatte General Scott den Kauf des Tabakwarengeschäftes angeordnet, damit es als Tarnung für die Nachrichtenoffiziere genutzt werden konnte, deren Dienste in Gefahr waren, wären sie regelmäßig in Whitehall gesichtet worden. Versteckt in einer Seitenstraße, zwischen einigen der wohlhabendsten und zwielichtigsten Orte von London, verkaufte der Laden immer noch Tabak, genau wie es das Schild außen verkündete. Die Anzahl der Männer, welche die Ladentür passierten, war also nicht weiter auffällig.
Doch darunter, wo früher wohl die Küche und die Unterkünfte der Bediensteten gewesen sein mussten, befand sich nun eine Art Kaninchenbau aus Büroräumen und spartanisch eingerichteten Schlafkammern, verbunden durch eine Reihe Gänge mit niedrigen Decken, welche die Küchen und Keller sämtlicher Etablissements der Straße verknüpft hatten. Niemand im Viertel schien zu ahnen, was unter ihnen lag, eine Handvoll Geheimagenten und Entschlüsselungsexperten, die Tag und Nacht im Auftrag der Krone schufteten. Niemand, das hieß, niemand außer Mr Millrose – Colonel Millrose, um genau zu sein –, der sowohl als General Scotts Adjutant gedient hatte, als auch Händler feinster Tabakerzeugnisse war. Langley hatte den Mann mehr als einmal, halb im Scherz, klagen gehört, dass es schwieriger gewesen war, die unterschiedlichen Arten von Tabak anhand von Geruch und Aussehen zu unterscheiden, als die Vigenere Chiffre zu entschlüsseln. Trotz seines passiven Ausdrucks musste es Millrose enttäuscht haben zu sehen, dass Langley mit leeren Händen zurückgekehrt war. In den falschen Händen – und besonders in den richtigen – war ein Codebuch eine tödlichere Waffe als eine Kanone. Hopkins hatte sein Leben riskiert, um dieses hier zu stehlen.
Langley, der mit der einfachen Aufgabe betraut gewesen war, es von einer verwirrten Witwe, welche es während eines Einkaufs erhalten hatte, zurückzuholen, hatte alle im Stich gelassen. Nicht zum ersten Mal.
Am Fuß der schmalen Treppe befanden sich einige Türen zu beiden Seiten des spärlich beleuchteten Korridors. Langley öffnete die zweite Tür von rechts. Er hätte gleich in den Arbeitsraum gehen und sein Scheitern den Entschlüsslern, die sich über die Tische beugten, gestehen sollen, die sowohl seine Rückkehr als auch eine Nachricht von Hopkins sehnlichst erwarteten.
Stattdessen warf er sich auf die schmale Schlafstätte, welche beinahe seine gesamten Privaträume einnahm. Er hatte ein Haus in der Nähe von Richmond geerbt, doch er ging nie dorthin. Gelegentlich dachte er über die Möglichkeit nach, dass er in einem angemessenen Schlafzimmer, mit Blick auf die Themse, auf einer Federmatratze hätte schlafen können. Im Moment aber war Komfort das Letzte, was er wollte. Etwa eine Stunde später – das Voranschreiten der Zeit war von jeher mehr eine Illusion, doch nie mehr als in einem fensterlosen Raum – vernahm er ein Klopfen an der Tür. „Major Stanhope?“ Die sanfte Stimme einer Frau.
Er antwortete nicht.
Klopf Klopf. „Sir Langley?“
Verflucht sei dieser Titel. Warum hatte General Scott darauf bestanden, dass er diese Ehre annahm?
„Herein“, schrie er beinahe und setzte sich auf, nur um dann aufzustehen, als sich die Tür öffnete und Mrs Drummond in den Raum trat. Frances Drummond war die Witwe eines Offizierskameraden, welcher in Ausübung seiner Pflicht umgekommen war. Nachdem klar wurde, dass sie über mehr Bescheid wusste, als gut für sie war, hatte General Scott schnell einen Plan gefasst, der ihre Sicherheit garantieren konnte. Offiziell kümmerte sie sich um die Belange des Haushaltes, der den Männern als Untergrund bekannt war. Trotz ihres schlichten schwarzen Kleides sah sie allerdings nicht wie eine der Haushälterinnen aus, die Langley bisher getroffen hatte. Selbst im spärlichen Licht, welches vom Korridor in das Zimmer fiel, strahlten ihre hellen Haare und blauen Augen eine gewisse Kälte aus.
