1
Prolog
Der Schnee knirscht unter meinen Schritten. Letzte Nacht hat es endlich geschneit. Ein komisches Kratzen hat mich frühmorgens geweckt, noch bevor mein Wecker klingelte. Ich ging barfuß zum Fenster und da war eine Schneedecke. Zart und weiß. Das Kratzgeräusch kam von dem dicken Herrn Mayer von nebenan, der mit dem Schneeschieber zugange war.
Heute ist ein ganz besonderer Tag, denn Mama und Papa sind gleich nach der Arbeit mit mir zum Striezelmarkt gegangen. Darauf habe ich mich schon lange gefreut. Alles leuchtet und duftet hier. Ich komme mir vor wie in einem Märchen. Ich hauche und beobachte die Dampfwölkchen, die mein Atem in die kalte Luft malt. An einem Stand mit kandierten Äpfeln bleibe ich stehen. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ich äuge zu Papa. „Willst du einen?“, fragt er augenzwinkernd und ich nicke. Mama guckt zwar streng, aber ich sehe, wie sie grinst, als sie sagt: „Sie hatte doch gerade erst eine süße Waffel, Armin!“
Papa zuckt nur mit den Schultern und meint: „Ach, Vera, lass sie doch.“ Er überreicht mir das leckere, klebrige Ding. Später pule ich mit der Zunge die Reste der roten Glasur aus meinen Zähnen und betrachte im Glitzerlicht die tanzenden Kinder auf der Bühne, die als Schneeflocken und Wichtel verkleidet einen schönen Tanz aufführen. Ich zappele herum, weil ich am liebsten mittanzen würde. Als der Auftritt zu Ende ist, gehe ich an Mamas und Papas Hand weiter durch den knirschenden Schnee. Es schneit wieder und ich versuche, die Schneeflocken mit meiner Zunge aufzufangen. An einer mit Tannenzweigen verzierten Hütte werden kleine, lustige Männchen aus Pflaumen mit einem Zylinder auf dem Kopf verkauft. „Die sehen aus wie Schornsteinfeger“, stelle ich fest.
„Das sind Pflaumentoffel“, sagt die Verkäuferin. Ich gehe näher heran und sie erklärt mir mit geheimnisvoller Stimme, dass früher Waisenkinder, so alt wie ich, in enge Schornsteine kriechen und sie reinigen mussten. Die Kinder trugen schwarze Mäntel und Kapuzen und waren das Vorbild für den früheren Pflaumentoffel. Ich höre mit großen Augen zu, wie sie erzählt, dass es glücklicherweise irgendwann verboten wurde, Kinder als Essenkehrer arbeiten zu lassen und dass der spätere Pflaumentoffel einen Zylinderhut bekam, wie ihn die Schornsteinfeger heute noch tragen. Und dass diese Figur ein Wahrzeichen für die Dresdner Weihnacht und das wohl beliebteste Mitbringsel vom ganzen Striezelmarkt sei.
Ich zupfe an Mamas Ärmel. „Können wir einen mitnehmen?“, frage ich hoffnungsvoll und Mama lässt sich dazu überreden. Während ich zwischen meinen Eltern weiterschlendere, lausche ich dem Kinderchor auf der Bühne, der Sind die Lichter angezündet singt. Dieses Lied lernen wir gerade in Musik und ich summe die Melodie mit. Wir kommen an einem Häuschen vorbei, das wie das Pfefferkuchenhaus bei Hänsel und Gretel aus meinem Märchenbuch aussieht. „Das duftet himmlisch“, schwärme ich, während ich durch das kleine Fenster hinein spähe und der Bäckerin mit dem Nudelholz dabei zusehe, wie sie mit anderen Kindern Plätzchen backt. Da tippt mir jemand von hinten auf die Schulter und ich wirbele herum. Vor mir steht ein riesiger Schneemann. Kein echter, das weiß ich schon. Da hat sich nur ein Mensch verkleidet, trotzdem bin ich erschrocken und in meinem Bauch grummelt es. Ich greife nach Mamas Hand. Der Schneemann hält mir einen kleinen Schokoladenstern vor die Nase und fragt, ob ich einen Weihnachtswunsch habe. „Ich wünsche mir Schlittschuhe“, antworte ich leise und schüchtern. Der Schneemann scheint nett zu sein, trotzdem ist er mir irgendwie nicht geheuer. Ich schaue unsicher zu Mama und Papa. Aber sie lachen fröhlich, also ist alles in Ordnung und ich muss keine Angst haben vor diesem Schneemann oder vor etwas anderem. Meine Eltern sind die liebsten und glücklichsten Menschen auf der Welt. Und dies hier ist der schönste Tag meines Lebens, denke ich, während ich den Pflaumentoffel festhalte und auf das Karussell mit den auf und ab wogenden Pferdchen zusteuere.
2
Montag, zweiter Dezember
Miriam schluckt an dem Kloß in ihrem Hals und ringt um Fassung. Sie hat den Artikel versaut, das weiß sie selbst. Trotzdem donnern unbarmherzig Patricias Worte auf sie nieder wie erbsengroße Hagelkörner.
„… begleitet vom lieblichen Gesang des Kinderchores, der zuckersüß in den Ohren klebt wie der karamellisierte Sirup des kandierten Apfels, in den die kleine Lina beißt, schiebt sich Familie W. durch die Massen glühweintrinkender und bratwurstessender Striezelmarktbesucher. Ob sich hier Besinnlichkeit einstellen wird, bleibt abzuwarten“, zitiert die Chefredakteurin aus dem Bericht über die Familie, die Miriam letzte Woche für die neue ELBFLAIR-Ausgabe interviewt hat. Mit einem vernichtenden Blick klatscht sie die Mappe mit dem Bericht auf den Tisch. Miriam spürt den Windzug im Gesicht wie eine Ohrfeige und zuckt zusammen. Ihre Oberlippe beginnt unmerklich zu zittern. Na toll, jetzt denken sie auch noch, ich hab nicht mehr alle Tassen im Schrank.
Als wäre es nicht genug, dass das missglückte Ergebnis ihrer Arbeit gerade vor aller Augen auseinandergenommen wird. Miriam lockert ihr Tuch, weil ihre Hände nicht wissen, wohin und weil es ihr eng am Hals wird.
„War etwas Komisches in deinem Kaffee? Das kann doch nicht dein Ernst sein, Miriam!“ Patricia wirkt fassungslos.
Hendrik Schwarzbach grinst selbstgefällig.
In dem Bemühen, das Zittern ihrer Oberlippe in den Griff zu bekommen und dabei keine noch seltsameren Grimassen zu schneiden, setzt Miriam zu einer Antwort an, schließt den Mund aber wieder, als Patricia erbarmungslos fortfährt: „Während der unvermeidliche, rotmantelige Weihnachtsmann an eine Traube Kinder Süßigkeiten verteilt und sich in seiner Rolle als spendabler Samariter sonnt … Sag mal, geht es eigentlich noch?“ Patricia durchbohrt sie fast mit ihrem Blick.
