Kapitel 1
Es pochte leise an der Tür des Umkleideraums in der Old Nairn Kirk, und Paislee spähte über die Schulter, um zu schauen, ob ihre beste Freundin es auch gehört hatte. Lydia Barron, die in fünfzehn Minuten zum Altar schreiten und Mrs. Corbyn Smith werden würde, hatte ihren Ehrentag mit Yoga am Strand begonnen. Mit Mimosas. Om. Sie hatte sich auf die Freude darüber konzentriert, ihren Seelenverwandten zu heiraten, was den Albtraum der letzten zwölf Monate wieder wettmachen würde.
Jegliches Zen war vollends verschwunden, als ihre hübsche beste Freundin wie ein Seemann fluchend Taschentücher und Haarspangen auf dem unordentlichen Schminktisch beiseite fegte. Ihre gemurmelten Flüche waren so gepfeffert, dass ihnen bestimmt noch die Kirche abbrennen würde.
„Soll ich die Tür–“, fing Paislee an.
„Warte!“ Lydia hob ihren Brautstrauß mitsamt der Vase an, blickte sich suchend um und stellte ihn mit einem Knall wieder hin. Die roten Rosen wackelten. „Ich kann Corbin nicht ohne diese Brosche heiraten. Pastorin Angela hat das Kästchen genau da hingelegt.“ Sie zeigte mit einem schlanken Arm darauf, so zerbrechlich wie eine viktorianische Romanheldin in ihrem silbernen Kleid, dessen Puffärmel ihre Schultern bedeckten. Karamellfarbene Locken umrahmten ihr perfekt geschminktes Gesicht. „Sie muss einfach da sein!“
Paislee hatte jeden Zentimeter des Zimmers nach dem dunklen Holzkästchen mit der Brosche abgesucht, aber es war verschwunden wie ein Geist im Morgengrauen.
Corbin hatte die Luckenbooth-Brosche aus dem Familienbesitz als Verlobungsgeschenk für Lydia ausgewählt, woraufhin im Smythe-Clan die Hölle ausgebrochen war. Es schien, dass hinter der Spange mit den zwei Herzen eine ihm unbekannte Geschichte steckte und sie Unglück bringen solle, wenn die Braut nicht die Richtige für den Bräutigam war – und Mary, seine Stiefmutter, hatte so ihre Zweifel, dass Lydia ihm ebenbürtig war.
„Wir werden sie finden. Sie muss hier sein.“ Paislee sprach in dem ruhigen Ton, mit dem sie immer Brody tröstete, wenn er sich verletzt hatte. Sie schritt zur Tür, als es diesmal energischer klopfte. „Vielleicht gibt es was Neues.“
„Wenn es wieder der Hochzeitsfotograf ist, sag ihm, es reicht jetzt!“ In den Hafen der Ehe einzulaufen war für Lydia nicht einfach gewesen, aber sie hatte den Großteil mit Anmut gemeistert. Es war nur menschlich, dass ihr der Druck einige wenige Male über den Kopf gewachsen war. Ein wilder Ausdruck trat in Lydias graue Augen. „Ich hätte mit Corbin durchbrennen sollen, pfeif auf die Familie.“
Paislee erinnerte sich an den panischen Anruf von Lydia vor einem Jahr, als Corbin sie gefragt hatte, ob sie ihn heimlich heiraten wolle. Lydia hatte versucht, die Beziehung vollständig zu beenden, aber Corbin hatte das nicht zugelassen. Er liebte sie – sie liebte ihn. Sie hatten es Lydias Eltern erzählt, Alistair und Sophie Barron, die eine kleine kirchliche Zeremonie vorgeschlagen hatten, um diesen besonderen Tag zu feiern. Nichts Großes, sie wollten nur an Lydias und Corbins Glück teilhaben.
Mary Smythe, Corbins Stiefmutter, hatte gejammert und sich beschwert. Schließlich wurde beschlossen, wenn Corbin schon dazu entschlossen war, eine geschiedene Frau zu heiraten, dann würde er es bei Gott auch richtig machen. Sie hatten auf die Familienkirche bestanden, Old Nairn Kirk. Das historische Gebäude besaß einen hohen gotischen Turm und bot Platz für zweihundert Menschen. Der Smythe-Clan nahm den Großteil der Kirchbänke ein.
„Es ist fast vorbei“, sagte Paislee, die Hand auf der Türklinke. „Was ist das Schlimmste, was jetzt noch passieren kann?“ Sie bereute die Frage sofort.
Lydia rang die Hände. „Mary kann mich nicht leiden und will mit der Brosche nur Schwierigkeiten machen. Ich habe gehört, wie sie die Mädchen angestachelt hat. Ich muss das hier richtig machen und dann, und dann …“
Paislee hasste es, dass die selbstbewusste Lydia so überfordert war. Sie öffnete die Tür einen Spalt, um zu schauen, wer es war, und zog sie dann erleichtert auf. Lydias Vater, ein durchschnittlich aussehender Mann von fünfundfünfzig Jahren, lächelte sie besorgt an. „Matthew fragt, ob wir fertig sind, Liebes.“ Alistair spähte ins Zimmer.
Matthew Dalrymple war Corbins Trauzeuge. Die anderen Trauzeugen waren seine drei Brüder. Paislee war Lydias Trauzeugin, und ihre restlichen Brautjungfern waren Corbins Stiefschwestern, Rosebud und Hyacinth, sowie eine Cousine der Smythes. Unter den vielen Mädchen war gelost worden, und Senta hatte gewonnen.
„Habt ihr die Brosche gefunden, Pa?“
„Noch nicht, Liebes. Die Mädchen hören sich um, so diskret wie sie können.“
Mit den Mädchen meinte er die Brautjungfern. Die Gäste saßen bereits, aber wenn es noch niemand der Hochzeitsgesellschaft zum Altar geschafft hatte, würde es wirklich unangenehm werden. Paislees Sohn, Brody, saß mit Lydias Mutter und Paislees Großvater, Angus, auf der Seite der Braut.
Paislee war die Einzige, die Lydia sich selbst ausgesucht hatte, und sie wich ihrer besten Freundin nicht von der Seite. Alistair, in einem gepflegten marineblauen Kilt mit schwarzen und silbernen Akzenten, trat vollständig in den Raum. Das Silber passte zu Lydias Seidenkleid.
Alistair witzelte oft, dass ihm und Mrs. Barron als zwei grauen Mäusen eine wunderschöne und warmherzige Tochter als Wechselbalg untergeschoben worden war. Er legte eine ruhige Hand auf Lydias Rücken. „Überlege, wo du sie das letzte Mal gesehen hast.“
„Ja. Das ist eine gute Idee – alle Schritte nochmal durchgehen.“ Lydia blickte Paislee und dann ihren Vater an. „Die Brautjungfern haben sich hier zusammengedrängt und sich mit dem Visagisten hübsch gemacht.“
Sie waren insgesamt zu sechst gewesen. Paislee wies auf den Schminktisch. „Die Pastorin hat das Kästchen mit einer handgeschriebenen Notiz für Lydia reingebracht und ihr Glück gewünscht.“
„Mary hat angeboten, die Brosche professionell reinigen zu lassen.“ Lydia fasste an den diamantbesetzten Verlobungsring an ihrem Finger. Das Paar würde vor dem Altar Platinringe austauschen. „Es ist so schrecklich, dass Corbin meinetwegen mit seiner Familie aneinandergerät. Es ist schlimm genug, dass ich geschieden bin. Ich habe keinen Titel, kein Vermögen.“ Sie schnaubte verärgert. „Entschuldige, Pa.“
„Ich nehm’s dir nicht übel“, sagte Alistair ruppig. „Du hast etwas aus dir gemacht, und deine Mum und ich sind sehr stolz.“
Harlow Becker betrat den Raum. „Habt ihr sie gefunden?“ Das Mädchen war gerade zwanzig und mit Drew, dem jüngsten Smythe-Bruder, zusammen. Ihre feinen Gesichtszüge und leuchtenden blauen Augen verliehen ihr eine zierliche Schönheit; ihrer Familie gehörte früher eine alte Eisenbahngesellschaft. Sie war mit offenen Armen empfangen worden, anders als Lydia. Sie war zudem eine Freundin von Hyacinth, die sie um Hilfe bei der Suche gebeten haben musste.
„Nein“, sagte Lydia mit zitternder Stimme.
Harlows Blick blieb an dem unordentlichen Schminktisch hängen, bevor sie ihn wieder auf Lydia richtete. „Matthew will wissen, warum es so lange dauert.“
„Corbin darf sich keine Sorgen machen.“ Lydia tigerte mit verschränkten Armen durch den Raum.
„Wir mussten den Jungs irgendwas sagen“- Harlow zuckte die Schultern – „also hat Rosebud gesagt, dass du nervös geworden bist.“
Lydia reckte das Kinn. „Ich bin nicht nervös. Ich will Corbin heiraten.“
„Dann vergiss doch die Brosche“, schlug Alistair vor. „Sie ist doch nicht so wichtig.“
Lydia fuhr zu ihrem Vater herum. „Er wird mich nicht heiraten wollen, wenn ich sie nicht habe!“
„Doch, will er!“, sagte Paislee. Seine Stiefmutter war diejenige, die auf dem angeblichen Unglück herumritt.
„Er will“, gab Lydia zu, „aber der dritte Weltkrieg wird ausbrechen, wenn die Luckenbooth-Brosche nicht an der Tartanschleife der Smythes in meinem Blumenstrauß steckt. Während der Probe hat Mary ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Corbin eine andere Brosche nehmen soll, aber das hat er aus Prinzip nicht getan.“
Alistairs Miene wurde besorgt. „Ist die Brosche wertvoll? Die Luckenbooth, die ich deiner Mum geschenkt habe, war aus Silber. Wir können eine andere kaufen.“
„Das ist lieb von dir, Pa, aber die hier ist aus Gold und seit Generationen in der Familie. Mary hatte Angst, dass ich sie verliere.“ Lydia stöhnte. „Und jetzt sieh mich an!“
Harlow kicherte – nicht ganz ohne Mitleid. „Hier kommen Rosebud und Hyacinth“, sagte sie. „Sie sehen nicht sehr optimistisch aus. Senta auch nicht.“
Alistair blieb, während die anderen Brautjungfern nacheinander eintraten. Es war ein Meer aus rotem, blauem und schwarzem Stoff, mit Lydia als silbernem Highlight der Show. Nicht weiß, da es nicht ihre erste Ehe war, und Mary ihr zu einer anderen Farbe geraten hatte … zu Lydias eigenem Wohl. Paislee hatte noch nie eine so abergläubische Frau wie Corbins Stiefmutter kennengelernt.