Einst hatte er sie wunderschön gefunden.
„Ah, hier seid Ihr.“ Ihr Mund verzog sich zu einem schelmischen Grinsen. „Als Colonel Millrose sagte, Ihr wärt ohne das Buch zurückgekommen, hatte ich schon befürchtet, Ihr wärt auf der Flucht.“
„Du solltest mich besser kennen, Fanny.“
„Sollte ich, Major Stanhope?“ Sie waren einander näher gewesen, einst. Vielleicht sogar Freunde. Aber sie hatte ihn nie wieder Elster genannt … seit Langleys falschem Urteil, welches zu Captain Drummonds frühzeitigem Ableben geführt hatte.
„Schon eine Nachricht von Hopkins?“ Er zwang die Frage zwischen den Zähnen hervor, während er versuchte, die Erinnerung an Hopkins’ letzte Nachricht zu verdrängen. Gekritzelt auf dasselbe braune Papier, in welches das Buch eingepackt gewesen war, das er Lady Kingston gerade überreicht hatte, waren die Schmierereien seine einzige Verschlüsselung:
Sie sind mir auf den Fersen. Habe es geschafft, das Paket mit dem eines Passanten zu vertauschen, aber ich weiß nicht, wie lange dieser Geometrieschinken sie an der Nase herumführen kann. Fragt bei Porter’s nach –
Wer hatte die Wahrheit über Hopkins’ Auftrag herausgefunden? Und was, wenn sie einmal herausgefunden hatten, dass er das Codebuch nicht länger bei sich hatte, was würden sie unternehmen, um herauszufinden, wo es nun war? Würden sie ihn gefangen halten? Oder Schlimmeres?
Der Straßenkehrer, der ihnen die Notiz überbracht hatte, konnte – oder wollte – wenig das von Nutzen war, weitergeben. Keine weiteren Informationen waren gefolgt.
Als die Nachricht von General Scott kam, hatte er erwartet, sich auf die Suche nach Hopkins zu machen. Stattdessen wurde ihm mitgeteilt, das Buch befände sich nun in den Händen der Countess von Kingston und er solle es von ihr zurückholen. Obwohl er zunächst enttäuscht war über die ihm erteilte Aufgabe, verstand er. Wenn ihm nicht zugetraut wurde, seinen Kameraden zu retten, war er der Einzige, der die Schuld daran trug. Scott gab ihm eine zweite Chance, eine Möglichkeit, das Vertrauen seiner Kameraden wieder zurückzugewinnen.
Nun, das hatte er gründlich vergeigt.
Mrs Drummond beantwortete seine barsche Frage nicht, sondern schob die Nachricht zwischen ihren Fingernägeln und Daumen hin und her, ungeachtet der entstehenden Falten.
Er wünschte, sie würde ihn einfach anschreien, ihn beschimpfen, es hinausbrüllen. Dieses kühle Misstrauen, die Verbitterung war viel, viel schlimmer.
Fanny ließ ihr kritisches Auge über ihn gleiten und spitzte die vollen Lippen. „Ich wünschte, Ihr würdet nicht in Eurer Tageskleidung schlafen, Major.“ Er griff nach dem Stück Papier, das sie umklammerte. Er musste wissen, was daraufstand, bevor ihr nervöses Nesteln daran es unmöglich machte, die Nachricht noch zu entziffern. „Ich habe nicht geschlafen.“
Das Buch mit den Entschlüsselungscodes war nun seine Priorität, der einzige Weg, alles wiedergutzumachen. Auch für sich selbst.
Sie schlug ihm das Papier auf die ausgestreckte Handfläche. „Grübeln, dann eben. Die Falten sind genauso schwer zu entfernen.“
Bevor er antworten konnte, hatte sie sich umgedreht, die Tür geschlossen und ließ ihn allein in der Dunkelheit. Er entzündete eine Lampe, setzte sich noch einmal auf die Schlafstätte und begann, bei flackerndem Licht zu lesen.
