Kapitel 1
Wie konnten der Duke of W. und meine Frau es wagen, mich zu verraten? Meine Konfrontation mit Seiner Gnaden hatte nicht dazu beigetragen, das wütende Verlangen nach Rache zu stillen, das in mir brodelte. Auch vermochte sie nicht, die Dunkelheit in meiner Seele zu erhellen. Die Lösung, die ich fand, war eine endgültige Lösung, lieber Leser. Es war der Tod.
– aus Bekenntnisse eines sündigen Earls
London, 1885
Lady Calliope Manning, Schwester des Duke of Westmorland, Liebling der Gesellschaft und eine gerissene, bösartige Xanthippe, würde lernen, dass ein Mann, der nichts mehr zu verlieren hat, verdammt gefährlich war.
Sie würde auch lernen, dass sie sich umsonst bemüht hatte, ihm all seine zukünftigen Heiratskandidatinnen abspenstig zu machen.
Und dass die Nachricht, der Earl of Sinclair habe den früheren Duke of Westmorland und seine eigene Countess getötet, Konsequenzen hatte. Schlimme Konsequenzen.
Als Lady Calliope das Büro ihres Verlegers verließ und zu ihrer wartenden Kutsche ging, verbarg sich Sin in den Schatten. Sie war so daran gewöhnt, sich in der ganzen Stadt frei bewegen zu können und zu tun, was sie wollte, dass sie sich nicht einmal die Mühe machte, einen Blick um sich zu werfen. Hätte sie das getan, hätte sie vielleicht gesehen, dass er sie beobachtete und begriffen, in welchen Schwierigkeiten sie sich bald befinden würde. Zumindest hätte sie eine Ahnung gehabt. Aber da die selbstverliebte Schnepfe sich noch keinen einzigen Tag ihres Lebens darum hatte kümmern müssen, womit sie ihre seidenen Pariser Worth–Kleider, ihre verschwenderischen Bälle oder das Dach über ihrem Kopf finanzierte, blickte sie weder nach links noch nach rechts.
Sie sah ihn nicht kommen.
Sie schien auch nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass ihr Kutscher durch einen Mann seines Vertrauens ersetzt worden war. Einen Mann, der mit dem wenigen Geld bezahlt wurde, das Sin noch zur Verfügung stand. Er würde sie aufs Land bringen. Inzwischen war ihr eigener Fahrer wohl in einer nahe gelegenen Gasse zu sich gekommen, geplagt von teuflischen Kopfschmerzen, die er Brintons linkem Haken zu verdanken hatte.
Sin schlich vorwärts, wobei er jede seiner Bewegungen mit äußerster Sorgfalt abmaß. Ein falscher Schritt, eine überstürzte Bewegung und all seine Pläne – und in der Tat seine einzige Chance, sich selbst zu retten – würden zerschmettert werden. Sie war jetzt fast in der Kutsche, stand mit dem Rücken zu ihm, den Fuß auf der Trittstufe. Sin ergriff sie an der Taille, hielt sie mit festem Griff und schob sie hinein.
Sie schrie erschrocken auf, als sie in einem Durcheinander von Röcken und Unterröcken vorwärts geschleudert wurde und auf die marokkanischen Sitzkissen stürzte. Sin stieg zu ihr in die Kutsche und schlug die Tür zu, dann klopfte er an das Dach. Als sich das Gefährt in Bewegung setzte, ließ er sich auf die Bank ihr gegenüber nieder. Gerade rechtzeitig, damit er den Schrecken auf ihrem hübschen, verräterischen Gesicht erkennen konnte, als sie sich aufrappelte. Auf die Angst folgte Erkennen. Ihre Lippen öffneten sich zu einem Keuchen.
„Lord Sinclair? Was zum Teufel haben Sie in meiner Kutsche zu suchen?“ Sie klang erbost.
„Ich entführe Sie“, erklärte er ihr mit einer Gelassenheit, die teilweise dem Whisky zu verdanken war, den er zur Stärkung kurz vor dieser verzweifelten Mission getrunken hatte, und zum anderen seinem Wunsch, ihre Gesichtszüge wieder in Aufruhr zu versetzen.
Sie spottete. „Sie können mich nicht entführen, Mylord.“
So viel zum Thema Aufruhr. Aber es war noch genug Zeit zum Blutvergießen. Die vor ihnen liegende Reise war lang.
Sin hob die Hände und wies mit einer Geste in das Innere der Kutsche. „Sehen Sie sich um, Lady Calliope.“
Sie hob eine dunkle elegante Braue. „Alles, was ich vor mir sehe, ist ein Eindringling in meiner Kutsche. Was machen Sie hier, Lord Sinclair? Haben Sie keinen Unschuldigen, den Sie verführen können? Etwas Opium zu rauchen? Einen weiteren Mord zu planen?“
Es würde ihm Spaß machen, diese verachtenswerte Kreatur zu vernichten. Sin schenkte ihr sein grimmigstes Lächeln. „Sie kennen meinen Ruf, Mylady. Ich bin ganz aus dem Häuschen.“
„Ich schenke Ihnen kaum Beachtung.“ Hochmütig sah sie ihn an und ihre dunklen Augen blitzten voller trotzigem Feuer. „Sie sind es nicht wert, beachtet zu werden.“
Verlogene Hexe!
„In der Tat, Lady Calliope?“ Seelenruhig griff er in seinen Mantel und holte die Klinge heraus, die er dort für diesen Zweck versteckt hatte. Für sie. Während er mit dem Daumen die Spitze des Dolches prüfte, beobachtete er sie.