Lydia hatte zusätzlich zur Luckenbooth-Brosche ein silbernes Hufeisen, eine blaue Distel und einen kleinen Zweig Heidekraut im Strauß. Sie hatte zugestimmt, kein Weiß zu tragen, und einen Ehevertrag unterschrieben, in dem stand, dass im Falle einer Scheidung innerhalb von fünf Jahren jegliche ihrer Rechte auf das Vermögen der Smythes verfallen würden. Die Brosche würde der Familie zurückgegeben werden.
Lydia hatte ihren Eltern nichts von der unverschämten Behandlung erzählt, sie wollten nur, dass ihre Tochter glücklich war, aber Paislee kannte alle schmutzigen Details. Corbin hatte Lydia oft daran erinnert, dass er aus gutem Grund hatte heimlich heiraten wollen. Er hatte das Theater mitangesehen, das seine älteren Brüder hatten durchstehen müssen, und das noch mit Partnerinnen, die die Familie akzeptiert hatte.
„Das Kästchen lag neben deinem Brautstrauß“, sagte Senta. Ihr tiefschwarzes Haar steckte in einem lockeren Dutt, und das weiche rote Kleid schmeichelte ihrer schlanken Figur. „Mit einer elfenbeinfarbenen Schleife. Stimmt’s, Hyacinth?“
„Stimmt. Mum wollte, dass es was Besonderes ist, Lydia.“ Hyacinth zog überheblich ihre hellbraune Braue hoch.
„Weder das Kästchen noch die Brosche sind in diesem Raum.“ Paislee stellte sich zwischen Lydia und Hyacinth, und das Mädchen wich unter ihrem starrenden Blick zurück zur Tür. Rosebud hob mit einem Schniefen die Nase. Paislee verstand die Feindseligkeit gegenüber Lydia nicht, aber sie würde nichts außer Regenbogen und Sonnenschein dulden, bis Lydia mit ihrem Mann verheiratet war.
Lydia glättete die Perlen auf ihrem Designerkleid. Der einzigartige Stil und die Farbe würden sicherlich von anderen Bräuten im Sommer nachgeahmt werden – falls, nein, wenn sie es zum Altar schaffen würde.
„Fragen wir doch die Hochzeitsplanerin, ob irgendetwas abgegeben wurde“, schlug Paislee vor. Vielleicht hatte sich jemand das Kästchen zusammen mit der Kleidung und den Blumen geschnappt, als sie mit Bruce Dundas, dem Hochzeitsfotografen, nach draußen auf den Hof für Fotos neben einer pittoresken Erle gestürmt waren.
„Ich gehe!“, sagte Harlow. „Die Leute werden schon hibbelig.“ Sie eilte aus dem Zimmer und schlug die Tür zu. Eine Reihe von Halterungen an der Wand mit den Blumensträußen der Trauzeuginnen – blaue Distel, rote Rosen und die Tartanschleife der Smythes – bebte. Alistair richtete einen wieder zurecht, bevor er zu Boden fallen konnte.
Paislees Hauptaufgabe als Trauzeugin war es, dafür zu sorgen, dass es Lydia gutging. Sie kramte in dem Schminkkoffer, den Lydia von zuhause mitgebracht hatte, nach etwas, das der antiken Luckenbooth-Brosche ähnelte. Sie wusste, dass sie aus Gold war, aber hatte sie nur zweimal persönlich zu Gesicht bekommen, bevor Mary sie zurückhaben wollte, um sie professionell reinigen zu lassen. Zwei ineinander verschlungene Herzen. Ein roter Stein. Ein Rubin, den Corbin für Lydia ausgesucht hatte, weil er ihr Geburtsstein war.
Das Holzkästchen, das heute Nachmittag vorbeigebracht worden war, war schwer gewesen, also war es unwahrscheinlich, dass es sich unbemerkt im Tüll verfangen haben sollte. Sie wollte nicht glauben, dass jemand, zum Beispiel Corbins Stiefschwestern, es versteckt haben könnte, um ein Drama zu entfachen, aber sie würde es den verwöhnten Mädchen durchaus zutrauen. Hyacinth war zwanzig und Rosebud neunzehn. Ihre Mutter tat so, als ob sie mit dem König verwandt wären und den Adelstitel nicht nur symbolisch erhalten hätten. Sie war stolz auf die Verbindung mit dem Gutsherrn Garrison Smythe, Corbins Vater, und jetzt achtete Mary mit Adleraugen darauf, dass ihre Töchter ihren gerechten Anteil bekamen.
„Wird die gehen?“ Paislee hob eine bunte Schmetterlingsspange hoch, die sie bei den Lippenstiften gefunden hatte.
Lydia durchquerte den Raum, hielt sie ins Licht und beäugte dann ihren Strauß. „Nein. Mary wird sich nicht täuschen lassen.“
„Aber niemand glaubt aufrichtig, dass du Corbin ohne sie nicht heiraten wirst, oder, Liebes?“ Alistair fingerte nervös an einem Knopf an seiner silbernen Weste herum. Die Bauchtasche an der Vorderseite seines Kilts, der Sporran, bestand aus schwarzem Leder.
„Oh, das kann sie auch nicht“, sagte Rosebud voller Ernst. Ihr hellbraunes Haar war nach hinten zu einem strengen Dutt gekämmt, und einzelne Strähnen fielen ihr auf die Wangen. „Die Ehe wird dem Untergang geweiht sein. Wir wollten es dir nicht sagen, Lydia, aber Mums Freundin, die Hellseherin, hat die Brosche mit Salbeirauch gereinigt und die Pastorin hat sie gesegnet, um sie von dem Fluch zu befreien. Ich kann nicht fassen, dass sie weg ist!“
„Das ist ein Zeichen des Himmels.“ Hyacinth schaute zur Decke und ihr langer geflochtener Zopf rutschte zur Seite.
Fluch! „Ich werde euch sagen, was ein Zeichen ist.“ Paislee schritt empört auf Rosebud zu. „Lydia hat alle Hürden für eure Familie überwunden, aus Liebe zu Corbin. Das ist, worauf es ankommt – nicht irgendeine Brosche!“
Rosebud schmunzelte.
„Ganz richtig“, echote Alistair. „Welche Hürden, Liebes?“
„Es ist nichts, Pa. Paislee, hilfst du mir, den Schmetterling an die Schleife zu stecken?“
Paislee kniete sich vor den Strauß, wobei sich ihr leichtes distelblaues Kleid vor ihr ausbreitete, und befestigte die Spange an der Schleife, sodass nur ein Stückchen des Emailleflügels herausguckte. „So.“
„Das muss reichen“, sagte Senta. „Ich kann’s dir nicht verübeln, dass du ihr Gemecker ignorierst, Lydia. Du hast eine gute Partie gemacht.“ Sie errötete, als ob ihr gerade einfiel, dass Alistair immer noch im Raum war.
Die Schwestern wandten sich ihrer Cousine zu. „Es bringt fürchterliches Unglück, wenn sie nicht die gesegnete Brosche nimmt“, sagte Rosebud.
Hyacinth zog ihren Strauß aus roten Rosen und blauer Distel aus der Halterung und reichte dann Rosebud den anderen; Senta musste durch die dumme Stichelei selbst nach ihrem greifen.
„Geld oder Ansehen ist mir egal.“ Lydia biss die Zähne zusammen. „Ich liebe Corbin und bete, dass wir irgendwann darüber lachen können, aber jetzt gerade? Da sehe ich schwarz.“
„In einer Ehe ist es sehr wichtig, miteinander lachen zu können“, stimmte Alistair zu. Paislee spürte seine Vorsicht, als er versuchte, die unterschwellige Stimmung im Raum einzuordnen.
Paislee spähte in den Flur und sah, wie die Hochzeitsplanerin mit Harlow an ihrer Seite auf sie zu eilte. Eliza Wilbur kam aus der Karibik und kleidete sich in leuchtenden Farben. Heute trug sie einen azurblauen Rock und eine Bluse mit orangenen Akzenten.
„Was ist los?“, fragte Eliza, sobald sie im Umkleideraum stand. „Liebste Lydia, was kann ich tun? Dein Bräutigam wartet auf dich und möchte dir Mut zusprechen. Hast du kalte Füße bekommen?“ Sie schüttelte die Hände, wie um Lydia zu zeigen, wie sie negative Energie loswerden konnte.
„Ich habe keine kalten Füße!“, rief Lydia. „Ich habe aber auch die Brosche nicht, die mir seine Stiefmutter gegeben hat.“
„Ah!“ Eliza hob einen Finger. Sie hatte über die letzten Monate genug aufgeschnappt, um zu wissen, dass das eine große Sache war. Sie ging sofort auf die Knie, um unter dem Tisch zu suchen, und hob dann die Box mit den Taschentüchern, die Blumen, und den kleinen Spiegel an. Überall hatten Lydia und Paislee schon mehrfach nachgesehen.
„Könntest du bitte Corbin von der Brosche wissen lassen?“, fragte Lydia. „Vielleicht sollte ich selbst zu ihm gehen.“ Sie trat auf die offene Tür zu.
„Nein!“, riefen die Frauen im Chor.
„Das bringt Pech“, meinte Rosebud naserümpfend. „Du gibst dir ja noch nicht mal Mühe, Lydia.“
Paislee starrte das jüngere Mädchen finster an, das klug genug war, um wegzuschauen. Lydia hatte weit mehr als das getan.