Zielperson: A.B. Countess von K – (verwitwet), 32 Jahre
Kinder: Earl von K – James, 11 Jahre und Philip, 10 Jahre
Vormund: George, Lord Dulsworthy (Brook Street)
Seit dem Tod des Earls ’04 lebt Zielperson ausschließlich in Grosvr. Sq. mit ihrer Mutter, Mrs D. West (verwitwet, Alter ??)
Das Dokument listete weiterhin die Namen der wichtigsten Hausangestellten auf: der Butler, die Haushälterin, die Mädchen der Damen. Er bemerkte die Erwähnung eines Fechtmeisters, aber nicht die einer Gouvernante oder eines Tutors der Jungen – unwichtige Informationen sicherlich, aber es war ungewöhnlich von Millrose, Details auszulassen.
Die Informationen bezüglich der Gewohnheiten der Countess waren ebenso rar. Entweder ging ihre Ladyschaft nie aus oder sie war ungewöhnlich clever darin, ihre Spuren zu verwischen. Die meisten Menschen waren nicht so clever, wie sie dachten. Aber was könnte Lady Kingston schon zu verbergen haben? Die nächste Zeile bestätigte seine Vermutungen.
Liebhaber: keine (Gerüchte über ein Arrangement mit Duls.)
Er grinste über die Abkürzung des Namens. Also würde sie den Vormund ihres Sohnes heiraten, den Trottel, der versucht hatte, ihn rauszuschmeißen? Wie überaus gewöhnlich.
Nichtsdestotrotz, eine Verschwendung, wenn man nach seiner Meinung fragte. Sogar im verschwommenen Zustand hatte die Countess äußerst attraktiv auf ihn gewirkt, sie könnte es sicher besser treffen. Dann verwarf er den Gedanken.
Ihr Liebesleben – oder Mangel daran – ging ihn nichts an.
Nachdem er die Informationen noch zweimal durchgegangen war, sich alle Einzelheiten eingeprägt hatte, hob er eine Ecke des Papiers in die Flamme seiner Lampe. Als es Feuer fing, beobachtete er, wie Millroses präzise Schrift von den Flammen verschlungen wurde und ließ es bis zu seinen Fingerspitzen hinaufglimmen, ehe er den Fetzen Papier fallen ließ. Die verkohlten Reste landeten auf einem Teller, gemeinsam mit den Krümeln des Sandwiches, das er in der Nacht verschlungen hatte. Oder heute Morgen …
Heute Morgen …
Bedachte man den Zeitpunkt, zu welchem Hopkins’ Nachricht eingetroffen war, musste Lady Kingston den Buchladen bereits verlassen haben, während andere Damen ihrer Stellung noch die Korrespondenzen durchgingen oder das Frühstück ablehnten. Eine Frühaufsteherin also. Oder eine Frau mit einem Ziel. Dem Ziel, ein französisches Buch über Geometrie zu erstehen? Er legte seinen Kopf schräg. Vielleicht bedeutete es für sie etwas Besonderes, oder für jemand anderen. Ein Geschenk also … aber für wen? Sicherlich nicht Dulsworthy. Vielleicht für einen der Söhne?
Eine kleine Rauchfahne stieg von den Überresten des Dossiers auf, während er einen Plan formte.
Obwohl er mehr Nachteule als Frühaufsteher war, würde er Bartlett House morgen früh als Allererstes einen Besuch abstatten. Bevor jemand anderes kommen oder es verlassen konnte. Seine Zukunft in General Scotts Diensten hing von der sicheren Rückkehr der unschätzbar wertvollen Sache in Lady Kingstons Besitz ab. Nichts anderes war von Bedeutung.
Aber er konnte sich nicht des Gedankens erwehren, dass, solange sich das Buch noch in ihrem Besitz befand, sie und ihre Familie in Gefahr sein könnten.
***
Lord Dulsworthy hatte das Ende ihrer Kutschfahrt durch den Hyde Park so geschickt eingefädelt, dass es sich nur schwer vermeiden ließ, ihn nicht zum Tee zu bitten. Amanda war sich dessen bewusst, doch beweisen konnte sie eine Absicht nicht. Und natürlich hätte ihre Mutter, hätte sie es nicht getan, sicherlich eine Einladung ausgesprochen.