Ihr Blick war auf die Klinge gefallen. Unter ihrem Hut, der beim Stoß in die Kutsche verrutscht war, wurde sie blass.
„Warum tragen Sie eine Waffe?“, fragte sie.
„Vielleicht habe ich vor, Sie zu ermorden“, schlug er vor und fuhr langsam mit dem Daumen die Klinge entlang. „Da ich ja bereits Ihren Bruder getötet habe.“
Sie versteifte sich. „Wenn Sie mir etwas antun wollen, Mylord …“
„Hat Ihnen niemand gesagt, dass es unhöflich ist, dem Mann mit dem Messer zu drohen?“, unterbrach er sie. „Tss, Lady Calliope.“
„Ich wage zu behaupten, dass in meiner Gegenwart noch nie jemand ein Messer geschwungen hat“, blaffte sie ihn an. „Worum geht es hier, Lord Sinclair? Ich habe heute noch andere Termine. Sie verschwenden mit Ihrem Unsinn meine Zeit.“
So schön, wie sie sich selbst etwas vormachte.
„Es wird keine weiteren Termine geben.“ Wieder strich er mit dem Daumen über die Klinge, dieses Mal mit zu viel Druck.
Er spürte ein kurzes Stechen in der Kuppe, dann die Nässe seines Blutes. Welch Ironie. Das erste Blut, das er vergoss, war sein eigenes.
„Sie haben sich geschnitten“, keuchte sie. „Sie bluten.“
Das hatte er und das tat er.
„Es ist nur ein kleiner Kratzer“, sagte er gleichgültig. „Es wird aufhören. Dieses Messer ist sehr scharf, Lady Calliope. Ich würde es nur ungern an Ihrem zarten Fleisch benutzen.“
„Sie versuchen mir Angst zu machen“, konterte sie und ihre Augen verengten sich. „Ich weiß nicht, was Sie wollen oder warum, aber Sie müssen doch einsehen, dass das Wahnsinn ist und sofort ein Ende haben muss.“ Sie klopfte an die Decke. „Lewis, halten Sie die Kutsche an!“
Er lachte bitter. „Denken Sie wirklich, ich wäre so dumm, Sie mit Ihrem eigenen Kutscher zu entführen?“
Verwirrung stahl sich in ihr ausdrucksstarkes Gesicht.
Es war ein Jammer, dass er sie so sehr hasste, denn Lady Calliope Manning war eine der umwerfendsten Frauen, die er je gesehen hatte. Atemberaubend, hinterlistig und rücksichtslos.
Bevor dieser Krieg zwischen ihnen, den sie begonnen hatte, zu Ende war, würde er sie vernichtet haben.
„Was haben Sie mit Lewis gemacht?“, fragte sie mit vor Angst zitternder Stimme.
Ihre ganze Tapferkeit schwand dahin.
Das war gut. Vielleicht begann sie nun, den Ernst der Lage zu erkennen.
„Vielleicht habe ich ihn getötet, so wie die anderen“, knurrte er. „Wie meine Frau. Ihren Bruder. Das denken Sie doch, nicht wahr, Mylady? Das ist es, was Sie in meinem Namen geschrieben haben, damit die ganze Welt es lesen und glauben kann.“
Sie wurde noch blasser. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“
„Die falschen Memoiren, die Sie geschrieben und in regelmäßigen, verabscheuungswürdigen kleinen Pamphleten veröffentlicht haben“, führte er weiter aus. Er nahm seinen Daumen in den Mund und saugte das Blut ab. Der Geschmack von Kupfer überflutete seine Zunge. „Bekenntnisse eines sündigen Earls, so haben Sie den hinterlistigen Schund betitelt. Nicht sonderlich klug von Ihnen, aber andererseits haben Sie ja auch nur beabsichtigt, sicherzustellen, dass jede Ihrer bösartigen Erfindungen von mir handelt, nicht wahr?“
„Ich habe die Memoiren zusammen mit dem Rest von London gelesen, aber ich bin nicht die Autorin, Mylord“, leugnete sie.
Er hatte gewusst, dass sie ihre Sünden nicht so leicht eingestehen würde und war darauf vorbereitet, ihre Behauptungen zu widerlegen. Er hatte gewartet. Beobachtet. Sich vorbereitet. Der Herrgott wusste, dass er nichts anderes zu tun hatte, da ihm alle Türen in London verschlossen blieben.
„Und doch habe ich Sie gerade bei Ihrem wöchentlichen Besuch von J. M. White and Sons erwischt, demselben Verlag, der die Bekenntnisse veröffentlicht“, konterte er.
„J.M. White and Sons verlegt Broschüren für die Lady’s Suffrage Society.“ Ihre Antwort kam schnell. „Das ist der Grund, warum ich den Verlag regelmäßig aufsuche.“
Er lächelte. „Eine ausgezeichnete Ausrede für Ihre Besuche, nicht wahr? Aber wie erklären Sie die Manuskripte in Ihrem Schlafgemach in Westmorland House, Lady Calliope?“
Ihre Augen weiteten sich. Ein Ausdruck stahl sich über ihr Gesicht, der in seiner Vorstellung dem entsprach, wie wenn ein wildes Tier seinen Jäger anstarrt.
