Leseprobe Eine Leiche zur Beichte

Kapitel Eins

Snugford, einige Zeit zuvor

Überm Wald stand die Sonne am Himmel, strahlend schön und die Blätter und Früchte an den Bäumen und Sträuchern liebkosend, was Snugford jedoch nicht dazu motivierte, aus seiner Trägheit zu erwachen. Die Mittagspause war den Bewohnern heilig, mochte der Sommer endlich ins Land gezogen sein oder nicht. Es wäre schlichtweg eine Verschwendung, deswegen zu viel Energie einzusetzen. Es gab ja nichts zu erleben und um die Mittagszeit noch weniger.

Und exakt deshalb war Jay Jameson, seit drei Monaten vollständig akzeptierter Detective Chief Inspector der Gemeinde Snugford, um diese Zeit unterwegs. Mittagspausen, in denen es nichts zu erleben gab, trafen genau seinen Geschmack. Jetzt, wo es das Wetter zuließ, genehmigte er sich gerne einen Spaziergang durch das Dörfchen. Er genoss die Ruhe, die Friedlichkeit und die Sonnenstrahlen auf der Haut. Es gab nichts Angenehmeres als diese dörfliche Behaglichkeit. Kaum zu glauben, dass es Zeiten, und die lagen nicht lange zurück, gegeben hatte, in denen es hier anders zugegangen war. Unsichere Zeiten, während derer die Leute einander nicht über den Weg getraut hatten – und Jay ihnen allen kein bisschen. Aber mit seiner erfolgreichen Festnahme des Gemeindepriesters Father Custom hatte sich wieder Ruhe in Snugford eingestellt. Die Leute gingen ihrem Tagwerk nach – inzwischen mit einem Lächeln auf dem Gesicht trafen sie ihren Detective Chief Inspector auf der Straße. Was um diese Zeit nicht viele waren. Die meisten verbrachten ihre Mittagspause zu Hause, nur wenige promenierten wie Jay durch die Gegend. Dazu musste man schon einen triftigen Grund haben. Wie die alte Janet Sweetfinger zum Beispiel, die laut Getuschel der anderen aus ihrem Winterschlaf erwacht war. Kälte sei nichts für ihre alten Knochen, daher komme sie erst aus ihrem Häuschen, wenn die Temperaturen die zwanzig Grad erreichten. Das bedeutete, dass man sie etwa drei Monate im Jahr sah. Außer zur sonntäglichen Messe. So war ihr Jay bekannt und sie nickte ihm höflich zu, als sich ihre Wege kreuzten. Jay erwiderte ihr Nicken mit einem Lächeln, das sich beim Anblick der nächsten nahenden Dame verflüchtigte.

„Guten Tag, DCI Jameson, wie nett, Sie zu sehen. Wunderbares Wetter, was?“ Lady Mortimer sah ihrer gleichnamigen Hündin mit jedem Tag ähnlicher. Beide waren klein, gedrungen und verfügten über ausgiebige Falten im Schulter- und Halsbereich. Sie unterschieden sich darin, dass die Bulldogge vorne breiter als hinten war und ihre Besitzerin hinten breiter als vorne. Letzten Endes waren sie beide vorrangig speckig.

„Ich grüße Sie, Lady Mortimer“, antwortete Jay und trat einen Schritt außer Reichweite der Bulldogge, „in der Tat ein schöner Sommertag.“

„Noch ist laut Kalender Frühling“, sagte Lady Mortimer. „Erst am Wochenende ist es so weit, vom Sommer zu sprechen. Freuen Sie sich auf das Mittsommerfest?“

Jay freute sich selten auf Feste. Er fand sie laut und überfüllt und im Falle Snugfords versprachen sie aufgrund der Blaskapellengruppe melodische Disharmonie. Aber er war stets bereit, sich vom Gegenteil überzeugen zu lassen.

„Ich bin gespannt darauf.“

Diese Antwort befriedigte Lady Mortimer und das Gespräch fand einen höflichen Ausklang. Bedauerlicherweise war es lang genug gewesen, um Bulldogge Mortimer die Möglichkeit einzuräumen, ein neues Häufchen zu legen – unweit von Jays Fuß entfernt. Wie so oft nicht auf den Boden achtend, wäre er mit Sicherheit hineingetreten, hätte nicht in eben dem Moment, in dem er den Fuß hob, Robbie Nelson mit seinem Postfahrrad etwas zu schwungvoll die Spur gewechselt. Jay musste ausweichen und verpasste somit um Haaresbreite den Haufen. Glück gehabt. Von diesem nichts ahnend schlenderte er weiter.

Snugford war wirklich ein herrliches Örtchen. Friedlich, freundlich, überschaubar. Vom B&B aus benötigte man nur wenige Schritte zum zentralen Marktplatz, dem Lebensmittelpunkt der Snugforder, um den sich die meisten Örtlichkeiten formierten. Der Teeladen zum Beispiel, der sich schräg gegenüber von seinem Präsidium befand. Und wären nicht die Marktstände im Weg, hätte er mit einem Fernglas von seinem Bürofenster aus womöglich direkt in Zoey Blooms Schaufenster sehen können. Er strich sich räuspernd über das Gesicht. Wenn man ein Fernglas besäße und es auf diese Weise nutzte …

Jay widerstand dem Impuls, sich nach dem Teeladen umzudrehen und setzte seinen Spaziergang in Richtung des Villenviertels fort. Er musste sich noch Gedanken um das heutige Abendessen machen. Eine Neuheit, die er immer wieder vergaß. Für gewöhnlich brauchte er sich zumindest ums Essen niemals zu sorgen. Neuerdings …

„Ah, einen famosen guten Tag wünsche ich, DCI Jameson. Was haben wir herrliches Wetter heute!“ Die Stimme der Baronin von Lockspridge riss ihn aus seinen Überlegungen und er hob den Blick. Wie immer war die Baronin Ton in Ton und äußerst stilvoll gekleidet und wie immer hatte sie ausreichend Zeit, um für ein Schwätzchen zu halten. Das war schon in Ordnung. Sie besaß ja keinen Hund mit Schließmuskelproblem. „Genießen Sie Ihre Mittagspause, mein Lieber?“

„Oh, ja, durchaus“, antwortete Jay und erwiderte ihr Lächeln, fragte sich, wie lange noch, denn sie hörte nicht auf, ihn anzustrahlen.

„Was machen Sie gerade, wenn die Frage erlaubt ist?“ Sie trat noch einen Schritt näher, will heißen, fast auf seinen Fuß. Ihr Parfüm drang in seine Nase.

„Ach, na ja, ja, wieso sollte sie nicht erlaubt sein?“ Er hüstelte unter dem aufdringlichen Geruch. „Ich gehe ein paar Akten durch.“

„Ah“, sie nickte, ihr Gesichtsausdruck nahm eine mitfühlende Note an, „Sie Ärmster, wie langweilig.“

„Nicht doch.“ Jay winkte ab. „Die Probleme kommen früh genug.“

Das kamen sie immer. Nicht einmal Snugford stellte darin eine Ausnahme dar, so sehr er sich der Illusion bei seinem Amtsantritt hingegeben hatte.