So zwang sie sich, während er von der Kutsche stieg und einem Stallburschen die Zügel übergab, das angestrengte Lächeln, welches sie schon zu Beginn der Fahrt aufgesetzt hatte, noch einmal aufzufrischen. Und so brachte sie es zustande, ihn, während er ihr von der Kutsche half, ohne allzu geheuchelte Begeisterung mit ins Haus zu bitten. George tat überrascht und ein wenig überrumpelt, bevor er die Einladung annahm, mit der er offensichtlich gerechnet hatte. Amanda versuchte, sich ein Lachen zu verkneifen.
Es war nicht so, dass sie Lord Dulsworthy nicht leiden mochte. Er war der Inbegriff eines anständigen Mannes. Nicht hübsch, sicher nicht, aber dennoch nicht schlecht anzusehen. Und immer darauf bedacht, sie mit gebührlichem Anstand und Respekt zu behandeln. Sie konnte sich beispielsweise niemanden vorstellen, der einen hohen Einspänner so gelassen fuhr.
Eine Dame könnte es schlechter treffen, ja. Aber warum, warum, ging es so wenigen durch den Kopf, dass eine Frau in ihrer Position es nicht besser treffen wollte? Oder gar nicht beabsichtigte, sich wieder zu verheiraten?
Trotz allem, wenn sie sich seiner Absichten wieder allzu bewusst war, erinnerte sie sich daran, dass George sich auch um ihre Jungen kümmerte und nur deren Bestes im Sinn hatte. Dass ihr Ehemann ihm vertraut hatte. Dass, egal wie oft ihre Mutter sie ermahnte, ihre Schritte zu bedenken, sie Amandas Schritte nicht mehr länger in Richtung Traualtar lenken konnte.
„Mrs West erwartet Sie im Salon“, teilte Lewis ihr mit, während er ihre Haube und Jäckchen entgegennahm, sowie Lord Dulsworthys Mantel und Hut.
Oben angekommen, kam ihre Mutter ihnen entgegen, sobald der Diener die Tür geöffnet hatte. „Da bist du ja, Liebes.“ Lord Dulsworthy nahm offensichtlich den tadelnden Ton ihrer Stimme wahr. Als er sprach, klang er ein wenig verlegen. „Ich übernehme die volle Verantwortung für die Verzögerungen, Ma’am.“
„Ich denke, wir können dem Wetter auch einen Teil der Schuld überlassen, Lord Dulsworthy“, insistierte Amanda, während sie den Wangenkuss ihrer Mutter als Begrüßung annahm. Sie setzte sich auf den grün- und goldgestreiften Sessel, den ihre Mutter soeben freigegeben hatte, anstatt sich auf dem Sofa zu platzieren, welches dem Tisch, auf dem der Tee stehen würde, am nächsten war. „Ist heute Nachmittag überhaupt noch jemand in London in seinem Haus geblieben?“
„Eine große Anzahl Personen, würde ich meinen“, war Georges allzu ernste Antwort. „Angestellte und Bedienstete, es sei denn, ihre Arbeitgeber wären schockierend nachsichtig. Die gebrechlichen. Menschen, die –“
„Soll ich nach Tee klingeln, Amanda?“, fragte ihre Mutter, bereits auf dem Weg zur Klingel, als habe sie es sich zur Aufgabe gemacht, Georges eintönige Aufzählung zu beenden. „Ich habe schon nach den Jungen geschickt. Es täte ihnen sicher leid, den Besuch ihres Onkels zu verpassen.“
„Ein exzellenter Einfall, Mrs West. Ich habe bereits mit Jacobs über den heutigen Fechtunterricht gesprochen“, erklärte er und wandte sich zu Amanda, während er es sich auf der einen Seite des Sofas bequem machte. Er strich mit der Hand über den freien Platz, als stumme Anklage an sie und ihre Platzwahl. „Aber ich würde gerne die Meinung des jungen Kingstons und Master Philip zu ihrem Fortschritt hören.“
„Da wir gerade davon sprechen“, begann Amanda, „ich habe mich gefragt, weshalb –“
„Sie werden große Fortschritt machen, wenn der Meister erst zweimal die Woche kommt.“
„Zweimal in der Woche. Oh, ich verstehe.“
Sie sah kein Problem darin, die Häufigkeit des Fechtunterrichts zu erhöhen. Trotzdem konnte sich Amanda kaum zurückhalten, sich nicht über den Eingriff in ihre Privatsphäre, sowie in ihr elterliches Vorrecht, zu empören. George hätte sie wenigstens einweihen können. George nickte zufrieden, ihrer Unzufriedenheit völlig unbewusst. „Kingston wird mir im September schon dafür danken.“
Dem zu warmen Nachmittag, und dem feinen Schweiß unter ihren Armen und entlang des Rückens zum Trotz, zitterte Amanda.