„Woher wollen Sie wissen, was sich in meinem Schlafgemach befindet?“
Sein Lächeln vertiefte sich, zusammen mit seinem Triumph. „Ich war dort. Ich habe es selbst gesehen.“
Doch sein Triumph war nur von kurzer Dauer, denn im nächsten Moment stürzte sich die Furie auf ihn.
***
Callie wusste, dass der Earl of Sinclair verzweifelt war.
Sie wusste, dass er gefährlich war.
Sie glaubte, er habe ihren geliebten Bruder und seine eigene Countess ermordet, die in eine Affäre verwickelt gewesen und mysteriöserweise am selben Tag unter verdächtigen Umständen gestorben waren.
Und sie wusste auch, dass sie den Wolf unwissentlich direkt zu ihrer Tür geführt hatte. Jetzt war er auf Blut aus. Aber sie wollte verdammt sein, wenn sie ihm erlauben würde, sie irgendwohin zu entführen, um Gott weiß was mit ihr zu tun. Sie zu töten? Weil sie die Autorin von Bekenntnisse eines sündigen Earls war?
Es schien unwahrscheinlich, dass er noch einmal einen Mord begehen würde, nachdem so viele Verdächtigungen gegen ihn ausgesprochen worden waren.
Trotzdem wollte sie kein Risiko eingehen. Callie stürzte sich auf ihn, ballte die Hände zu Fäusten und schlug auf seine Brust ein.
Aber er war stärker als sie. Er hielt ihre Handgelenke in einem eisernen Griff. Zu spät erinnerte sie sich an die Klinge. Der Schnitt.
Nässe strich über ihre Haut, über ihren wie wahnsinnig rasenden Puls.
Sein Blut.
„Das war töricht, Lady Calliope“, knurrte er.
Ihr wurde klar, dass er recht hatte. Sie lag quer über seinem Schoß und sein unnachgiebiger Griff brachte ihre Gesichter nah aneinander. Er war ein gut aussehender Teufel. Sie konnte es nicht leugnen; es gab einen Grund, warum man den Earl of Sinclair Sin nannte.
Denn er war die Verkörperung der Sünde.
„Lassen Sie mich los!“, verlangte sie mit einer Überheblichkeit, die sie nicht fühlte.
Er hatte die Kontrolle.
„Ich glaube, Sie gefallen mir in dieser Position, Mylady.“ Seine Lippen kräuselten sich. „Wie fühlt es sich an, mir ausgeliefert zu sein? Ich wage zu behaupten, dass es Ihnen missfällt.“
Sein Atem war heiß. Sie spürte ihn auf ihren Lippen. Er roch nach Alkohol.
„Sind Sie betrunken, Lord Sinclair?“, fragte sie, anstatt seine Frage zu beantworten.
Sein Appetit auf Vergnügen war bekannt. Exzess in allen Formen. Kein Wunder, dass die ehemalige Lady Sinclair Trost bei Alfred gesucht hatte. Ihr Bruder war freundlich und gut gewesen.
Das ganze Gegenteil dieser schönen, grausamen Verschwendung menschlichen Fleisches.
„Viel zu nüchtern“, sagte er und sein brauner Blick war so dunkel, dass er beinahe einem Obsidian glich. „Werde ich Sie fesseln müssen? Ich hatte es nicht vor, aber ich gebe zu, der Gedanke, Ihre Hand– und Fußgelenke in Fesseln zu sehen, ist reizvoll – Sie so hilflos zu sehen, wie Sie mich machen wollten.“
Sie zerrte an ihren Handgelenken und versuchte sich zu befreien, ohne Erfolg. Er war unnachgiebig. „Ich weiß nicht, welchen Irrsinn Sie da von sich geben. Ich habe diese Memoiren nicht geschrieben.“
„Ihr Leugnen ist genauso nutzlos wie Ihre Fluchtversuche.“
Seine Stimme war leise, sein Gesichtsausdruck eine undurchdringliche Maske. „Ich war in Ihrem Schlafgemach. Ich habe die Entwürfe auf Ihrem Schreibtisch gesehen.“
Wie war er in ihre Gemächer gekommen? Bluffte er?
Woher wusste er, dass sie einen Schreibtisch hatte? Oder dass es der Ort war, an dem sie ihre Entwürfe für Bekenntnisse eines sündigen Earls aufbewahrte?
Die Fragen waren endlos. Zu viele für ihr Gehirn, um sie zu durchdenken.
Am dringlichsten war das Bedürfnis, zu fliehen. Sie wusste, wo Männer am verwundbarsten waren. Sie machte eine schnelle Bewegung und versuchte, ihn mit ihrem Knie in den Schritt zu treffen.
Aber er sah ihre Absicht voraus und lenkte den Schlag ab, sodass ihr Knie nur die Innenseite seines Oberschenkels traf.
„Lassen Sie mich los, Sie Verrückter!“, schrie sie und schlug wild auf ihn ein.
Ihre Angst war jetzt sehr real, ein bitterer, metallischer Geschmack in ihrem Mund. Ihr Herz raste. Als er in ihre Kutsche eingedrungen war, hatte sie sich erschrocken, aber als er munter angekündigt hatte, dass er sie entführen wolle und die Kutsche nicht langsamer geworden war, nachdem sie Lewis aufgefordert hatte, anzuhalten, war ihre Ruhe verflogen. Und dann hatte Lord Sinclair die böse glänzende Klinge gezogen …
Mit einer Plötzlichkeit, die ihr den Atem raubte, warf der Earl sie herum, sodass sie auf der Bank saß und er über ihrem Schoß kniete. Mit der Kraft seines großen Körpers drückte er sie nieder.
