Leseprobe Eine Leiche unter Palmen

Mittwoch, 13. März

Wichtige Eilmeldung: Heute Morgen wurde der Bürgermeister von Pegeia, Christos Christofi, als vermisst gemeldet. Er hat sich am Sonntag zu einer Wanderung im Troodos-Gebirge aufgemacht und kam nicht wie verabredet am Abend zurück. Polizei und Rettungskräfte sind unterwegs, um das Gebiet rund um den Picknick-Forest abzusuchen. Der Verschwundene hat sein Auto am Parkplatz „Viewpoint“ geparkt und war nach Auskunft seiner Gattin alleine unterwegs. Wer den Bürgermeister gesehen, oder Hinweise auf seinen Verbleib hat, bitte anrufen. Telefon: 26700.

Pana drehte die Lüftung der Auto-Klimaanlage höher, schaltete von Radio auf seine Lieblings-Playlist und rieb sich nachdenklich die Stirn. „Noch einer verschwunden. Schon der Zweite innerhalb von einer Woche. Komisch.“ Als würde es helfen, fächerte er sich mit seiner Hand Luft zu und wandte sich an seinen Beifahrer: „Na du? Ich glaube, du brauchst erst mal eine Dusche. Jetzt habe ich gar nicht gefragt, wie du heißt. Hm, ihr werdet euch bestimmt gut verstehen, mein Vater und du. Er schaut genauso traurig aus der Wäsche wie du. Besonders gesprächig bist du ja nicht. Aber keine Sorge, mein Vater mag eh keine Quasselstrippen.“

Pana stoppte den Wagen vor dem Haus seines Vaters, der nirgends zu sehen war – weder vor dem Haus beim Rauchen noch bei der Arbeit im Garten oder am Haus. Dann konnte er nur noch in der Küche sein. Pana und sein Beifahrer stiegen aus und gingen durch die Haustür, die wie immer offen stand: „Hallo, Papa, sieh mal, wen ich dir mitgebracht habe.“

Theo stand in seiner Küche mit dem Rücken zur Tür und spülte Geschirr ab. „Hallo, mein Junge. Hast du schon gehört, dass der Bürgermeister verschwunden ist?“

„Ja, habe es eben in den Nachrichten gehört. Schon der Zweite innerhalb von einer Woche. Seltsam, aber vielleicht ist er ja abgehauen und fängt ein neues Leben an“, scherzte Pana. Ernster fügte er hinzu: „Jedenfalls wird um den Bürgermeister mehr Wirbel gemacht als um den armen Vassili.“

„Das stimmt. Er ist eben …“ Theo unterbrach den Satz abrupt, als er sich zu seinem Sohn umdrehte und sah, wen er mitgebracht hatte.

„Was … Was ist denn das?“

„Na, wonach sieht es denn aus, Papa?“

„Ähm, was soll das?“

„Ich dachte mir, du freust dich über Gesellschaft. Außerdem braucht der Kleine hier einen Freund.“

„Hunde bewachen das Haus oder sind hilfreich bei der Jagd. Mein Haus muss nicht bewacht werden und zur Jagd gehe ich auch nicht. Was soll ich mit ihm?“

„Ok, er hat mir leidgetan. Schau dir seine Augen an. Ich musste ihn mitnehmen! Er ist schon etwas älter, ca. acht Jahre alt. Sein Frauchen ist vor einem halben Jahr gestorben und die Hinterbliebenen haben ihn ins Tierheim gebracht.“

„Warum warst du überhaupt dort? Wir wissen beide, dass dein Herz zu schwach für Tierheimbesuche ist.“

„Ich habe der Shelter-Besitzerin mal wieder einen Frappé vorbeigebracht, weil ich in der Gegend war und ihr schon lange keinen Besuch mehr abgestattet habe. Sie leistet wirklich hervorragende Arbeit. Und da habe ich ihn gesehen und spontan ins Herz geschlossen.“

„Ach, du und dein Herz.“ Theo verdrehte die Augen. „Und warum bringst du ihn dann mir?“

„Du weißt genau, dass ich ihn nicht ins Café mitnehmen kann. Ist ja auch langweilig für ihn, den ganzen Tag dort abzuhängen.“

„Und wo soll er bei mir abhängen?“, wollte Theo wissen und betonte abhängen, als wäre es ein Schimpfwort.“

„Du bist den ganzen Tag in den Gärten unterwegs. Es gefällt ihm bestimmt, dir Gesellschaft zu leisten, den ganzen Tag draußen. Vielleicht kannst du ihn abrichten, damit er dir Werkzeug bringt oder so.“ Pana lachte bei der Vorstellung.

Theo sah den Hund an, der in dem Moment seinen Kopf schief legte und ihn mit dem wahrscheinlich niedlichsten Hundeblick ansah, den Theo je empfangen hatte. Theo grunzte und Pana konnte sehen, wie die Mauer um das Herz seines Vaters zu bröckeln begann.

„Gut, wir können es ja versuchen. Jetzt ist er eh schon hier“, grunzte Theo.

„Na also. Ihr beide werdet euch bestimmt gut verstehen.“

„Wie heißt er denn überhaupt?“

„Das weiß ich nicht. Gib du ihm doch einen Namen.“

„Aber wenn er schon acht Jahre alt ist, hat er sich ja sicher schon an einen Namen gewöhnt. Dann kann ich ihm doch nicht einfach einen neuen geben.“

„Ich frage die Shelter-Besitzerin, ok? Jetzt hole ich erst mal seine Sachen. Ich habe alles Mögliche an Hundezubehör besorgt. Warte, ich hole es.“

Pana lief zur Tür und kam eine Minute später mit einem Schlafkörbchen und zwei Näpfen unter dem einen und einem riesigen Beutel Hundefutter unter dem anderen Arm wieder herein. „So, das müsste erst mal reichen. Er ist wohl nicht verwöhnt, frisst alles und verträgt auch alles.“

Theo stand auf, füllte die beiden Näpfe mit Wasser und Futter und stellte sie in die freie Ecke auf den Küchenboden. Der Hund beobachtete das Geschehen und sah dann Theo erwartungsvoll an, als der sich wieder an den Küchentisch setzte.