Normalerweise ließe die bloße Erwähnung eines Monats in der zweiten Jahreshälfte ihr nicht das Blut in den Adern gefrieren. Aber die besondere Erwähnung des Septembers entfachte erneut den Gedanken einer Debatte über Jamies Bildung, Georges Überzeugung, der Junge müsse nach Harrow, wie einst sein Vater, und Amandas Entschlossenheit, ihn bei sich zu Hause zu behalten.
George hatte ihn schon im letzten Herbst fortschicken wollen, kurz nach seinem elften Geburtstag. Sie hatte sich für Jamie aufgrund seiner zierlichen Statur, seiner natürlichen Zurückhaltung und seiner Trauer dagegen ausgesprochen. Nun, da der zwölfte Geburtstag ihres ältesten Sohnes sich rasch näherte, würden diese Argumente – in Georges Augen ohnehin nicht überzeugend genug – noch schwächer geworden sein, obwohl sich Jamie kaum verändert hatte.
Lord Dulsworthys Ansicht nach, waren Jungen wie Jamie – junge Lords und die zukünftigen Anführer des Landes – mit zwölf bereits an dem Punkt, zu welchem sie in der Schule Kontakte mit anderen jungen Männern knüpfen sollten und sich nicht noch an den Rockzipfel einer nervösen Mutter klammerten. Die Bedingungen der Vormundschaft überließen George die finalen Entscheidungen, obwohl ihr verstorbener Ehemann natürlich damit gerechnet hatte, dass George Amandas Wünsche berücksichtigte. Aber die Bildung der Jungen war Männersache – zumindest nach den Regeln der Gesellschaft.
Amandas letzte und beste Hoffnung war, George davon zu überzeugen, ein weiteres Jahr zu warten, bis Philip – stärker, kräftiger und offener – alt genug wäre, seinem Bruder Gesellschaft zu leisten. „Ich denke, Mylord, wir sollten noch einmal darüber nachdenken, ob –“
Bevor sie den Satz beenden konnte, platzten Jamie und Philip in den Raum – nun, Philip platzte herein und Jamie ging, seinen Kopf in ein Buch vergraben, nur Augen für die Seiten. Er ähnelte seinem Vater in dieser Hinsicht sehr, aber auch im Aussehen.