„Ich glaube, wir wissen beide, wer von uns verrückt ist, Madam, und ich bin es verdammt noch mal nicht!“, knurrte er, während er in seinen Mantel griff und eine Kordel herauszog.
Grundgütiger, was hatte er denn jetzt vor?
Sie lehnte sich zurück und versuchte erneut, ihm zu entkommen. Aber es war vergeblich. Sie war außer Atem. Sinclair war ihr an Kraft weit überlegen, sie konnte ihn nicht abwehren. Er schlang die Kordel um ihre Handgelenke und verknotete sie mit einer Geschwindigkeit, die darauf hindeutete, dass ihm dieser Vorgang vertraut war.
Ihre Handgelenke waren gefesselt.
„Sie können mich nicht entführen“, sagte sie und hasste es, dass ihre Stimme dabei bebte.
Er fletschte die Zähne und erschien nicht viel anders als der Löwe, den sie einmal in einer Menagerie gesehen hatte. „Das habe ich bereits getan.“
Angst durchzuckte sie. Sinclair meinte es ernst. Er beabsichtigte, sie irgendwohin zu bringen, und zwar aus einem ruchlosen Grund, den sie nur erahnen konnte. Ach verflixt, aus einem ruchlosen Grund, den sie nicht erahnen wollte.
„Sie sind verrückt!“ Sie keuchte und versuchte noch immer, sich unter seinem Gewicht hervorzuwinden und zu befreien.
Ein Unterfangen, das immer unwahrscheinlicher wurde, je länger es dauerte.
„Ich bin mir meiner Taten vollends bewusst“, spottete er. „Was weit mehr ist, als ich von Ihnen sagen kann, Lady Calliope. Ihre Handlungen waren ganz sicher die einer Verrückten. Was haben Sie beabsichtigt, als Sie meinen Namen angeschwärzt und Seiten voller bösartiger Lügen über mich verbreitet haben? Hat es Sie unterhalten? War Ihnen in Ihrem Schloss langweilig, Prinzessin?“
Das letzte Wort spuckte er aus, als wäre es ein Schimpfwort.
Die Bosheit, die er ausstrahlte, war stark und gefährlich. Der Earl of Sinclair verabscheute sie.
„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Mylord“, behauptete sie erneut, atemlos von ihren Fluchtversuchen. Ihr Herz pochte schneller, als die Hufe der Pferde auf die Straße trafen.
„Wenn Sie mir gestatten, nach Hause zurückzukehren, werde ich kein Wort darüber verlieren, was hier geschehen ist. Das verspreche ich. Es ist noch nicht zu spät, Ihre Pläne zu ändern, was immer diese auch sein mögen.“
Er lachte. Es klang dunkel und unerbittlich und jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Sie können Ihre falschen Unschuldsbeteuerungen jederzeit aufgeben. Ich weiß ohne jeden Zweifel, dass Sie die Autorin der Memoiren sind. Glauben Sie tatsächlich, ich sehe tatenlos zu, wie mein Leben zum Futter für skurrilen Klatsch wird und alle Türen in London für mich verschlossen bleiben? Glauben Sie wirklich, ich würde nicht alles tun würde, was in meiner Macht steht, um zu beweisen, dass ich kein Mörder bin?“
Seine Stimme bebte vor Wut, sie war schneidend wie ein Peitschenhieb.
„Sie können unmöglich beweisen, dass ich die Autorin dieser Serien bin“, schnappte sie.
Sie war vorsichtig gewesen. So vorsichtig. Nur Mr White wusste, dass sie die Autorin der Bekenntnisse war. Er hatte ihr äußerste Diskretion versprochen und sie vertraute ihm. Nicht einmal ihr geliebter und überfürsorglicher Bruder Benny, der Duke of Westmorland, kannte die Wahrheit.
„Als er meine Fäuste kennenlernte, sang der jüngere Mr White wie ein Vogel“, erklärte Sinclair ruhig und zog ihre gefesselten Handgelenke zu einem Elfenbeingriff an der Innenseite des Wagens, wo er sie mit einer weiteren Reihe von Knoten befestigte.
Er trug keine Handschuhe. Während er arbeitete, starrte sie auf seine Knöchel. Seine Finger waren lang, seine Hände groß. Sie zweifelte nicht daran, dass er mit ihnen beträchtlichen Schaden anrichten konnte.
Der ältere Mr White hatte ihr versprochen, ihre Identität für sich zu behalten. War es möglich, dass er sich seinem Sohn anvertraut hatte? Mr Reginald White war ein dünner, gebrechlich aussehender Gentleman. Sie hatte ihn nur einmal getroffen, aber sie war sich sicher, dass der massive Kerl, der sie gerade entführte, ihn mit einem Schlag außer Gefecht setzen konnte.
„Nichts zu sagen, Prinzessin?“, spottete er.
„Gehen Sie von mir runter“, knirschte sie.
Sie war es nicht gewohnt, einen Mann auf ihrem Schoß zu haben, und er war verdammt schwer. Und furchterregend obendrein.
Er hob eine dunkle Braue. Sein Blick schweifte über sie und erfüllte sie mit einer seltsamen Mischung aus Kälte und Wärme gleichzeitig. „Werden Sie sich benehmen?“
Niemals!
„Natürlich“, log sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Schließlich erhob er sich und setzte sich seufzend auf die andere Bank zurück. „Sie werden diesen Knoten nicht entkommen und Ihre Beine sind zu kurz, um nach mir treten zu können. Ich schätze also, ich kann es mir für den Rest unserer Reise bequem machen.“
Reise?