„Was ist? Worauf wartest du? Iss.“ Als hätte er auf diesen Befehl gewartet, lief der Hund sofort zum Fressnapf und tat wie ihm befohlen.

„Aha, du scheinst wohl gut erzogen zu sein. Mann, du haust ja rein“, fand Theo. „Hast du im Tierheim nichts zu essen bekommen?“

Pana beobachtete die Szene und sah, wie der Blick seines Vaters weicher und weicher wurde. Mission erfolgreich, dachte er, grinste und verabschiedete sich von den beiden. „Also Papa, ich muss noch meine Runde laufen. Ich frage nach, wie der Hund heißt und melde mich morgen früh wieder. Kommt ihr klar?“

„Was? Ach so, dein Lauf. Ja, mein Junge, klar. Warum sollten wir auch nicht klarkommen?“

„Dann viel Spaß euch.“

Zehn Minuten später schnürte Pana seine neu erworbenen Laufschuhe und machte sich auf. Vorbei an den Bananenfeldern bog er rechts in die Sea Caves Avenue und lief bis zu den Sea Caves. Dort drehte er um und lief in die andere Richtung bis zu Coralia Beach. Er passierte Bauruinen, deren Zeit vorbei gewesen war, bevor sie angefangen hatte. Der Wind kühlte angenehm sein glühendes Gesicht. Obwohl es erst April war, hatte die Sonne auch kurz vor ihrem Untergang noch eine immense Kraft. Pana spazierte den Weg langsam zurück, machte einen kleinen Schwenker auf den schönen Weg und holte sein Handy aus dem Reißverschluss seiner Laufhose. Er blieb kurz stehen, um seinen Atem zu beruhigen, dann wählte er Utes Nummer. Es klingelte.

„Hallo, Pana. Schön, dass du dich meldest.”

„Hey, Ute. Ich musste noch einiges erledigen, deshalb kam ich jetzt erst zu meiner Trainingsrunde.“

„Wie läuft das Training?“

„Wenn ich bedenke, wie ich am Anfang noch herum gekeucht habe, bin ich inzwischen eigentlich ganz zufrieden“, sagte Pana und lachte. „Viel Zeit habe ich ja nicht mehr.“

„Ach, die zehn Kilometer schaffst du locker und auf die Zeit kommt es nicht an. Mitmachen ist alles.“

„Ja, ja. Das sagt man immer zu den Unsportlichen.“

Ute lachte und hauchte mit ihrer liebevollsten Stimme: „Ach was. Du weißt, wie ich es meine.“

Pana konnte spüren, dass sie rot wurde. Er blieb an der schönsten Stelle des schönen Weges stehen und schaute aufs Meer. Das Wasser peitschte die Klippen hoch und benetzte sein Gesicht.

„Die Mission ‚Finde Trost für Theo‘ hat übrigens funktioniert“, berichtete er und leckte sich das Meersalz von den Lippen.

„Juhuuu! Dann hat er den Hund gleich ins Herz geschlossen?“

„Na ja, du kennst ihn. Er war nicht sofort begeistert. Er würde ja auch nie zugeben, wie sehr ihn die Geschichte mit Hilde getroffen hat und dass er Trost braucht. Aber zum Schluss hatte er schon ganz weiche Gesichtszüge. Die beiden werden sich bestimmt gut verstehen.“

„Das freut mich so sehr! Dann geht es wenigstens deinem Vater etwas besser. Hier sind noch alle in Schockstarre über Hildes Tat. Keiner hätte ihr das zugetraut.“

„Das war bestimmt ein Unfall. Ich kann auch nicht glauben, dass sie die Frau absichtlich sterben ließ. Das wäre zu brutal.“

„Ja, das rede ich mir auch die ganze Zeit ein“, sagte Ute mit einem Seufzen.

„Weißt du denn jetzt schon, wann du zurückkommst?“

„Ein, zwei Wochen werde ich schon noch bleiben. Es kommt darauf an, wie schnell die Dinge mit meinem Ex geregelt sind. Er ist endlich in der stationären Therapie. Außerdem genieße ich gerade die gemeinsame Zeit mit meinem Sohn. Er hat eine Studienpause eingelegt und unternimmt viel mit mir.“

„Verstehe. Schaffst du es denn, mich bei meinem Lauf anzufeuern?“

„Das habe ich fest vor.“

Pana grinste nur.

Donnerstag, 14. März

„Malaka, die haben echt vor, uns in den Wahnsinn zu treiben. Jetzt müssen wir die Scheiße noch mal aufreißen“, fluchte ein Bauarbeiter und beantwortete damit Panas Frage nach dem Grund, weshalb der frisch betonierte Küstenweg aufgebrochen wurde.

„Was? Warum denn das?“

„Was weiß ich? Erst tiefer wegen irgend so einem alten Kram, dann schnell wieder zu und jetzt doch wieder auf.“

„Was für ein alter Kram?“

„Keinen Schimmer. Interessiert mich auch nicht. Ich weiß nur, dass irgendwelche Idioten die Drainage vergessen haben.“

„Vergessen einzuplanen oder vergessen einzubauen?“

„Ist doch egal. Ist halt Scheiße, Malaka. Wenn dann im Winter der Regen die ganze Scheiße den Berg runterspült, wird der Weg überschwemmt. Als ob das im Winter jemanden juckt“, erklärte der aufgebrachte Bauarbeiter, fügte noch ein weiteres wütendes „Malaka“ an und trat dabei heftig gegen einen Stein.

Autsch, dachte Pana und sagte: „Ah, verstehe. Das tut mir leid. Da sieht man mal wieder, dass die Planer eben nur theoretisch denken und ihr müsst es dann in der Praxis ausbaden. Scheiße, Mann.“ Pana hoffte, dass sein Verständnis den echauffierten Bauarbeiter etwas trösten würde. Der aber winkte nur ab und grummelte in seinen vom Steinstaub gepuderten Bart.

„Ok, dann viel Erfolg“, sagte Pana, hob die Hand zum Abschied und setzte seine Laufrunde fort.