Baronin von Lockspridge legte ihm eine Hand auf die Schulter und klimperte mit den Wimpern. „Ach, Sie haben vielleicht recht und es sich außerdem verdient. Nach dem aufregenden Mord im Teeladen.“

Ehe sie beide den Eindruck gewinnen konnten, sie stünde zu nah bei ihm, nahm sie die Hand wieder fort und empfahl sich ihm. Er winkte ihr, sich umdrehend, hinterher, die Gedanken waren längst woanders. Sein Blick fand besagten Teeladen, der zwischen den Ständen der Marktleute hervorlugte und sein Herzschlag beschleunigt sich. Ehe der sich überschlagen konnte, räusperte sich Jay. Er wandte die Augen in die entgegengesetzte Richtung zu den Villen und strich sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht – immer noch irritiert darüber, dass sie jetzt so viel kürzer waren. Seit nämlich Maggie die Schere ausgerutscht war. So nannten sie den Unfall. Sie hatte sich angeboten, ihm mal eben rasch die Spitzen zu schneiden und, nun ja, sie hatte ein paar Zentimeter zu viel erwischt – man konnte ja nicht alles können. Es war nicht weiter tragisch. Das nächste Mal würde er gleichwohl in den Friseursalon der Lovflats gehen oder es ganz lassen mit der neuen Frisur. Veränderungen waren nicht sein Ding, jedenfalls nicht, was sein Aussehen oder Verhalten anging. So was musste gut überlegt sein. Inzwischen hatte er sich an den sogenannten Bro Flow gewöhnt. Dass seine Frisur so hieß, wusste er von Liv, die ihm geholfen hatte, sie anständig zu stylen. Seine mittellangen Haare wurden mit Livs Anweisung nach hinten gekämmt und mit etwas Wachs in Form gebracht. Eine dezent aufwendige und langwierige Sache, jedenfalls, wollte man sie jeden Tag durchführen. Das erschien ihm unmöglich. Vor allem, an Tagen, an denen er spät dran war. An solchen standen die Strähnen dann wirr vom Kopf. Nicht dramatisch. Allein für besondere Ereignisse musste er sich bemühen …

Wieder wanderte sein Blick zum Teeladen. Seine Fußspitze zuckte in diese Richtung. Ding Dong. Die Kirchturmuhr am östlichen Ende des Marktplatzes verriet das Ausklingen der Mittagspause und so räusperte er sich und wandte sich wieder seinem Präsidium zu, war kaum weitergekommen, als vor seinem Spaziergang.

***

Er wurde bereits vor seiner Dienststelle erwartet, und es roch nach Ärger. Jay erspähte Romilda Wickelson mit ihrem Sohn Ronald, und wie es aussah, hatte er irgendetwas ausgefressen. Die Wickelsons waren die Nachbarn der Nelsons, und anders als diese nahmen sie ihre Kinder recht hart ran, wenn es um Verfehlungen noch so simpler Art ging. Im Grunde müsste das Jay nicht tangieren, aber damit wurden die Wickelsons zu jener Sorte Mensch, die dafür sorgte, dass es einem Detective Chief Inspector mitnichten langweilig wurde. Jeder andere DCI außer Jay hätte es für unter seiner Würde betrachtet, sich mit ihrem Pipifax herumzuärgern. Jay nahm es mit Gleichmut hin.

„Dem Himmel sei Dank, da sind Sie ja!“ Mrs Wickelson bestürmte Jay, noch ehe er den Mund zu einem Grußwort geöffnet hatte. „Stellen Sie sich diese Ungehörigkeit vor: Ronalds Fahrrad wurde gestohlen!“

Jay blinzelte. Es klang allerdings nach einer Ungehörigkeit. Und Unsinnigkeit. Wer sollte das Fahrrad eines Grundschülers klauen? Alle siebenundfünfzig Schüler der SF Primary School verfügten über Fahrräder, weil die Radprüfung Teil des ersten Schuljahres war – kein Grund, sich gegenseitig zu bestehlen. Erwachsene konnten auf so kleinen Dingern nicht fahren. Was sollte der Blödsinn?

„Bestimmt ein harmloser Lausbubenstreich“, sagte Jay mit seinem freundlichen Lächeln, das nicht erwidert wurde.

Mrs Wickelsons orangerote Haartolle wackelte, ihre Brauen zogen sich steil zusammen. „Laus- was?“

„Na, nun, ein … ein Jungenstreich, von einem Klassenkameraden.“

„Das ist ja wohl nicht harmlos!“ Sie echauffierte sich sehr gekonnt, was Jay unmissverständlich klarmachte, dass von ihm auf der Stelle und ohne Aufschub erwartet wurde, den Tatort aufzusuchen. Er unterdrückte ein Seufzen und lächelte stattdessen. „Wo hast du dein Fahrrad denn das letzte Mal gesehen?“ Er wandte sich bewusst an Ronald, der mit hochrotem Kopf neben seiner Mutter stand, vielleicht peinlich berührt von ihrem Auftritt.

„Ich hab’s wie jeden Morgen vorne bei den Fahrradparkplätzen abgestellt, direkt vor der Schule - und abgeschlossen.“ Das versicherte er mit Nachdruck. Jay glaubte ihm, seine Mutter sah skeptisch aus. Sie verfügte über die flexibelsten Augenbrauen, die Jay kannte. Sie konnte sie beide gleichzeitig oder einzeln gewinnbringend einsetzen. Im Moment hing die rechte geschwungen über ihrem Auge, aus dessen schmalem Schlitz sie ihren Sohn fixierte.

„Na fein, dann gehen wir am besten direkt dorthin und sehen uns die Sache mal an.“

Es war ein Fußweg von zehn Minuten, und eigentlich hielt es Jay für überflüssig, überhaupt ein Fahrrad für so eine kurze Strecke zu bemühen. Wie zu erwarten, fanden sie kein Rad vor. Dafür eine verbeulte Trinkflasche, einen rostigen Fahrradschlüssel und jede Menge Müll. Ein Teil davon klebte Jay bereits am Schuh: Eine mutwillig auf den Boden geschleuderte Bananenschale, in die er natürlich getappt war – das war eine Ungehörigkeit. Hatten die hier keinen Pausenhofdienst? Egal.

„Der Schlüssel ist nicht von dir, oder?“

„Wo denken Sie hin!“ Es war Mrs Wickelson, die die Frage beantwortete. „So ein altes Ding. Ronald hat ein nagelneues Islabike. Wahrscheinlich wurde es deshalb gestohlen.“

Das war noch nicht erwiesen.

Ein Blick auf Ronalds Äußeres weckte Erinnerungen in Jay. Die Schnürsenkel seiner Turnschuhe waren mehr schlecht als recht zugebunden, seine Jacke hing verdreht unter seinem Schulranzen am Körper, und in seinem Gesicht war - dank der üppigen Sommersprossen nicht sehr auffällig, nichtsdestoweniger da - ein Rest seines Pausenbrotes zurückgeblieben. Vermutlich Erdnussbutter. Ronald erinnerte ihn in seiner gesamten Erscheinung an sich selbst. Inzwischen wusste er, wie die Leute ihn nannten. Schusselig. Er war in seiner Kindheit nicht ein einziges Mal bestohlen worden. Die Dinge waren trotzdem verschwunden. Und irgendwie war es immer seine Schuld gewesen …

„Hören Sie mir zu?“

Nein. Er hätte Mrs Wickelson gerne gefragt, ob sie denn etwas von Relevanz geäußert hatte, aber so unfreundlich war er nicht. Stattdessen umrundete er das Schulgebäude und tat konzentriert. Als das nagelneue Islabike nirgendwo zu finden war, wandte er sich wieder an Ronald. Beim Sprechen verlagerte er sein Gewicht aufs linke Bein.