Den Anwesenden wird wieder einmal klar, warum sie sie hinter vorgehaltener Hand Patty Power nennen. Wegen ihrer knallharten Art, ihrer Unnachgiebigkeit und ihrem eisernen Streben nach Erfolg. Eigenschaften, ohne die sie das Magazin vermutlich nicht zu dem gemacht hätte, was es heute ist. Nie im Leben würde der perfekten Patty Power eine solche Ungeheuerlichkeit passieren.
Miriam kaut auf ihrer Unterlippe und senkt den Blick auf die gläserne Tischplatte. Ja, verdammt, sie hat recht. Ihre eigenen Sätze aus Patricias Mund hören sich einfach nur zynisch an. Hab ich das wirklich geschrieben? Sie spürt die Blicke ihrer Kollegen, die mit ihr an dem großen verchromten Glastisch im Konferenzraum sitzen, während ihr das Blut in den Kopf schießt wie überkochende Milch im Topf. Verena bläst unauffällig die Backen auf, Jasmin schaut sie fragend an und Tamara verzieht den Mund, als hätte sie Zahnschmerzen. Die Situation ist so unangenehm, dass Miriam einfach nur aufspringen und wegrennen will. Ganz weit weg. Nach Timbuktu oder wenigstens unter die Sofadecke in ihrer Wohnung. Aber das wäre noch unprofessioneller als ihr verpatzter Weihnachtsartikel. Du sitzt ganz schön in der Patsche. Kläre das, und zwar schnell!
Sie bemüht sich, ihre Stimme fest klingen zu lassen und zwingt ihre Oberlippe zur Ruhe. „Tut mir leid, Patricia, ich bringe das in Ordnung. In einer Stunde hast du den Artikel auf dem Tisch.“
Ihre Absätze klackern stakkatoartig über den gekachelten Boden des Foyers, als Miriam später die Redaktion in der Nähe des Goldenen Reiters verlässt. Sie hat ihren Text in eine vorzeigbare, dem Anlass würdige Version umgeschrieben, ist sich aber nicht sicher, ob Patricia ihr diese dumme Sache durchgehen lässt. Krachend fällt die schwere Eingangstür hinter ihr ins Schloss. Draußen schlägt ihr eisige Luft entgegen.
Verfluchte Kälte. Verfluchter Dezember. Ein Zeitsprung um einen Monat nach vorn wäre jetzt genau das Richtige.
Das Gesicht tief in ihrem XXL-Schaltuch vergraben, eilt Miriam durch die Dunkelheit und grollt mit sich selbst. Das hätte ihr nie passieren dürfen. Damit habe ich mich zur größten Versagerin aller Zeiten gemacht.
Ein Auto bremst hupend und schlammspritzend knapp vor ihr. Ein entsetzter Schrei gellt über die Straße. Miriam schlägt sich die Hand vor den Mund. Durch die Windschutzscheibe des Wagens, der nur eine Handbreit vor ihr zum Stehen gekommen ist, starrt die Fahrerin sie erschrocken an. Miriam hebt entschuldigend die Hand und weicht zurück. Die Autofahrerin, hinter der ein böses Hupkonzert beginnt, fährt kopfschüttelnd weiter.
Na prima, nicht nur eine Versagerin, auch eine Verkehrssünderin. Das wird immer besser.
Mit schlotternden Beinen wankt sie zurück zum Fußweg und versucht, die Blicke der Passanten an der roten Ampel zu ignorieren, die sie vor lauter Groll übersehen hat. Am liebsten würde sie im Erdboden versinken. „Alles in Ordnung?“, fragt ein Mann neben ihr. Mehr als ein Nicken und ein schiefes Lächeln bringt sie nicht zustande. Nachdem sie mit dem Menschenstrom die Straße überquert hat, drängt sich ihr schwerer Patzer zusammen mit einer nagenden Ungewissheit wieder in ihr Hirn.
Wahrscheinlich kann ich meinen Job an den Nagel hängen! Kurz vor Weihnachten … Der Dezember war schon immer mein Lieblingsmonat, denkt Miriam und verzieht verächtlich den Mund. Sie stülpt sich die Kapuze ihres dunkelblauen Parkas über den Kopf, um dem feinen, eisigen Sprühregen zu entgehen, der ihr wie Nadelstiche ins Gesicht piekst.
Das Smartphone in ihrer Tasche vibriert. Eine Nachricht von Karo.
Wo bleibst du denn?
Zehn Minuten
,tippt Miriam. Die Haltestelle ist nicht mehr weit, doch sie sieht nur noch die Rücklichter der davonfahrenden Straßenbahn. Sie ballt die Hand in der Jackentasche zur Faust und könnte gegen die nächstbeste Straßenlaterne treten. Was ist das nur für ein Tag? Zehn Minuten bis zur nächsten Bahn, blinkt es von der Anzeigetafel. Da kann sie auch zu Fuß gehen.
Im festlich geschmückten Dresden wimmelt es von Menschen, die den weihnachtlichen Trubel in vollen Zügen genießen und zielstrebig in die Innenstadt strömen. Anstatt sich in das Chaos zu stürzen, würde Miriam lieber schnurstracks nach Hause stiefeln und sich mit der Decke aufs Sofa zu ihren beiden Katzen kuscheln. Aber das geht nicht, weil Karo wie verabredet bei ihrem Lieblingsspanier wartet. Außerdem freut sich Miriam schon lange auf den Abend mit ihrer besten Freundin bei Tapas und Wein. Sie schlängelt sich vorbei an händchenhaltenden Pärchen mit Strickmützen im Partnerlook und älteren Damen mit Hut. Es riecht nach gebrannten Mandeln und an den Straßenlaternen prangen hell leuchtende Weihnachtssterne als müssten sie explizit darauf hinweisen, dass wirklich niemand das nahende Fest der Liebe vergisst. Miriam sieht über all diese Dinge seit vielen Jahren geflissentlich hinweg, weil es in ihren Augen unnötig ist. Würde sie diesen unsäglichen Weihnachtskram an sich heranlassen, kämen die Schatten ihrer Vergangenheit hervor wie gefährliche Dämonen, die sich an ihre Fersen heften, wie es jahrelang der Fall war. Aber das ist lange her. Abgehakt und vergessen.
Bis zum letzten Freitag, als sie mit der netten Familie Wilhelm anlässlich der Eröffnung des Dresdner Striezelmarktes ein Interview führen musste.
Da war ein Schmerz in ihr aufgeflammt, den sie schon sehr lange nicht mehr gespürt hatte und von dem sie dachte, er würde überhaupt nicht mehr existieren.