An seinem Café angekommen, sah er, dass Heike schon da war und die Jalousie zum Straßenverkauf hochzog. Freudig lief er auf sie zu: „Hey, du bist ja schon da.“ Dann streckte er seine Arme abwehrend vor sich aus. „Umarme mich lieber nicht. Ich habe zehn Kilometer in den Beinen und vor allem im T-Shirt.“

Heike lachte, legte ihre weichen Arme um seinen Hals und drückte ihn herzlich. „Als würde mich der Schweiß des schönsten Mannes Zyperns vom Knuddeln abhalten.“ Zur Verstärkung ihrer Aussage drückte sie ihm noch einen dicken Schmatzer auf die Wange.

Pana ergab sich Heikes Liebkosungen. Aus Erfahrung wusste er, ihnen nicht entkommen zu können. Als Heike ihn wieder freigab, prangte ein dicker roter Abdruck von Heikes Lippen auf Panas rechter Wange, was ihn wie einen echten Casanova wirken ließ.

„Ich schau mal kurz nach Apo. Seit Sula in der Kur ist, bekommt er ein bisschen wenig Aufmerksamkeit“, sagte Pana und lief zum Stall hinter dem Café.

„Ja, also Pana, nach dem Esel kann ich wirklich nicht auch noch gucken. Meine Katzen halten mich schon genug auf Trab und dann hier das alles im Café“, rief Heike ihm hinterher und seufzte.

„Alles gut. Mach dir keine Sorgen“, beruhigte Pana sie und öffnete die Tür zum Stall. Apo iahte zur Begrüßung und kam Pana erwartungsvoll entgegen. „Na mein Kleiner. Bist du einsam?“ Apos Freundin Thea hatte beschlossen, ihr restliches Katzenleben lieber bei Menschen zu verbringen als bei Apo im Stall. Dann war auch noch Panas Nichte Sula, die sich sonst immer um Apo gekümmert hatte und ihm häufig Gesellschaft leistete, zur Kur. „Ich kann dich schlecht mit nach vorne ins Café nehmen“, erklärte Pana. „Aber vielleicht wird ja unser neuer Hund dein neuer Freund?“ Apo richtete seine langen Ohren nach vorne aus, um zu signalisieren, dass er bereit für weitere Informationen war. „Genau. Den bringe ich morgen mal mit. Ihr versteht euch bestimmt super. Da fällt mir ein, dass ich noch fragen wollte, wie er heißt.“

Pana füllte frisches Heu in den Trog, was ihm einen enttäuschten Blick von Apo einbrachte und verabschiedete sich: „Ich muss los. Morgen bringe ich dir einen neuen Freund und Carob-Früchte mit.“ Apo schnaubte, als würde er sagen: „Da warte ich erst mal ab, bevor ich mich zu früh freue.“

„Ich gehe jetzt noch mal kurz heim zum Duschen und dann löse ich dich ab“, sagte Pana zu Heike, als er vom Stall zurückkam.

„Alles klärle. Du denkst auch dran, dass ich morgen gar nicht kommen kann, weil ich meine Schwester vom Flughafen abholen muss?“

„Ja klar, das habe ich nicht vergessen. Sie kommt dich zum ersten Mal hier besuchen, oder?“

„Ja. Sie konnte ihr Regenbogen-Café ja nicht alleine lassen. Aber jetzt hat sie eine zuverlässige Servicekraft gefunden, die sie für die zwei Wochen vertreten kann.“

„Das ist viel wert. Ich weiß, wovon ich rede“, meinte Pana und zwinkerte ihr zu.

„Ach, Pana. Das ist ja bei uns was anderes.“ Heike war etwas verlegen, was bei ihr selten vorkam. Ihre runden Wangen glänzten fröhlich im Sonnenlicht und Pana bemerkte ihre Nervosität, von der er sicher war, dass er nicht der Auslöser dafür sein konnte. Um der Sache auf den Grund zu gehen, fragte er deshalb: „Wie lange habt ihr euch nicht gesehen?“

„Na, seit ich hier bin. Also seit acht Jahren.“

„Das ist eine lange Zeit. Du freust dich bestimmt.“ Pana ließ den zweiten Satz wie eine Frage klingen.

„Ja, schon. Wir haben uns früher nicht so gut verstanden. Sie war schon immer ganz anders als ich. Eher vernünftig und besonnen.“ Heike kniff die Lippen unsicher zusammen.

„Ach, ihr werdet bestimmt eine tolle Zeit hier haben. Zeige ihr einfach unsere schöne Insel, dann wird alles gut“, munterte Pana sie auf.

„Ja, klar. Das wird schon. Jetzt gehst du aber mal schnell duschen“, befahl Heike und gab Pana einen knackigen Klaps auf den Po.

„Zu Befehl, Madame.“

Auf dem Weg nach Hause sah Pana das Polizeiauto seines Cousins Yiannis um die Ecke biegen und wunderte sich. Was will der denn hier?, fragte er sich selbst. Hier ist doch gar kein Casino in der Nähe und zum Jagen gibt es auch nichts, dachte er und lief weiter.

Als er nur noch zehn Meter von seiner Haustür entfernt war, begegnete er seinen Nachbarn Bob und Andrew, die ihren kleinen Dackel Gassi trugen, dessen Glitzer-Halsband ihn schon von Weitem blendete. „Da ist er ja, der stramme Läufer. Wo versteckst du dich denn? Man bekommt dich ja kaum noch zu Gesicht“, überfiel Bob ihn gleich.

Pana holte Luft, um die Frage möglichst rasch zu beantworten.

Andrew war aber schneller: „Ja, genau. Und warum ist Ute denn immer noch weg? Hat sie sich etwa wieder mit ihrem Ex versöhnt. Och, das würde mir ja so leidtun für dich, Pana.“

Auch diese Frage konnte Pana nicht beantworten, weil nun wieder Bob das Wort ergriff: „Das wäre ja schrecklich. Aber sie kommt schon wieder, keine Sorge. So, wie sie dich immer angeschmachtet hat. Das ist mir sofort aufgefallen.“

„Was du immer siehst“, gab Andrew seinem Mann einen Seitenhieb und wandte sich wieder an Pana, der inzwischen beschlossen hatte, alle Fragen der beiden erst mal zu sammeln und dann in einer Antwort zusammenzufassen. „Sag mal, stimmt das, dass dein Eislieferant, der attraktive Vassili, verschwunden ist?“

„Woher kennst du denn seinen Namen?“, wollte Bob jetzt wissen.