„Gehen wir noch mal deinen Tag durch, Ronald. Du bist heute Morgen aufgestanden, hast gefrühstückt, die Zähne geputzt“, er zählte es an seinen Fingern ab, „hast das Haus verlassen und bist mit dem Fahrrad hierhergekommen. Wo genau hast du es abgestellt?“

Ronald deutete auf das Mäuerchen, das die Straße zum Schulareal abgrenzte. „Da. Ich bin meistens spät dran und parke immer da.“ Was er nicht sagte … Jay ging zum Mäuerchen. „Da bist du dir sicher, ja? Es gibt hier keinen Fahrradkeller, in den du es gestellt haben könntest?“

„Doch, da will ich bloß nicht rein, die Deckenlampen sind immer kaputt.“

Nachvollziehbar. „Fein. Dann hast du es abgeschlossen, bist in den Unterricht gegangen, hast in der Pause dein Erdnussbutterbrot gegessen“, die Augen Ronalds weiteten sich, die seiner Mutter schnellten zu seinem Gesicht, „und als du nach der letzten Schulstunde rauskamst, war es nicht mehr da.“ Ronald nickte, was nicht leicht war, während seine Mutter ihm mit einem Taschentuch über die Wangen rubbelte. „Tja, das ist seltsam. Hier liegt nirgendwo ein geknacktes Fahrradschloss herum. Hast du den Schlüssel noch bei dir?“

Ronald griff in seine Jackentasche und erbleichte. „Nein.“

Mrs Wickelsons Augen sprühten Funken. „Nein? Du hast ihn dir klauen lassen? Oder verloren?!“

„Ich weiß es nicht.“ In Ronalds Augen traten Tränen. „Ich dachte, ich hätte ihn und …“ Er verstummte. Ein nachdenklicher Ausdruck trat auf sein Gesicht, die Stirn warf kleine Fältchen. Anschließend färbten sich seine Wangen puterrot. Er sah flüchtig zu seiner Mutter hinüber, anschließend Jay an. „Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich bin heute früh ohne den Schlüssel aus dem Haus und musste noch mal zurück, aber ich habe ihn auf die Schnelle nicht gefunden und es war schon kurz nach acht. Also bin ich einfach zu Fuß gegangen.“

Die beiden Erwachsenen starrten ihn an. Mrs Wickelson schnappte nach Luft. Jay lächelte.

„Mit anderen Worten, du bist heute nicht mit dem Fahrrad los?“

Ronald schüttelte den Kopf.

Jay wandte sich an Mrs Wickelson. „Haben Sie daheim nachgesehen, ob das Fahrrad dort ist?“

„Nein, wir haben uns im Dorfladen getroffen. Das machen wir immer so, wenn er von der Schule kommt und ich von der Arbeit.“

„Das heißt, es ist voraussichtlich noch dort.“ Eine logische Schlussfolgerung. Fall gelöst.

Mrs Wickelson griff in ihre Tasche und brachte ihr Handy zum Vorschein. „Ja, hallo, Darling, bist du zu Hause? … Ah, gut. Könntest du mal eben nachsehen, ob Ronnys Fahrrad in der Garage steht? … Hm. Großartig. Danke.“

Sie legte auf und sah ihren Sohn mit schmalen Lippen an. Dieser erwiderte den Blick schuldbewusst. „Tut mir leid.“

Mrs Wickelson atmete einmal tief ein und aus, ehe sie sich an Jay wandte. „Sie müssen meinen Sohn und die Unannehmlichkeiten entschuldigen. Er würde seinen Kopf vergessen, wäre der nicht fest.“

Jay lächelt nachsichtig. Was er nicht alles vergessen und verloren hatte, sogar seinen Kopf zuweilen. Das wuchs sich raus - zumindest bei den anderen.

Ein jedes Ding muss Zeit zum Reifen haben“, erklärte er in Shakespeares Worten, weil der nun mal immer die besten zur Hand hatte. Mrs Wickelson schien nicht der Sinn nach Poesie. Sie verabschiedeten sich voneinander und Jay sah ihnen nach. Das war Snugford. Die schlimmsten Vergehen bestanden in Diebstählen, die keine waren. Er unterdrückte ein Schmunzeln. So. Jetzt auf zu den Akten.

***

Jay kehrte später als gewöhnlich von der Arbeit zurück – immerhin erwartete ihn im B&B derzeit niemand, und das verschob seinen Tagesrhythmus zuweilen. Einen Moment lang stand er im Hausflur und wunderte sich nicht zum ersten Mal darüber, wie still ein Ort sein konnte, wenn zwei Personen weniger anwesend waren. Wobei Liv streng genommen ihre eigene Behausung besaß, dort nur so gut wie nie war. Es sei denn, sie hatte Männerbesuch. Phasenweise konnte sie sich daher über einen längeren Zeitraum vermehrt bei sich aufhalten.

Jay streifte ziellos durch den Flur, hinauf in sein Zimmer, um seine Sachen wegzulegen, zurück in den Flur und in die Küche. Sie sah seltsam aus, so verwaist. Er fand es trotzdem eine gute Idee, dass sich Maggie und Liv diese Auszeit gönnten und seit knapp einer Woche die Thermalbäder Baths unsicher machten. Sie waren schließlich in einem Alter, das gelegentliche Kurbesuche erlaubte, und die Urlaubssaison war noch nicht angebrochen. Das hieß, kaum Gäste im B&B. Außer ihm. Dem Dauergast. Er hätte längst nach einer anderen Bleibe Ausschau halten können, aber es kam wieder und wieder etwas dazwischen, und mittlerweile erinnerten ihn die beiden Ladys immer seltener daran. Es kam ihm außerdem eigenartig vor, das B&B zu verlassen. Ein unnötiger neuer Schritt, den er noch aufschob. Wer weiß, warum …

Mechanisch hatte er angefangen, den Kaffeefleck wegzuputzen, den er am Morgen auf dem Tisch hinterlassen hatte. Wo er schon dabei war, konnte er gleich in der gesamten Küche aufwischen. Es war nur recht, dass er für Ordnung sorgte, solange die Ladys nicht da waren. Fast hätte er dabei die Zuckerdose vom Tisch gefegt und legte den Lappen schließlich bei Seite. Ein paar Minuten stand er noch so rum, einzig begleitet vom Ticken der Standuhr. Indem er feststellte, dass es kurz vor acht war, machte sich ein verspätetes Hungergefühl in ihm breit. Er runzelte die Stirn. Ach Mist, er hatte vergessen, etwas zum Abendessen zu besorgen. Maggie hatte recht. Er war verschusselt. So ehrlich musste man mit sich sein.

Kapitel Zwei

Die St. Luke's Church hatte sich verändert. Nicht äußerlich, in dem Punkt kein bisschen, aber atmosphärisch. Der feierliche Touch war passé. Die Dorfgemeinschaft unruhig. Sie erschien immer noch genauso zahlreich wie eh und je. Jay bemerkte jedoch den Umschwung – und fand ihn lächerlich. Es war eine Kirche, was erwarteten die Leute da? Eine Menge. Es fehlte der Messe ihrer Meinung nach die Routine, die sie gekannt hatten.

Father Custom war seit Herbst 1993 der Fels gewesen, auf dem Snugford seinen Glauben baute, ein Priester mit den immer gleichen, verlässlichen Riten und Normen.

Sein Nachfolger war in jeder Beziehung anders. Er war zunächst mal verdammt jung, keine vierzig Jahre alt. Größe und Aussehen nach haftete ihm etwas Jungenhaftes an. Da half ihm auch sein bronzefarbener Bart nicht. Er war maximal eins siebzig klein, das Haar etwas dunkler als der Bart und die Augen groß, tiefblau und ausdrucksstark. Mit dieser markanten Erscheinung stach er aus Sicht der meisten zu sehr ins Auge. Seine gesamte Art und Weise aufzutreten, lenkte von seinen Worten ab. Und seine Stimme – Herr im Himmel – seine Stimme wurde während der Predigten viel zu emotional. Es mangelte an den ruhigen, salbungsvollen Schwingungen, die ein Priester benötigte. Nicht, dass sich irgendwer den mörderischen Father Custom zurückwünschte, aber der hier, Father Smith, war in keiner Weise ein würdiger Nachfolger für die anspruchsvollen Snugforder. Eine Meinung, die die eher freigeistig Denkenden unter ihnen nicht teilten. Liv fand ihn zum Anbeißen und Maggie eine gute Seele, während sich Jay keine Sekunde Gedanken über ihn gemacht hatte. Letzten Endes beinhaltete seine Heilige Messe das, was eine Messe eben beinhaltete. Eine Predigt, ein Gebet, Fürbitten, das Einsammeln der Kollekte und die Wandlung mit dem Abendmahl. Letzteres hatte eine Woche zuvor einen mittelschweren Skandal ausgelöst, da angeblich der Messwein verunreinigt gewesen war. Was zur Folge hatte, dass beinahe das gesamte Dorf unter einer Magenverstimmung zu leiden hatte. Die Tratschweiber der Gemeinde waren sich einig, dass dies nur auf einen Fehler Father Smiths zurückzuführen sein konnte („Er hat den Wein bestimmt schon geöffnet und nicht korrekt gelagert!“), und entsprechend tief war er gesunken.

