2. Ein Blick in die Ferne
Der Aufstieg zu den Fairy Pools nahm kein Ende. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und wich erneut entgegenkommenden Touristen aus. Meine Schwester lachte in meinem Rücken.
„Ganz schön was los hier.“ Vanessa sah dem Pulk an Touristen feixend nach. „Wenn das letztes Jahr so gewesen wäre …“ Sie hakte sich bei mir ein und zog mich weiter.
„Ich verstehe nicht, warum man hier hochkraxelt, wenn man eigentlich zu einer Beerdigung will.“ Absolut unverständlich, wenn man mich fragte, aber Vanessa war ein Sonder-Fall. Sie war immer schon von ihren eigenen Dämonen und Hirngespinsten getrieben worden. Erst ihre perfekte Ehe mit Jörg, inklusive fanatischem Kinderwunsch und anschließend ein nimmer endendes Bad in Selbstmitleid.
Vanessas Seufzen trug ganze Dramen in sich. „Ich glaube, ich wollte einfach nur weg von meiner Schwiegermutter. Du hast sie erlebt, und da war sie noch handzahm.“
Wenn man das handzahm nennen konnte …
„Ich habe mir erst hier oben Gedanken gemacht, ob ich auf dem richtigen Weg bin.“ Vanessa lenkte uns an den Rand, um eine weitere Touristen-Stampede durchzulassen. Hier musste es etwas umsonst geben, bei dem Andrang. Mich vorbeugend verfolgte ich den unebenen Weg, der sich in den Berg grub. Es kam mir nicht so vor, als näherten wir uns unserem Ziel.
„Hier? Vani …“ Ich schüttelte den Kopf. „Du bist hoffnungslos.“
Wieder seufzte sie. „Ich bin selbst, als ich ahnte, dass ich hier nicht zur Kapelle finden würde, weiter geradeaus gegangen, nur um nicht aus Versehen doch noch der Duchess über den Weg zu laufen.“
Hoffnungslos. Mir blieb nur, den Kopf zu schütteln und das Wundern einzustellen.
„Na, komm, es ist noch ein Stück!“
Obwohl ich es geahnt hatte, stöhnte ich verzweifelt. Als meine Schwester vorgeschlagen hatte, die Fairy Pools zu besichtigen, hatte sie verschwiegen, dass damit eine Kletterpartie einherging. Ich hätte mich sonst herausgeredet.
„Der Anblick ist es wert, Katharina, glaub mir, er ist atemberaubend.“
Kein Wunder, wenn man bis oben auf den Berg kam, war man so fertig, dass einem automatisch der Atem wegblieb.
„Warum noch gleich?“ Mein Spott war verschwendet, aber ich hatte es auch nicht anders erwartet. Vanessa überhörte Sarkasmus und Ironie, egal wie dick er aufgetragen wurde.
„Der Auflauf hier?“ Vanessas Hand fasste meine und zog mich resolut den Weg hinauf. Einen Moment war ich verblüfft. Meine Schwester und Tatkraft passte zusammen, wie Sommer und Schnee.
„Catrionas Buch, Mystic Pools, spielt hier.“
„Und Catriona ist wer?“ Hier musste ich meine Verfehlung eingestehen. Ich hatte mir in den Jahren angewöhnt, abzuschalten, wenn Vanessa mit mir sprach. Erst waren es nur Vorhaltungen gewesen, wie sorglos und verschwenderisch ich sei, und dann ging es in endlose Litaneien über, wie schlecht es ihr ginge und warum.
„Ians jüngste Schwester, sie ist doch Autorin. Ich glaube, Enchanted Dùn wurde gerade übersetzt und sollte bald auch in Deutschland auf den Markt kommen.“ Vanessa wich einem Findling aus, der mitten aus dem Weg wuchs. Kopfschüttelnd ließ ich mich weiterziehen. Warum wurde so etwas nicht aus dem Weg geräumt?
„Deine Schwägerin also. Die Beliebte.“ Es war einfacher, Etiketten auf die Personen zu kleben, um sie auseinanderzuhalten, es waren einfach zu viele.