Eliza sah sich ein weiteres Mal im Umkleideraum um, aber schließlich nickte sie. „Ja. Ich werde ihm erzählen, was das Problem ist, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er einfach nur dich heiraten möchte.“
„Das ist noch nicht alles.“ Lydia erklärte ihr, dass sie eine andere Brosche als Tarnung nehmen könnten, wenn Corbin mit der Täuschung einverstanden war. Mary würde es bemerken, sobald sie ihr nah genug kam. Sie schaute seine Stiefschwestern an, als sie sagte: „Ich glaube nicht an Flüche.“
„Flüche? Oh, nein.“ Eliza schnalzte mit der Zunge, und bewunderte dann die Spange an der Schleife. „Heute ist ein wunderschöner Tag, um zu heiraten. Ich bin sofort zurück. Komm mit, Harlow. Du kannst den Gästen Bescheid sagen, dass wir gleich anfangen.“
Paislee umschloss Lydias Hand. „Bereit, Süße?“
„Bereit.“ Lydia atmete aus. Eins, zwei, drei. „Ich musste es ihn wissen lassen. Ich kann meine Ehe nicht mit einer Lüge beginnen.“
„Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß“, riet Senta.
„Corbin wird es nicht durchziehen“, sagte Rosebud. „Mum hat ihn gewarnt, was passieren würde, wenn er dich einfach so heiratet.“
Paislee hatte nicht schlecht Lust, Mary Smythe einen Besuch abzustatten, wenn alles vorbei war. Die Frau war eine Nervensäge.
Eliza kam mit einer zusammengefalteten Notiz wieder, die sie Lydia reichte. Ihre beste Freundin faltete sie mit angehaltenem Atem auseinander, aber dann entspannten sich ihre Schultern und sie brach in Gelächter aus.
Paislee las den Zettel den Lydia ihr gab.
Wenn du nicht in den nächsten fünf Minuten vorm Altar stehst, renne ich mit dir weg. Skandal, Fluch, egal. Deine Entscheidung, Lydia.
Corbin.
„Die Hochzeit steht noch!“, rief Lydia mit leuchtenden Augen.
„Wunderbar.“ Eliza eilte mit wehendem Rock nach draußen. „Ich werde das Orchester informieren.“
Der Hochzeitsmarsch erklang, und die Brautjungfern verließen den Umkleideraum, um sich bei dem entsprechenden Trauzeugen einzuhaken. Alle Männer trugen einen prachtvollen roten, blauen und schwarzen Kilt mit silbernen Akzenten. Die Sporrans waren aus schwarzem Leder. Die Schleifen an den Blumensträußen der Brautjungfern passten zu den Kilts. Drew, der Jüngste, begleitete Senta. Duncan, der zweitälteste Bruder, eskortierte Rosebud, und Reggie, der Erbe, führte Hyacinth an seinem Arm.
Paislee sah den anderen durch die halb angelehnte Tür zu. „Es ist wunderschön, Lydia.“ Sie wandte sich ihrer Freundin zu. Die Harfe verschmolz mit dem Dudelsack und der harmonische Klang hallte zwischen den Steinen der alten Kirche wider.
„Wirklich?“
„Ja.“ Das erste Mal seit Monaten konnte Paislee echte Freude in Lydias Gesicht ausmachen. Sie blinzelte ein paar Tränen zurück. „Ich würde ja fragen, ob du dir sicher bist, dass er der Richtige ist, aber das kann ich sehen.“
„Ist er“, sagte Lydia. „Und er ist eine Million böse Stiefmütter wert. Erinnere mich an diesen Moment, ja?“
Paislee schoss mit ihrem Handy ein Foto von dem breiten Grinsen ihrer besten Freundin. „Hab’s!“
Sie steckte ihr Handy in die Handgelenktasche – gerade groß genug für ihr Handy, ihre Kreditkarte und ihr Lipgloss – in der untersten Schublade des Schminktisches, schnappte sich ihren Blumenstrauß und ging an Alistair vorbei zum Eingang. Eine Junibrise wehte durch die leicht geöffneten Türen herein – ein Muss, denn sonst wäre es im Gebäude zu stickig für die zweihundert Gäste gewesen.
Matthew, der eine blaue Distel am Revers seines hellgrauen Jacketts trug, hielt Paislee seinen Arm hin. Freude strahlte von Corbin an seinem Platz neben dem Altar aus wie ein Heiligenschein.
„Bereit?“, fragte Matthew. „Corbin freut sich wie ein Schneekönig. Da möchte man echt ans Eheglück glauben, wenn man ihn und Lydia so verliebt sieht.“
„Sie ist auch ganz aufgeregt“, versicherte Paislee Corbins bestem Freund. Sie waren bei den Hochzeitsvorbereitungen ihrer Freunde die letzten paar Monate über Verbündete geworden.
Die Tür zu den Toiletten neben dem Umkleideraum ging mit einem Knall auf und eine junge Frau mit tiefschwarzem Haar rauschte an Alistair, Paislee und Matthew vorbei. Die etwas großgewachsene Nase in ihrem bleichen Gesicht gab sie als eine Cousine der Smythes zu erkennen, was durch den roten Tartanschal um ihre Schultern bestätigt wurde.
„Verzeihung, Verzeihung“, sagte sie, während sie zum Vordereingang der Kirche raste. Die Toilettentür schlug zu.
„Ist alles in Ordnung, Felice?“ Paislee erkannte die junge Frau von den Feierlichkeiten vor der Hochzeit wieder. Sie stand oft kichernd mit Rosebud und Hyacinth zusammen.
„Ich kann nichts sehen!“ Felice bedeckte ihre Augen mit der Handfläche, und ihr Ton war panisch.
„Wo willst du hin?“ Matthew ließ alarmiert Paislees Arm los und folgte der jungen Frau. „Die Hochzeit fängt gleich an.“
Felice zerrte weinend die nächste Tür vollständig auf, als ob sie Schmerzen hätte. Sie trat nach draußen, wobei sie über die steinerne Schwelle stolperte. Matthew versuchte, sie am Ellbogen zu packen, aber sie schlug um sich und stieß ihn weg.
Alistair trat besorgt zu Paislee. Seine Pflicht galt seiner Tochter, daher blieb er in der Nähe der Tür zum Umkleideraum, aber seine Haltung verriet, dass er mit sich rang. Zu helfen lag in seiner Natur.
„Was ist los?“, fragte Lydia an der Schwelle. Sie blickte mit dem Blumenstrauß in der Hand von dem Tumult um Felice zum Altar auf der anderen Seite und den Gästen, die drinnen standen und auf die Braut warteten.
Das war definitiv nicht Regenbogen und Sonnenschein. „Gib mir eine Sekunde!“ Paislee eilte auf den Kircheneingang zu, um Matthew zu helfen.
„Felice, stopp!“, rief Matthew.
Paislee stieß aus Versehen gegen Matthew auf dem Treppenabsatz. Zwei Dutzend steile Stufen führten hinab zur kopfsteingepflasterten Straße, wo Parkverbot galt. Felices Nase war fleckig und sie blinzelte rasch.
„Helft mir!“ Felice ruderte mit den Armen und schwankte auf der obersten Stufe.
Matthew griff nach ihr und bekam sie an ihrem Smythe-Tartan zu fassen, aber das reichte nicht, um Felice vor einem Sturz nach unten zu bewahren. Sie landete auf dem Rücken am Fuß der Treppe, ihr Genick in einem seltsamen Winkel. Regungslos.
„Nein!“ Paislees Magen verknäuelte sich.
„Was um alles in der Welt?“, brüllte Alistair am Absatz. Lydia, direkt hinter ihm, starrte auf den gebrochenen Körper hinab. Tiefschwarzes Haar lag zu einer Seite ausgefächert. „Geh zurück ins Zimmer, Schatz“, sagte er und drängte Lydia rückwärts.
Lydia schüttelte ungläubig den Kopf. „Nein. Das kann nicht sein.“
Matthew zog sein Handy aus seiner Jacketttasche und wählte den Notruf. „Felice Smythe ist die Stufen an der Old Nairn Kirk hinuntergefallen. Kommen Sie vorne herum.“
Paislee ließ ihren Blumenstrauß fallen und eilte die Treppe hinunter, rutschte auf dem Stein aus, aber fing sich wieder, bevor sie von den letzten zwei Stufen auf den Bürgersteig sprang. Sie beugte sich über Felice und suchte am rechten Handgelenk nach dem Puls. Nichts.
Sie schnappte nach Luft. Etwas Goldenes glänzte in Felices linker Hand.
Lydias fehlende Luckenbooth-Brosche.
Kapitel 2
Paislee blieb auf den Knien und war versucht, die Luckenbooth-Brosche aus Felices geöffneter Hand zu nehmen und sie Lydia wiederzugeben. Ineinander verschlungene Herzen, ein roter Edelstein. Sie ließ es, da sie spürte, dass etwas nicht stimmte und vielleicht die Polizei involviert werden müsste. An einem tödlichen Sturz einer jungen Frau auf einer Hochzeit konnte nichts richtig sein.
Sie stand mit zitternden Beinen auf. Matthew kraxelte die Steintreppe herab. „Paislee, ist sie …?“
Paislee schluckte schwer und gab Matthew keine Antwort, als sie hochschaute. Sie erkannte Harry, Corbins Onkel, und weitere Smythe-Cousins mit dunklem Haar direkt hinter Matthew.
„Was? Felice!“ Harry schubste Matthew beiseite, kniete sich neben seine Tochter und war in seinem Schock kurz davor, sie in seine Arme zu nehmen. Er erstarrte, als er bemerkte, dass ihr Nacken in einem schrägen Winkel stand. Die Farbe wich aus seinem mit feinen Falten durchzogenem Gesicht. „Oh, Gott.“
„Felice?“
Matthew hielt einen großgewachsenen jungen Mann davon ab, Felice in die Arme zu nehmen. „Oliver, hey, du darfst sie nicht anfassen. Die Sanitäter sind auf dem Weg. Jocelyn, fass deine Schwester nicht an. Es tut mir so leid.“
Die Armen waren Felices Geschwister. Es war zu spät für einen Krankenwagen, auch wenn man die Sirenen heulen hören konnte.