Das Wort ließ etwas in ihr erstarren. Irgendwie war sie der Meinung gewesen, dass sie in London bleiben würden. Aber die Aussicht auf eine Reise … Grundgütiger, dies erfüllte sie mit Schrecken. Wohin würde er sie bringen? Und zu welchem Zweck?
„Sie glauben doch wohl nicht, dass Sie mit einem dritten Mord davonkommen, Mylord?“, fragte sie kühn.
„Oh, ich habe nicht die Absicht, Sie zu töten, Lady Calliope“, sagte er und bückte sich, um die fallen gelassene Klinge vom Boden aufzuheben.
Sein Tonfall war ruhig. Nichts darin wies darauf hin, dass er sie gerade als Geisel genommen, mit einem Messer bedroht und ihre Handgelenke gefesselt hatte.
Er war wirklich verrückt, so wie sie es befürchtet hatte.
Ihr Mund war plötzlich staubtrocken. „Was haben Sie mit mir vor?“
Er legte den Kopf schief und musterte sie mit einem unergründlichen dunklen Blick, während er mit seinem blutverschmierten Daumen über die schimmernde Klinge fuhr. „Ich werde Sie heiraten.“
Kapitel 2
Sie hätten den Ausdruck auf ihrem Gesicht sehen sollen, lieber Leser, als ich meine Hände um ihre elegante verräterische Kehle legte. Als sie mich um Gnade anflehte, hätte ich vielleicht auf sie hören sollen. Aber ich hatte kein Mitleid mit ihr. Sie hatte mich verraten. Sie war eine Kerze, und es war meine Aufgabe, sie auszulöschen. Ich legte meine Finger um ihren Hals und drückte zu. Ich kann nicht leugnen, dass ich das Geräusch genoss, als sie nach Atem rang, die Macht, die ich über sie hatte …
– aus Bekenntnisse eines sündigen Earls
Eines der besten Dinge, Lady Calliope Manning zu entführen und sie nach Helston Hall zu bringen, war, dass das Anwesen seit Langem nicht mehr bewohnt wurde und es keine neugierigen oder wohlmeinenden Diener gab, die Fragen stellten. Oder ihn aufhielten.
Das bedeutete aber auch, dass es keine Dienerschaft gab.
Was wiederum hieß, dass er Diener, Koch, Zofe und so weiter für die Frau spielen musste, die ihn gerade mit mordlüsternem Blick ansah. Während er mit nichts als einer alten Öllampe bewaffnet, den Weg beleuchtete, traf ihn diese Erkenntnis ziemlich hart. Außer ihnen beiden war niemand zugegen, da sich sein Kutscher um die Pferde kümmerte und sich dann für die Nacht in den Ställen einquartieren würde.
Die bittere Wahrheit war, dass es in den Ställen wahrscheinlich trockener war als im Haupthaus. Der frühere Earl of Sinclair war Pferden und dem Glücksspiel zugetan gewesen, und nichts anderem.
„Wumf fifflemal wamam“, fauchte Lady Calliope Sin um den Knebel herum an, den er ihr auf halber Strecke der Reise hatte anlegen müssen, weil sie sich geweigert hatte, den Mund zu halten.
Es war schon spät. Die kalte große steinerne Halle von Helston Hall litt unter einem undichten Dach. Als der Regen einsetzte, hatte Sin im Dorf Halt machen lassen, um Vorräte zu besorgen. Nun, da sie in der Halle standen, prasselte die Sintflut noch immer hernieder und das Echo des auf den Steinboden tropfenden Regens umgab ihn, vermischt mit den gedämpften Drohungen seiner Gefangenen.
„Willkommen in einer der Hütten meiner Vorfahren“, verkündete er grimmig und bot ihr eine spöttische Verbeugung an. „Verzeihen Sie das Fehlen von Dienern und einem ordentlichen Dach. Die Familienkasse ist im Moment erschöpft, wie Sie sicher schon wissen.“
Ihre Augen verengten sich. „Fa schur Hrl.“
Er war sich ziemlich sicher, dass seine lästige Bagage ihm gerade gesagt hatte, er solle zur Hölle fahren. Darum brauchte sie sich nicht zu sorgen, er befand sich bereits mittendrin. Und es war an der Zeit, dass sie sich ihm anschloss, denn sie war diejenige gewesen, die seinem Ruf den endgültigen Todesstoß versetzt hatte.
Um sie noch mehr zu verärgern, täuschte er Verwirrung vor. „Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht.“
Ihre Hände waren immer noch gefesselt. Ihr Hut war fort, ihr Kleid zerknittert und sie war wütend. Ihre Unvollkommenheit, gepaart mit ihrer gälischen Schönheit und ihren blitzenden Augen, machte sie noch bezaubernder als vorher, als sie noch perfekt herausgeputzt gewesen war.
Sein Schwanz regte sich.
Verdammt nochmal!
„Nmsab“, sagte Lady Calliope, hob ihre gefesselten Hände und versuchte, an dem Tuch zu zerren, das er ihr während einer ihrer wütenden Tiraden in den Mund gestopft hatte.
Sie hatte darüber geschimpft, dass er für die Irrenanstalt geeignet sei und ihren Bruder und seine eigene Frau ermordet habe.