Und dafür gab es noch etliche andere Gründe. Spürbar verändert hatte sich nämlich auch die musikalische Begleitung. Die Orgel war in den Hintergrund getreten, ebenso der Kirchenchor, weil der junge Priester eine Band eingeführt hatte, die es verstand, die alten Kirchenlieder mit erheblich mehr Schwung und Dynamik zu interpretieren, was Jay für eine feine Sache hielt – der Großteil der anderen hingegen nicht. Für die einen, weil sie dadurch vielleicht von ihrem gepflegten Schläfchen abgehalten wurden, für die anderen, weil es eben nicht mehr das Geringste zu tun hatte mit den Messen vor Hunderten von Jahren.

„Er hat schon wieder das Knien in Richtung des Tabernakels vergessen“, tuschelte Laura Abbet gerade der Frau des Bürgermeisters in der Reihe vor Jay zu, und diese nickte mit geschürzten Lippen. „Er hat keine Ahnung von den liturgischen Haltungen.“

Von Jays Standpunkt aus verschmerzbar - er fand die vielen Rituale und Abläufe reichlich übertrieben und fragte sich, ob sie wirklich nötig waren, um dem Herrn näher zu sein.

„Er hat generell wenig Ahnung. Ich habe mich bereits an den Bischof gewandt, aber er scheint zu beschäftigt, um sich um unser Dorf zu kümmern. Zum Glück ist Peter Coleman ein so tüchtiger Messdiener, sonst würde dieser Father Smith die Hälfte unter den Tisch fallen lassen.“ Das war die alte Thelma, die sich noch nicht mal bemühte, ihre Stimme großartig zu senken. Deshalb saßen diese Klatschweiber so weit hinten – um sich über jeden Fehltritt des neuen Priesters mokieren zu können.

Wie um ihre Worte zu bestätigen, reichte Peter Coleman das Weihrauchfass an den Priester weiter, der sich bereits an die Menge gewandt hatte, um verfrüht das Gebet zu sprechen. Jays Meinung nach ging der Father mit dem Fauxpas sehr elegant um, lächelte seinem Messdiener zu und häufte nachfolgend, ohne beschämt zu sein, die Körner des Weihrauchs auf die glühende Kohle. Der Weihrauch erfüllte die Sitzreihen und Father Smith sagte ruhig: „Wie Weihrauch steige mein Gebet zu dir empor.“ Daraufhin rief er zum Gebet aus. „Wie eingangs gesagt, können sich diejenigen, die möchten, niederknien. Wem die Bänke zu hart sind, lässt es bleiben. Der Herr erhört uns immer.“

Eine Behauptung, die die Gemeinde zutiefst verstörte und im Anschluss an den Gottesdienst diskutiert wurde.

„Jetzt hat er es schon zum dritten Mal betont, das ist ja die Höhe!“ Elinor Moncreif, heute ohne ihren Gatten, dem nicht wohl war und der nicht von ihr genötigt wurde, zur Messe zu kommen, seit „dieser Stümper Father Smith sie versaute“, stemmte die Hände in die Hüften. „Als ob wir nicht knien könnten. So hart sind die Kniebänke nicht! Das ist Fichtenholz, nicht besonders hart.“

„Recht hast du!“ Laura Abbet nickte mit zusammengekniffenen Augen.

Die gläubigen Kirchgänger hatten sich wie immer vor der Kirche versammelt und funkelten zu dem jungen Priester hinüber, der im Kircheneingang stand und die Heraustretenden verabschiedete.

„Wer nicht mehr in der Lage ist, dieses simple Zeichen von Demut vor Gott zu bekunden, sollte sich in der Kirche nicht blicken lassen.“

„Eine Schande, dieser Father Smith. Ist euch aufgefallen, dass er eine lila Stola trug? Bei einer gewöhnlichen Messe!“ Die Frau des Bürgermeisters konnte auch anders als lieb und nett. Ihre Wangen glänzten wie rote Äpfel. „Das ist die Bußfarbe! Die trägt man allenfalls im Advent oder zur Fastenzeit noch, ansonsten zur Beichte“, führte sie mit Nachdruck an.

Mrs Moncreif rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf. „Vielleicht büßt er schon im Voraus für all seine Fehler“, sagte sie düster. „Wer hat diese Katastrophe eingestellt?“

„Ich glaube, es war, weil er ein vortreffliches Zeugnis vorlegen konnte. Die allerbesten Noten.“ Alle Blicke wandten sich Moira Lovflat zu. Die sechzehnjährige Tochter des Grundschullehrers und der örtlichen Friseurin, beides wichtige Berufe, lächelte und in ihrem Gesicht ruhte ein Ausdruck, der weit entfernt von Missbilligung war. Im Gegenteil, ihre Augen lagen geradezu schwärmerisch auf Father Smith. Sie bemerkte nicht, dass die Umstehenden empört die Luft anhielten, und fügte hinzu: „Ich finde seine Messe so erfrischend und … schön.“ Das letzte Wort war nur noch ein Hauchen, derweil sie ihre Finger um die braunrosa gesträhnten Haare wickelte.

Die Augen ihres Vaters flitzten zwischen den Gemeindemitgliedern hin und her, er packte Moira am Arm und zischte: „Wirst du den Mund halten, dummes Ding? Du hast keine Ahnung, was du da redest. Zeugnisse, also bitte. Daran kann es kaum gelegen haben. Das ist im Falle der Einstellung eines Priesters vollkommen irrelevant!“

Moira schmollte ein bisschen. Sie bemerkte die Mienen der Umstehenden, senkte die Lider und schwieg für den Rest des Gesprächs. Ihre Hände trommelten auf ihre klobige schwarze Handtasche.

Jay hatte genug gehört und wollte sich eben abwenden, denn diese Lästergemeinschaft missbehagte ihm, als jemand sich der Menschentraube anschloss, der sie um hundert Prozent aufwertete.

„Meine Lieben, seid nicht zu streng mit dem neuen Priester. Er ist erst wenige Wochen hier und muss sich noch einleben.“

Die Liebenswürdigkeit in Zoey Blooms Stimme wurde von einer gesunden Portion Entschlossenheit begleitet, und obwohl sie nicht viele Worte gemacht hatte, beruhigten sich die Gemüter bei ihrem Anblick. Vielleicht kam es auch nur Jay so vor – wobei sich sein Gemüt bestimmt nicht beruhigte, sondern in einen Zustand freudiger Nervosität umkehrte. Zoey war ein wandelnder Sonnenaufgang und zu jeder Tageszeit bezaubernd. Sie trug ein sommerliches grünes Hosenkleid, dem es nicht an Feierlichkeit fehlte. Im Deckhaar ihrer kastanienbraunen Locken saß ein geflochtenes Zöpfchen. Jays Herzschlag hüpfte mit jedem Wort aus ihrem Mund.