Anfangs war es ihr noch gelungen, die hervorbrechenden Erinnerungen im Zaum zu halten. Doch die Visionen waren stärker. Und dann passierte etwas, was ihr noch nie zuvor im Job passiert war. Ihre Gefühle und der alte Schmerz beeinflussten sie derart, dass sie als Reporterin versagte. Ihr Bericht für die Weihnachtsausgabe war völlig daneben und noch dazu hatte sie damit für jede Menge zusätzlichen redaktionellen Stress gesorgt, den niemand am Ende des Jahres brauchte. Lächerlich. Peinlich. Unnötig.
Hupende Autofahrer drängeln sich durch die verstopften Straßen vorbei an Reisebussen, die ihre von überall anreisenden Insassen in die Innenstadt zum Weihnachtsmarkt bringen. Miriam schüttelt sich kurz, als könnte sie damit ihre Gedanken abwerfen.
„Autsch!“, entfährt es ihr, als eine Frau ihr mit dem Kinderwagen von hinten in die Beine fährt und ihr einen Blick zuwirft, als wäre es eine Frechheit, sich in der Umlaufbahn eines Kinderwagens fortzubewegen. Miriam schluckt die spitze Bemerkung, die ihr auf den Lippen liegt, herunter und fragt sich im Stillen, ob ein Tag noch grässlicher werden kann als dieser. Sie biegt auf die Augustusbrücke und lehnt sich an das Gemäuer in einer steinernen Ausbuchtung. Hinter ihren Schläfen beginnt es zu pochen. Kopfschmerzen, auch das noch!
Gegenüber auf der anderen Elbseite ragt die Sandsteinkuppel der Frauenkirche anmutig in den dunklen Abendhimmel. Schnell tippt sie eine Nachricht an Karo.
Bahn war weg. Lass mir noch was übrig. Freu mich.
Sie hastet im Sturmschritt über die Brücke, biegt links auf das Terrassenufer und folgt ein Stück der Elbe unterhalb der Brühlschen Terrasse. „Sie haben Ihr Ziel fast erreicht“, murmelt sie an der Durchführung zur Münzgasse.
Doch in der engen, von Restaurants und Kneipen gesäumten Gasse ist das Menschengewühl so dicht wie ein engmaschig gestrickter Schal.
O Mann, haben die alle kein Zuhause?, denkt sie, während sie sich den Weg in Richtung Neumarkt bahnt. Sie schlängelt sich durch bummelnde, hastende oder mitten im Weg stehende Leute, vorbei an Buden mit Glühwein, Waffeln und Herrnhuter Sternen.
Beim Spanier angekommen, entdeckt sie Karo winkend an einem Tisch am Fenster. Miriam lächelt zum ersten Mal seit Stunden. Die beiden Frauen umarmen sich herzlich. Miriam sinkt schnaufend auf den Stuhl. „Entschuldige die Verspätung.“
„Ich dachte schon, du lässt mich an meinem seltenen, kinderfreien Abend hier alleine rumsitzen“, sagt Karo. „Du siehst völlig fertig aus. Was ist passiert?“
Miriam nickt. „Genauso fühle ich mich.“
Sie nimmt ihre feuerrote, beschlagene Brille ab, grinst schief und legt den Zeigefinger überlegend ans Kinn. „Was passiert ist? Womit fange ich da am besten an … Mit dem Dezember vielleicht, dem alljährlichen Weihnachtsausbruch, Menschenmassen und Müttern, die mir den Kinderwagen in die Fersen rammen oder Patty Power?“ Sie seufzt. „Dieser Montag ist schrecklich! Wo ist der Rotwein?“
Karo legt ihre Hand auf Miriams. Eine Geste so tröstlich wie goldener Honig. „Ach, irgendwie wirst du den Dezember schon überstehen, Miri. Das hast du bisher immer geschafft.“
Die beiden sind seit der siebenten Klasse eng befreundet und Karo muss nicht nachfragen, woher die schlechte Laune ihrer Freundin rührt. Sie bestellen Tapas und Tempranillo und Miriam berichtet von dem Meeting und Patricia Flemming, der überaus erfolgsorientierten Chefredakteurin des Stadtmagazins, für das sie arbeitet.
„Oh, du hast die Ansprüche von Patty Power nicht erfüllt, wie kannst du dich nur erdreisten?“, fragt Karo in gespielter Empörung und stupst sie in die Seite. „Hast du etwa mal einen Tag nicht länger als zwölf Stunden gearbeitet?“
„Wenn es nur das wäre.“ Miriam verschränkt die Arme. „Sie hat mir vor versammelter Mannschaft meinen Artikel sprichwörtlich um die Ohren gehauen und mich gefragt, was ich mir dabei gedacht hätte und wie um alles in der Welt ich darauf käme, dass sie so etwas jemals drucken könnte. ELBFLAIR wäre schließlich ein seriöses Magazin und kein Satireblatt! Als ob ich das nicht selbst wüsste.“ Sie legt stöhnend den Kopf in die Hand. „Mein Bericht über die Vorzeigefamilie, die ich interviewt habe, ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Diese Familie wirkte so harmonisch und perfekt, fast wie in einer kitschigen Sitcom.“ Sie schaut erst in das flackernde Kerzenlicht und dann zu Karo. „Als wir an der Pyramide standen, sah ich auf einmal mich selbst als kleines Mädchen mit dicker Bommelmütze mit meinen Eltern auf dem Markt. Einen Moment spürte ich sogar diese magische Vorfreude im Dezember.“
Miriam schüttelt den Kopf. Das alles hatte sich als Illusion entpuppt, wie sie Jahre später schmerzhaft begreifen musste. Eine Illusion, die klirrend zerbrach wie eine Schneekugel, die auf den Boden fällt und von der nur Scherben und der traurige Inhalt übrig blieben.
Das Pochen hinter ihren Schläfen wird stärker. Sie sollte lieber keinen Rotwein trinken, aber das ist jetzt auch egal.
Karo weiß, was Sache ist. „Du hast dich von deinen Gefühlen leiten lassen, das soll vorkommen“, versucht sie zu trösten, obwohl ihr klar ist, dass das eine lahme Entschuldigung ist und für Miriams Chefredakteurin schon gar keine.
Miriam schüttelt den Kopf. „Nicht in meinem Beruf.“ Es ist ein einziges Desaster.
Karo grinst vielsagend und zerrupft ein Stück Brot. „Wie ich dich kenne, trieft dein Artikel vor Zynismus. Hätte das nicht ein Kollege übernehmen können? Dein Resort ist doch ein ganz anderes.“
Miriam dreht den Stiel ihres Weinglases zwischen den Fingern. „Ging nicht anders. Ich musste für Jasmin einspringen, weil ihre Kleine krank war“, sagt sie. „Ach, Karo, ich würde wirklich über so ziemlich alles schreiben, aber beim Thema Traumfamilie unterm Tannenbaum bin ich so was von raus.“ Ihre Stimme klingt brüchig, sie schluckt.
