Kapitel eins
London, Juli 1891
An einem Dienstagmorgen war die Hinterbühne des Concord Theatre nicht gerade der Ort, an dem man den Sohn eines Marquess erwarten würde, der kurz davorstand, sein Vermögen und seinen Ruf zu verlieren. Dennoch war es der einzige Ort, an dem Mr Dean Rathborne-Paxton sein wollte.
„Vorsicht!“, rief einer der Bühnenarbeiter – eine junge Person, die wie ein Junge gekleidet war, sich jedoch Lily nannte. Sie duckte sich, als Dean, der eine Ladung Bretter über der Schulter trug, herumschwenkte. Fast hätte er Lily die Mütze vom Kopf geschlagen.
„Es tut mir leid“, entschuldigte sich Dean, und sein Gesicht wurde vor Verlegenheit heiß. Er warf einen kurzen Blick auf die Bühne, wo die Proben für Niall Cristoforis neues Stück The Marshall stattfanden. „Ich wollte niemanden verletzen“, sagte er zu Lily, während er den himmlischen Anblick von Mademoiselle Nanette D’Argent auf der Bühne verfolgte.
„Mach dir nichts draus“, sagte Lily lachend. „Ich weiche deiner Tollpatschigkeit schon seit Monaten aus.“ Sie nahm einige der Bretter von Deans Schulter und schubste ihn in Richtung des hinteren Bühnenrandes, wo gerade die Kulissen für The Marshall gebaut wurden. „Ich habe gelernt, flink auf den Beinen zu sein, wenn du in Mademoiselle D’Argents Nähe bist.“
Unterbewusst nahm Dean wahr, was Lily gesagt hatte, aber ein zu großer Teil von ihm war damit beschäftigt, Nanettes Schönheit zu bewundern.
Nanette D’Argent war Schönheit, Anmut und Vollkommenheit. Sie war vor weniger als fünf Jahren nach London gekommen, eine zarte Unschuld, die zum ersten Mal im Rampenlicht stand. Und sie hatte London im Sturm erobert. Nanette hatte eine Ballettausbildung in Paris absolviert und konnte ebenso grandios tanzen wie jede andere Ballerina auf der Bühne des Royal Ballet Theatre. Ihr wahres Talent lag jedoch in den lieblichen Tönen ihres Gesangs und ihren unvergleichlichen schauspielerischen Fähigkeiten. Sie war die Schauspielerin, die jeder Dramatiker und Regisseur der Theater im West End für seine Aufführung in der Hauptrolle wollte und die jeder Mann, der ins Theater ging, einfach begehrte.
Als Ideal weiblicher Schönheit warb ihr Gesicht nun für Seifen und Gesichtscremes – außerdem zierte es die Verpackungen von Schokoriegeln und anderen Süßigkeiten, da sie der Inbegriff dessen schien, was die Männer gern auf ihrer Speisekarte hätten. Dean hatte sogar ein kleines Vermögen für Kekspackungen mit den Abbildungen von Berühmtheiten ausgegeben, um die Sammelkarte mit ihrem Gesicht als Andenken zu besitzen, auch wenn er die Kekse selbst verabscheute. Sein Vater – und sogar sein ältester Bruder Francis – hatten diese Karten als geschmacklosen, modernen Firlefanz abgetan, der die Zerstörung aller guten Sitten, Moral und Manieren ankündigte, aber Dean kümmerte das kaum. Nanettes Abbildung stand an die Lampe seines Nachttischs gelehnt, wenn er schlief und von dem Tag träumte, an dem er die echte Nanette D’Argent in seinem Bett haben würde.
Ein lautes Lachen riss ihn aus seinen, zugegebenermaßen törichten, Gedanken. Er drehte sich schnell um, um zu sehen, wer da über ihn lachte. Dabei stieß er mit dem Ende der Bretter auf seiner Schulter gegen die Bündel aufgerollter Leinwand, die Martin Piper – einer der Komödiendarsteller des Concord Theatre, der auch bei den Bühnenbildern und Requisiten half – trug. Die Leinwandrollen fielen auf den Fußboden, aber das brachte Martin nur noch mehr zum Lachen.