Sin hatte schließlich genug davon gehabt. Der verbleibende Teil ihrer Reise war so viel angenehmer gewesen, nachdem sie aufgehört hatte zu keifen.
Die Ehe mit dieser Frau würde unglücklich werden. Sin war bereits einmal verheiratet gewesen und diese grausame Ehe hatte nicht einmal genug Geld eingebracht, um seine geerbten Schulden zu begleichen. Glücklicherweise stammte Lady Calliope Manning aus einer Familie mit unerschöpflichem Reichtum. Und er beabsichtigte, so viel davon abzubekommen, dass er sich vor dem Ruin retten konnte. Alles auf ihre Kosten.
Er würde sich dabei nicht im Geringsten schuldig fühlen. Mit ihren bösartigen Lügen hatte sie sich das selbst eingebrockt. Die Teufelin war es ihm schuldig.
„Kommen Sie“, sagte er zu ihr, nahm ihren Ellenbogen und führte sie zu der klapprigen Treppe. „Sie müssen müde sein nach unserer Reise. Ich werde Sie in unsere Kammer bringen und Sie können sich vor dem Abendessen frisch machen.“
Ihre Augen weiteten sich. Sie riss ihren Ellenbogen aus seinem Griff und stieß ein ersticktes Geräusch aus.
Verflucht! Er nahm an, dass er ihr den Knebel abnehmen musste, wenn er mit ihr kommunizieren wollte. Leider.
Er zog seine Klinge heraus und schnitt damit das Seidentuch durch, das er als provisorischen Knebel benutzt hatte. „Bitteschön, Mylady, was wollten Sie sagen?“
„Unsere Kammer?“, fragte sie. „Sie sind wirklich ein Wahnsinniger, wenn Sie glauben, ich würde mich dazu herablassen, eine Kammer mit Ihnen zu teilen.“
„Meinen Sie tatsächlich, Sie sind derzeit in der Position, Forderungen an mich zu stellen?“ Er lachte. Der Ton war nicht leichtfertig, das war er in diesen Tagen nie. Vielleicht schon seit Jahren nicht mehr.
Sie presste die Lippen zu einer scharfen Linie zusammen. „Ich bin eine Lady. Sie sind ein Lord. Das sollte doch wohl etwas bedeuten? Haben Sie bei Ihren gnadenlosen Plänen vergessen, wer wir sind?“
„Amüsant, dass Sie mich daran erinnern. Haben Sie daran gedacht, bevor Sie Ihre gefälschten Berichte über meine angeblichen Memoiren verfasst haben, nur um mich zu ruinieren?“, konterte er. „Sagen Sie mir, Lady Calliope, woher haben Sie einige der Informationen, die in diesen Memoiren enthalten sind? Vor allem die Orgien. Könnte es sein, dass Sie sie selbst erlebt haben? Schockierend, dass eine junge, unschuldige unverheiratete Dame solche Schweinereien zu Papier bringt. Ich kann mir kaum vorstellen, welchen Skandal es in London gäbe, wenn man Sie als Autorin entlarven würde.“
In der Tat, eine solche Enthüllung würde ihren Ruin bedeuten. Die Türen der Gesellschaft würden ihr für immer verschlossen bleiben, ungeachtet des immensen Reichtums ihres Bruders, des Dukes. Über ihre Exzentrik würde man hinwegsehen, aber eine gefallene Frau, die wild entschlossen war, einen Earl mit falschen Memoiren …
Sie wurde blass. „Ich sagte bereits, ich habe diese Memoiren nicht geschrieben.“
„Und ich sagte Ihnen, ich habe sie auf Ihrem Schreibtisch in Westmorland House gesehen, nachdem ich Ihrem Bruder einen Besuch abgestattet habe. Für einen Mann, der eine Sozialistische Liga leitet, ist er ziemlich ungeschickt darin, sicherzustellen, dass seine Besucher auch tatsächlich das Haus verlassen, wenn sie sich verabschiedet haben.“ Er fasste sie wieder am Ellenbogen, bereit, sie notfalls in die Kammer zu zwingen. „Zuvor jedoch habe ich es geschafft, die Wahrheit aus dem jüngeren White herauszuholen. Sie haben es mir viel zu leicht gemacht, Sie auszuspionieren, Lady Calliope. Aber ich bin froh darüber, denn Sie sind genau das, was ich brauche.“
„Ich werde Sie nicht heiraten!“, beharrte sie.
Die Lampe in der einen Hand führte er sie die Treppe hinauf, wobei er darauf achtete, das lose Brett auf der fünften Stufe zu vermeiden. Er war schon einmal hier gewesen, um sich zu vergewissern, dass Helston Hall noch bewohnbar war. Die Antwort war Ja gewesen.
Aber nur knapp.
„Ihre Weigerung ist sinnlos“, sagte er ihr. „Es ist bereits beschlossen. Passen Sie auf die Stufe auf. Sie ist ziemlich morsch, glaube ich. Seien Sie vorsichtig.“
„Wohin zum Teufel haben sie mich gebracht?“, fragte sie. „Diese undichte Monstrosität ist eher eine Ruine als ein Heim.“
„Nicht mehr lange“, sagte er ruhig und zerrte sie die Treppe hinauf. „Mit genug Geld kann man es wieder instand setzen und ihm zu seinem alten Glanz verhelfen.“
„Ist es das, worum es hier geht?“ Sie zerrte wieder an ihrem Ellenbogen und stemmte sich ihm entgegen, als er versuchte, sie den Flur hinunter in Richtung der herrschaftlichen Gemächer zu ziehen. „Sie haben mich entführt, damit Sie meinen Bruder überzeugen können, Lösegeld zu zahlen und Ihre Schulden zu begleichen? Sind Sie wirklich so verzweifelt?“
„Ja, ich bin so verzweifelt!“, fauchte er und zog sie mit aller Kraft vorwärts. „Aber ich bin nicht dumm. Ich will kein Lösegeld. Ich will lebenslange Sicherheit und das kann mir nur die Ehe bieten.“
„Ich wiederhole, ich werde Sie nicht heiraten!“ Erneut versuchte sie, sich aus seinem Griff zu befreien, aber es war vergeblich.