„Ist das eine Luckenbooth-Brosche?“ Jocelyn wischte sich dicke Tränen von den Wangen und ihre Zähne klapperten, während sie unsicher neben ihrer Schwester stand. „Hat Lydia ihre nicht vermisst?“
Olivers Nase lief rot an. „Sei nicht dämlich. Felice würde sie nicht klauen.“
Harry strich Felice das Haar aus der Stirn. „Was ist mit ihrer Haut?“
Die Flecken um ihre Augen erinnerten Paislee an einen Hitzeausschlag. Obwohl es ein warmer Nachmittag war, war es nicht heiß genug dafür.
„Weiß nicht.“ Jocelyn hockte sich hin und tätschelte ihrer Schwester den Arm. Sie schniefte traurig, aber auch ein kleines bisschen pikiert. „Sie und Rosebud haben gelacht. Ich habe gefragt, worüber, und sie hat gesagt, dass ich mich um meinen eigenen Kram kümmern soll.“
„Wann war das?“, fragte Paislee.
Mit vor Kummer stumpfem Blick sagte Jocelyn: „Bevor ihr alle für die Fotos mit dem Fotografen nach draußen gegangen seid. Felice war eifersüchtig auf Senta. Sie wollte auch eine Brautjungfer sein.“
Harrys Brust hob und senkte sich voller Schmerz, während er ungläubig auf Felice starrte. „Was ist mit meinem süßen Mädchen passiert?“
Felice und Rosebud hatten also über etwas gelacht. Hatte Felice Lydias Brosche gestohlen? Angestachelt von Rosebud? Höchstwahrscheinlich ein Streich, genau wie Paislee befürchtet hatte.
Jocelyn griff nach der Brosche, aber Matthew räusperte sich und warf Paislee einen Blick zu. „Du solltest sie wahrscheinlich für die Polizei liegen lassen.“
Also hatte auch er gespürt, dass etwas dahintersteckte, aber es überraschte sie nicht. Matthew arbeitete als Rechtsanwalt in Edinburgh. Er und Corbin hatten sich an der Universität kennengelernt und waren Freunde geblieben, obwohl Corbin Jura den Rücken gekehrt hatte, um sich in der Technologiebranche selbstständig zu machen.
„Polizei?“ Oliver fuhr sich mit den Fingern durch sein dunkles Haar am Hinterkopf.
Der Polizeiwagen kam dicht gefolgt vom Krankenwagen an und parkte mitten auf der Straße. Die Sanitäter sprangen zuerst heraus und schoben sich an der Familie um Felice vorbei. „Bleiben Sie zurück, bitte“, sagte ein Sanitäter.
Paislee trat zur Seite und sah hoch zu den Leuten, die sich am Eingang der steinernen Kirche versammelt hatten - beide Türen standen nun weit offen. Lydia wartete am Treppenabsatz und starrte nach unten. Pastorin Angela, deren Talar sich um ihre dünne Figur bauschte, stieg die Treppe hinab, während sie ein Gebet für die Verstorbene murmelte.
Paislee rannte die Stufen hoch zu Lydia, die sogleich ihre Hand umklammerte. „Da sieht nach Mum. Was ist passiert?“
„Felice Smythe ist gestürzt“, flüsterte Paislee. „Ihr Genick ist gebrochen. Lydia – sie hatte die goldene Luckenbooth-Brosche in der Hand.“
„Was?“ Lydia runzelte die Stirn, aber aus Angst, nicht aus Wut. „War es meine?“
„Sie war golden mit einem roten Edelstein. Ich weiß es nicht sicher, aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass deine vermisst wird und sie eine findet, die nichts damit zu tun hat?“
„Oh, Himmel, Himmel.“ Lydias Unterlippe bebte.
Corbin schritt mit schwingendem Kilt auf sie zu, gefolgt von Garrison. Vater und Sohn stellten sich mit neugierigem, aber vorsichtigem Gesichtsausdruck zu ihnen. Corbins Blick fiel auf Felice, die ausgestreckt auf der Straße lag, und er beugte sich vornüber.
„Ich … ich hatte Angst, dass dir etwas passiert ist.“ Corbin legte seinen Arm um Lydia. „Arme Felice.“
„Verdammt“, polterte Garrison. „Ist Felice ausgerutscht?“
Mary kam mit einem Kreischen dazu, schlug die Hand vor den Mund und zeigte dann mit dem Finger auf Lydia. Über ihrem Ohr hatte sie eine blaue Distel in ihrem platinblond gefärbten Haar befestigt, das in einem Netz steckte. Ihr fülliger Körper war in einen zu engen Smythe-Tartanrock gequetscht, und dazu trug sie eine Seidenbluse. „Rosebud hat gesagt, dass du deine Brosche verloren hast! Ich habe dich vor dem Fluch gewarnt.“
„Es gibt keinen verdammten Fluch!“, schrie Corbin seine Stiefmutter an. „Jetzt ist nicht die Zeit für deinen abergläubischen Unsinn.“
Und doch wurde seine Cousine in einem Krankenwagen abtransportiert – bereits tot. Garrison sah Corbin mit hochgezogener Braue an, und ging dann mit vor Trauer um seine Nichte verzerrtem Gesicht zu Harry, seinem Bruder.
„Felice hatte meine Brosche“, raunte Lydia Corbin zu. „Paislee hat gesagt, dass sie sie in der Hand hatte.“
„Wie soll das möglich sein?“, fragte Corbin. „Meine Cousine hatte keinen Grund, sie zu stehlen.“
„Ich sage nur, was ich gesehen habe“, sagte Paislee. Sie würde nicht erwähnen, dass Rosebud und Felice unter einer Decke steckten, bis sie mehr Informationen hatte. „Aus Gold. Zwei verschlungene Herzen. Roter Stein.“
Corbin zuckte zusammen. „Das klingt wie die, die ich ausgesucht habe, wie Lydia war sie einzigartig. Nehmt’s mir nicht übel, aber ich wünschte wirklich, ich hätte die Smythe-Tradition mit der Luckenbooth ignoriert und es bei der Verlobung bei dem Diamantring und dem Champagner belassen.“ Er küsste Lydias Ringfinger. „Was für ein Chaos.“
Lydia lehnte sich gegen Corbin und ignorierte Mary, die sie finster anstarrte.
Constable Paynes stämmige Gestalt stieg aus dem Streifenwagen, sein Tablet in der Hand, während er sich auf die Befragung vorbereitete. Erleichterung durchströmte Paislee bei dem vertrauten Anblick. Eine zweite Polizistin, die von ihrer hellen Haut bis hin zur schlanken Figur das Gegenteil von Payne war, machte Fotos. Sie zog Handschuhe über, holte eine Plastiktüte hervor und verstaute darin die Brosche, die Felice in der Hand gehalten hatte. Endlich erlaubte der Constable den Sanitätern, Felices Körper auf die Trage zu heben.
Harry, Jocelyn und Oliver drängten sich um die Trage. Jocelyns Kinn zitterte. „Kann ich mitfahren, Pa? Sie sollte nicht allein sein.“
Oliver hielt seinen Vater fest, als Harrys Knie nachgaben. „Ja.“ Er richtete sich auf. „Wir treffen uns am Krankenhaus.“
Die Sanitäter luden die Trage in den Krankenwagen und Jocelyn kletterte hinein. Die Sirene blieb aus. Es gab keinen Grund zur Eile. Paislee presste die Hand auf ihren verknäuelten Magen. Arme Felice.
„Ich muss dem Constable von der Brosche erzählen“, sagte Paislee. „Es könnte wichtig sein.“
„Ich gehe mit dir.“ Corbin verzog vor Schmerz das Gesicht, als sein Onkel Harry zusammenbrach. Garrison, Oliver und Corbins Brüder drängten sich um ihn.
Paislee blickte zur Kirche. Der Treppenabsatz und der Eingang waren nun noch voller, aber sie sah weder Brody noch Grandpa.
„Wir müssen die Hochzeit abbrechen“, sagte Lydia benommen. „Wir müssen.“ Sie sah Corbin mit tränenverschleiertem Blick an. „Es tut mir so leid, Corbin. Der ganze Clan wird wegen Felice am Boden zerstört sein.“
Corbin schlang die Arme um Lydia und strich ihr über den Rücken. „Du hast Recht. Wir hätten–“
„Sag jetzt ja nicht, wir hätten heimlich heiraten sollen!“, rief Lydia, die Faust gegen seine Brust gepresst. Sie trat zurück und stieß den Atem aus. „Ich gehe rein zu unserer Familie, Paislee. Kommst du nach?“ Sie ging mit wehendem Hochzeitskleid davon.
Paislees Instinkt drängte sie, bei Lydia zu bleiben, die insgeheim litt, egal, was für eine tapfere Miene sie aufsetzte. Corbin nahm Paislee jedoch beim Ellbogen und führte sie die Steintreppe zum Kopfsteinpflaster hinunter, wo der Krankenwagen gerade wegfuhr.
„Und dann haben wir Felice schreien hören, dass sie nichts sehen kann“, sagte Oliver zu Constable Payne, „am Eingang. Pa hat sich Sorgen gemacht, dass sie die Trauung verpassen könnte, weil sie so lange auf Toilette war. Jocelyn hat sich geweigert, nach ihr zu sehen.“ Er zuckte mitfühlend mit den Schultern. „Felice und Rosebud sind manchmal fies zu ihr, wenn sie sie loswerden wollen.“
Corbin zerrte Paislee neben sich.
„Erzählen Sie mir von der Luckenbooth-Spange in Felices Hand“, sagte der Constable. Tiefe Lachfalten zogen sich um seine Mundwinkel, aber gerade war mit ihm nicht zu spaßen. Er hatte einmal zu ihr gesagt, dass es besser war zu lachen als zu weinen.
Paislee seufzte. „Lydias Brosche ist irgendwann verschwunden, nachdem die Pastorin sie ihr gebracht hatte, und wir draußen unter dem Baum Hochzeitsfotos geschossen haben.“ Sollte sie erwähnen, was Jocelyn über Rosebuds und Felices Gelächter erzählt hatte?
„Warum sollte Felice sie haben wollen?“ Constable Payne schob die Krempe seiner schwarzen Kappe zurück.