„Ich habe sie, ich habe sie!“ Martin kicherte weiter, als er sich bückte, um die Rollen aufzuheben.
Auf der Bühne sprach Nanette einen ihrer Sätze mit lauterer Stimme und Dean drehte sich zu ihr um. Er schwang die Bretter auf seiner Schulter gerade in dem Moment herum, als Martin sich aufrichtete. Eines der Bretter erwischte Martin am Hinterkopf und der Mann ließ die Leinwandrollen wieder fallen. Eine der Rollen löste sich aus der Schnur, die alles zusammenhielt, und rollte über die Bühne auf die probenden Schauspieler zu.
Dean handelte sofort, ließ seine Bretter fallen – eines davon fiel auf Martins Zeh, was ihn aufschreien und Lily in schallendes Gelächter ausbrechen ließ – und eilte der ausgebüxten Rolle hinterher, bevor diese Nanette auch nur im Entferntesten gefährlich werden konnte. Natürlich stieß er mit dem Fuß an die Rolle, als er sie gerade aufheben wollte, und schleuderte sie so noch näher an Nanette und ihren Bühnenpartner Everett Jewel heran.
„Halt, halt!“, rief der offensichtlich irritierte Regisseur Mr Abrams von seinem Platz in der ersten Sitzreihe des Saals aus.
Alles kam zum Stillstand. Sogar die Bühnenarbeiter hielten inne, um zu sehen, was Mr Abrams dieses Mal verärgert hatte. Dean griff nach der sich abrollenden Leinwand und riss sie in seine Arme, dann stand er still. Er sah sich nicht nur einem wütenden Mr Abrams gegenüber, sondern auch einem amüsierten Mr Jewel. Zu seinem Entsetzen starrte Nanette ihn nun auch noch an. Doch anstatt Dean liebevoll anzuhimmeln, als wäre er der Held, auf den sie immer gewartet hatte, grinste Nanette ihn an, als wäre er ein Pudel, den man dazu abgerichtet hatte, ein Tutu zu tragen und in einem Zirkus zu tanzen.
„Gibt es eine Problem, Mr Rathborne-Paxton?“, fragte Nanette in ihrem köstlichen französischen Akzent und wölbte dabei eine ihrer dunklen Augenbrauen auf reizende Art und Weise.
„Nein! Nein, überhaupt nicht, Mademoiselle.“ Dean lächelte sie breit an. „Ich habe nur bei den Kulissen geholfen.“
„Isch verstehe.“ Nanettes Lächeln wurde breiter und ihre Augen funkelten. „Dann könnten Sie sisch vielleischt wieder Ihrer Arbeit widmen und uns erlauben, zu unserer zurückzukehren, non?“
Dean schluckte. Sie lächelte ihn an. Sie fand ihn amüsant. Er war sich sicher, dass sie ihn mochte, auch wenn sie ihn kaum beachtete, wenn sie im selben Raum arbeiteten. Die Schauspielerei war Nanettes Beruf und das Mittel, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten – und das tat sie spektakulär gut, wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte. Für Dean hingegen war die Mithilfe am Theater einfach eine Möglichkeit, seine Tage mit etwas anderem zu verbringen als mit dem Müßiggang seines Standes.
„Monsieur Rathborne-Paxton?“, fragte Nanette. Der Gebrauch des französischen Wortes riss Dean aus seiner Träumerei.
„Oh, richtig, Entschuldigung“, sagte Dean, verbeugte sich vor ihr und trat zurück, wobei er die gesamte Leinwand, die sich um ihn herum entrollt hatte, mit sich zog. „Es tut mir furchtbar leid. Ich wollte nicht stören. Fahren Sie fort.“
Nanette lachte ihn an. Der Klang war wie goldener Sonnenschein. Dean seufzte wie ein Schuljunge. Gleich darauf war ihm, als wäre die Sonne hinter einer Wolke verschwunden, weil Nanette sich wieder Mr Jewel zuwandte und die Probe fortsetzte.