Karo klopft mit der Hand auf den Tisch. „Ich finde, es reicht mit den Schuldgefühlen. Mensch Miri, mach dich bloß nicht verrückt. Niemand ist perfekt, auch Patty Power nicht, die gibt es nur nicht zu.“
Miriam angelt grinsend nach einer Olive und sieht zu, wie Karo ein Stück Brot in den Aioli-Dip tunkt. „Eher würde sie sich jedes ihrer feuerroten Haare einzeln herausreißen, als zuzugeben, dass sie nicht perfekt ist.“ Ihre Stimme wird leise. „Aber so einfach ist es nicht. Das hätte mir nicht passieren dürfen. Nie. Patty Power hat recht. Ich kann froh sein, wenn sie mich nach dieser Aktion nicht feuert. Ich wäre nicht die Erste, die nach so einem Fauxpas ihre Sachen packen muss, glaub mir.“
Karo hebt die Schultern und sagt kauend: „Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, Miri, aber: Nobody is perfect. Und jetzt: Guten Hunger! Mein Bauch knurrt wie eine Horde Bären. Ich bin heute nicht mal zum Essen gekommen.“
Im gleichen Moment gibt Miriams Magen ein rumorendes Grummeln von sich und vor Lachen stößt sie beinahe ihr Weinglas um. Miriam zwingt ihre Gedanken weg von Patty Power und der Redaktion und fragt kauend: „Wie geht es euch und den Kleinen?“
Ihre Freundin erwidert müde, aber glücklich lächelnd: „Ich bin froh, endlich mal wieder rauszukommen. Die Zwillinge verlangen mir alles ab. An manchen Tagen würde ich sie abends am liebsten Florian in die Arme drücken, mich einschließen und mir die Decke über die Ohren ziehen. Seit letzter Woche versuchen sie zu laufen und reißen alles mit sich, was ihnen in die Quere kommt. Sie verwandeln die Wohnung jeden Tag in ein Schlachtfeld.“
3
Dienstag, dritter Dezember
Als Miriam am nächsten Morgen aus der Dusche tritt, sich ein Handtuch um ihre nassen Haare wickelt und ihr müdes Gesicht im Spiegel anstarrt, ist ihr klar: Der letzte Rotwein hätte nicht sein müssen.
Das Pochen der Schläfen ist über Nacht in ein dumpfes Hämmern hinter ihrer Stirn übergegangen und Miriam schluckt eine Kopfschmerztablette in der Hoffnung, dass sie schnell wirkt. Sie wühlt in dem Körbchen mit den Make-up-Utensilien und gibt sich Mühe, die Spuren des weinseligen Abends mit Karo aus ihrem Gesicht zu verbannen. Tja du, selbst schuld.
Poppy und Pearl, die beiden schwarzgrauen Perserkatzen streichen ihr mauzend um die Beine, nachdem sie ihre Fressnäpfe ausgeschleckt haben, und verlangen ihre morgendlichen Streicheleinheiten. Poppy akzeptiert, dass Miriam keine Zeit hat und wendet sich ihrer Spielzeugmaus zu. Pearl dagegen setzt ihren Prinzessinnenblick auf und taxiert Miriam, ungläubig, dass ihr Wunsch nicht erfüllt wird. Nach einem extrastarken Kaffee, der Miriams Lebensgeister weckt, föhnt sie ihre schulterlangen, brünetten Haare aus dem Gesicht. Trotz des unkomplizierten Bobs führt sie wie jeden Morgen einen aussichtslosen Kampf gegen die linke, störrische Seite ihrer Frisur, die grundsätzlich nicht das macht, was sie soll. Poppy lässt die Maus links liegen und krallt mit der Pfote nach dem wackelnden Föhnkabel, bis sie von ihrer Besitzerin in den Flur gesetzt wird. Um über ihren müden Blick hinwegzutäuschen, entscheidet sich Miriam für die schwarzkantige Brille. Als sie ihr Spiegelbild halbwegs akzeptabel findet, schnappt sie den Autoschlüssel aus der Holzschale im Flur und wirft den Katzen im Hinausgehen eine Kusshand zu. Pearl guckt ihr missmutig hinterher, als wäre Miriam der größte Reinfall in ihrem ganzen Katzenleben. Auf in den Kampf, denkt Miriam. Beziehungsweise in die Redaktion, was an manchen Tagen auf das Gleiche hinausläuft.
Die Autos vor ihr schleichen im Schneckentempo, wegen ein paar vereinzelter Schneeflocken, wie Miriam ungläubig registriert. Jede Ampel vor ihr schaltet auf Rot. Sie trommelt mit den Fingern gegen das Lenkrad. Wegen der Bauarbeiten an der Albertbrücke nimmt sie den Weg über die Carolabrücke in Richtung Neustadt. Rechter Hand erhebt sich würdevoll die Sächsische Staatskanzlei im Regierungsviertel. Miriam biegt nach links in Richtung des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus ab und atmet auf, als es die letzten Ampeln bis zur Redaktion gut mit ihr meinen.
Im Foyer des Geschäftshauses, in dem die Redaktion ihren Sitz hat, kämpfen drei Männer gerade damit, einen riesigen Weihnachtsbaum aufzustellen. Miriam zieht die Augenbrauen zusammen, weil ihr der Nadelduft in die Nase steigt. Auf dem Weg zu den Aufzügen beobachtet sie argwöhnisch den Kampf der Männer mit dem stachligen Ungetüm. Nicht mehr lange, und jemand wird anfangen, dieses Ding mit irgendwelchem Zeug zu behängen. Mit kitschigen bunten Kugeln oder diesen grässlichen Strohsternen.
Im Großraumbüro in der vierten Etage wuseln die Mitarbeiter geschäftig umher wie Ameisen. Heute ist Redaktionsschluss und dieser Tag verspricht anstrengend zu werden. Genau richtig, findet Miriam, um sich von dem ganzen Weihnachtsgedöns abzulenken.
„Na, ging wohl lange gestern?“, fragt Hendrik Schwarzbach süffisant im Vorbeigehen. Der schwere Moschusduft seines Aftershaves lässt Miriams Kopfschmerz neu aufflammen.
Oh, bitte nicht der am frühen Morgen!
Den eitlen Ressortleiter aus dem Bereich NEWS VON A-Z findet sie so nervtötend wie eine Schmeißfliege im Sommer, die einem um den Kopf kreist und partout nicht verschwinden will, auch wenn man noch so sehr mit der Hand wedelt. Seine überhebliche Art und der stechende Blick erinnert sie immer an einen Pfau, der kurz davor ist, sein Rad aufzuschlagen.