„Vielleicht“, schlug Oliver vor, „hat sie sie gefunden und wollte sie Lydia zurückgeben, aber war dann verwirrt und ist die Treppe runtergefallen.“
Und vielleicht, dachte Paislee, würde der Weihnachtsmann an diesem schönen Junitag jeden Moment mit seinen Rentieren und seinem Schlitten voller Elfen auftauchen.
Constable Payne klickte etwas auf seinem Tablet an und rief dann etwas abseits den Fahrer des Krankenwagens an.
Paislee konnte „verschwundene Brosche“ ausmachen, aber das war alles.
„Es muss einen guten Grund gegeben haben. Unser Mädchen ist keine Diebin.“ Harry starrte Corbin an. „Du kennst Felice schon dein ganzes Leben. Ihr Cousins habt immer zusammengehalten. Wart immer Familie.“
„Ich beschuldige sie überhaupt nicht, Onkel Harry. Wir werden schon rausfinden, was mit Felice passiert ist.“ Corbin umarmte Harry und dann Oliver, und die ruppigen Schotten erlaubten sich ein paar Tränen.
„Können wir jetzt zum Krankenhaus fahren?“, fragte Oliver die Polizistin, die Constable Payne assistierte. Auf dem Namensschild der Frau mittleren Alters stand CONSTABLE SARAH MONROE. Unter ihrer glänzenden schwarzen Mütze konnte man gerade so rotes Haar erkennen.
„Ja. Fahren Sie vorsichtig“, sagte Constable Monroe. „Zu schnelles Fahren wird Sie nur in Gefahr bringen.“ Ihr Tonfall war warm, beinahe mütterlich, als sie leicht nickte.
Harry zog die Schlüssel aus dem Sporran an seinem Kilt, griff Oliver am Oberarm und eilte um die Kirche herum zum Parkplatz.
„Was haben Sie gesehen, Paislee?“, fragte Constable Payne, als er wiederkam.
Sie erzählte ihm alles und schloss mit den Worten: „Felice hat sich die Augen gerieben, und ihre Haut war rot und fleckig.“
„Der Gerichtsmediziner wird einen toxikologischen Test machen, für den Fall, dass sie was genommen hat.“ Der Constable blickte um sich, um sicherzugehen, dass Felices nächste Angehörige außer Hörweite waren. „Heutzutage weiß man nie, was die Jugendlichen alles für einen Kick machen würden. Also, was können Sie mir noch über die Brosche erzählen?“
„Lydia hat sie heute in einem Holzkästchen bekommen. Bevor sie sie öffnen konnte, wurden wir von dem Hochzeitsfotografen gerufen.“
„Wer ist das?“, fragte Constable Payne.
„Bruce Dundas“, sagte Corbin. „Er war seit meiner Geburt unser Familienfotograf für besondere Anlässe.“
„Hochzeitsfotos unter der Erle im Hof sind laut Bruce ein Muss für die sozialen Medien.“ Paislee krauste die Nase. „Jedenfalls habe ich das Kästchen gesehen, bevor wir den Umkleideraum verlassen haben, aber ich hatte es ehrlich gesagt ganz vergessen, als wir wiederkamen. Als Lydia an die Brosche gedacht hat, konnten wir sie nirgends finden.“
„Hatte Felice auch das Kästchen?“ Constable Payne machte sich Notizen.
„Ich habe es nicht gesehen. Sie hatte ihre Handtasche nicht bei sich.“ Trotz des blauen Himmels überkam Paislee eine Gänsehaut, und sie rieb sich die Arme. Das Leben war wertvoll, und es gab keine Garantien. „Sie kam aber aus der Toilette. Vielleicht liegt das Kästchen dort.“
Constable Payne winkte Constable Monroe. „Gehen Sie hoch zu den Toiletten, ja?“
„Mach ich.“ Die Polizistin wies mit dem Kinn auf den Streifenwagen. „Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?“
„Klar.“ Constable Payne beriet sich flüsternd mit ihr.
Als sie fertig waren, öffnete Constable Monroe den Kofferraum, klemmte sich allerlei Zubehör unter die Arme und eilte dann an ihnen vorbei die Treppe hoch. Was hatten sie besprochen?
Constable Payne kehrte mit neutralem Gesichtsausdruck zurück. „Während Monroe das WC untersucht, zeigen Sie mir, wo Felice und ihre Familie gesessen haben“, sagte er.
Sie stiegen die Steintreppe hoch und betraten die Kirche, in der zweihundert Gäste auf eine Trauung warteten, die nicht stattfinden würde. Constable Monroe war in der einzelnen Toilette und räumte lautstark darin herum. Die Tür des Umkleideraums daneben war geschlossen. Paislees Körper brummte vor Nervosität.
Constable Payne drängte sie vom Eingang ins Innere der Kirche. Dutzende Kirchbänke füllten den Raum aus, aber sie fokussierte sich auf den Platz, wo ihre Familie gesessen hatte.
Brodys Augen leuchteten auf und er schoss von seinem Platz an Grandpas Seite auf sie zu. Auf der Hälfte des siebten Schuljahres war er fünfzehn Zentimeter in die Höhe geschossen, mit knubbeligen Knien und Ellbogen und dichtem kastanienbraunem Haar. „Mum!“
„Alles ist gut, Schatz.“ Paislee drückte seine Schultern, während sie zu Corbin, Matthew und dem Constable gingen. Grandpa schlängelte sich zum Ende der Kirchbank, einen besorgten Ausdruck in seinen braunen Augen hinter der schwarz eingefassten Brille. Im letzten Jahr hatte er an Gewicht zugenommen und füllte nun sein Jackett und den Kilt aus.
Das Orchester war verstummt. Pastorin Angela rauschte den Kirchgang hinunter auf sie zu. „Ich habe Lydia und ihre Eltern mit einem Schluck Whisky in den Umkleideraum gebracht.“ Sie stieß den Atem aus und ihre Stirn war vor Kummer gerunzelt. „Was nun?“
Ein Schluck klang perfekt für Paislee, die normalerweise nicht trank. Ein weiterer Todesfall in Nairn verlangte nach einem Glas starkem schottischem Whisky.
Mary, der ein paar blonde Strähnen aus dem Haarnetz fielen, hatte die Arme um ihre Töchter gelegt – Rosebud auf der rechten und Hyacinth auf der linken Seite – als sie dazwischenplatzte. Hyacinth hielt ihren Blumenstrauß in der Hand, und Rosebud ihr Handy. Garrison, breitschultrig durch die Arbeit auf dem Familienanwesen, stand hinter ihnen.
„Corbin, mein Sohn, was willst du jetzt machen?“, fragte Garrison.
Corbin verschränkte die Hände hinter dem Rücken, während er die herumschwirrenden Gäste betrachtete. „Ich weiß es noch nicht. Wir besprechen gerade mit Constable Payne, was passiert ist.“
„Ich habe gehört, dass Felice sich das Genick gebrochen hat.“ Hyacinths Blumen zitterten in ihrer Hand.
Rosebuds Lippen wurden schmal. „Gebrochen?“
Constable Payne neigte den Kopf. „Wir werden rausfinden, wie diese Tragödie passieren konnte.“
„Die Stufen sind rutschig, wenn es geregnet hat, ja, aber das Wetter war trocken.“ Der Ton der Pastorin verriet ihren Schmerz darüber, dass eines ihrer Schäfchen seinen Tod auf dem Kopfsteinpflaster gefunden hatte.
„Irgendetwas stimmte mit ihren Augen nicht. Stimmt’s, Paislee?“ Matthew steckte sein Handy in die Jacketttasche.
„Ja. Felice hat gesagt, dass sie nichts sehen kann.“ Paislee blickte Rosebud prüfend auf der Suche nach irgendeiner Reaktion an, aber sie schaute auf ihr Handy.
„Das ergibt keinen Sinn“, sagte Hyacinth. „Ich meine, es ist staubig in dieser alten Kirche. Könnte es das gewesen sein?“
„Wohl kaum!“, sagte die Pastorin beleidigt. „Wir haben mehrere Freiwillige, die sich täglich um die Kirche kümmern.“
Paislee erinnerte sich an ihre letzte Begegnung mit dem Tod. „Könnte es eine Allergie gegen irgendetwas sein? Die Kerzen oder die Blumen? Das würde rote, gereizte Augen verursachen.“
„Ich werde Harry fragen, ob sie allergisch war“, sagte Corbin.
„Wir werden die Fragen stellen“, versicherte Constable Payne der Familie. „Aber ich werde es mir notieren.“ Er machte sich auf seinem Tablet einen Vermerk. „Wo hat sie gesessen?“
Matthew zeigte auf die lange, blitzblank polierte Holzbank fünf Reihen von vorne.
Der Constable kniete sich hin, um unter die Sitze zu schauen. „Nichts“, sagte er, als er sich wieder aufrichtete. „Wie groß war das Kästchen?“
„Ungefähr so groß wie Ihr Handy“, sagte Paislee. „Schwer. Aus dunklem Holz.“
„Das ist nicht die Schatulle, die ich ihr gegeben habe.“ Marys fülliges Kinn zitterte.
„Mary!“ Garrison runzelte die Stirn. „Du hast ihr die Brosche heute nicht gegeben? Du hast doch gesagt, du hast sie reinigen lassen.“
„Doch! Ich habe sie letzte Woche vom Juwelier abgeholt und ein hübsches Samtkästchen gekauft.“ Mary schnaubte. „Königsblau.“
„Wann haben Sie es das letzte Mal gesehen, Ma’am?“, fragte Constable Payne.
„Heute Morgen vor dem Gottesdienst. Ich habe es zu den anderen Hochzeitsgeschenken getan. Ich war ja keine Brautjungfer.“ Mary machte eine bedeutungsschwere Pause, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. „Ich habe die Tartanschleife der Smythes und eine Nachricht an Lydia dazugetan.“ Sie fächerte sich das Gesicht. „Es ist etwas Besonderes, Teil des Smythe-Clans zu werden. Ich wollte einen Neuanfang für uns alle.“
Laird Garrison Smythe nickte seiner zweiten Frau zustimmend zu.
Mit anderen Worten, dachte Paislee, er hatte Mary gesagt, sie solle sich zusammenreißen. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es wohl war, in solch eine illustre Familie einzuheiraten – Mary hielt es scheinbar für eine Auszeichnung. Lydia machte sich nichts aus solchen Dingen.