Er war viel stärker und zerrte sie einfach in die Kammer. „Doch, das werden Sie.“
Zum Unglück für seine Gefangene war diese Kammer die einzig bewohnbare von allen. Das bedeutete, dass sie sowohl das Zimmer als auch das Bett teilen würden.
„Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, Lord Sinclair“, fauchte sie mit der ihr typischen Arroganz, „aber eine Entführung ist gegen das Gesetz Ihrer Majestät. Sie können mich auch nicht zwingen, Sie zu heiraten.“
„Wer hat etwas von Zwang gesagt, Prinzessin?“ Er zündete eine weitere Lampe an, während er seine zukünftige Frau festhielt, damit sie nicht versuchte, mit einem beliebigen Haushaltsgegenstand auf ihn einzuschlagen.
Das Gemach roch schimmelig, aber die Spuren des früheren Glanzes, der Stuck an der Decke und die schiere Größe des Raumes zeugten von seiner ehemaligen Pracht.
Eine Schande, wirklich. Einst war dieses baufällige alte Biest ein wertvolles Juwel im Krönchen der Sinclair–Grafschaft gewesen.
Sie lachte schrill. „Wenn Sie glauben, dass ich Sie freiwillig heirate, Mylord, dann sind Sie noch verrückter, als ich dachte.“
Oh, er war definitiv noch verrückter, als sie dachte.
„Falls Sie den Nachttopf benutzen wollen … Sie finden ihn hinter dem Wandschirm dort drüben“, erklärte er ihr kühl und wies auf die schattige Ecke des Raumes. „Ich werde auf Sie warten und dann werden wir essen, bevor wir uns für den Abend zurückziehen. Die Reise hat mich müde gemacht.“
Ihr Blick verengte sich. „Und wo werden Sie warten, Lord Sinclair? Sicherlich nicht in diesem Raum.“
„Wieder falsch, Prinzessin.“ Er grinste sie an. „Ich werde genau hier sein. Ich vertraue darauf, dass Sie sich in Schwierigkeiten bringen, wenn ich Sie auch nur einen Moment allein lasse. Deshalb werde ich warten.“
***
Callie schaute den Earl of Sinclair an und versuchte, die Angst zu beherrschen, die ihre Kehle zuzuschnüren drohte. Es stimmte, sie hatte Angst vor ihm. Wie seltsam es war, endlich dem Mann gegenüberzustehen, den sie in ihrer Vorstellung in einen wahren Teufel verwandelt hatte. Vor dem Tod ihres Bruders Alfred war sie dem Earl kaum je begegnet. Ihre gesellschaftlichen Kreise bewegten sich weit entfernt von Sinclairs dubiosen Verbindungen. Nach Alfreds Tod war sie nach Paris zu ihrer Tante Fanchette geflohen, und der Mann, der für Alfreds plötzliches Ableben verantwortlich zeichnete, war meilenweit entfernt gewesen.
Sie hatte vergessen, wie gut er aussah. Sie wünschte, er wäre ein großer, hässlicher Gargoyle von einem Mann, sodass sie irgendwie das Böse erkennen könnte, dass sich in ihm widerspiegelte.
Stattdessen war er nicht hässlich. Er war bisher auch nicht besonders gewalttätig oder bösartig gewesen. Aber sicherlich war er verrückt. Er beobachtete sie mit einer unnachgiebigen Ruhe, als hätte er ihr nicht gerade befohlen, vor seinen Augen einen Nachttopf zu benutzen, oder angedeutet, dass sie bereitwillig seine Braut werden würde.
„Ich brauche Privatsphäre“, sagte sie und freute sich, dass ihre Stimme diesmal fest blieb.
Sie wusste, dass sie in ihrem Kampf mit diesem verachtenswerten Feind so standhaft wie möglich bleiben musste.
„Und die sollen Sie haben“, stimmte er zu. „Hinter dem Wandschirm.“
Sie musste sich dringend erleichtern. Sie hatten eine stundenlange Reise von London hinter sich gebracht – sie wusste nicht wie lange genau. Aber da war keine Rast gewesen, in der sie ihre Notdurft hätte verrichten können, und deshalb war sie kurz davor zu platzen. Aber sie hatte ihren Stolz.
Callie schüttelte den Kopf. „Ich kann das unmöglich tun.“
„Sie werden sich an alle Arten von Intimitäten mit mir gewöhnen müssen, wenn wir verheiratet sind, Prinzessin.“ Unnachgiebig runzelte er die Stirn. „Dies wird die Geringste davon sein.“
Seine Worte ließen sie bis ins Mark erschaudern. „Sie haben Ihre ehemalige Countess und meinen Bruder ermordet. Ich werde Sie niemals heiraten, Mylord. Und ich werde den Nachttopf auch nicht in Ihrer Hörweite benutzen. Raus hier!“
Er kicherte. Selbst dieser Laut war unheimlich. „Sie scheinen nicht recht zu verstehen, wer von uns beiden die Macht hat. Erlauben Sie mir, Sie aufzuklären: Ihre Hände sind gefesselt. Sie sind meiner Gnade ausgeliefert. Sie haben keine Wahl.“
Der beharrliche Schmerz in ihrer Blase erinnerte sie daran, dass er der Wahrheit damit ziemlich nahe kam. Aber noch wollte sie nicht aufgeben.