Miriam nickt den Kollegen zu, setzt sich an ihren Schreibtisch und erwidert unbeteiligt: „Guten Morgen, Hendrik. Wüsste nicht, was dich das angeht.“ Sie schaltet den PC an und sieht ihre Mails durch, doch Schwarzbach wäre nicht Schwarzbach, wenn er den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und sie in Ruhe lassen würde. Er steht pfeifend am Kopierer, als hecke er irgendeine Gemeinheit aus. Prompt schnellt sein Zeigefinger in die Höhe. Für alle unüberhörbar sagt er: „Ist ja auch kein Wunder, so wie Patty Power dich gestern vor versammelter Mannschaft runtergeputzt hat, nicht wahr, Miriam? Dabei hätte sie doch wissen müssen, dass eine eingefleischte Singlefrau wie du nun wahrlich nicht geeignet ist für eine Familienreportage, noch dazu in der Weihnachtszeit.“
Das ging voll in die Magengrube. Miriam wirft ihm einen vernichtenden Blick zu. Er grinst selbstherrlich wie Stromberg. Einige Kollegen schauen interessiert auf und Miriam spürt, wie sich rote Flecken ihren Hals entlang nach oben sprenkeln.
So ein Arsch! Bleib ruhig. Blöder Heini!
Sie starrt auf ihren Bildschirm und bittet ihren unliebsamen Kollegen mit der Halbglatze mühsam beherrscht, sich verdammt noch mal um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Doch Hendrik denkt gar nicht daran. Er ist voll in seinem Element und setzt noch eins drauf. Grinsend lässt er sich auf ihrer Schreibtischkante nieder und schwingt seinen Zeigefinger vor Miriams Gesicht wie ein Dirigent den Taktstock. Dazu setzt er eine bekümmerte Miene auf. „Wenn du nicht aufpasst, Miriam, und ich meine es wirklich nur gut, dann …“
„Dann?“, wiederholt Miriam langgezogen und tut so, als würde sie konzentriert eine Mail lesen.
„ … dann endest du womöglich wie die arme Frau, die neulich von ihrem Vermieter halb verwest in ihrer Wohnung gefunden wurde, umringt von fünfzehn Katzen, nachdem sie drei Monate mit der Miete im Rückstand war. Niemand hatte sie vermisst, keine Menschenseele! Das muss man sich mal vorstellen. Ist das nicht tragisch? Ich musste gleich an dich denken.“
Miriams Kopf fliegt zu ihm herum. Die Kollegen halten die Luft an. Man könnte eine Stecknadel fallen hören in der angespannten Stille.
Hat er das wirklich gesagt?
Aus den Augenwinkeln sieht Miriam, wie Verena Hendrik hinter seinem Rücken einen Vogel zeigt und mit den Lippen lautlos das Wort Vollpfosten formt. Schon möglich, dass Verena manchmal zu Recht als spröde und unnahbar bezeichnet wird, aber auf ihre Loyalität kann man immer zählen.
Die ganze Zeit hat Miriam versucht, sich am Riemen zu reißen, doch nun reicht es ihr. Sie springt so heftig auf, dass ihr Drehstuhl quietschend zur Seite rollt. Sie fegt mit der Hand seinen ausgestreckten Zeigefingertaktstock von ihrer Nase weg und schafft es gerade noch, ihre Stimme zu senken und ihn nicht anzuschreien. „Pass mal auf, du kleiner Wichtigtuer!“
Hendrik, der eine solche Reaktion von ihr nicht gewohnt ist, zuckt zurück, reckt aber sogleich seine Nase wieder arrogant in die Luft, während Miriam weiter zischt:
„Du fühlst dich mir und allen anderen ziemlich überlegen, oder Hendrik? Aber warum? Vielleicht, weil deine Frau zu Hause am Herd steht und es ihr größtes Glück ist, dich zu bekochen, für dich zu putzen, zu bügeln und was weiß ich noch? Weil du zu Hause den Boss spielen kannst und hier nicht? Ist es das? Dann würdest du mir leidtun.“ Sie lächelt kalt, aber innerlich brennt die Wut und leider auch Verunsicherung.
Unglaublich, wozu ich mich herablasse!
„Richtig so, Schätzchen“, ruft Tamara Schöne applaudierend und stöckelt in hochhackigen Stiefeln auf sie zu. Die Leiterin des Ressorts PROMIS UND GLAMOUR trägt ein schwarzes, hautenges Strickkleid, das ihre Kurven perfekt betont. Üblicherweise quellen Schwarzbach bei ihrem Anblick die Augen aus dem Kopf und er ist selten um einen chauvinistischen Spruch verlegen. Jetzt wirkt er kleinlaut.
„Das braucht dieser Herr gelegentlich.“ Tamara legt Hendrik von hinten die Hand auf die Schulter und raunt Miriam, so dass er es hören kann, zu: „Männer, die sich so aufblasen müssen, haben nach meiner Erfahrung meistens kein sehr ausgefülltes Liebesleben.“
Hendrik vergeht das Grinsen endgültig und Miriam, die immer noch auf hundertachtzig ist, flüchtet an ihm vorbei zu den Toiletten, um sich zu beruhigen.
Schon wieder verhalte ich mich völlig unprofessionell. Was ist bloß los mit mir?
„Wow, was für eine Ansage“, knurrt Schwarzbach verächtlich in das verhaltene Gekicher der überwiegend weiblichen und schaulustigen Belegschaft und wischt sich eine imaginäre Staubfluse von seinem perfekt gebügelten Hemdsärmel. Robert verschluckt sich vor lauter Lachen an seinem Salamibrötchen und hustet, während Jasmin ihm sanft auf den Rücken klopft.
„Ach, noch etwas“, brüllt Hendrik Miriam hinterher. „Patricia wartet schon seit zehn Minuten im Glastempel auf dich. Du weißt ja, wie sehr sie Unpünktlichkeit hasst.“
Miriam stockt der Atem. Das hat sie völlig verschwitzt! Sie macht auf halbem Weg kehrt, eilt auf das vollverglaste Büro zu und klopft an. Auf Patricias knappes „Ja“ nimmt sie in dem ledernen Besucherstuhl gegenüber der Chefredakteurin Platz. Patricias tadellos geschminktem Gesicht ist keine Gefühlsregung zu entnehmen, was Miriams Verspätung betrifft. Ihr heller Porzellanteint strahlt wie immer makellos. Ihre perfekt geschwungenen Augenbrauen heben sich keinen Millimeter, aber Miriam hat im Laufe der Jahre gelernt, dass das nichts heißen muss. Unpünktlichkeit ist ein absolutes No-Go, das auf Patricias Liste der Todsünden ganz weit oben steht und durchaus einen Rausschmiss zur Folge haben kann.