„Das Kästchen war aus Holz“, sagte Paislee voller Überzeugung. „Nicht aus Samt.“
Mary wandte sich an Rosebud, dann an Hyacinth. „Mädchen?“
Rosebud zuckte die Schultern aber ihre Wangen waren scharlachrot. Würde sie zugeben, worüber sich sie und Felice lustig gemacht hatten? „Ich weiß es nicht mehr.“
Sie log! Paislee ließ die volle Breitseite ihres Mutterblicks auf die junge Frau los, die den Kopf einzog.
„Ich auch nicht.“ Hyacinth tupfte sich eine Träne weg. „Arme Felice. Der Familienfluch hat sie erwischt.“
„Die Brosche war nicht verflucht“, sagte die Pastorin hitzig. „Ich habe sie eigenhändig gesegnet, genau wie Mary gewünscht hatte.“
„Fluch?“, stieß Garrison hervor. „Wovon redest du da, Mädchen?“ Er starrte seine älteste Stieftochter an, als ob sie den Verstand verloren hätte.
„Wir wissen von dem Luckenbooth Fluch, Da“, jammerte Hyacinth. „Schrei nicht so rum.“
Garrison drehte sich auf seinem schwarzen Absatz zu seiner Frau um. „Ich dachte, ich hätte Corbin vorhin an der Treppe missverstanden. Mary, erkläre dich bitte.“
Mary sog mit der Hand auf ihrem Herzen die Luft ein. „Ich wollte dich aus genau diesem Grund nicht einweihen, Garrison. Man darf das Übersinnliche nicht verleugnen.“ Ungeachtet seines schmal gewordenen Blicks fuhr sie fort: „Meine Freundin Alexa ist eine Hellseherin, und sie hat mir gesagt, dass mehr als eine Braut der Smythes gestorben ist, nachdem sie eine Brosche von ihrem Verlobten geschenkt bekommen hat. Wenn das Mädchen nicht die Richtige ist …“
„Corbin hat Recht, Mary. Das ist purer Unsinn.“ Garrison lief puterrot an. Paislee war sich nicht sicher, ob aus Scham oder vor Ärger. „Diese Spangen sind Glücksbringer. Sie bringen kein Unglück. Ich will nichts mehr davon hören!“
Marys Mund stand offen, aber dann senkte sie den Kopf.
Corbin lenkte seine Aufmerksamkeit von seiner Stiefmutter zu seinem Vater. „Felice ist tot. Wie können wir Onkel Harry helfen? Das ist jetzt wichtiger als alles andere.“
Reggie, mit fünfunddreißig Jahren der älteste der Smythe-Brüder, sagte: „Ich werde Pa in seinem Auto zu Onkel Harry ins Krankenhaus bringen. Cynthia und Delilah können mit unserem Auto zum Anwesen fahren und da auf uns warten.“
Paislee wandte sich um und sah Reggies Frau und Tochter in eine Unterhaltung mit Duncans Frau, Nell, und ihrem Sohn, Owen, vertieft.
„Ich werde allen Bescheid sagen, dass es einen Unfall gegeben hat,“ sagte die Pastorin. Tatsächlich schwirrten mehr als die Hälfte der Gäste umher, um herauszufinden, was passiert war. „Die Hochzeit wird … verschoben.“
Das ist noch gelinde ausgedrückt, dachte Paislee.
Duncan und Drew standen links und rechts neben Corbin. „Das ist eine Scheiße“, verkündete Drew mit einem Arm um Harlows Schultern gelegt. „Lass uns nach Hause gehen und saufen.“
„Ich könnte einen Drink vertragen“, sagte Corbin leise. „Wir können auch einfach vom Hochzeitsbuffet essen, sonst muss es weggeschmissen werden.“
„Da bin ich mir nicht so sicher!“ Mary sprach in einem beleidigten Ton, als ob Corbin ihr damit auf die Füße getreten wäre.
„Das ist eine wunderbare Idee, mein Sohn“, sagte Garrison über Mary hinweg zu seinen Jungen. „Nicht die Feier, auf die wir gehofft haben, aber wir müssen um unsere Verwandtschaft trauern. Unser Zuhause steht der Familie offen, so, wie es das schon immer in guten und in schweren Zeiten getan hat. Sie dürfen sich gerne dazugesellen, Pastorin Angela, und unserer Sippe Bescheid sagen.“
Die Pastorin nickte. „Gott und Familie sind in Zeiten wie diesen das beste Heilmittel. Nochmal, es tut mir so leid für Sie alle.“
„Du wirst Tante Lydia jetzt doch nicht heiraten?“, fragte Brody Corbin.
„Ich will sie heiraten, doch.“ Corbin schossen Tränen in die Augen und Duncan tätschelte seine Schulter. „Wir müssen wohl auf einen besseren Zeitpunkt warten.“
Paislee tat es schrecklich leid für ihn und Lydia – ein Paar, das sich wahrhaft liebte. Brody spähte besorgt zu ihr hoch. Was ging ihm durch den Kopf?
Und würde er damit wie ein kleines Kind herausplatzen oder warten, bis sie allein waren? Sie atmete erleichtert aus, als Brody ihr kurz zunickte. Er wuchs nicht nur körperlich immer mehr heran.
Hyacinth vergrub die Nase in ihrem Blumenstrauß. „Mach dir keine Sorgen, Corbin. Du kannst dir eine andere Luckenbooth-Brosche aussuchen, ohne Fluch, wie Mum vorgeschlagen hat.“
„Zum letzten Mal, die Brosche war nicht verflucht!“, sagte Corbin.
„Immer mit der Ruhe“, rügte Rosebud ihn in der Sicherheit des Arms ihrer Mutter. Sie wirkte so jung, dass sie unmöglich verantwortlich für die verschwundene Brosche sein konnte. Mit einer Cousine zusammen zu lachen war kein Verbrechen. Felice hatte sie gestohlen, nicht Rosebud.
„Paislee, kommt ihr drei bitte mit uns zum Herrenhaus?“ Corbin griff mit schwitziger Handfläche nach Paislees Hand. „Lydia braucht ihre Familie um sich.“
Mit anderen Worten, Corbin war sich durchaus bewusst, dass seine Stieffamilie toxisch für Lydia war. Nur war Lydia nun keine Braut mehr und stand noch weniger unter Schutz.
„Lass uns Onkel Philip finden. Er soll Harry vom Krankenhaus abholen, damit wir den Angestellten Bescheid sagen können, dass es eine Planänderung gab.“ Garrison ging zum Eingang, gefolgt von allen vier Söhnen.
Schottisches Blut floss durch Paislees Adern, und sie glaubte, dass es auf Gottes grüner Erde mehr gab, als mit bloßem Auge erkennbar war. Sie neigte den Kopf zu einem raschen Gebet.
War Lydias Hochzeit wirklich verflucht worden?
Kapitel 3
Paislee brauchte eine höfliche Ausrede, um dem Smythe-Clan im Herrenhaus zu entkommen, aber bevor sie sich eine ausdenken konnte, hatte Lydia schon den weichherzigen Grandpa überredet, ihren Eltern und ihr Gesellschaft zu leisten. Ja, der Plan war gewesen, zum Hochzeitsbuffet, Tanz und Geschenken in der Scheune hinterm Haus zusammenzukommen, aber die Umstände hatten sich geändert. Der Tod scherte sich nicht um Zukunftsträume.
„Lydia! Wir gehören nicht zur Familie. Wir kannten Felice nicht“, sagte Paislee in einem vernünftigen und logischen Ton.
„Ihr seid meine Familie. Nur für ein kleines bisschen“, flehte Lydia. Ihre Tränen hatten ihre wasserfeste Mascara an ihr Limit gebracht, und sie hatte schwarze Ringe unter den Augen – sie musste bei ihren Eltern im Umkleideraum geweint haben, bevor sie zu Paislee in der letzten Reihe gestoßen war.
Paislee schaute von Brody zu Grandpa, zu Lydia und dann zu Lydias Eltern. Sie war nicht stark genug, um bei all den beschwörenden Blicken standhaft zu bleiben.
„Na gut. Na gut. Aber!“ Sie hob die Hand. „Wir bleiben nicht lange. Lydia, ihr habt doch immer noch die Tickets nach Heidelberg für morgen, oder?“ Das Paar hatte einen zweiwöchigen Luxusurlaub in Deutschland gebucht.
„Wir können nicht fliegen. Wir sind nicht verheiratet. Keine Hochzeit. Keine Flitterwochen. Kein toller Ausflug zu den deutschen Winzereien.“ Lydia verschränkte die Arme und tat ihr Bestes, sich zusammenzureißen. „Wir müssen die Suite im Hotel auch absagen. Was machen wir nur mit dieser riesigen Hochzeitstorte?“
Bei der Hochzeit war es ausschließlich um die Wünsche der Smythes gegangen, hauptsächlich Marys, und Lydia hatte immer und überall nachgegeben. Sie wollte im kleinen Kreis heiraten. Zweihundert Menschen waren heute Zeuge dieser Tragödie geworden. Sie wollte eine Schokoladentorte, aber hatte einer Vanilletorte zugestimmt. Mit fünf Schichten.
„Ich werde das Hotel anrufen und ihnen Bescheid sagen.“ Paislee war froh, eine klare Aufgabe zu haben, mit der sie Lydia etwas entlasten konnte. „Du musst dich nur noch um die Flüge kümmern.“
Alistair zupfte an einem Knopf an seiner Weste. Sie bemerkte, dass das eine Angewohnheit von ihm war, wenn er nervös war. „Ich schätze, ihr Turteltäubchen wollt nicht einfach so in den Urlaub fahren?“
„Corbin hat die Tickets gebucht.“ Lydias Kinn zitterte. „Seine Cousine ist tot. Auf unserer Hochzeit! Das wird Marys abergläubisches Geschwätz über die Brosche nur noch schlimmer machen.“
„Es tut mir leid, Lyd.“ Paislee umarmte sie fest. Sie wollte nur ungern die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass da doch etwas dran war. Wenn die Smythes die Brosche wiederbekamen, könnte sie eingeschmolzen werden, um weitere Tragödien zu verhindern.