Und mit einem Mal fühlte es sich wieder so an, als bedeutete er ihr nichts mehr. Er ließ die Schultern sinken und ging zum hinteren Teil der Bühne, wo Lily und Martin die Köpfe zusammensteckten und ihn eindeutig auslachten.
„Keine Sorge, mein Freund.“ Martin klopfte Dean auf die Schulter, als er ihm die zusammengeknüllte Leinwand und die Rolle zurückreichte. „Wir alle finden irgendwann die wahre Liebe.“
„Wenn du meinst“, sagte Lily mit einer Stimme voller Spott, als ob Liebe das Letzte wäre, was sie wollte.
„Und ob ich das meine“, erwiderte Martin und strahlte über beide Backen. „Edward und ich sind sehr glücklich.“
Dean störte es nicht, daran erinnert zu werden, mit welchen Menschen er sich umgab, wenn er als Freiwilliger im Concord Theatre aushalf. Martin war mit einem Mitglied des Parlaments, einem Edward Archibald, glücklich. Everett Jewel war mit Mr Patrick Wrexham liiert, einem Polizisten, der nun als sein Leibwächter fungierte. Der Inspizient Ted York lebte mit zwei der Statistinnen, Nancy und Eloise, unter einem Dach und erzählte herum, dass sie alle drei miteinander verheiratet seien. Und sogar Niall Cristofori war bekanntlich in einer Liebesbeziehung mit dem kürzlich geschiedenen Duke Blake Williamson, der Vater von drei Kindern war. Und dann war da noch Lily, die so lebte, als wäre sie ein Junge, ohne sich darum zu scheren, was die anderen dachten. Die Theaterleute waren ein verruchter und skandalöser Haufen.
Dean liebte es. Er liebte jede unanständige, unmoralische, potenziell illegale Beziehung und Person um ihn herum. Und nicht nur das. Die Kreise, in denen er sich bewegte – wenn er nicht gerade verpflichtet war, Zeit unter Angehörigen seines eigenen Standes zu verbringen –, waren es, die ihn dazu inspiriert hatten, selbst etwas Verruchtes und Unkonventionelles zu tun. Er hatte immer damit gerechnet, dass er irgendwann gezwungen sein würde, sich eine respektable Frau zu suchen und eine gute Partie zu machen – obwohl ihm die Vorstellung, jemanden wie Nanette als Geliebte zu umwerben, behagt hatte –, aber jetzt, wo die Welt seiner Familie auf den Kopf gestellt worden war, schlichen sich andere Ideen in seinen Geist, inspiriert durch seine Freunde beim Theater.
Als er zu den fallen gelassenen Brettern zurückkehrte, entdeckte er wie aufs Stichwort seinen Bruder Francis, der mit sorgenvoller Miene durch das Durcheinander und die Geschäftigkeit der Hinterbühne auf ihn zukam. Jetzt war es an Dean, zu lachen. In seinem exquisiten Maßanzug, perfekt gepflegt und mit geradem Rücken, wirkte Francis in der wilden Welt des Theaters so fehl am Platz wie ein Vogel Strauß in Eton.
„Dean, Gott sei Dank“, sagte Francis und wich einem Haufen offener Farbdosen aus, während er seine Schritte beschleunigte, um zu Dean zu gelangen. „Ich habe überall nach dir gesucht. Ich hätte auf Joseph hören sollen. Er sagte, dass du hier sein würdest.“
„Wer ist Joseph?“, fragte Martin und blieb stehen, um dem Gespräch zuzuhören, anstatt die Leinwand auf die andere Seite der Bühne zu tragen, wie er es anscheinend vorgehabt hatte.
„Mein jüngster Bruder“, erklärte Dean mit einem Lächeln, das Martin sagte, er solle sich keine Hoffnungen machen. Dann wandte er sich an Francis. „Was ist los, Frater?“, fragte er und drückte seine Besorgnis durch den Gebrauch von Latein aus. Latein benutzten er und seine Brüder nur, wenn sie sich besonders verbunden fühlten. „Du würdest keinen Fuß in einen solchen Ort setzen, es sei denn, London stünde in Flammen.“
„Ruhe hinter der Bühne!“, rief Mr Abrams aus dem Saal.