„Du weißt doch, dass ich mir die Namen von schönen Männern immer merken kann. Also Pana, erzähl, du bist ja auch mit dem Schönling befreundet. Weißt du Näheres?“

Da die beiden ihn erwartungsvoll anschauten, ergriff Pana das Wort: „Also, ich trainiere für den Zehn-Kilometer-Lauf beim Paphos-Marathon und arbeite viel im Café, weil Sula zur Kur ist und ich sonst niemanden habe, der ihre Schichten übernehmen könnte, weshalb ihr mich nicht so oft seht. Ute kommt bald zurück, ich glaube nicht, dass sie sich mit ihrem Ex versöhnt hat, aber sie muss noch ein paar Dinge in Deutschland regeln und ich weiß leider nichts Näheres zum Verschwinden meines Eislieferanten Vassili. Sonst noch Fragen? Ich muss mich nämlich fertig machen und Heike im Café ablösen.“

„Nur noch einen Moment. Hast du denn auch im Radio gehört, dass der Bürgermeister verschwunden ist?“

„Ja, das habe ich gehört. Er soll von seinem Wanderausflug nicht zurückgekehrt sein.“

„Das ist doch seltsam, dass hier gerade so viele einfach verschwinden. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst.“ Bob und Andrew schüttelten gedankenversunken die Köpfe.

„Das stimmt. Aber das wird sich bestimmt bald aufklären. Kann ich sonst noch was für euch tun?“

„Nur noch eine Frage. Wir haben gesehen, dass dein Vater jetzt auch einen Hund hat“, merkte Bob an und warf seinem Mann einen Blick zu, der ihm wohl signalisieren sollte, an seine Einleitung anzuknüpfen.

„Ja, und?“, wollte Pana wissen.

Andrew umschloss den Dackel sorgfältig mit seinen Armen. „Uns ist nur aufgefallen, dass der Hund etwas … wie soll ich sagen … vielleicht etwas aufdringlich ist und das stört unseren Sir John doch sehr in seiner persönlichen Freiheit.“ Bob nickte zustimmend.

„Entschuldigung, ich verstehe nicht ganz. Was bedeutet denn aufdringlich? Also was macht der Hund?“

Wieder tauschten Bob und Andrew Blicke aus. „Na ja, er ist gestern sofort auf ihn zugerannt und hat ihm unanständig an seinem Hinterteil geschnüffelt.“

Pana musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. Er biss sich auf die Lippe und fragte: „Das ist alles? Vielleicht fühlt sich unser Hund ja von Sir James Glitzer-Halsband angezogen?“

Andrew und Bob sahen ihn echauffiert an. „John, Sir John ist sein Name. Und das ist kein ordinäres Glitzer-Halsband, sondern ein echtes Diamant-Halsband von Tiffanys. Wie ich sehe, findest du das nicht schlimm. Es ist ja auch nicht dein Hund, der sich belästigt fühlt“, merkte Bob beleidigt an.

Jetzt musste Pana doch lachen. „Ganz im Ernst, Jungs, ich bin zwar kein Hundeexperte, aber das ist doch voll normal.“

„Unseren Sir John stört das aber. Wir lassen ihn jetzt hier in der Straße gar nicht mehr auf den Boden, sondern tragen ihn bis zur Sea Caves Avenue und lassen ihn erst runter, wenn die Luft rein ist.“

„Das könnt ihr natürlich machen, wie ihr wollt, aber Theos Hund kann wirklich nichts für die Sprachstörung eures Dackels. Sorry, nicht böse sein. Ich muss wirklich weiter“, schloss Pana das Gespräch, lief die restlichen Meter zu seiner Haustür, winkte noch mal kurz und verschwand im Haus.

„Also das ist doch die Höhe“, meinte Bob, während sie noch verdutzt auf Panas geschlossene Haustür starrten.

Andrew schüttelte den Kopf und drückte den Dackel beschützend an sich. „Ach, ich glaube, mit ihm kann man gerade kein ernstes Gespräch führen. Warte ab, wenn seine Ute wieder da ist, dann wird er vielleicht wieder normal. Stimmt’s mein Sir Johnnylein?“

Frisch geduscht machte Pana noch einen kleinen Abstecher zu seinem Vater. Die paar Meter bis zu Theos Haustür musste Pana immer noch über Bob und Andrews Beschwerde lachen. „Die haben vielleicht Probleme“, sagte er zu sich selbst und passierte die Haustür seines Vaters, die immer offen stand, wenn er zu Hause war.

„Papa?“, rief Pana und fügte unnötigerweise hinzu: „Ich bin’s.“

Pana betrat Theos Küche, wo dieser gerade dabei war, dem Hund ein paar Kommandos beizubringen. Ohne Pana zu begrüßen, sagte Theo: „Pass auf, was wir schon gelernt haben.“

Pana beobachtete die Vorführung amüsiert. „Das klappt ja schon super. Wie ich sehe, habt ihr beide euch ja schon gut angefreundet.“

„Das ist so ein schlauer Hund. Nur rauchen darf ich nicht vor ihm, da bellt er mich an.“

„Das liegt wahrscheinlich daran, dass seine Vorbesitzerin geraucht hat und da sie gestorben ist … Wahrscheinlich will er einfach nur auf dich aufpassen.“

„Meinst du?“ Theo wirkte verblüfft.

„Ja, das meine ich. Ich habe übrigens noch mal im Shelter angerufen. Er heißt Alexis.“

„Alexis“, wiederholte Theo. „Das gefällt mir. Passt gut zu dir“, fügte er hinzu und streichelte seinem neuen Freund über den Kopf.

„Gibt es sonst was Neues?“, wollte Theo wissen.