„Ich bin sicher, Father Smith meint es denjenigen gegenüber gut, die schon etwas älter sind und für die das Knien dadurch beschwerlicher wird.“ Ein erstklassig angeführtes, sehr logisches Argument. Jay konnte nicht verhindern, zu nicken. Sogar der ein oder andere Umstehende tat das. „Was die lila Stola angeht, habe ich gehört, dass sie in bestimmten Gemeinden zum Beispiel auch für Beerdigungen eingesetzt wird. Wer weiß, welche Bedeutung sie außerdem hat? Unabhängig davon bin ich überzeugt, wenn man ihn einfach darauf anspricht, wie es hier gehandhabt wird, lässt er sich drauf ein. Er wirkt wie ein Mann, mit dem man reden kann. Und wir sind doch alle Menschen, die der Nächstenliebe fähig sind, nicht wahr?“

Zwar waren Laura Abbet, Elinor Moncreif und der Bürgermeisterfamilie anzusehen, dass diese Bemerkung sie immer noch nicht besänftigte, aber sie beließen es mit ihrer Empörung und wechselten das Thema. Immerhin wollten sie sich nicht sagen lassen, sie würden die Caritas mit Füßen treten. Beeindruckend. Zoey hatte es innerhalb kürzester Zeit geschafft, hier in Snugford eine Frau zu werden, deren Worte Gewicht hatten. Jay betrachtete sie noch einen Moment versonnen, sah dem Sommerschal um ihren Hals dabei zu, wie er von der leichten Brise hin und her gewiegt wurde, und wollte gerade zu ihr gehen, als ihm auffiel, dass sie bereits in ein Gespräch verwickelt worden war. Von Finley Odell. Jay runzelte die Stirn. Wann war der denn dazugestoßen? Er hatte seine Ballonmütze vom Kopf genommen und schlenderte mit Zoey davon, beide lachten und amüsierten sich prächtig über irgendetwas. Na ja. Rein spekulativ. Vielleicht war Zoey auch nur höflich.

Sei es, wie es sei, Jay verließ in grüblerischer Stimmung den Kirchplatz.

***

„Na, wie schlägt sich Snugford so ohne uns?“

Jay wertete es als Zeichen ihrer Freundschaft, dass Maggie und Liv alle zwei Tage aus ihrem Urlaub anriefen, um zu plauschen.

„Ach, ganz recht, ganz recht“, beantwortete Jay Livs Frage mit einem abwesenden Blick aus dem Fenster, „alles wie immer.“

„Wie ist das Wetter? Also hier in Bath ist es traumhaft.“ Livs Tonfall war schwärmerisch. Im Hintergrund hörte Jay das Wasser plätschern und nahm an, dass sie auf irgendwelchen Liegen im Badebereich saßen.

„Ganz recht, würde ich sagen.“

„Wie kommst du in der Küche klar? Hast du alles gefunden?“ Das war Maggie, die Stimme klang etwas leiser, mutmaßlich war sie weiter vom Lautsprecher entfernt.

„Ja, vielen Dank, es ist alles bestens. Ich habe gestern an der ein oder anderen Ecke geputzt.“

„Ach, i wo, das musst du nicht. Wir sind in drei Wochen wieder da und dann ist ohnehin der Sommerputz für die Hochsaison an der Reihe.“

In der Leitung herrschte einen Moment Stille, weil Jay mit seinen Gedanken bei der Hochsaison war. Richtig. Die stand unmittelbar vor der Tür. Eigentlich hatte er vorgehabt, Zoey bis zu diesem Zeitpunkt zumindest nach einem Date gefragt zu haben – bevor sie womöglich beschloss, nach ihrem Sabbatical wieder nach Kendal zurückzukehren. Oder ihm ein Tourist zuvorkäme …

„Wie geht es unserer lieben Zoey?“

Wahrscheinlich hatte Liv beabsichtigt, die Stille in der Leitung zu beenden, stattdessen währte sie noch einige Atemzüge länger. Jay verlagerte sein Gewicht vom linken aufs rechte Bein und wieder zurück. Vor kaum einer halben Stunde war sie mit Finley lachend davongeschlendert …

„Oh, ja, nun ja, ich weiß nicht recht …“ Er räusperte sich. „Und wie läuft es bei euch? Ist das Kurleben immer noch so erquicklich?“

„Es ist famos“, erwiderte Liv nach einem Zögern. „Die Leute hier sind sehr zuvorkommend, die Angebote vielfältig und die Thermallandschaft überaus erholsam. Natürlich kommen wir auch sonst auf unsere Kosten, es gibt erfreulicherweise den ein oder anderen vielversprechenden, männlichen Hintern.“

„Liv, ich bitte dich.“ Er hörte Maggie stöhnen, während Liv leise kicherte.

„Ah, ja, das klingt ja recht nett so weit.“

Livs Tonfall verändert sich. „Jay-Jay, was ist los?“

Ihre Stimme klang beinahe streng. Er fühlte sich wie ein ertappter Schuljunge. Erst recht, seit sie ihn mit diesem Spitznamen anredete. „Nichts, ich habe nur … Ihr wisst ja, ich habe viel im Kopf und schweife manchmal etwas ab. War ich unhöflich?“

„Nein“, erwiderte Liv, „bloß geistig abwesend und ich würde zu gerne erfahren, wo.“

Jay fuhr mit dem Finger die Holzrillen am Fenstersims ab. „Och, nirgendwo im Speziellen …“

„Bei Zoey Bloom?“

Er verschluckte sich.

„Dachte ich es mir.“ Liv seufzte. „Mein Lieber, du hast dich hoffentlich an meine Worte gehalten? Mach dich nicht zu rar, schau immer wieder bei ihr im Teeladen vorbei, völlig zwanglos, und irgendwann, wenn der Augenblick passt, fragst du sie unverfänglich, ob ihr ein Eis essen wollt.“

Klang unkompliziert. Die Sache mit dem Augenblick war das Problem. Woher sollte er wissen, wann der passte? Heute ja schon mal nicht, denn sie war mit Finley beschäftigt gewesen …

Liv atmete hörbar ein. „Herrje, hast du sie etwa schon gefragt?“

„Hat sie ihm einen Korb gegeben?“ Maggies Stimme erklang aus dem Hintergrund. Jay runzelte die Stirn. Täuschte er sich oder verhielten sie sich wie Teenager? Aus dem Alter waren sie raus. Das würde auch Maggie so sehen. Andererseits: War man je aus dem Alter heraus, verliebt zu sein? Eigentlich nicht. Das würde auch Liv so sehen.

„Nein und nein“, sagte Jay und kratzte sich am Hinterkopf. „Es schien nie der passende Moment und deshalb kam ich noch nicht in die Verlegenheit, den Korb zu bekommen.“

Liv lachte auf. „Deinen Humor hast du immerhin noch.“ Welchen Humor? „Dann ist doch alles wunderbar. Morgen nimmst du es in Angriff. Frisiere dich anständig nach Feierabend und geh auf einen Tee bei ihr vorbei. Trink ihn an der Theke und quatsch ein bisschen mit ihr über das Wetter, weil es in Snugford eben dazugehört …“

„Bloß nicht“, mischte sich Maggie ein, „lass das Wetter weg und komm gleich zur Sache. Und lass um Himmels willen Shakespeare zu Hause.“

„Psst, nein, das Wetter gehört dazu, das nennt sich ungezwungener Small Talk, ehe es ernst wird.“ Jay schwirrte der Kopf. Ernst wird? „Dann kommst du auf ihre neusten Teesorten zu sprechen, die formidable sind, und dass man ihren Tee einfach immer trinken kann, zu jeder Jahreszeit, wobei jetzt ja eindeutig die Sommersaison eingeleitet wird und du das Eis vom Sonnenhof schon immer mal probieren wolltest.“ Liv machte eine Kunstpause. „Und nun kannst du sie fragen, ob ihr da gemeinsam hinwollt. Klingt das nach einem guten Plan?“

Nach einem sehr guten. Gut durchdacht, simpel durchführbar. Das sollte kein Problem sein.

„Ja, ich danke sehr für den Tipp, ihr beiden.“

***

Das Problem offenbarte sich anderntags im Teeladen. Es nannte sich Finley Odell. Jay hatte früher Schluss gemacht und eine verhältnismäßig lange Zeit im Bad zugebracht – damit beschäftigt, seine Haare mit Wachs zu bändigen, was ein eher semierfolgreiches Unterfangen geblieben war. In Kombination mit dem legeren Leinenhemd und der Sonnenbrille im Haaransatz ließ es sich zeigen. Bei Finleys Anblick ärgerte er sich, dass er nicht früher losgegangen war, so wäre er diesem zuvorgekommen. Wie bereits am Tag zuvor nahm er Zoey in Beschlag, trank seinen Tee an der Theke und schäkerte mit ihr. Unerhört. Dachte er sich, wo es bei der einen Schwester nicht hingehauen hatte, versuchte er es einfach bei der nächsten? Er hätte ihn für den Besitz und die Bewirtschaftung seiner Cannabisfarm einbuchten lassen sollen. Jawohl.