Dean verbeugte sich leicht und warf dem Regisseur einen entschuldigenden Blick zu. Gleich darauf sah er zu Nanette hinüber, aber sie war damit beschäftigt, ihr Probeskript durchzusehen.
Auch Francis wirkte erstaunlich eingeschüchtert. Er nickte Mr Abrams und Mr Jewel zu – der ihm anzüglich zuzwinkerte, obwohl sein geliebter Mr Wrexham nur zwanzig Fuß entfernt eine der Kulissen für das Bühnenbild malte. Mr Wrexham schüttelte nur den Kopf und grinste Mr Jewel an, der ihm dann eine Kusshand zuwarf. Dieser ganze Austausch verursachte Francis sichtlich Unbehagen.
„Ich verstehe nicht, wie du deine Zeit an einem Ort wie diesem verbringen kannst“, murmelte Francis.
„Weil es Spaß macht“, antwortete Dean, ließ alles fallen und stellte sich mit verschränkten Armen vor seinen Bruder. „Bist du hierhergekommen, um meine Freunde zu beleidigen?“
„Bin ich nicht.“ Wenigstens besaß Francis den Anstand, sich respektvoll vor Martin und Lily zu verbeugen – die sie nun beobachteten, als wären er und Francis das Schauspiel. „Ich habe nichts dagegen einzuwenden, dass jemand sein Leben führt, so wie er es führen möchte. Heute weniger denn je.“ Francis warf Dean einen vielsagenden Blick zu.
Zusammen mit ihren Brüdern Sam und Joseph hatten er und Francis von Geburt an Frömmigkeit eingetrichtert bekommen, aber diese Lektionen hatten bei keinem von ihnen gefruchtet. Außer vielleicht bei Joseph. Je mehr ihr Vater sie mit Tugendhaftigkeit bedrängte, desto stärker hatten die Brüder rebelliert, als sie sich selbst überlassen waren. Und sie hatten sich noch heftiger aufgelehnt, als kürzlich ans Licht gekommen war, dass ihr Vater ein schrecklicher Heuchler war, der fast das gesamte Geld der Familie verspielt hatte und in ruchlose Aktivitäten verwickelt war, die, sollte die Wahrheit an die Öffentlichkeit gelangen, die ganze Familie sofort gesellschaftlich ins Aus drängen würden.
Francis räusperte sich. „Ich muss mit dir über die Vorkehrungen für Mutter sprechen.“
Deans Stimmung schlug um. „Oh?“ Er wurde weicher gegenüber seinem Bruder und machte einen Schritt auf ihn zu. „Was soll ich tun? Ich tue alles für Mutter.“
„Ist das Lady Vegas, von der wir hier sprechen?“, fragte Lily und trat einen Schritt näher.
Francis sah aus, als wäre er erstaunt über Lilys Dreistigkeit, sich in ein Gespräch unter aristokratischen Brüdern einzumischen, aber Dean antwortete: „Ja. Muriel Rathborne-Paxton, Marchioness of Vegas und eine der liebenswertesten und geschundensten Frauen, die jemals diese Erde mit ihrer Anwesenheit beehrt haben.“
Lily gab einen Laut von sich, als wäre sie beeindruckt. „Fahren Sie fort“, sagte sie.
Francis sah noch verdrießlicher aus als sonst, aber er fügte sich ihrem Wunsch. „Ich glaube, ich habe hier in London eine geeignete Wohnung für sie gefunden, damit sie wieder in unserer Nähe sein kann, aber der Vermieter verlangt eine Sicherheit, bevor er sie ihr vermietet.“
„Was? Ein Vermieter, der Sicherheiten von einer Marchioness verlangt, die eine Wohnung von ihm mieten möchte?“, fragte Martin ungläubig und trat ebenfalls vor.