„Nein, bisher nicht. Ich muss jetzt ins Café, Heike ablösen. Sie bekommt morgen Besuch von ihrer Schwester und wollte noch ihr Haus putzen und alles Mögliche vorbereiten.“

„Ah, verstehe. Hast du was von Ute gehört?“

„Wir telefonieren fast täglich. Es geht ihr gut. Sie hat noch ein paar Dinge zu regeln und kommt in ein bis zwei Wochen zurück.“

Theo lächelte seinen Sohn aufmunternd an und wechselte schnell das Thema, bevor Pana ihm womöglich noch Neuigkeiten von Hilde erzählte.

„Dann wünsche ich dir einen schönen Tag. Vielleicht komme ich später auf unserem Abendspaziergang mit Alexis noch bei dir vorbei.“

„Ja, das wäre schön. Ich habe Apo schon erzählt, dass er deinen neuen Freund auch bald kennenlernen wird. Dann bis später.“

„Bis dann.“

Fünf Minuten später kam Pana am Café an. Nachdem er heute schon zehn Kilometer gelaufen war, war er mit dem Auto gefahren. Schließlich sollte man auch nichts übertreiben. Kaum hatte er seinen Suzuki abgestellt, lief ihm Heike schon ganz aufgeregt entgegen und fuchtelte wild mit ihren Armen. „Da bist du ja endlich! Eben war diese eingebildete Gerichtsmedizinerin da und wollte dich sprechen.“

„Eleni? Hat sie gesagt, was sie wollte?“

„Nein. Nur, dass sie beruflich in der Gegend ist. Sie kommt nachher noch mal vorbei.“

„Und was daran versetzt dich in diese Wallung?“

„Also Pana. Bist du jetzt schwer von Begriff?“

Pana runzelte die Stirn und wartete neugierig auf Heikes Erklärung. „Wenn eine Gerichtsmedizinerin beruflich in der Gegend ist, heißt das ja wohl, dass hier in der Gegend eine Leiche gefunden wurde“, erklärte Heike ihm langsam und betonte dabei jedes Wort. „Schon wieder“, fügte sie noch an und Pana konnte die Emotion in ihrer Stimme nicht richtig deuten. War es Verzweiflung oder Sensationsgier?

„Ich finde, da bist du jetzt ein bisschen voreilig.“

Heike riss ihre Augen irritiert auf.

„Vielleicht hat sie ja ein Seminar in der Gegend oder sowas“, merkte Pana noch schnell an.

„Wo soll denn hier bitte ein Seminar stattfinden? Im Bananenfeld, oder wo?“

Pana merkte, dass ihm etwas anderes einfallen musste, um Heike zu beruhigen. Er fasste Heike an den Oberarmen und sagte behutsam: „Wir wissen es nicht und solange wir nichts Näheres wissen, ziehen wir keine voreiligen Schlüsse. Ok?“

„Ja, aber der Vassili wird doch vermisst und der Bürgermeister ja auch und …“

„Psst, ganz ruhig. Wir bewahren jetzt erst mal Ruhe. Komm, ich mache dir einen Schmusi, der beruhigt dich doch immer.“

Heike setzte sich und rief Pana hinterher: „Aber vergiss das Likörle nicht. Bitte einen großen Schuss, sonst bringt der gar nichts.“

Pana lächelte und war froh, dass gerade kein Gast da war. „Natürlich“, rief er knapp zurück und machte sich ans Werk.

Gerade als er den Schmusi mit sehr ordentlichem Schuss Haselnusslikör vor Heike abstellte, klingelte sein Handy. „Das ist Ute. Ich bin gleich wieder da“, sagte er und lief die Straße entlang Richtung Meer.

„Sag Grüße“, trällerte Heike ihm hinterher, nachdem sie einen ersten großen Schluck von ihrem Getränk genommen hatte.

„Hallo, Ute. Ich kann leider nicht lange reden. Heike will nach Hause und alles für den Besuch ihrer Schwester vorbereiten. Im Moment ist zwar kein Gast da, aber du weißt ja, dass sich das schnell ändern kann.“

„Vor allem kurz vor Sonnenuntergang, ich weiß. Wir können auch später telefonieren, wenn es jetzt nicht passt. Ich wollte nur kurz wissen, was es Neues gibt und ob Theo sich schon mit seinem Hund angefreundet hat.“

„Seit gestern ist nicht viel passiert. Außer, dass sich Theo und der Hund, der übrigens Alexis heißt, zum Glück ausgezeichnet verstehen. Und ach so, das hatte ich gestern vergessen zu erzählen: Der Bürgermeister ist verschwunden. Er war wohl wandern und kam nicht mehr zurück.“

„Wie bitte? Er auch noch? Erst dein Eislieferant und jetzt der Bürgermeister. Das ist ja komisch. Meinst du, die beiden Vermisstenfälle hängen zusammen?“

„Ich wüsste nicht, wie.“ Pana sah von Weitem, dass Heike ihm winkte. „Du, ich muss leider Schluss machen. Ich melde mich später noch mal. Ach, ich soll dich noch lieb von Heike grüßen.“

„Danke, ich werde mich nachher bei ihr melden. Sie ist ja so nervös wegen des Besuchs ihrer Schwester. Ok, alles klar, dann melde dich einfach später, wenn es passt.“

„Ok, bis dann.“

Als Pana wieder am Café ankam, küsste Heike ihn zum Abschied auf beide Wangen und bat ihn: „Wünsch mir Glück. Ich komm dann übermorgen wieder zur Arbeit.“

„Das klappt bestimmt alles. Du kannst dir ruhig freinehmen, um …“

„Nix da“, unterbrach sie ihn. „Ich lass doch meinen Pana nicht im Stich, jetzt wo auch noch die Sula weg ist. Nein, nein, du kannst übermorgen wieder mit mir rechnen.“ Motiviert klopfte sie ihm auf die Schulter, stieg in ihren gelben Nissan Micra, auf dessen Heckscheibe ein großer Aufkleber mit einer von vielen Herzen und Katzenpfoten-Abdrücken eingerahmten Katze und der Aufschrift ‚Big love forever‘ prangte, und brauste davon.