Lydias Gedanken gingen in eine andere Richtung, als sie Paislees Handgelenk umklammerte und sagte: „Wir müssen den Schwarzmalern beweisen, dass sie sich irren.“
Das hörte sich nicht gut an. „Und wie?“
Lydia beugte sich vor und wisperte Paislee ins Ohr: „Indem wir rausfinden, was genau mit Felice passiert ist. Kannst du DI Zeffer anrufen?“
„Auf keinen Fall!“ Paislee wich neben Grandpa und Brody zurück, und ihr Magen verknäuelte sich wie billige Wolle.
Sie hatte seit Monaten nichts von dem DI gehört. Amelia Henry, ihre Freundin, die als Rezeptionistin bei der Polizeistation Nairn arbeitete, hatte beim Strick-und-Schlückchen, das Paislee in ihrem Wollgeschäft Cashmere Crush veranstaltete, erzählt, dass Zeffer immer öfter Inspector Macleod die Verantwortung überließ.
„Nun, wir müssen der Sache auf den Grund gehen, oder ich werde vielleicht nie heiraten!“ Lydia legte die Knöchel an die Unterlippe. Ihr Diamantring funkelte.
Die letzten zwölf Monate hatte sie sich auf Lydias Hochzeit und Brodys letztes Schuljahr an der Grundschule konzentriert. In der siebten Klasse stand man ganz oben in der Nahrungskette, was ihrem Sohn ein kleines bisschen zu Kopf gestiegen war. Die Stimmung zwischen Paislee und dem Schulleiter hatte sich abgekühlt, und obwohl ein Teil von ihr die kribbelnde Anziehung vermisste, begriff sie größtenteils, dass das die nächsten sieben Jahre über eine schlechte Idee war. Vielleicht für immer.
„Warum dieser Zeffer?“, fragte Alistair, der Lydias Wispern mitgehört hatte. „Der Constable steht doch genau dort. Oder ist Paislee mit dem DI befreundet?“
„Wir sind nicht befreundet!“ Eine Zeit lang hatte es eine Reihe von unglücklichen Ereignissen gegeben, in der sich Paislee und der DI verbündet hatten, als Grandpa nach dem Verschwinden seines Sohnes gerade erst nach Nairn gezogen war. Sie hatte ihrem Großvater vorgeschlagen, dass er den Detective um Hilfe bat, da sie vermutete, dass Zeffer mehr darüber wusste als er preisgab, aber der alte Mann war verschwiegener als ein Priester in der Beichte.
Sophie wuselte beschwichtigend um Lydia herum wie eine Henne um ihr Küken – nur war das Küken schon erwachsen. „Es wird schon noch passieren, Schatz. Du kannst bald heiraten.“ Lydias Mutter war zierlich und hatte kirschrote Haare. Womöglich hatte Lydia ihre Vorliebe fürs Haarefärben von ihr geerbt. Sophie senkte die Stimme und fragte: „Welche Wartezeit ist denn angemessen, wenn ein Familienmitglied gestorben ist?“
„Der Adel hat für alles eine Regel. Ich wette, dafür bestimmt auch.“ Grandpa kratzte seinen frisch getrimmten silbernen Bart. „Ist morgen zu früh?“, schlug er vor. „So lange hält sich die Torte noch.“
„Angus hat Recht, Lydia“, sagte Alistair. „Sollen wir mit Corbin sprechen?“ Er sah sich im Inneren der Kirche um, die die Hälfte der Gäste schon verlassen hatten, nachdem sie von der Tragödie erfahren hatten. „Er sollte während dieser Krise bei dir sein.“
„Corbin steht mit seinem Vater und seinen Brüdern am Eingang. Sie sind alle am Boden zerstört.“ Lydia stieß mit ihrem Arm gegen den ihres Vaters. „Er hat gefragt, ob ich mit dir zum Herrenhaus fahren kann?“
Alistair nickte. „Dann sprechen wir später weiter.“
Pastorin Angela tätschelte Lydia den Rücken. „Lydia! Meine Liebe. Wie geht es Ihnen?“
Lydia blinzelte rasch, um die Tränen zurückzuhalten. „Dank Ihnen und Ihrem Whisky viel besser. Wir wissen nur nicht ganz, was wir jetzt tun sollen …“
Brodys kastanienbrauner Pony glitt zur Seite, als er zu der Pastorin hochspähte. „Kann Tante Lydia morgen heiraten? Nur, um die Torte zu retten“, sagte ihr Sohn und bewies, dass er nicht nur zugehört hatte, sondern auch helfen wollte.
Grandpa kicherte.
„Morgen?“ Die Pastorin wandte sich an Lydia. „Ich wäre bereit, den Gottesdienst zu halten, wenn Sie das möchten. Wir brauchen nur ein paar Zeugen.“
Lydias Eltern hoben beide die Hände, als wären sie in der Schule. „Wir fahren erst übermorgen nach Edinburgh zurück“, sagte Sophie. „Am Dienstag.“
„Es wäre uns ein Vergnügen!“, stimmte Alistair zu.
„Immer langsam, ich muss es erst mit Corbin besprechen.“ Lydia zuckte die Schultern. „Ich bezweifle, dass er gerade an eine Trauung denkt.“
Mitleid strömte von der Pastorin aus. Angelas glattes Gesicht machte es schwer, ihr Alter einzuschätzen. Paislee schätzte sie auf Mitte vierzig, aber vielleicht lag es auch einfach an einem sündenfreien Leben. „Sie wollten die Flitterwochen in Heidelberg verbringen?“
„Ja. Corbin wird den Flug umbuchen müssen.“ Lydia senkte den Kopf. „Ich war dem Mann keine große Hilfe seit dem Antrag.“
„Ach, Liebes. Die Schwiegerfamilie sorgt immer für eine interessante Dynamik.“ Angela wies auf den Umkleideraum neben dem Eingang der Kirche. „Wir können die Blumen und Geschenke fürs Erste dort aufbewahren, wenn Sie und Corbin diese Woche eine kleine Zeremonie wünschen? Die nächste Trauung ist am Samstagabend, also wird er bis dahin nicht gebraucht.“
Lydias rechtes Auge zuckte, ein Indiz, dass Paislees beste Freundin vor einem emotionalen Zusammenbruch stand.
Paislee lächelte ihr ermutigend zu. „Lassen Sie uns einen Blick hineinwerfen.“ Sie ging voran zum Umkleideraum, und die anderen folgten ihr. Constable Monroe war nirgends zu sehen, aber die Toilettentür war mit einem Vorhängeschloss am Türgriff und blau-weißem Absperrband versperrt.
„Was ist da los?“, fragte Brody.
„Nichts, Schatz.“ Paislee drückte die leicht geöffnete Tür zu dem Raum auf, in dem die Barrons nur Minuten vorher noch gewartet hatten, und spähte hinein. „Hier entlang.“
Hübsch verpackte Geschenke stapelten sich an einer Wand. Paislees Blumenstrauß, der gerettet worden war, als sie ihn fallengelassen hatte, und Lydias waren die einzigen, die noch übrig waren. „Sind sie hier denn sicher?“
Angela reichte ihr einen silbernen Schlüssel von einem Band an ihrem Handgelenk. „Ich habe den einzigen Schlüssel.“
„Das ist eine großartige Lösung“, sagte Paislee. Das nahm auch den Druck von Lydia, sofort eine Entscheidung treffen zu müssen. „Ich komme nach dem Abendessen vorbei, falls wir uns entscheiden …“ Die Hochzeit ganz abzusagen? Lydia hatte ihr ganzes Herzblut in dieses Unterfangen gesteckt. Sie und Corbin liebten sich. „Naja, egal, was wir entscheiden.“ Paislee holte ihre Handgelenktasche aus der Schublade.
„Wir können auch helfen“, sagte Alistair.
„Das werden wir! Angela, kannten Sie Felice?“, fragte Sophie.
„Ja. Die Smythes gehen seit 1800 in diese Kirche – nicht, dass ich zu der Zeit schon hier war“, lachte die Pfarrerin. „Aber es gibt Aufzeichnungen über eine Hochzeit von Nigel Smythe und Adelia MacDuff aus dem Jahr 1812.“
„Das ist ja spannend!“, sagte Grandpa. Es war immer gut, ihn als Geschichtsliebhaber im Team zu haben, wenn sie quizzten.
„Ihr Vermögen kam durch den Kohleabbau. Und anders als viele der schottischen Clans sind die Smythes stark geblieben – und zahlungsfähig.“ Angela lachte und legte den Kopf schräg. „Könnte es in den Genen liegen?“
„Ich habe mich nie mit diesem DNA-Fimmel befasst“, sagte Alistair. „Aber ein Arbeitskollege hat seinen Familienstammbaum bis ins Jahr 1100 zurückverfolgt.“
Paislee räumte den Schminktisch auf, während sie sich unterhielten, denn ein Teil von ihr suchte immer noch nach dem Kästchen, obwohl sie wusste, dass es nicht da war, so sicher, wie sie Paislee Ann Shaw hieß.
Sophie trat näher an Alistair heran. „Ich verstehe den Wahn darum auch nicht. Was macht es für einen Unterschied, ob man Urgroßcousins dritten Grades ist? So wie Kyra Sedgwick und Kevin Bacon. Sie haben wegen einer Fernsehshow entdeckt, dass sie entfernt verwandt sind.“
„Die habe ich gesehen“, sagte Lydia. „Kyras Familie stammt aus England und ist irgendwie mit den Smythes verwandt. Mary konnte eine Woche über nichts anderes reden. Hier gibt es so viele Smythes, dass die Gästeliste für die nahe Verwandtschaft weit über hundert Leute lang war.“
„Was ist mit der Torte?“ Brody rieb sich den Bauch.
„Ich weiß nicht, was damit passieren soll“, sagte Alistair. „Wir können den Konditor fragen, wie lange sie haltbar ist, schätze ich.“
„Ich glaube, der Junge macht sich eher Sorgen um seinen leeren Magen“, schlussfolgerte Grandpa.