Während die Chefredakteurin konzentriert Miriams überarbeiteten Bericht für die kommende Ausgabe liest, mustert Miriam sie verstohlen. Patricias dunkelgrüner Hosenanzug sitzt wie angegossen und harmoniert wunderbar mit ihrem terracottafarbenem Haar, das zu einem strengen Knoten im Nacken gebunden ist. Die nudefarbenen Wildlederpumps runden ihr Outfit ab. Auf den ersten Blick ist klar, da ist nichts dem Zufall überlassen. Man braucht schon einiges an Selbstbewusstsein, um sich neben Patricia Flemming nicht klein und mickrig vorzukommen.
„Na bitte, geht doch.“ Sie blickt auf und lässt ihre eisblauen Augen über Miriams Gesicht gleiten. „Ich hoffe, du hast eine einleuchtende Erklärung dafür, was dich zu dieser Entgleisung veranlasst hat.“
Damit hat Miriam gerechnet, aber den tatsächlichen Grund kann sie der Chefredakteurin unmöglich anvertrauen. Patty Power würde das nicht ansatzweise verstehen.
„Ich hatte einen schlechten Tag“, weicht Miriam aus und ihr ist klar, dass es sich wie eine lahme Ausrede anhört.
„Einen schlechten Tag?“, wiederholt Patricia, als wüsste sie mit dieser Aussage nichts anzufangen. „Ich dachte immer, in dieser Redaktion arbeiten ausschließlich Profis, die ihre Befindlichkeiten zu Hause in der Nachttischschublade lassen.“
Miriam knetet ihre Hände im Schoß und nickt mit einem entschuldigenden Lächeln. „Kommt nicht wieder vor.“
„Das will ich hoffen.“ Patricias Smartphone piept dezent. Sie gibt ihr mit einer hektisch wedelnden Handbewegung zu verstehen, dass der Termin beendet ist. Aufatmend verlässt Miriam den Glastempel und weicht zur Seite, als die Chefredakteurin mit energischen Schritten das Großraumbüro durchquert und der neuen Volontärin Johanna ohne mit der Wimper zu zucken einen Papierstapel auf den Tisch knallt.
„Vielleicht solltest du dich lieber bei einer dieser billigen Boulevardzeitschriften bewerben. Das hier geht jedenfalls gar nicht. Dilettantisch ist noch geschmeichelt! ELBFLAIR ist doch kein Schmierenblatt! Ein bisschen mehr Stil bitte!“
Johanna ist zusammengezuckt wie ein verschrecktes Kaninchen und hält mit hochrotem Kopf die Luft an, während die Chefredakteurin mit wehendem Mantel durch die Tür rauscht. Die kurz verstummten Gespräche werden wieder aufgenommen. Miriam schüttelt den Kopf und lächelt der Volontärin aufmunternd zu. Patricias Gebaren ist manchmal schwer nachvollziehbar. Zurück an ihrem Arbeitsplatz ploppt eine interne Mail auf ihrem Bildschirm auf:
Redaktionsstammtisch, diesmal abweichend nächsten Montag, 20 Uhr, Metropolis.
„Nicht vergessen“, raunt Tamara ihr verschwörerisch im Vorbeigehen zu.
„Als wäre das jemals vorgekommen …“, erwidert Miriam mit gespielter Empörung.
Hinter der Bezeichnung Redaktionsstammtisch verbirgt sich nichts anderes als das regelmäßige Treffen von Tamara, Jasmin, Verena und Miriam jeden zweiten Freitag im Monat in der Dresdner Neustadt. Ihre Stammtischthemen sind so bunt wie die Cocktails in der kleinen Szenekneipe und mit jedem Drink werden ihre Gespräche tiefschürfender, witziger, schlüpfriger und warmherziger. Die drei Kolleginnen sind Miriam ans Herz gewachsen.
Sie nimmt sich ihren angefangenen Feuilletonbeitrag über ein neues Theaterstück im Schauspielhaus vor. Ein Thema, das ihr weit mehr liegt, als familiäre Tannenbaumatmosphäre. Sie ist froh, dass Hendrik sich nach seinem peinlichen Eigentor zu einem Außentermin verzogen hat und versinkt für die nächsten Stunden in ihrer Arbeit, ohne etwas von dem Gewusel um sich herum wahrzunehmen. Hin und wieder muss sie innehalten, weil Hendriks bissige Worte wie ein Echo in ihrem Kopf hallen. Als es draußen langsam dunkel wird, ruht Miriams Blick auf dem großen beleuchteten Holzstern an der Fensterscheibe, der ein warmes Licht auf ihren Arbeitsplatz wirft. Nach und nach verabschieden sich die Kollegen und verlassen die Redaktion. Tamara will Weihnachtsgeschenke shoppen. Vermutlich teuer und glänzend, wie Miriam vermutet. Robert, der KOMMUNALPOLITIK-Redakteur, hatte in der Mittagspause angekündigt, mit seiner Frau und den Kindern einen Tannenbaum kaufen zu wollen. Er stopft sich einen Pfefferkuchen nach dem anderen in den Mund, während er seinen Rechner herunterfährt. Egal wo und wann, Robert ist ständig am Essen und augenscheinlich immer hungrig. Jeder in der Redaktion fragt sich, wie ein einzelner Mensch so viele Vorräte in seinem Schreibtisch horten kann und warum man das seinem Körperbau gar nicht ansieht.
Geschenke shoppen, Weihnachtsbäume kaufen – einmal mehr beschleicht Miriam das beklemmende Gefühl, dass jeder außer ihr diese Zeit genießt und sich auf Weihnachten im Kreise der Familie freut.
Hat der bescheuerte Hendrik vielleicht recht und mit mir stimmt etwas nicht?, fragt sie sich im Stillen. Doch diese Überlegung schüttelt sie sogleich ab. Blödsinn! Schwarzbach ist ein Idiot und dass seine absurde Aussage nur dazu dienen sollte, sie zu provozieren, liegt auf der Hand. So etwas versucht er ständig, auch bei den anderen. Ärgerlich ist nur, dass seine Provokation diesmal bei ihr ins Schwarze getroffen hat. Aber dass sie mit Weihnachten nichts anfangen kann, kinderlos ist und anstatt mit einem Mann mit zwei Katzen zusammenlebt, heißt noch lange nicht, dass sie eine schrullige Eigenbrötlerin ist.