Ihre Gedanken wirbelten.
„Ich kann den Nachttopf nicht benutzen, wenn meine Hände gefesselt sind“, versuchte sie es als nächstes.
Wenn er sie schon zwang, sich selbst zu erniedrigen, dann könnte sie vielleicht ihre Hände befreien, um zu versuchen, ihm zu entkommen. Auf der Suche nach etwas, mit dem sie ihn verprügeln konnte, schweifte ihr Blick durch die Kammer und fiel auf eine seltsam geformte Figur, die auf einem Tisch in der Nähe stand.
„Natürlich können Sie das“, entgegnete er und runzelte die Stirn.
„Kann ich nicht.“ Sie hielt ihre gefesselten Hände hoch und versuchte theatralisch, ihre voluminösen Röcke zu fassen. „Wenn Sie mir nicht dabei helfen möchten, dann brauche ich meine Hände. Sie können weiterhin als mein Kerkermeister über mich wachen, wenn es Ihnen gefällt, aber gestatten Sie mir wenigstens, mich um mich selbst zu kümmern.“
Unter dem Schatten seines sprießenden Bartes verspannte sich sein breiter Kiefer. „Nur so lange, bis Sie fertig sind. Dann werde ich Ihre Hände wieder fesseln. Und wenn Sie etwas Törichtes versuchen, wird das nicht gut für Sie ausgehen, Prinzessin. Ich habe keine Skrupel, sie zu verletzen. Haben Sie mich verstanden?“
Ihr Herz pochte wild. „Vollkommen.“ Sie streckte ihm ihre gefesselten Handgelenke entgegen.
Er zog die gleiche böse aussehende Klinge aus seiner Jacke und durchtrennte die Fessel mit Leichtigkeit.
„Keine Dummheiten, Lady Calliope.“
Nachdem er sie befreit hatte, strömte das Blut zurück in ihre Finger. Callie schrie auf, als ein kribbelnder Schmerz sie durchfuhr. Sie hatte nicht bemerkt, wie eng ihre Fesseln gewesen waren, bis er sie löste.
Sie rieb sich die Handgelenke und bewegte die Finger, wobei sie zusammenzuckte.
Dann waren seine Hände auf ihren. Eine unerwünschte Hitze strömte bei der Berührung von ihren Händen ihre Arme hinauf. Er rieb ihre Finger und fluchte bitterlich. „War es zu eng?“
„Was kümmert Sie das?“, fragte sie und befreite sich ruckartig aus seiner Umklammerung.
Was für ein seltsamer Mann er doch war. Er tat so, als würde er sich sorgen. Sie traute ihm nicht. Wenn er sich sorgte, dann um seine eigenen Pläne und nicht um ihr Wohlergehen. So viel wusste sie zweifelsfrei.
Sie wandte sich von ihm ab und ging hinter den Wandschirm, wo weitere Schatten und ein Nachttopf auf sie warteten.
Sie zog eine Grimasse, während sie Anstalten machte, sich zu erleichtern. Deutlich war sie sich der Anwesenheit Sinclairs auf der anderen Seite des Wandschirmes bewusst. Ebenso war ihr klar, dass sie irgendwie die Figur in die Hände bekommen und ihm damit einen Schlag auf den Kopf versetzen musste.
Auch wenn sie Skrupel hatte, jemandem etwas anzutun, so schwand ihre Fähigkeit, ihm zu entkommen, von Minute zu Minute. Er hatte sie weit über die Grenzen Londons hinaus gebracht und sie hatte keine Chance, den Weg zurück zu finden, es sei denn, sie tat etwas Drastisches.
Sie ließ sich Zeit, erhob sich und schob ihre Unterwäsche und ihr Kleid wieder zurecht.
„Sind Sie fertig?“, ertönte seine tiefe, ungeduldige Stimme.
„Fast“, antwortete sie und schmiedete schnell ihren Plan.
Wenn sie zögerte und hinter dem Paravent verweilte, war es durchaus wahrscheinlich, dass er sie holen würde. Sie könnte ihn ablenken, indem sie ihm den Paravent entgegenschleuderte. Das gäbe ihr genug Zeit, die Figur in die Finger zu bekommen.
„Warum dauert das so verdammt lange?“, fragte er und seine Schritte kamen näher.
Näher.
Sie hielt den Atem an. Im letzten Moment gab sie dem Wandschirm einen Stoß und warf ihn auf ihn. Seine dumpfen Flüche waren nicht weit hinter ihr, als sie losrannte und nach der Figur griff. Ihre Finger schlossen sich darum, sie drehte sich um, hob sie hoch und schlug sie ihm auf den Kopf.
Die Figur zerbrach in Hunderte von Keramiksplittern, die auf den Boden regneten.
Er knurrte, aber er fiel nicht um. Er wurde auch nicht ohnmächtig, stattdessen stürzte er sich auf sie.
Und in diesem Moment wusste sie, dass sie in entsetzlichen Schwierigkeiten steckte.