Die Sonne kündigte langsam ihren Feierabend an und tauchte alles in ein gelbes Licht. Als wären dadurch alle Sonnenuntergangshungrigen gerufen worden, bildete sich eine Touristen-Schlange vor Panas Café. Sie holten sich einen Frappé oder ein Bier oder beides als Proviant für das Sonnenuntergangsspektakel, das nur 100 Meter von Panas Café entfernt lag. Sie setzten sich mit ihrem Getränk ans Meer und beobachteten, wie die Sonne hinter dem Schiffswrack langsam am Horizont ins Meer abtauchte. Pana dachte an Ute. Er hatte ihr dieses Spektakel auch mal gezeigt und fand es so süß, wie Ute die Sonne verabschiedete: „Tschüss Sonne, bis morgen.“

Gedankenverloren schmunzelte er vor sich hin, während er den Touristen hinterherschaute, wie sie mit ihren Getränken in der Hand Richtung Meer liefen.

„Schön, dass ich dich noch erwische. Ich dachte schon, ich wäre zu spät“, riss Elenis Stimme ihn aus seinen Erinnerungen.

„Hallo, Eleni. Heike hat gesagt, dass du hier warst. Wie geht’s?“

„Wenn ich daran denke, dass du dich so lange nicht bei mir gemeldet hast, geht es mir nicht gut. Nachdem geklärt war, wie die Frau ums Leben kam, habe ich nichts mehr von dir gehört. Ich könnte auf die Idee kommen, dass du dich nur mit mir getroffen hast, um mehr über die Ermittlungen in dem Fall zu erfahren.“

„Ach was, wo denkst du hin. Ich habe nur so viel um die Ohren. Ich trainiere für den Zehn-Kilometer-Lauf beim Paphos Marathon und dann fehlen mir gerade meine Helferinnen im Café. Da bleibt nicht viel Zeit übrig.“

„Ich dachte, der Marathon hätte Anfang März stattgefunden.“

„So war es ursprünglich geplant, aber da die Bauarbeiten am Hafen noch nicht fertig sind, haben sie ihn auf den 24. verschoben.“

Eleni zog ihren Schmollmund, der Pana von Anfang an genervt hatte und sagte: „Na gut, dann will ich dir noch mal verzeihen. Aber du weißt, dass du dir jetzt wirklich was einfallen lassen musst, um mich wieder milde zu stimmen.“

Pana hatte keine Lust, darauf einzugehen, und fragte stattdessen: „Heike meinte, du wärst beruflich in der Gegend?“

„Ja, das ist richtig.“

„Aber du darfst nicht drüber reden?“

„Ach, was soll’s. Morgen steht es eh in der Zeitung. Heute wurde unten an der Küstenweg-Baustelle eine Leiche gefunden.“

„Was? Oh Gott! An welcher Baustelle?“

„Unten bei Pistol-Bay.“

„Ach, da war ich erst heute Morgen laufen.“

„Da hatten sie die Leiche offenbar noch nicht entdeckt. Sie war unter dem Küstenweg vergraben und wurde nur deshalb entdeckt, weil sie heute alles noch mal aufreißen mussten. Sie hatten wohl irgendwas vergessen.“

„Die Drainage.“

„Keine Ahnung, warum. Wir wissen noch nicht mal, um wen es sich bei dem Toten handelt. Die Spurensicherung macht morgen weiter, weil es jetzt langsam dunkel wird. Die Leiche wird gerade in die Gerichtsmedizin gebracht. Morgen wissen wir mehr.“

Samstag, 16. März

Panas Herz war so schwer und leiderfüllt, dass er es an diesem Morgen entgegen seiner Natur kaum aus dem Bett schaffte. Die Nachricht von Vassilis Tod hatte ihn regelrecht geplättet.

Stöhnend setzte er sich auf die Bettkante und sah zum Fenster raus. Nicht mal der strahlende Sonnenschein und der schöne Meerblick konnten ihn trösten. Mühsam stemmte er seine Arme in die Matratze und schob seinen bleischweren Oberkörper hoch. So stand er regungslos vor seinem Bett und starrte weiter aufs Meer. Das Klingeln seines Handys brachte ihn zurück ins Hier und Jetzt. Er schüttelte den Kopf, streckte sich und griff nach seinem Handy. Es war Ute. Sie hatte schon am Vorabend angerufen, doch er war nicht in der Lage zu antworten. Auch in diesem Moment war er nicht in Plauderstimmung, wollte aber auch nicht, dass sie sich Sorgen machte. Deshalb ging er ran: „Hey, Ute. Bitte entschuldige, dass ich gestern nicht zurückgerufen habe. Ich habe eine schlimme Nachricht erhalten und musste die erst mal verdauen.“

„Oh je. Was ist passiert? Du klingst ganz niedergeschlagen.“

„Yiannis war gestern bei mir im Café. Sie haben den verschwundenen Vassili tot aufgefunden.“

„Was? Das ist ja schrecklich! Hatte er einen Unfall?“

„Das muss erst geklärt werden. Ich muss jetzt erst mal das Café öffnen und frage Dimi, ob er kurz die Stellung halten kann. Dann will ich Vassilis Frau besuchen. Sie steht bestimmt unter Schock und kann vielleicht meine Hilfe brauchen.“

„Ja, bestimmt“, bestätigte Ute und musste trocken schlucken. „Er war ja noch nicht so alt, oder?“

„Ich glaube, er war Anfang 40. Auf jeden Fall zu jung zum Sterben.“

„Oh Gott. Seine arme Frau. Hatten sie Kinder?“

„Nein. Er hat mir mal erzählt, dass er so gerne welche gehabt hätte, aber seine Frau Anastasia wohl nicht, oder wollte noch warten oder so. Tja und jetzt …“ Pana machte eine Sprechpause. „Ich melde mich später noch mal. Ich bin total spät dran, entschuldige.“

„Natürlich, kein Problem. Pass auf dich auf.“

„Mach’ ich. Du auch. Bis später.“

Pana hatte Glück. Sein Kumpel Dimi hatte ab dem Mittag Zeit und konnte für zwei Stunden in seinem Café einspringen. „Da ist der erste Touristenschwung weg und bis zum nächsten Ansturm bin ich wieder da“, versprach Pana ihm am Telefon. Dimi war zu der Jahreszeit noch nicht ausgelastet, weil die Pools seiner Kunden nur 1x pro Woche gepflegt werden mussten und er die Nachmittage größtenteils frei hatte.