Jay presste die Lippen aufeinander und versuchte, nicht zu grimmig dabei auszusehen. Unschlüssig stand er in der Tür des Teeladens, konnte jetzt nicht mehr umkehren, aber eine zwanglose Tasse Tee an der Theke schied ebenso aus – sie war ja besetzt. Zoeys Blick fand ihn, wie er da in der Tür stand, mit einem Fuß drin und dem anderen draußen, und ihr Lächeln erhellte ihre Züge. Als hätte ihn das magnetisch angezogen, trat er vollends ein.

„Wie schön, Sie zu sehen, DCI Jameson, Sie waren eine Weile nicht hier.“

Tatsächlich? Gefühlt war er immer hier. Er schaffte es, zu lächeln. „Oh, nennen Sie mich Jay, nicht … Sie wissen schon, das klingt so …“

„Offiziell?“ Finley grinste. „Stimmt. Man will ja nicht immer mit seiner Berufsbezeichnung angesprochen werden. Sonst würde ich ja Mr Automechaniker heißen und du Teeladentante.“ Er lachte, und zu Jays Ärger fiel Zoey mit ein.

„Teeladentante, also echt. Los, verschwinde in deine Autowerkstatt.“

Waren sie beim Du? Seit wann denn das?

„Ist ja gut“, antwortete Finley und setzte seine Mütze auf. „Einen angenehmen Tag ihr zwei.“ Und er marschierte bester Laune aus dem Teeladen.

Jay sah ihm nach. Sämtliche Ungezwungenheit, die er sowieso nie besessen hatte, war endgültig dahin. Zoey räumte Finleys Tasse in den Spüler in der angrenzenden Küche und kehrte summend zurück. Jay konzentrierte sich und dachte an Livs Worte. Das Wetter, er musste irgendwie aufs Wetter zu sprechen kommen. Und kein Shakespeare, bloß kein Shakespeare.

„Was macht das Arbeitsleben? Ist irgendetwas Nennenswertes vorgefallen in letzter Zeit?“

Die Frage brachte Jay aus dem Konzept. „Bei der Arbeit? Nein. Ich habe … es ist so ruhig wie eh und je.“ Er strich sich eine der gewachsten Strähnen, die seiner Frisur entglitten war, hinters Ohr. „Aber das Wetter ist sehr schön.“ Er runzelte die Stirn. War das zu aufgesetzt? War es überhaupt passend? Er hätte es anders formulieren müssen. Irgendwie mit einer Verbindung. Es lässt sich bei schönem Wetter besser arbeiten oder Im Büro bekommt man leider so wenig vom schönen Wetter mit oder Nicht jede Wolke erzeugt ein Gewitter. Was? Himmel nein, nicht schon wieder Shakespeare!

„Ja, das stimmt.“ Zoey betrachtete ihn schmunzelnd. „Der Sommer hat sich Zeit gelassen. Ich hoffe, er wird dafür umso länger dauern.“

Ein idealer Zeitpunkt, um auf das Eis zu sprechen zu kommen, aber er hatte ihren Tee noch nicht gelobt und außerdem musste er dringend noch etwas anderes erfahren …

„Finley scheint Ihren Tee sehr zu mögen. Verständlich, er ist ja auch f…“ Wie hatte es Liv genannt? „… formvollendet?“ Hatte er es als Frage formuliert? Formvollendet? Was redete er da! Am liebsten wäre er auf der Stelle aus dem Laden gestolpert. Das verlief alles andere als nach Plan. Zoey sah ihn mit diesem Lächeln an, das in den Mundwinkeln leicht zitterte. Es war ein wirklich schönes Lächeln, er konnte es nur nicht einordnen.

„Wie die meisten hier, trinkt er täglich eine Tasse Tee, ja. Der Laden geht unglaublich gut. Ich verdiene fast mehr als mit meinem Lehrerinnengehalt. Ist das zu fassen?“

Jay schüttelte den Kopf und fiel in ihr Lachen mit ein. „Nein, das hätte ich ebenfalls nicht erwartet.“ Er runzelte die Stirn. „Nicht, weil der Tee nicht gut genug wäre oder Ihre Art nicht wundervoll, sondern, hm, weil man, nun ja, als Lehrerin ja nicht schlecht verdient, nicht wahr?“ Sie war so liebenswürdig, sein Gestammel nicht zu kommentieren.

„Genau. Es ist verblüffend. Ein Grund mehr, das Geschäft am Leben zu erhalten und hierzubleiben.“

„Das sehe ich genauso“, bestätigte er und strahlte sie an. Zu breit und zu lang. Frag nach dem Eis. Er tat es nicht. Stattdessen zuckte er heftig zusammen, als sich die Ladentür öffnete und zwei Kundinnen eintraten. Es handelte sich um Laura Abbet und ihre Cousine Mary, die auf Besuch war. Lästige alte Weiber, vollkommen unpassend ihr Auftritt. Jetzt konnte er das Eis vergessen. Jay und Zoey sahen sich noch einen Wimpernschlag lang an. Schließlich wandte sie sich an die beiden Damen.

„Was darf es sein, Mrs Abbet und Mrs Abbet?“

Die beiden waren scheinbar in Hochstimmung. Sie grinsten und lachten wie Teenager. „Wir hätten gerne vom Rosenblütentee in der rosa Dose.“

„Das passt zum Anlass.“

Laura und Mary Abbet kicherten.

„Zum Anlass?“ Zoey füllte ihnen den Tee ab und sah sie dabei fragend an.

Laura Abbet winkte ab. „Nicht so wichtig, Kindchen. Vielen Dank für den Tee. Der wird uns besonders schmecken.“

Sie bezahlten und verließen lachend den Laden. Hatten die was von Finleys Plantage geraucht? Zoey schaute ihnen irritiert hinterher, quittierte es allerdings mit einem Schulterzucken und sah wieder Jay an.

„Was kann ich eigentlich Ihnen Gutes tun?“

Jay starrte sie an. Gutes tun? „Mir? Ach so …“ Er könnte jetzt fragen, ob sie mit ihm ausging. Eis essen oder was auch immer, aber war es der passende Moment? „Nichts. Ich wollte nur …“ Er war ein Narr, wie ihn Shakespeare nicht hätte besser beschreiben können. Wobei die Narren bei seinem Lieblingsdramatiker besser wegkamen, als das auf Jay in diesem Augenblick zutraf.

„Eine Tasse Tee vielleicht?“

Er nickte. Ja. Eine Tasse Tee. „Genau deshalb bin ich hier.“

***

Zehn Minuten später verließ er den Teeladen mit dem Geschmack von Himbeeren auf der Zunge, der erst im Abgang bitter wurde. Weil dieser Besuch streng genommen eine Katastrophe gewesen war. So ehrlich musste er mit sich sein. Die Chance auf ein Rendezvous wurde immer unwahrscheinlicher, so wie er sich anstellte. Herausgefunden, in welcher Beziehung Zoey zu Finley stand, hatte er auch nicht.

Er hob gerade noch rechtzeitig den Blick, um nicht mit dem Mann zusammenzustoßen, der ihm eben entgegenkam – oder vielleicht war der ausgewichen. Es handelte sich um Father Smith und sie lächelten einander zu. Von einem missverstandenen Mann zum anderen. Der Father steckte an diesem Tag in einem Anzug ohne Priesterkragen (über dessen Fehlen jeder andere als Jay bestimmt die Nase gerümpft hätte) und trug eine Melone auf dem Kopf.

„Guten Tag, DCI Jameson, wie schön Sie zu sehen. Geht es Ihnen gut?“

Man konnte sich auf die Empathie dieses Mannes verlassen, das machte ihn aus Jays Sicht über all die Kritik der Dorfbewohner erhaben. Die Snugforder waren immer höflich und grüßten einander, die wenigsten fragten dabei allerdings nach dem gegenseitigen Befinden.