„Hast du gehört, Onkel?“ Philip warf sich auf den freien Platz neben Lord Dulsworthy. „Mr Jacobs sagt, ich bin ein Naturtalent. Wo sind die Teesachen, Mama? Ich bin am Verhungern.“
Jamie lehnte sich an den hohen Rücken ihres Sessels und schloss das Buch um seinen Finger, welcher die Seite markierte, auf der er stehen geblieben war. „Du bist ein Naturtalent im Langweilen, Pip, das ist sicher.“
George, den man nie mit einem Witzbold verwechseln würde, blinzelte Jamie fragend an, bevor er sich an Philip wandte. „Tatsächlich hat mir Jacobs einen vielversprechenden Bericht geliefert. Kein Wunder, dass du hungrig bist, junger Mann.“ Wie aufs Stichwort, trat Betsy mit dem Teetablett herein und platzierte es auf dem Tisch zwischen George und dem leeren Stuhl, den Amandas Mutter nun besetzen würde. „Sie erlauben, Lord Dulsworthy“, sagte sie in einem feierlichen Ton, den sie ihm gegenüber stets anschlug. „Aber es gibt keinen Kuchen!“ Philips schockierter Ausruf ließ alle Augen zum Teetablett wandern, auf welchem sich lediglich die Kanne und Tassen sowie ein Teller Brot und Butter für die Jungen und Gurkensandwiches für die Übrigen befanden. Jedoch keine Kuchen – tatsächlich keine Art von Backwaren. „Gibt es ein Problem in der Küche, Betsy? Ist heute kein Backtag?“ Betsy errötete. „Doch, Ma’am. Es ist nur so … dass … nun … wisst Ihr, die Köchin hat versucht –“ Verärgert über das Gestammel des Mädchens, unterbrach Amandas Mutter. „Schick Mrs Hepplewythe herauf“, sagte sie verächtlich und wedelte mit ihren beringten Fingern in Richtung Tür. „Brot und Butter sind für dich ohnehin besser, Philip“, sagte George, während er seine Tasse von Mrs West entgegennahm. „Das macht dich stark.“
„Dann isst Jamie am besten zwei Brote“, rief er aus, was ihm einen verächtlichen Blick seitens seines Bruders und ein Stirnrunzeln seiner Mutter bescherte.
Als hätte sie es bereits erwartet, zitiert zu werden, trat die Haushälterin bald darauf ein und rang nervös mit ihren Händen, bevor sie einen tiefen Knicks machte. „Ich entschuldige vielmals den Zustand des Teetabletts, Lady Kingston. Mrs Trout hat drei verschiedene Rezepte aus dem Buch, das Mrs West ihr gebracht hat, versucht und nichts kam dabei heraus, das irgendwer von uns ihnen unter die Augen bringen wollte. Aber dies ließ uns keine Zeit, etwas anderes zuzubereiten. Sie ist höchst verärgert, Ma’am. Sagt, es muss an einem Druckfehler im Buch liegen.“
„Es scheint unglücklicherweise, als ließen die Fähigkeiten Eurer Köchin nach“, sagte Lord Dulsworthy, während er sein drittes Sandwich verputzte.
Amandas Mutter errötete. Mrs Heppleswythe schien zornig zu werden. Amanda fragte lediglich, „Welches Buch?“, obwohl sie die Antwort bereits ahnte. „Mrs West gab es mir nach dem Mittagessen, Ma’am. Französisches Gebäck sollte es sein, aber ich weiß nicht …“ Amanda versuchte, ihre gleichgültige Miene beizubehalten, doch die Stimme der Haushälterin wurde immer leiser. Ihre Mutter übernahm die Erklärung. „Das Rezeptbuch aus der Schublade deines Schreibtisches, Liebes. Ich ging in deinen Salon, um, nun, um mir ein Stück Papier zu borgen und da fand ich es.“ Amanda sagte nichts. Sie war sich sicher, ihre Mutter hatte nach den Einladungen gesucht, um eine nach der anderen abzulehnen. Dann, zu ihrer Überraschung, fuhr ihre Mutter fort: „Ich bat Mrs Hepplewythe, die Köchin etwas Neues probieren zu lassen. Ich dachte, es würde deinen Appetit anregen, Liebes.“ George nahm einen großen Schluck Tee. „Ihr kümmert Euch immerzu um die anderen, Mrs West.“
„Ja, tatsächlich, Mama“, stimmte Amanda zu. Ihre Kopfschmerzen waren zurückgekehrt, stärker als zuvor, möglicherweise waren sie nie ganz fort gewesen. Ihren Unmut zu verbergen, erforderte heute leider einen mehr als heroischen Kraftaufwand. „Manchmal frage ich mich allerdings, ob du dich wirklich so mit den Angelegenheiten anderer belasten solltest.“
„Oh, nun ja, ich –“ Amanda wandte sich an die Haushälterin. „Mrs Hepplewythe, würden Sie das Buch bitte von Mrs Trout holen und es mir zurückbringen?“
„Sehr wohl, Ma‛am.“ Die Dame knickste ein weiteres Mal und verließ sie.