Dabei war es nicht immer so, dass Miriam mit Weihnachten nichts anfangen konnte. Im Gegensatz zu heute liebte sie das Fest in ihrer Kindheit über alles. Im Leben der Familie Engel gab es so viele wunderbare Momente. Besonders mochte Miriam die selbstgebackenen Engelsplätzchen ihrer Mutter. Diesen Duft nach Vanille, Nüssen und Orangen. Sie war ein glückliches, aufgewecktes Kind. Doch als sie fünfzehn war, zog sich ein tiefer Riss durch ihre bis dahin vollkommene Welt. Ihr Vater, der bisher ihr Held war, entpuppte sich als erbärmlicher Feigling. Er verließ die Familie über Nacht für eine andere Frau namens Maria und machte sich aus dem Staub. Maria Dumpfbacke hatten Miriam und Karo die Frau getauft, die es wert war, dass man für sie alles hinschmiss. Dieser Riss brachte ihr Leben zwar gewaltig zum Zittern und ihr Vater war seitdem für sie nicht mehr der Held ihrer Kindertage, doch aus der Bahn hatte sie sich nicht werfen lassen. Mit ihrer Mutter verstand sie sich trotz ihrer mitunter üblen Teenagerlaune sehr gut. Vera Engel gab ihrer Tochter Halt in dieser Zeit. Miriam hatte sich immer gefragt, woher ihre Mutter ihre Stärke nahm, wo ihr Vater sich doch so schäbig verhalten hatte. Sie beschloss, ihren Vater aus ihrem Leben zu streichen. Die meiste Zeit gelang es ihr auch ganz gut, ihn auszublenden. Doch der Riss zog sich unentdeckt weiter und gipfelte in einer Tragödie, als ihre Mutter drei Jahre später unverhofft am ersten Weihnachtsfeiertag verstarb. Es war der Tag nach Miriams achtzehntem Geburtstag, als sie glaubte, nicht mehr weiteratmen zu können, weil das Unbegreifliche ihr die letzte Luft aus den Lungen presste. Niemand, auch nicht ihre Mutter, konnte etwas von der tickenden Zeitbombe in ihrem Kopf ahnen. Als das Aneurysma platzte, war es zu spät. Zu dem Zeitpunkt hatte Miriam ihr Abi in der Tasche, war verliebt und voller Träume und Pläne für ihre Zukunft. Von einer Sekunde zur nächsten brach ihre Welt zusammen und sie war mit dem Tod ihrer Mutter konfrontiert.
Sie versank im ersten Augenblick wie die Titanic im eiskalten Atlantik. Lange Zeit glaubte sie, nicht wieder auftauchen zu können, so lähmend war die Trauer. Sie war verstummt und brachte in der ersten Zeit kein Wort heraus, dabei hätte sie lieber geschrien und getobt und alles in Stücke gehauen. Sie baute eine unsichtbare Mauer um sich herum auf und ließ alles daran abprallen, auch die Hilfsangebote ihres Vaters. Er war der Letzte, den sie sehen wollte. Ihr gleichaltriger Freund Bastian mit dem unwiderstehlichen Lächeln war mit der Situation noch überforderter als sie selbst und kam mit ihrer Verzweiflung nicht klar. Er, der Sohn reicher Eltern, ließ sie Wochen später sitzen und lebte weiter sein sorgenfreies Leben, das zum größten Teil aus Partys, Nichtstun und ihn anhimmelnden Mädchen bestand, während Miriam sich mit Erbangelegenheiten und Versicherungskram auseinandersetzen musste.
Sei froh, dass du den los bist, hatte Karo damals gemeint. Karos Familie half ihr wieder aufzutauchen aus den kalten Fluten. Bis heute glaubt Miriam, dass sie das ohne die Unterstützung der Familie Steiner nicht geschafft hätte. Sie hatten sie wie eine zweite Tochter bei sich aufgenommen und ihr geholfen, das geplante Journalistikstudium aufzunehmen, während Karolin ihr Jurastudium begann.
Mit der Zeit ließ der Schmerz ein wenig nach und eine gewisse Normalität kehrte zurück. Eine Normalität, die Miriams Wunde wie ein Verband abdeckte. Dummerweise war dieser Verband ausgerechnet vor ein paar Tagen durch das Interview auf dem Striezelmarkt verrutscht. Zum Vorschein war nicht etwa eine verheilte Narbe gekommen, sondern eine Wunde, die mehr schmerzte als je zuvor.
Als fast alle anderen gegangen sind, sieht Miriam aus dem Bürofenster in die Dunkelheit. „In ein paar Wochen ist der ganze Rummel auch schon wieder vorbei“, murmelt sie zuversichtlich, nimmt einen Schluck Kaffee und wendet sich wieder ihrem Artikel zu.
„Hast du was gesagt?“, fragt Johanna, die Volontärin, von der anderen Seite des Büros. Miriam zuckt zusammen und kann gerade noch verhindern, dass sich ihr Kaffee über die Tastatur ergießt. Sie hat gedacht, die anderen wären schon alle weg.
„Nein, nein“, sagt sie. „Aber willst du nicht auch langsam Feierabend machen? Um diese Zeit arbeiten hier nur noch Leute, auf die entweder keine Familie wartet oder denen jemand einredet, sie würden zu Hause von ihren Katzen angeknabbert werden.“
Johanna deutet grinsend auf den Papierstapel vor sich und sagt: „Wenn meine Arbeit nicht bald stilvoller wird, komme ich dort auch bald hin.“ Sie überlegt kurz und fragt: „Sag mal, hättest du Lust auf Eislaufen und Glühwein im Taschenbergpalais? Du könntest mir bei der Gelegenheit ein wenig über den Laden hier erzählen und über die Chefin, die mich offenbar hasst.“
Miriam weiß nicht, was sie sagen soll. Das fehlt ihr gerade noch. Also nicht ein Gespräch mit Johanna, aber Eislaufen in weihnachtlicher Kulisse? Musikalisch beschallt mit Last Christmas, Rudolf, dem kleinen Rentier oder der Weihnachtsbäckerei?
„Eigentlich gern“, erwidert sie ausweichend. „Aber wollen wir nicht lieber in eine gemütliche Kneipe gehen? Ehrlich gesagt, reicht mir das Getümmel in der Stadt von gestern noch.“
Doch Johanna lässt nicht locker und überredet Miriam, sich gemeinsam aufs Glatteis zu begeben. Miriam gibt sich geschlagen. „Also gut. Du bist hartnäckig. Aus dir wird sicher eine gute Journalistin“, sagt sie. „Ich weiß aber nicht, ob ich das noch kann. Ist schon eine Ewigkeit her, dass ich auf Kufen stand.“
Die Volontärin winkt lachend ab. „Ist wie Fahrradfahren und schwimmen, das verlernt man nicht.“
Im Grunde hat Miriam schon Lust, sich mal wieder aufs Eis zu wagen. Zumindest wird es mich auf andere Gedanken bringen, denkt sie, packt ihre Sachen zusammen und macht sich mit Johanna auf den Weg in die verstopfte Dresdner Altstadt.
Fünfundvierzig Minuten später am Taschenbergpalais angekommen, schlüpfen die beiden gerade in die ausgeliehenen Schlittschuhe, als Miriam eine Erinnerung streift. Sie greift nach dem Geländer und schließt die Augen. Sie sieht ihren Vater vor sich, wie er ihr als kleines Mädchen in der Eissporthalle die Schlittschuhbänder festschnürt, was nicht einfach ist, weil sie voller Vorfreude, endlich aufs Eis zu dürfen, herumhampelt.