„Ach!“ Lydia hob die große Reisetasche, die sie für das Hotel heute Nacht gepackt hatte, und wühlte darin herum. „Schokokekse.“ Sie gab Brody die Packung. „Danke, dass du so gut mitgemacht hast, Brody. Du siehst ziemlich schick aus in deinem Kilt.“ Er und Grandpa trugen das gleiche Muster wie Alistair.
„Danke!“ Brody nahm sie entgegen und reichte sie allen herum, aber alle Erwachsenen lehnten ab. Oh, wie schön wäre es, so glücklich über einen Schokoladenkeks zu sein.
Paislee sah auf ihrem Handy auf die Uhr. Es war halb fünf nachmittags, und die Trauung war bis fünf Uhr anberaumt worden – danach wollten sie bei der Erle mit allen Gästen mit Champagner anstoßen, und sich schließlich mit der Familie, hundert oder sogar mehr Leuten, im Herrenhaus zum Essen und Tanzen in der Scheune treffen, um die Eheschließung zu feiern.
Die Dinge waren aus den Fugen geraten, und sie konnten nur das Beste daraus machen „Lydia, ich werde das Hotel anrufen und für heute Nacht absagen“, sagte Paislee. „Vom Auto aus, wenn wir alle zum Anwesen fahren wollen?“ Wenn sie ehrlich war, war Smythe Manor der letzte Ort, an dem sie sein wollte.
„Ich werde die Kirche abschließen und dann dazustoßen“, sagte Pastorin Angela.
Was für ein trauriger Abschluss eines hoffnungsfrohen Tages. Bevor sie den Umkleideraum verließen, fragte Paislee: „Angela, können Sie uns noch einmal von der Brosche erzählen? Mary meinte, dass sie ein Samtkästchen dafür gekauft hatte, aber das, das Sie vorbeigebracht haben, war aus Holz.“
„Ja! Das Päckchen lag irgendwann nach dem Morgengottesdienst neben der Kanzel. Ich habe es erst gesehen, als ich nach oben gegangen bin, um meine Predigt für die Trauung zu üben. Ich habe Lydias Namen auf der Schleife gesehen und es ins Zimmer gebracht. Ich dachte, es wäre ein Geschenk von Corbin für seine Braut.“ Um Angelas Augen bildeten sich Fältchen, als sie Lydia anlächelte. „Die Brosche, die ich gesegnet habe, lag in einem Samtkästchen, wie Mary vorhin gesagt hat.“
Paislee klopfte mit dem Finger auf ihrem Handy herum. Waren die Brautjungfern die ganze Zeit zusammen gewesen? Ach, darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken. „Ich sage dann mal dem Hotel Bescheid, dass sie euer Zimmer nicht vorbereiten müssen. Sie haben bestimmt Champagner kaltgestellt.“
Lydias tapfere Miene geriet ins Wanken. „Ganz viel Champagner und mit Schokolade überzogene Erdbeeren. Corbin hat gesagt, ich hätte sie mir verdient nach all dem, was ich aus meiner Liebe zu ihm durchgestanden habe, also bereue ich nichts. Gefolgt von einer zweiwöchigen Reise durch die wunderschöne deutsche Landschaft mit köstlichem weißem Riesling.“
„Ihr kriegt eure Flitterwochen schon noch.“ Sophie umarmte Lydias schlanke Taille.
„Vielleicht eben etwas später“, sagte Alistair. „Heidelberg ist dann auch noch da.“
„Ich musste mir Urlaub nehmen und meinen Klienten Bescheid sagen. Was für ein Mist.“ Lydia sog die Luft ein und sah die Pastorin mit großen Augen an. „Entschuldigung.“
„Ich habe schon Schlimmeres gehört, also keine Sorge.“ Scheinbar war Pastorin Angela nicht so streng wie Pater Dixon, zu dem Paislee früher in die Kirche gegangen war. „Sollen wir los?“
Nachdem alle den Umkleideraum verlassen hatten, schloss Paislee ihn ab und ließ den silbernen Schlüssel in ihre kleine Handtasche gleiten.
Brody wischte sich einen Krümel vom Mund und rieb sich dann die Hand hinten an seinem Kilt ab. Paislee nahm sich vor, ihn sich später einmal anzuschauen, damit es keine Flecken gab. Sie spähte aus dem Vordereingang. Der Polizeiwagen mit den Constables war weg, und das Kopfsteinpflaster war wie leergefegt. Keine Spur von Felice. Sie folgte Grandpa und den anderen aus dem Hintereingang der Kirche, wo die Treppe nicht so steil war, zum Parkplatz.
Lydia schulterte ihre Reisetasche, und ihr Hochzeitskleid glitzerte in der nachmittäglichen Junisonne. Sie war ein Anblick für die Götter.
Mittlerweile hätte Lydia Lydia Smythe sein sollen.
Ihre beste Freundin kletterte auf den Rücksitz der Limousine ihrer Eltern, aber tauchte dann wieder auf, um Paislee, Grandpa und Brody einen Kuss zuzuhauchen. Lydia verschwand außer Sicht und Alistair startete den Motor. Sophie saß auf dem Vordersitz. Auf der Stoßstange hatten sie einen Aufkleber, auf dem stand ICH LIEBE HUNDE ♥.
„Ich liebe Hunde auch.“ Brody war heute sehr aufmerksam, wahrscheinlich, weil sie ihm sein Videospiel in der Kirche nicht erlaubt hatte. „Können wir Wallace holen und ihn mitnehmen?“
Paislee warf Grandpa die Schlüssel zu, damit sie das Hotel anrufen und Lydias Honeymoon-Suite absagen konnte. „Nein, Schatz. Man bringt nie seinen Hund ohne Erlaubnis zu jemand anderem nach Hause mit.“
„Warum nicht? Wallace ist ganz brav!“
„Das ist er, aber es ist unhöflich.“
Brody schnallte sich auf dem Rücksitz an und holte sein Videospiel aus der Mittelkonsole. „Langweilig.“
Sie rollte mit den Augen, da er sie nicht sehen konnte, und wählte die Nummer des Hotels. Der Mann am Telefon war angesichts der Absage recht unfreundlich, bis Paislee von dem tragischen Unfall erzählte, der sich auf der Kirchentreppe ereignet hatte.
Plötzlich war er voller Mitleid. „Möchten die Smythes es auf einen anderen Tag verlegen?“
„Das wissen wir noch nicht.“ Wenn es nach Lydia ging, riss sie vielleicht einfach mit Corbin nach Deutschland aus und sagte der Familie auf Nimmerwiedersehen.
„Gibt es irgendetwas, das wir tun können?“
„Wir melden uns. Danke.“ Paislee legte auf und überlegte, ob sie noch andere Anrufe in Lydias Namen tätigen konnte, um den Kummer über die vereitelte Hochzeit etwas zu mildern.
„Worüber denkst du nach, Mädchen?“ Grandpa sah sie über seine Brille hinweg an, während sie an einer Ampel stehenblieben.
„Wie ich helfen kann! Mary und Garrison haben sich ums Essen, die Torte und den Tanz in der Scheune auf dem Anwesen gekümmert, also weiß ich tatsächlich nicht, was außer den Flügen noch übrig ist.“ Sie stieß den Atem aus. „Arme Lydia. Das ist so schrecklich. Nach allem, was sie durchgemacht hat, damit ihre Schwiegereltern sie mögen.“
„Vielleicht ist es jetzt besser so“, sagte Grandpa.
„Ich weiß nicht, wie es das sein könnte, Grandpa.“ Lydia stand wieder ganz am Anfang, wenn überhaupt.
„Hast du je die Geschichte von Agnes und mir gehört?“
Es überraschte Paislee, dass er erwähnte, wie er am Abend vor seiner Hochzeit betrunken ein Kind gezeugt hatte, von dem er über ein Jahrzehnt lang nichts gewusst hatte. Ihr Onkel Craigh war von einer Bohrinsel verschwunden, weshalb ihr Großvater bei ihr eingezogen war. Die Neuigkeit hatte seine und Grans Ehe ruiniert. „Hatte Gran Zweifel? Warte. Bist du wegen dem Junggesellenabschied zu spät gekommen?“
„Ach was, ich war pünktlich, Mädchen. Nicht einmal ein Kater konnte mich von meinem Hochzeitstag abhalten.“ Grandpa rückte den Rückspiegel zurecht. „Nein, ich rede von deiner Großtante, Tillie.“
„Die Geschichte hat sie mir nie erzählt – was ist passiert?“
„Nun, Tillie hat ihre schlechte Meinung zu meinem Beruf als Fischer kundgetan. Die Arbeit versiegte immer mehr und sie hat befürchtet, dass Agnes und unsere zukünftigen Kinder hungern müssten. Ich habe die Unterhaltung mitangehört und war fest überzeugt, dass sie mich in den Wind schießen würde, aber nein, Agnes hat mich verteidigt. Ich habe mir geschworen, sie niemals hungern zu lassen. Und das habe ich auch nie.“ Grandpa trat aufs Gaspedal, als die Ampel auf Grün sprang. „Ihre Karriere als Lehrerin hat uns noch einen Puffer verschafft, aber ich habe für uns gesorgt. Sie hat mir später erzählt, dass Tillie sich entschuldigt hat. Wie dem auch sei. Könnte sein, dass die Smythes nur Zeit brauchen.“
Paislee tätschelte Grandpas Knie. Seine Liebe für Gran strahlte wie ein Leuchtfeuer, und es tat ihr weh, dass ihre Großmutter gestorben war, ohne ihm verzeihen zu können, dass er ihr das Herz gebrochen hatte. Craigh war älter, als ihr Vater es gewesen war, und das hatte ihren Stolz gekränkt.
„Vielleicht“, sagte Brody auf dem Rücksitz, „kann Tante Lydia, wenn sie warten, ja heiraten, wie sie es möchte, nur mit den Leuten, die sie mag.“
Kindermund tut Wahrheit kund, dachte Paislee, die ihm zustimmte. Allerdings war es ihre Aufgabe als Mutter, Brody Manieren beizubringen. Sie drehte sich zu ihrem Sohn um und sagte steif: „Und ich wäre dir dankbar, wenn du deine Meinung für dich behieltest, mein Sohn.“
Grandpa röhrte vor Lachen und zerstörte den lehrreichen Moment.