Während ihrer Abwesenheit berichtete Philip Lord Dulsworthy weitere ähnliche Geschichten seiner Erfolge bei den Fechtwettkämpfen des Morgens. Jamie, eine Scheibe gebuttertes Brot in der einen Hand, saß auf der Lehne von Amandas Sessel und wandte sich wieder seinem Buch zu. „Ich hoffe, du bist mir nicht böse, meine Liebe?“, sagte ihre Mutter mit leiser Stimme.
„Natürlich nicht, Mama.“ Amanda wusste, es wäre zu unhöflich, sie zu tadeln, und auch jegliche Hinweise von Missfallen wären ebenso nutzlos. „Du hast es gut gemeint.“
Einige Minuten vergingen, bis Mrs Hepplewythe eintrat und das kleine grüne Buch in ihren Händen hielt. „Hier ist es, Ma’am. Mrs Trout ist sehr betrübt und hofft, Ihr nehmt ihr nichts übel.“
„Aber natürlich nicht“, versicherte ihr Amanda. Sie konnte nur erahnen, wie sehr ihre Vorräte aufgrund der gescheiterten Gerichte dezimiert worden waren. „Sagen Sie ihr, sie soll Lewis zum Markt schicken, sollte es ihr an irgendetwas fehlen.“ Mrs Hepplewythes Haltung entspannte sich sichtlich. „Danke, Ma’am. Das werde ich.“ Sie knickste erneut und hielt Amanda das Buch entgegen. Lord Dulsworthy lehnte sich zwischen sie und fing das Buch ab. „Lady Kingston, das wird doch wohl nicht der Band sein, weshalb dieser Bursche heute hier war?“ Er stellte seine Tasse mit einem hörbaren Scheppern auf dem Tisch ab und blätterte durch das Buch. „Der Bursche?“ Oh, wie sehr sie sich wünschte, ihn zu korrigieren! Mein lieber Lord Dulsworthy, Ihr könnt doch auf keinen Fall den Gentleman meinen, der seine faszinierende Karte hierließ, welche sich momentan versteckt in meinem Mieder befindet?
Sie schluckte die zornige Antwort herunter und senkte ihren Kopf bestätigend. „Das ist es. Ich werde ihm augenblicklich schreiben und die Sache aus der Welt schaffen.“
„Kein Grund, sich damit zu belasten“, insistierte er, ließ den Band zuschnappen und zerstreute ihre Einwände mit einer wegwerfenden Bewegung der Hand, die das Buch hielt. „Ich werde es selbst zur Buchhandlung bringen.“
„Ich denke nicht –“ Sie dachte daran, wie der Fremde die Seltenheit des Buches erwähnt hatte, seinen Wert und wie er darauf bestanden hatte, es selbst abzuholen. Sie versuchte, nicht an ihre eigene Enttäuschung darüber zu denken, dass sie nun des Grundes beraubt war, den Mann wiederzusehen. „Es gibt wirklich keinen Grund dafür, Lord Dulsworthy.“
„Unsinn. Ich werde es auf meinem Heimweg abliefern.“
Sie fürchtete, ein schwaches Lächeln des Dankes würde ihren Unmut sichtbar machen, daher nickte sie nur kurz und führte ihre Teetasse an den Mund, um ihn dahinter zu verbergen.
Die nächste halbe Stunde plauderte sie freundlich, ermahnte sanft, hörte aufmerksam zu – und doch blieb das Buch ihr immer in Gedanken und gelegentlich zog es ihren Blick auf sich, wie es in Georges Manteltasche auf seinem Knie ruhte und schließlich doch seinen Weg aus Bartlett House fand.
Sie konnte spüren, wie die Maske der Höflichkeit von ihr abfiel, als sich die Tür hinter George schloss. Alles wegen eines Buches? Was für eine Dummheit!
Ihre Mutter schrieb den Gemütswandel einer gänzlich anderen Sache zu. „Gräm dich nicht, Liebling“, sagte sie und nahm Amandas Hand sanft tätschelnd in ihre. „Der Tag, an welchem du nie wieder von Lord Dulsworthy getrennt sein musst, wird schon bald kommen.“ Amanda fiel der Mund offen und ein Gurgeln entfuhr ihrem Hals – ob nun ein unterdrücktes Lachen oder ein verstummter Schrei, nicht einmal sie war sich sicher.