„Ealasaid ist …“, begann Vanessa, brach dann aber ab, um kichernd einzustimmen: „Ja, die Schwägerin, die ich leiden kann.“
Ich stieß mir den Zeh und fluchte.
„Ist es noch weit?“
„Stell dich nicht so an. Als ich zum ersten Mal hier hoch bin, trug ich Pumps!“
Was für meine Schwester keine große Sache sein sollte, lief sie doch arbeitsbedingt häufig auf Stelzen herum. Dass ich die Augen verdrehte, bekam sie mit, ließ es aber unkommentiert durchgehen.
„Ein paar Höhenmeter sind es noch, aber …“
Der Ausblick wäre es wert, ja, ja!
Folgsam hielt ich den Mund und schleppte mich weiter. Es war wohl offensichtlich, dass es mir an Ausdauer mangelte und daran trug allein ich die Schuld. Zu Beginn meines Studiums hatte ich noch regelmäßig das campuseigene Sportangebot genutzt, aber mit der Zeit – nein, mit Felix – war ich faul geworden. Auch das konnte ich zum Ende der Semesterferien in Angriff nehmen, ebenso wie die Verbesserung meiner Leistungen, denn inhaltlich war kaum etwas von den letzten beiden Studienjahren hängengeblieben.
„Verflixt, das ist jetzt aber nicht lustig!“ Vanessa riss mich aus der Selbstbetrachtung. Vor uns befand sich ein Pulk Menschen und mehr als Rücken und Hinterköpfe waren nicht auszumachen. „Müssen wir uns echt anstellen?“
Ihr Verdruss war putzig und beflügelte meine Laune. Fröhlich zwinkerte ich ihr zu und stellte mich an. „Ist sich die Herzogin etwa zu fein, um unter Gemeinen anzustehen?“
„Pft!“ Sie verschränkte die Arme, reihte sich ein und sah zur Seite, als sie murmelte: „Ich hätte das Areal räumen lassen sollen, wie Ian vorschlug.“
Ich lachte auf. Meine Schwester das elitäre Wesen, ja, das passte zu ihr!
„Und einen Shopper benutzen, anstatt hier zu Fuß hochzukraxeln!“ Die Schlange bewegte sich langsam vorwärts, kam zum Stehen und setzte sich wieder in Bewegung. Vanessa hatte ausgiebig Zeit, mich auszuschimpfen, daher stellte ich auf Durchzug. Endlich näherten wir uns dem Kopf der Gruppe. Ein Rauschen übertönte Vanessa und deutete auf fließendes Wasser hin. Endlich traten wir durch die Öffnung im Felsen auf ein Plateau, von dem man tatsächlich einen sagenhaften Ausblick hatte. Das Gedrängel nahm ab und ich konnte meinen Blick über das Panorama schweifen lassen. Vor uns lagen die Fairy Pools, was Vanessa mir nicht noch einmal sagen musste, es aber trotzdem tat. Es folgten noch ein Haufen Erklärungen und Geschichten, wie der Ort an die Bezeichnung gekommen war, die ich aber gekonnt ausblendete. Der Anblick genügte vollauf, um meine Sinne gefangen zu nehmen. Das Farbenspiel des Sees unterhalb von uns, der Regenbogen, der sich in dem gigantischen Wasserfall brach und der Krach, den das rauschende Wasser produzierte, als es über die Klippen ging und in die Tiefe stürzte. Ich verfolgte fasziniert den Fall. Unten gab es einen riesigen Bereich mit aufgewühltem Wasser, dann der Nebel, der über allem lag, ein Vorhang feinster Tropfen. Selbst hier oben spürte man ihn auf der Haut und in jedem Atemzug. Ich schloss die Augen, um mich für einen Moment auf meine Sinne zu konzentrieren. Es schmeckte anders, als ich es von Wasser gewöhnt war.