Dimi erschien pünktlich um 13 Uhr und parkte seinen schwarzen Jeep mit der neonpinkfarbenen Aufschrift ‚Splish Splash Pool Cleaning‘ direkt vor Panas Café. „Yia sou Bro“, begrüßte er seinen Freund lässig, als er schwungvoll die Autotür zuwarf.

„Yia sou, mein Freund“, antwortete Pana und streckte ihm die Hand entgegen.

Dimi zog ihn an sich, drückte seine Schulter gegen Panas und klopfte ihm fest auf den Rücken. „So ’ne Scheiße, Mann. Dass es ausgerechnet den Vassili erwischt hat. Ich kann das gar nicht glauben.“

„Geht mir genauso.“

„Seine Frau zu besuchen, wird bestimmt schwer. Mann, Alter, da will ich nicht mit dir tauschen.“

„Ja, der Besuch junger Witwen gehört auch nicht gerade zu meinen Lieblingsfreizeitbeschäftigungen.“ Pana lächelte gequält.

„Klar, Mann. Geh schnell, dann hast du’s schnell hinter dir. Muss ich denn hier irgendwas Besonderes beachten?“

„Eigentlich nicht. Wo alles steht und wie man Frappé macht, weißt du ja und …“ Pana schlug sich die flache Hand auf die Stirn. „Shit! Ich habe meinen Vater ganz vergessen. Er wollte heute mit seinem Hund vorbeikommen. Ich habe vor lauter Schock total vergessen, ihm Bescheid zu geben.“

„Ist doch kein Ding. Ich freue mich, wenn ich den Alten mal wieder sehe.“

„Ok. Er ist nämlich bestimmt schon auf dem Weg hierher. Erklärst du ihm, was passiert ist?“

„Mach dir keine Sorgen, Bro. Ich mach das schon.“ Dimi schlug ihm zuversichtlich auf die Schulter. „Du konzentrierst dich jetzt auf den Witwenbesuch und der alte Dimi regelt hier schon alles.“

„Danke, mein Freund.“

„Ist doch klar, Mann.“

Pana war einmal mehr überrascht von seinem Kumpel, der sonst so cool und manchmal derb rüberkam. Er kannte ihn schon eine halbe Ewigkeit und wusste, dass er ein Herz aus Gold hatte. Er hielt es nur vor den meisten Leuten gut versteckt. Während er noch darüber grübelte, warum sein Freund das Beste an sich geheim hielt, stieg er in sein Auto und machte sich auf den Weg.

Ohne den Weg bewusst registriert zu haben, fand Pana sich vor Vassilis Haus wieder. Bevor er ausstieg, sammelte er seine Gedanken und legte sich ein paar Sätze zurecht. Er blickte in die Orangen-Plantage neben dem Haus und dachte an das beste Eis, das der Verstorbene daraus kreiert hatte. Vassili war nicht nur kreativ und fleißig gewesen, er war auch freundlich, hilfsbereit und bescheiden. Pana konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihn jemand loswerden wollte. Er atmete tief durch, stieg aus und lief mit großen schnellen Schritten auf das Haus zu. Vor der Haustür atmete er noch einmal langsam durch die Nase ein und durch den Mund aus. „Komm schon, Pana, du schaffst das“, sprach er sich selber Mut zu und drückte den Klingelknopf.

„Yia sou, Stelios“, begrüßte er Vassilis Bruder, der ihm die Tür öffnete.

„Ähm, yia sou… Pana, richtig?“

„Ja, genau. Ich will nicht stören. Ich komme nur vorbei um … um euch mein herzliches Beileid auszusprechen.“

Stelios sah ihn zögernd an, verzog keine Miene und sagte schließlich: „Gut, komm rein. Aber bitte nur kurz. Wir haben einen Haufen Zeug zu erledigen.“

„Ja, natürlich. Danke.“ Pana trat in den Flur, wartete brav, bis Stelios die Haustür schloss, und folgte ihm in die Küche.

„Ana, hier ist ein Mann, der zu dir will“, kündigte er Panas Besuch an.

Pana blieb im Türrahmen stehen und wartete darauf, dass die junge Witwe ihn hereinbat. Sie saß am Küchentisch auf einem Stuhl. Beide Füße auf der Sitzfläche umarmte sie ihre Beine und vergrub ihr Gesicht zwischen ihren Knien. Neben ihr saß eine Frau, die vermutlich Stelios Frau war und strich ihr über die braunen langen Haare. Pana war kurz von dem Anblick irritiert, weil er niemals auf einem Stuhl sitzen und seine Füße auf demselben abstellen könnte, aber sowohl sein Hintern als auch seine Füße waren um einiges größer als die der zierlichen jungen Witwe.

„Yia sas. Bitte verzeiht die Störung. Ich habe gehört, was mit … was mit Vassili passiert ist und wollte … ähm … mein herzliches Beileid.“

Die junge Witwe reagierte nicht. Sie sah ihn nicht mal an, was Pana noch mehr verunsicherte. Ihre Schwägerin nickte ihm kurz traurig zu und lächelte schwach, ohne die Streichelbewegung zu unterbrechen.

„Ich, ähm … braucht ihr denn irgendwas? Kann ich irgendwie helfen?“

In dem Moment hob Anastasia ruckartig ihren Kopf und fuhr Pana an: „Ja, kannst du, indem du sofort abhaust!“ Ihre Stimme brach am Ende des Satzes und sie verbarg ihr rot verheultes Gesicht wieder hinter ihren Beinen.

Pana konnte mit der Reaktion nichts anfangen. Er wusste zwar, wie man sich fühlte, wenn man einen geliebten Menschen verloren hatte, aber mit Wut hatte er nicht gerechnet. Vor allem, weil er weder Vassili noch ihr oder sonstigen Anwesenden etwas Böses getan hatte. Im Gegenteil. Seine Absichten waren besten Ursprungs. Verdutzt versuchte er in Stelios’ Gesicht eine Erklärung abzulesen. Der kniff aber nur die Lippen zusammen und bat ihn dann, der Aufforderung seiner Schwägerin zu folgen: „Bitte, du hast ja gehört, was sie gesagt hat.“

Pana ließ sich nicht so einfach vergraulen. „Ich verstehe, dass ihr alle unter Schock steht. Falls ihr etwas braucht, oder ich irgendwie helfen kann, könnt ihr mich jederzeit anrufen.“ Er legte eine Visitenkarte vom Café auf den Küchentisch.