Pass bloß auf.
Sie bedeckte ihre Lippen mit den Fingerspitzen ihrer freien Hand und hüstelte diskret. „Verzeih, Mama. Ich sehe nur kurz nach den Jungen.“
Sie entkam ihr, bevor ihre Mutter weitersprechen konnte. Aber sie suchte nicht nach ihren Söhnen. Sie ging in ihren Salon, setzte sich auf den Stuhl vor ihrem Sekretär und griff, einen tiefen Atemzug später, in ihr Mieder, um die Karte des Fremden hervorzuholen. Das rechteckige Papier war nicht länger kalt und glatt, sondern warm und leicht gewellt, das cremeweiße Papier hatte sich der Form ihrer nicht gerade üppigen Brust angepasst. Sie glättete die Karte auf ihrer Schreibunterlage. Eine Nachricht an diese Adresse wird mich immer erreichen, Lady Kingston.
Wo war diese Adresse? Sie hätte genauso gut auf der anderen Seite der Erdkugel sein können. Sie kannte sie jedenfalls nicht. Nichtsdestotrotz nahm sie ein Blatt Papier, öffnete das Tintenfass und tauchte ihren Federhalter ein.
Sehr geehrter
Sie hielt inne und fuhr sich mit der Feder über die Lippen, während sie die Abbildung des Vogels studierte. Dank des Projekts der Jungen war sie recht versiert in Bienenkunde, doch leider nicht in Ornithologie. Sie neigte den Kopf zur Seite und kniff die Augen, die das Bild auf der Karte betrachteten, zusammen. Es könnte eine Art Krähe sein. Oder ein Rabe? Besser, sie hielt es allgemeiner, wenn sie sich nicht sicher sein konnte. Doch wer würde eine Nachricht erhalten wollen, die adressiert war an den sehr geehrten Mr mittelgroße Art von Aasvogel …
Sehr geehrter Sir,
ich bedauere es
Was sie alles bedauerte, konnte sie gar nicht aufzählen, aber das meiste beruhte im Moment auf der Tatsache, dass sie Lord Dulsworthy erlaubt hatte, sich einzubilden, sie wäre ihm in irgendeiner Form zugetan. Aber das würde einen Fremden wohl nicht kümmern.
Sie drehte die Schreibfeder zwischen Daumen und Fingern. Die Dämmerung legte sich bereits über den Garten. Eine Nachricht an diese Adresse wird mich immer erreichen, hatte er gesagt. Aber sie würde Lewis nicht zu dieser Stunde noch einmal nach draußen schicken wollen, würde keinen Gentleman stören wollen, wenn die Buchhandlung ohnehin bald schließen würde.
Ich bedauere es, Ihnen das Buch heute Morgen nicht überbracht zu haben, wollte sie schreiben.
Aber das wäre nicht die Wahrheit gewesen. Sie hatte nach einer Entschuldigung gesucht, ihr kleines Abenteuer mit dem Buch zu verlängern – und was für ein wirklich kleines Abenteuer es war! Der Gentleman würde über ihre wilde Vorstellungskraft lachen und all das wegen eines Kochbuches, das laut Mrs Hepplewythe nicht einmal gut war.
Sie legte ihren Stift gedankenverloren beiseite und nahm die Karte auf, um mit ihrem Daumen über den Druck und die Kanten des Vogelbildnisses zu streichen. Grübelnd schnippte sie mit ihrem Fingernagel gegen eine Ecke des steifen Papiers. Es war schwer zu glauben, dass der Fremde sie ihr erst heute Morgen überreicht hatte. Es waren erst wenige Stunden seit seinem Besuch vergangen … sicher konnte die Nachricht bis zum Morgen warten?
Sie ließ einen verstohlenen Blick durch den Raum gleiten, während sie halb dabei erwartete, einen Spion zwischen den Falten der Vorhänge oder den geprägten Verzierungen der Tapete zu entdecken. Sie lachte über ihren eigenen Unwillen, die Angelegenheit des geheimnisvollen Buches zu vergessen.
Dann, mit einem heimlichen Lächeln, steckte sie die Karte des Fremden wieder zurück in ihr Mieder.