„Langfinger!“ Vanessas Kreischen riss mich aus der Betrachtung des Naturschauspiels. Automatisch machte ich einen Schritt zur Seite, denn die Warnung konnte nur auf mich gemünzt sein. Jedem anderen hätte sie etwas Englisches zugerufen. Ich stieß gegen das dicke Tau, das den Bereich absperrte, und musterte die Umstehenden scharf. Vanessa verstellte einer jungen Frau den Weg, als sie Richtung Torbogen verschwinden wollte. „Was haben Sie gestohlen?“
Meine Hand zuckte zu meiner Umhängetasche, die mit einem Magnetverschluss geschlossen war und zusätzlich einen Reißverschluss hatte. Beides war offen. Mein Blick folgte meinen Fingern ungläubig. Ich hatte nichts bemerkt!
Und wurde von etwas Glitzerndem, das auf dem Boden lag, abgefangen. Falsche Steine reflektierten Sonnenstrahlen, Steine, die mein Sternzeichen auf blauer Emaile nachbildeten. Mein Schlüsselanhänger!
Ich bückte mich um ihn aufzuklauben, während Vanessa sich um die Taschendiebin kümmerte. Sie bekam Unterstützung durch einen Mann, was mir allein eine tiefe Stimme verriet, denn meine Aufmerksamkeit war einzig auf meinen Schlüssel gerichtet. Mein Knie schrappte über lose Steine und ich streckte mich immer weiter, um ihn zu erreichen. Ich musste nachrutschen, während hinter mir nach dem Sachverhalt gefragt wurde und jemand keifend alle Schuld von sich wies. Endlich berührten meine Fingerspitzen das kühle Metall, aber ich war noch nicht nah genug, um es auch greifen zu können, also krabbelte ich weiter vor. Mein Mofaschlüssel hing über den Rand der Klippe. Erleichtert, ihn gerettet zu haben, stand ich auf, um den Beweis, dass die Frau an meiner Tasche gewesen war, in die Luft zu heben. Mich drehend bekam ich einen Schubs. Vermutlich unbeabsichtigt, denn die Frau stieß gegen mich, als sie versuchte, meiner Schwester auszuweichen.
Ich kippte, riss die Augen auf und fing Vanessas Blick auf. Ihre Lippen formten meinen Namen, aber ich konnte ihn nicht hören. Das Rauschen nahm überhand, als ich sie aus den Augen verlor. Die Zeit blieb stehen, während ich verdutzt verfolgte, wie mein Blickfeld sich Stück für Stück änderte.
Verflixt, wie tief fiele ich wohl? War es von Bedeutung? Sicherlich war die Wasseroberfläche hart wie Stein, egal ob aus zehn oder hundert Metern und mein Aufprallwinkel war alles andere als optimal. Ich schlüge frontal mit dem Rücken auf, was schrecklich wehtäte. Bräche ich mir dabei das Genick? Moment, wie tief war der Pool hier? Selbst wenn ich den Aufschlag auf die Wasseroberfläche überlebte, wenn der Grund nicht tief genug lag … Ach, verdammt!
Ich war zu jung, um zu sterben. Wut mischte sich mit meiner Überraschung und wandelte sich ebenso schnell in Trauer. Eine eigene Familie wäre nett gewesen. Ein Baby, ein liebender Ehemann … Das war nicht fair!
Moment, irgendwie klang ich jetzt schon wie Vanessa.
Wasser schlug über mir zusammen und einen Moment lang verdrängte der Schmerz alles andere aus meinem Fokus. Die Augen aufgerissen sah ich, wie tausende Bläschen sich in die entgegengesetzte Richtung bewegten und ein kleiner Teil meines Gehirns merkte an, dass ich besser meine Richtung überdachte.
Ach ja, und den Mund schloss.
Ich biss mir auf die Lippe, was mir zumindest half, mein Entsetzen abzuschütteln, handeln konnte ich trotzdem nicht. Über mir färbte sich das Wasser rot. Der Atem ging mir aus, meine Lungen schrien nach Luft, während meine Glieder ihrem Befehl zu rudern nicht nachkamen. Scheiße!
Das Rot füllte mein Blickfeld aus, bevor dessen Ränder dunkler wurden und sich dann blitzschnell zusammenzogen. Oh, nein, eine Ohnmacht war das Letzte, was ich nun gebrauchen konnte. Leider kam ich nicht dagegen an.