„Oh, na ja, ja, es gestaltet sich so weit passabel, würde ich sagen.“

Der Priester lächelte und sah ihn ernst an. „So weit? Lastet Ihnen etwas auf der Seele?“

„So drastisch würde ich es nicht formulieren und bestimmt ist es für einen Geistlichen kein Grund … Ich meine, es handelt sich um … hm …“

„Die Liebe?“

Jay blinzelte. Es bedurfte keiner weiteren Bestätigung seinerseits, Father Smith nickte verständnisvoll. „Ja, die kann einem ganz schön zusetzen.“

„Haben Sie damit Erfahrung?“ Das sollte er besser nicht, sie wollten hier mit Sicherheit keinen zweiten Father Custom.

Der Priester lächelte traurig. „Selbstverständlich. Wer hat das nicht? In meiner Jugend hat sich mein Herz ständig gebrochen angefühlt. Das ist bis heute manchmal so.“

„Sollten Sie nicht …?“

Wieder dieses traurige Lächeln, ehe Father Smith erwiderte, ohne dass Jay seine Frage präzisieren musste: „Oh, sicher. Das bin ich. Ich spreche nicht von der Liebe zu Frauen. Das ist lange her und ich vermisse es nicht. Aber auch in der Liebe zu Gott stößt man hin und wieder an seine Grenzen. Vor allem, wenn man sich in der Welt umsieht.“ Das sollte er nicht zu laut sagen, sonst würden ihm die Snugforder endgültig Gottlosigkeit vorwerfen. Ein Priester, der an seiner Liebe zum Herrn zweifelte – wo käme man da hin! „Dann mache ich das genauer, mich in der Welt umsehen, meine ich, und stelle fest, dass sie wunderschön ist und dass auf ihr Dinge geschehen, die nur ein liebender Schöpfer fertigbringt.“

Jay war uneins mit sich, ob er das ebenso sah, fand jedoch, dass es schön klang und genau nach den Worten eines würdigen Priesters.

„Also, DCI Jameson, was immer Sie grübeln und zweifeln lässt, sehen Sie genau hin und Sie werden erkennen, dass es noch Hoffnung gibt.“

Jay sah ihn an und lächelte. „Danke.“ Father Smith hatte diese Art an sich, die einen irgendwie überzeugte. „Was ist mit Ihnen? Lastet Ihnen auch etwas auf der Seele?“

Jetzt war es der Father, der lächelte. „Sie haben ein scharfes Auge.“ Er seufzte und sandte den Blick zum Himmel. „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt: ja. Aber es wird sich finden.“

„Falls Sie von den Leuten hier sprechen, bin ich überzeugt davon, dass sich alles zum Guten wendet“, erwiderte Jay, ohne zu überlegen. „Sie sind anfangs gerne misstrauisch, und haben ihre eingefahrenen Ansichten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sie sich von ihnen trennen können. Zu gegebener Zeit.“

„Hm.“ Father Smith nickte. „Ich danke Ihnen für dieses Gespräch. Es tut gut, sich so offen auszutauschen.“

Das konnte Jay bestätigen. Seiner Meinung nach war Father Smith der erste Priester, mit dem man wirklich gut reden konnte. Auf Augenhöhe. Und das nicht nur, weil sie ziemlich exakt gleichgroß waren. Oder einen ähnlichen Bart trugen. Wieder tauschten sie ein Lächeln, Worte waren nicht nötig.

Die Begegnung hätte ihnen beiden den Tag verbessert – wäre nicht Moira Lovflat in den Moment geplatzt. „Father Smith, Father Smith, es ist etwas Schreckliches passiert!“

Der Priester wandte sich der Teenagerin zu. Ihre besorgte Miene wich einem Strahlen, als sich ihre Blicke trafen. „Was ist passiert?“

„Mr Moncreif ist tot.“

Jays Herzschlag setzte aus. Warum lächelte das dumme Ding dann? Mr Moncreif war tot? „Was heißt tot?“, fragte er, ehe der Priester reagieren konnte. „Tot im Sinne von … gestorben oder …“

„Er wurde nicht ermordet, keine Sorge“, erwiderte Moira, ohne den Blick von Father Smith zu wenden. „Seine Frau sagt, er hat nach dem Mittagsschlaf nicht mehr die Augen aufgemacht.“ Dann war der Schlaf vielleicht einfach noch nicht beendet … Eine Hoffnung, die sich mit ihrer nächsten Bemerkung auflöste. „Sein Herz hat aufgehört zu schlagen, sagt sie, und Gott hat ihn zu sich geholt. Deshalb habe ich gedacht, ich hole Sie, da sie sicher Ihre Unterstützung benötigt.“ Sie flatterte mit den Augenlidern und legte ihre Hand auf Father Smiths Arm. „Denken Sie nicht?“

Father Smith zog seinen Arm, ohne brüsk zu wirken, zurück und nickte. „Selbstverständlich.“

Er schenkte Jay einen flüchtigen Blick und eventuell dachten sie beide dasselbe. Es war eher unwahrscheinlich, dass Elinor Moncreif, die größte Zweiflerin an Father Smiths Heiliger Messe, ausgerechnet seine Unterstützung so kurz nach dem Tod ihres Mannes suchte. Dennoch empfahl sich der Priester und folgte Moira, während Jay zurückblieb und versuchte, nicht zu beschämt darüber zu sein, dass er erleichtert war. Kein Mord. Nur ein Dahinscheiden, das die Snugforder bereits seit Jahren prophezeiten. Schließlich war Mr Moncreif schon seit einiger Zeit mehr tot als lebendig gewesen.

***

Tatsächlich schockierte die Nachricht über das Ableben des Gatten Elinor Moncreifs niemanden im Dorf – wenngleich alle ihr tiefstes Mitgefühl vermittelten. Immerhin litt Mrs Moncreif für jeden bestens sichtbar. Sie hatte sämtliche Farben aus ihrem Leben verbannt, der Garten war kahl, die Vorhänge an den Fenstern grau und sie selbst trug nur noch Schwarz. Auf die unbedachte Bemerkung Laura Abbets, Mr Moncreif habe gewiss seinen Frieden gemacht und sie, Elinor, könne nun aufatmen und einmal an sich denken, explodierte die Witwe und warf ihre einstige Freundin mit Schimpf und Schande aus dem Haus, auf dass sie es nie wieder betrete. Begegneten sie sich von da an auf der Straße, hagelte es zornige Blicke und die ein oder andere Beschimpfung. Weshalb nach diesem Vorfall niemand mehr zu behaupten wagte, es wäre für den alten Moncreif eine Erlösung gewesen zu sterben.

So war die Stimmung in Snugford auch ohne Mordfall auf dem Tiefpunkt und Jay froh, sich den gesamten Tag in seinem Büro mit Nonsens zu beschäftigen und nach Feierabend schnell ins B&B zu entfernen – wenn er nicht gerade mit jemandem zusammenstieß, der ihn zwingend davon abhielt.

„Sind Sie wieder in Gedanken, DCI Jameson?“ Zoey lächelte verschmitzt und verbesserte sich: „Ich meinte: Jay.“

Er errötete unter diesem Namen und nickte. „War ich mutmaßlich, wobei ich nicht sagen könnte, bei welchen … Sie haben einen neuen Schal.“ Es fiel ihm eben erst auf, als er endlich den Blick von Zoeys Augen wandte und den Rest ihrer Gestalt wahrnahm.