Anastasia reagierte nicht, ihre streichelnde Schwägerin nickte ihm kurz zu und Pana verließ die Küche, dicht gefolgt von Stelios.

„Nimm’s ihr nicht übel. Sie hat, glaube ich, noch gar nicht kapiert, was passiert ist.“

„Ja klar, das verstehe ich gut. Wie gesagt, meldet euch gerne, wenn ich etwas tun kann.“

„Warum tust du das?“

„Wie? Was tue ich?“

„Na ja, warum bietest du Hilfe an. Du bist zwar ein Kunde von uns, aber mehr ja auch nicht.“

„Das tue ich für Vassili. Schließlich waren wir befreundet.“

„Keine Ahnung, mit wem mein Bruder so abhing. Das hier ist jedenfalls Familiensache und ich wäre dir dankbar, wenn du dich nicht wieder einmischst.“

Jetzt war Pana wirklich perplex. Er brauchte einen Moment, bis Stelios’ Worte bei ihm gesackt waren. „Es tut mir leid, wenn du mein Hilfsangebot als Einmischung interpretierst. Das war natürlich nicht meine Absicht. Trotzdem bleibt mein Angebot weiter bestehen.“

Stelios zog die Augenbrauen hoch und öffnete Pana wortlos die Tür.

Pana saß im Auto und musste wie bei seiner Ankunft erst durchatmen.

„Was war das denn?“, fragte er sich selbst, fand aber vorerst keine Antwort. Er nahm sich vor, am Abend mit Ute darüber zu sprechen. Sie hatte meistens eine Erklärung für seltsame Verhaltensweisen von Menschen. Er startete den Motor und fuhr zum Café.

„Das ging ja schnell. Haben sie dich rausgeschmissen?“ Dimi grinste und wusste anscheinend nicht, wie sehr er damit den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

„Tatsächlich, das haben sie.“

Dimis Lächeln verebbte abrupt. „Dein Ernst? Warum das denn?“

„Wenn ich das beantworten kann, geht’s mir besser. Ich habe keine Ahnung. Die Witwe hat mich angebrüllt, dass ich wieder abhauen soll, und Vassilis Bruder war offenbar ganz ihrer Meinung. Ich soll mich nicht einmischen, hat er gesagt. Dabei habe ich nur meine Hilfe angeboten.“ Pana rieb sich die Stirn und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. „Auch eins?“

„Immer“, sagte Dimi und lehnte sich gegen den Verkaufstresen. „Mach dir nichts draus. Anastasia und Stelios sind beide nicht für ihre Freundlichkeit bekannt. Und in so einer Situation verstärken sich meistens die schlechten Eigenschaften.“

„Woher hast du das denn? Hast du einen Psychologie-Kanal auf YouTube abonniert?“, wunderte sich Pana.

„Ach was. Das habe ich irgendwo mal aufgeschnappt. Ich glaube, von Ute. Jedenfalls ist Stelios das komplette Gegenteil von seinem Bruder.“

„Ich wusste gar nicht, dass du ihn kennst.“

„Er war mal eine Zeit lang im selben Fitnessstudio wie ich, da haben wir manchmal gequatscht.“

„Du im Fitnessstudio?“

„Nur wegen der geilen Hasen, die da rumhoppeln. Du verstehst?“ Dimi zwinkerte ihm zu.

„Verstehe. Und dort hast du dich mit ihm unterhalten? Hätte nicht gedacht, dass man das mit ihm kann.“

„Unterhaltung würde ich das nicht nennen. Es ging immer um irgendwelchen oberflächlichen Kram. Autos, Frauen, sowas eben.“

„Frauen? Er ist doch verheiratet.“

„Ja und? Das juckt den wohl kaum. Er hat immer irgendwelchen Tussen im Fitnessstudio hinterher gegeiert. Dabei ist seine Frau ja echt ein scharfer Zahn. Titten hat die, boah, ich sag’s dir. Zwischen die Dinger will man einfach nur sein Gesicht stecken und drin versinken“, träumte Dimi.

„Schon gut, komm wieder zurück“, bat Pana. „Solche Typen wissen meistens nicht zu schätzen, was sie haben. Die arme Frau. Sie war die Einzige, die einen sympathischen Eindruck auf mich gemacht hat.“

„Ist sie. Keine Ahnung, was sie an dem blöden Typen findet. Aber wo die Liebe hinfällt. Vielleicht sind sie auch nur wegen der Kinder noch zusammen.“

„Du und deine Theorien.“ Pana grinste ihn an. „War eigentlich mein Vater mit seinem Hund hier?“

„Ja, aber nur kurz. Als ich gesagt habe, dass du nicht da bist, ist er gleich weiter.“

„Ah, ok. Dann schaue ich nachher noch bei ihm vorbei.“

Dimi schien zu merken, dass Pana gedanklich immer noch bei Vassilis Familie war. „Was hast du denn jetzt vor?“

„Ich muss wissen, was mit Vassili passiert ist. Vielleicht sollte ich mich mal wieder mit Eleni treffen?“

„Du ausgekochter Fuchs.“

„Sie ist vermutlich meine einzige Chance, an Infos zu kommen. Außerdem hat das schließlich schon mal geklappt.“

„Ja, aber dafür hängt sie dir dann wieder an den Hacken. Ist es das wert? Ich dachte, du wolltest die Ute endlich klarmachen, sobald sie aus Deutschland zurück ist.“

„Das eine schließt das andere ja nicht aus.”

„Ach, ich weiß nicht, Bro. Irgendwann erfahren wir ja offiziell, was passiert ist.“

„Das ist die Frage. Wer weiß, ob mein bescheuerter Cousin den Fall lösen kann. Und wenn, dann wird das eine Ewigkeit dauern. So lange kann ich nicht warten.“

„Ich kann’s dir wohl nicht ausreden?“

„Genau.“