„Kommst du?“ Miriam schaut zu Johanna auf und schluckt den bitteren Geschmack der Erinnerung herunter.
Zaghaft setzt sie die Kufe auf die bunt beleuchtete Eisfläche im Innenhof des Kempinski Hotels und tastet sich an der Bande entlang. Nach einigen holprigen Schritten fühlt sie sich schnell sicher und gleitet neben Johanna um den prächtigen Tannenbaum in der Mitte.
„Du hattest recht, Johanna, ich hatte fast vergessen, wie viel Spaß das macht“, gibt sie lachend zu.
Bevor Karo ihre Zwillinge bekam, hatten die beiden Freundinnen im Winter oft zusammen ihre Runden auf der Eisbahn gedreht und als kleines Mädchen wäre Miriam am liebsten in die Eissporthalle eingezogen.
Früher. In einem anderen Leben.
Während sie dahingleitet und kleine Rauchwölkchen in die Luft atmet, denkt Miriam an ihre ersten Schlittschuhe. Langersehnt und schneeweiß. Das schönste Weihnachtsgeschenk ihrer Kindheit. Ihre Eltern hatten von der Bande aus lächelnd jeden ihrer wackeligen Schritte verfolgt. Ihr Herz zieht sich schmerzhaft zusammen wie eine Zitrone, aus der man den letzten Tropfen quetscht.
„Achtung!“, schreit Johanna neben ihr auf und Miriam zuckt zusammen. Doch die Warnung kommt eine Zehntelsekunde zu spät. Sie spürt einen Schlag gegen ihre Beine und wird zu Boden gerissen. Miriam keucht auf und reibt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Knie, während sie schwerfällig aufsteht. „Alles in Ordnung?“, fragt Johanna besorgt. „Du bist mit einem Pinguin zusammengeprallt.“ Sie zeigt auf eine der Laufhilfen, die ein kleiner Junge vor sich herschiebt. Der Junge grinst verschmitzt und flitzt weg. „Moritz, nicht so schnell!“, brüllt ein Mann dem Jungen hinterher, während Miriam sich das Eis von den Hosenbeinen wischt.
„Du solltest dich wenigstens entschuldigen!“ Er kommt auf sie zugefahren. „Tut mir leid, ist Ihnen etwas …?“ Er bricht ab. Miriam starrt ihn entgeistert an. Hendrik Schwarzbach wirkt genauso verdutzt wie sie. „Oh, ich hab dich gar nicht erkannt mit der Mütze.“
„Äh … gleichfalls“, gibt Miriam zurück. Hendrik, der ausschließlich in Anzug und Krawatte die Redaktion betritt, ist kaum wiederzuerkennen in seinem sportlichen Winteroutfit.
„Tschuldigung“, murmelt der Kleine zerknirscht in Miriams Richtung. „Papa, kommst du endlich?“ Er zieht an Hendriks Hand.
„Das war nicht deine Schuld, ich habe nicht aufgepasst“, sagt Miriam beschwichtigend zu Moritz. Sie will sich schon umdrehen, als Hendrik sich räuspert und mit der Kufenspitze seines Schlittschuhs auf der Eisfläche herumkratzt. „Hör mal, das heute, ähm, also meine Bemerkung mit den Katzen und der Toten, du weißt schon … Das war wohl etwas übertrieben von mir.“
Miriams Blick wandert verblüfft von ihm zu Johanna und wieder zu ihm, als sie langsam erwidert: „Na, wenn du das sagst.“
War das etwa eine Art Entschuldigung? Von Hendrik Schwarzbach? Miriam denkt an die peinliche Situation am Vormittag. Anstatt Größe zu zeigen und seine Provokation einfach zu ignorieren, war sie voll darauf angesprungen und hatte sich hinterher stundenlang darüber geärgert. Das war kindisch. Da von Hendrik kein weiterer blöder Spruch kommt, räumt sie ein: „Ich hab vielleicht auch etwas übertrieben reagiert.“ Sie nicken sich knapp zu. „Tja dann noch viel Spaß“, wünscht Miriam höflich und lächelt Moritz an, der kurz darauf mit seinem Vater an der Hand um den Tannenbaum zischt.
Miriam schüttelt erstaunt den Kopf. Der sonst so arrogante Kollege Schwarzbach hat offenbar auch eine andere, fürsorgliche Seite. Wer hätte das gedacht?
„Der kann ja regelrecht nett sein“, sagt Johanna ebenso verdutzt.
Anschließend stärken sie sich in der Winterhütte bei Crêpes und Punsch. Miriam schlingt ihre kalten Hände um die Tasse und nimmt einen Schluck. Der Punsch duftet herrlich nach Äpfeln, Zimt, Nelken und Kardamom. Miriam spürt eine wohlige Wärme, als ihr das warme Getränk durch die Kehle rinnt. Johanna ist plötzlich schweigsam. „Was ist? Du hast doch etwas auf dem Herzen!“
Johanna erklärt wiederstrebend: „Patricia hat mich auf dem Kieker. Ich weiß echt nicht, ob ich ihre Art auf Dauer aushalte. Vielleicht sollte ich mir gleich was anderes suchen.“
„Aber nein! Du bist eine hervorragende Volontärin!“, widerspricht Miriam. „Ich helfe dir morgen früh bei der Überarbeitung.“ Nur zu gut erinnert sie sich an ihren eigenen Berufsstart. Sie hatte sich wie Johanna gefragt, ob sie den Anforderungen standhalten würde mit einer Chefin wie Patty Power im Nacken, die auf Fehler anderer mit kalter Unnachgiebigkeit reagiert. Es gibt Tage, da raunzt sie grundlos jeden an, der ihr zufällig über den Weg läuft.
„Patty Power hat jeden auf dem Kieker, ganz besonders mich“, meint Miriam leichthin und macht sich über ihren gezuckerten Crêpe her.
Johanna bezweifelt das. „Ach, komm … du bist kompetent, taff und dazu noch echt nett.“
Miriam verschluckt sich fast an ihrem Crêpe. „Ja klar.“
Ich bin eine kompetente Reporterin, die es nicht schafft, einen lächerlichen Weihnachtsartikel zu schreiben, stattdessen vor lauter Gefühlsduseligkeit vor fahrende Autos läuft und sich von fiesen Kollegen provozieren lässt. Bravo!
Zu Johanna gewandt sagt sie: „ELBFLAIR ist Patricias Ein und Alles. Sie lebt für das Magazin und hat für den Erfolg hart gearbeitet. Das muss man ihr neidlos anerkennen. Dass sie dafür manchmal über Leichen geht, ist leider die Kehrseite der Medaille. Sie hat mal gesagt, in dieser immer noch männerdominierten Branche kann man sich als Frau in einer führenden Position keine Schwäche erlauben. Wahrscheinlich ist sie deshalb so, wie sie ist.“