„Stimmt, es ist jetzt viel wärmer, da benötige ich etwas Luftigeres. Es hat den Anschein, Ihnen entgeht nicht alles, was?“

Er lachte. „Das will ich hoffen, sonst hätte ich ein Problem.“ Hatte er das nicht? Sie blickten einander an, die Sekunden tippelten dahin, und Jay Jameson tat das, was er in Zoey Blooms Gegenwart am besten konnte. Schweigen. Er sollte etwas sagen. Schnell. Könnte er es noch einmal mit dem Eisessen versuchen? Dann müsste er Liv nicht beichten, dass er trotz ihres wohlgemeinten Ratschlags versagt hatte. Aber war es gegenwärtig angebracht? Mr Moncreif war gerade gestorben und alle in dieser Solidaritätstrauerstimmung. Konnte man sich da mit Frühlingsgefühlen beim Eisessen vergnügen? Wobei es fraglich war, ob es für Zoey ein Vergnügen wäre – andererseits könnte sie dann auch ablehnen. Was sie bestimmt tun würde. Dennoch wusste er das nicht mit Sicherheit und er musste es zumindest versuchen, oder nicht? Um der Liebe willen, die kostbar war und wunderbar und nicht verschenkt werden sollte. Ja. Liebe ist dein Meister, denn sie meistert dich! Er konnte diesen Moment meistern, indem er ihn nicht verpatzte. Dazu müsste er den Mund aufbekommen.

„Ja, nun … ein schöner Schal.“ Er räusperte sich. „Ich meine sehr schön.“

„Danke.“

Er nickte, lächelte, lächelte, nickte – und zack –, wieder verpatzt. Weil der Moment zu schnell vorübergegangen war. Weil Jays Langsamkeit ihm ein ewiges Verhängnis blieb. Plus, weil sie mitten im Zentrum Snugfords standen, in dem man nie lange allein war.

„Ah, DCI Jameson, Miss Bloom, meine Grüße!“ Peter Coleman, der Messdiener in der St. Luke's Church, kam ihnen mit langen Schritten entgegen – übrigens nicht, weil er schnell laufen würde, sondern einzig aufgrund seiner enorm langen Beine. Eigentlich war alles an ihm lang und schmal, außer die Hosen, die waren ihm zu kurz. Er überragte Jay um eineinhalb Köpfe, brachte es aber zustande, so zu wirken, als seien sie gleich groß. Jay mochte ihn, obwohl er ihn kaum kannte. Der Kerl musste einem einfach sympathisch sein. Mit diesem Lächeln, das immer da war und immer beruhigte. Mit dieser Art, ungepflegt zu scheinen, es jedoch mitnichten zu sein. Er trug das blonde Haar gerade so kurz, dass es noch ungekämmt wirken konnte. Seine hellen Bartstoppeln verhießen, dass er eine Rasur in den letzten Tagen verweigert, bestimmt nicht versäumt hatte. Peter Coleman versäumte nichts. Die Kirche war in einwandfreiem Zustand, da er sich bestens um sie kümmerte. Er wusste, wann der Father das Weihrauchgefäß, das Weihwasser oder die Bibel benötigte, wann es Zeit war, die Glocken zum Gebet zu läuten und, und, und … Man konnte sich zu hundert Prozent auf ihn verlassen – das wusste Jay von Maggie und Liv, die ihn sehr schätzten. Vielleicht wurde ihm diese Zuverlässigkeit gelegentlich zum Verhängnis, denn er wirkte manchmal etwas müde. Das schmale, sommersprossige Gesicht war blass und eingefallen, doch davon abgesehen strahlte er Heiterkeit und gute Laune aus – auch jetzt, obwohl man annehmen könnte, dass ein Todesfall, der die Gemeinde beschattete, nicht allzu viel Grund zum Strahlen gäbe.

„Guten Tag, Mr Coleman, schön, Sie zu sehen.“ Jay war stolz auf sich, dass er zumindest seinen Gruß an ihn stotterfrei erwidern konnte. „Was tragen Sie da mit sich herum?“ Er deutete auf den riesigen, länglichen Sack, der locker von einem Mann mit Peter Colemans Größe über der Schulter getragen werden konnte.

„Ach, das ist die Amtskleidung Father Smiths. Ich muss damit in die Wäscherei. Irgendein Scherzkeks hat sich erlaubt, den Talar rosa zu färben. Oder fast pink. Ich habe die Firmlinge im Verdacht, aber Father Smith hat seine schützende Hand über den fünf und will keine große Sache darum machen. Also kein neuer Fall für Sie, DCI Jameson.“ Er zwinkerte und Jay und Zoey lachten. Es klang wunderschön zusammen, und er warf einen verstohlenen Blick zu ihr hinüber.

Sie spielte mit ihrem Seidenschal, während sie fragte: „Wer sonst sollte sich so einen Scherz erlauben? Es sieht wirklich nach einem Jugendstreich aus.“

„Meine Rede“, erwiderte Peter Coleman, ehe sich eine Falte auf seiner Stirn bildete. „Außer denen fällt mir nur noch meine Frau ein, die so was machen würde. Wenn sie sauer auf mich ist, wäscht sie meine weißen Hemden absichtlich mit etwas Rotem oder Violettem.“ Er zuckte mit den Schultern. „Rachsüchtiges Biest.“ Er setzte dieser Bemerkung ein Lachen nach. „Nehmen Sie mich nicht ernst. Manchmal muss man kurz über seine Ehe fluchen, damit die Wut raus ist und man sie wieder zu schätzen weiß. Natürlich ist Greta eine tolle Frau.“ Einzig von Maggie wusste Jay, dass Peter Coleman über einen unverbesserlichen Sarkasmus verfügte – unverbesserlich deshalb, weil er ihn perfekt tarnte –, was als der Grund zu bezeichnen war, warum Jay annahm, dass Greta das Gegenteil von toll war – oder in einem anderen Sinne.

„Ach, ich wusste nichts von einer Frau in Ihrem Leben“, sagte Zoey mit hochgezogenen Brauen. „Ich habe Greta noch nie gesehen.“

Peter Coleman nickte. „Verständlich. Sie kommt selten aus diesem Loch, das sie Poststation nennt, raus. Sie gehört ihrer Familie seit drei Generationen und entsprechend ernst nimmt sie die Arbeit. Obwohl es nicht sonderlich viel zu tun gibt, seit Robbie die Post ausfährt – aber das habe ich nie gesagt.“ Wieder zwinkerte er und schulterte den Kleidersack des Fathers. „Tja, ich sollte dann mal weiter, damit Father Smith zu Mr Moncreifs Beerdigung nicht wie eine Erdbeerfee aussieht. Die Witwe Moncreif ist schon säuerlich genug, weil die Zeit bis zur Beisetzung auf ein Maximum ausgereizt werden muss. Aber ausnahmsweise sind wir unschuldig daran, dass sie diese Spezialanfertigung für den Sarg verlangt hat und sich dadurch alles verzögert.“ Er zwinkerte und nickte ihnen zu, ehe er weiterging.

Zoey winkte und beobachtete ihn, wie er ein Liedchen pfeifend dahinschritt. „Ich finde, er und unser neuer Priester sind ein super Gespann. Das macht die Messen sehr viel frischer als früher.“ Ein Schatten legte sich flüchtig über ihr Gesicht, den sie mit einem Lächeln vertrieb. An Father Custom zu denken, musste immer noch schmerzhaft sein. Zoey war dennoch eine Frau, die nach vorn sah und die die Ideen ihrer Schwester weiterlebte. Auf diese Weise war Lyla immer um sie.

„Da haben Sie recht. Ich mag sie beide, unabhängig davon, was das Dorf von Father Smith hält.“

Zoey lächelte ihm zu. „Es freut mich, dass wir immerhin zu zweit sind. Die werden sich hoffentlich einkriegen.“ Damit drehte sie sich auf ihren blauen Ballerinaschuhen um und steuerte ihren Teeladen an – der immer noch Lylas Namen trug. „Ich habe mich sehr gefreut, mit Ihnen zu plaudern, Jay. Auf bald.“

Ob sie sich über ihn lustig machte? Es konnte unmöglich eine Freude sein, sich sein Gestammel und die unsinnigen Phrasen anzuhören. Jay blickte ihr nach und seufzte. Seine Brust schmerzte, aber ausnahmsweise nicht, weil er verspannt war. Es saß ein leidendes Herz darin. Ist Lieb' ein zartes Ding? Sie ist zu rau, Zu wild, zu tobend; und sie sticht wie Dorn.