Francis’ Blick verfinsterte sich und er presste einen Moment lang die Lippen zusammen, bevor er sagte: „Unsere Familie hat im Moment ein paar Probleme mit der Liquidität.“
„Montrose“, flüsterte Lily Martin zu.
„Großer Gott.“ Martin hielt sich eine Hand an die Kehle.
Dean zuckte zusammen. Es schien, dass ganz London über den bösartigen und gnadenlosen Mr Montrose informiert war, dessen Bestreben zu sein schien, alle Familien aus dem Adel, die ihm seiner Meinung nach irgendwie unrecht getan hatten, zu ruinieren und an den Bettelstab zu bringen. Montrose hatte Earls in den Bankrott getrieben, Viscounts öffentlich entehrt und einen Baron dazu gebracht, sich das Leben zu nehmen, alles innerhalb des letzten Jahres.
Er war gerade dabei, die Familie Rathborne-Paxton – dank der Sünden ihres Vaters Lord Vegas – zu ruinieren. Nur einen Monat zuvor hatte er beinahe das Leben und den Ruf von Alice, der Frau ihres Bruders Sam, zerstört.
Sam und Alice waren vor zwei Wochen auf Francis’ Anwesen in Hampshire gezogen, aber bevor sie abgereist waren, hatten sie Informationen entdeckt, die für den Sieg über Montrose entscheidend sein konnten. Der Mann befand sich selbst in einer prekären finanziellen Lage. Seine Zerstörungsmaschinerie musste mit Geld geölt werden, und Montrose’ Geld ging schnell zur Neige. Das war eine wertvolle Information, aber weder Dean noch Francis noch sonst jemand in der Familie hatte bisher herausgefunden, was sie damit anfangen sollten.
„Ja, nun gut.“ Francis lenkte Deans Aufmerksamkeit wieder ins Hier und Jetzt zurück. „Hier geht es nicht um Montrose. Wir müssen für Mutter eine Wohnung in London beschaffen. Dafür brauchen wir Geld. Und du weißt, was das bedeutet.“
Dean lächelte. „Ja, das weiß ich.“ Er blickte sehnsüchtig über die Bühne zu Nanette. Noch hatte er nicht den Mut gefunden, seine Eroberung zu beginnen, aber er hatte seine Trophäe schon im Auge.
Er dachte nicht mehr daran, Nanette zu seiner Geliebten zu machen. Alles hatte sich geändert, und jetzt war er fest entschlossen, diese großartige Frau zu seiner Ehefrau zu machen.
„Ich weiß nicht, was das bedeutet“, sagte Lily und blickte zwischen Dean und Francis hin und her. „Was bedeutet es?“
Francis sah Lily stirnrunzelnd an, dann wandte er sich an Dean. „Vielleicht war es falsch, diese Angelegenheit jetzt mit dir zu besprechen. Es kann bis zum Abendessen heute warten.“
„Aber Sie sind den ganzen Weg bis zum Theater gekommen“, argumentierte Martin und sah aus, als versuchte er, dabei ein Grinsen zu unterdrücken.
Francis’ finsterer Blick vertiefte sich. „Ich war gerade in der Gegend. Mir war nicht klar, dass mein Bruder und ich so ein privates Gespräch vor Publikum führen würden.“
„Sie sind in einem Theater, Mylord“, sagte Lily frech mit vorgetäuschtem Respekt. „Sie werden hier immer ein Publikum haben.“
Dean war schockiert, dass sein Bruder einem heranwachsenden Mädchen in Jungenkleidern solch ein freches Verhalten durchgehen ließ, aber Lily stand gelassen da, und Francis war eindeutig überfordert. So sehr, dass er sich erneut räusperte, an seiner Jacke zupfte und sagte: „Dann werde ich meine Erledigungen fortsetzen. Wir werden die Angelegenheit heute Abend beim Essen besprechen.“
„Wie du willst, Francis.“ Dean klopfte seinem Bruder lachend auf die Schulter. „Danke, dass du wenigstens versuchst, mir in meinem eigenen Umfeld zu begegnen.“
Francis nickte, drehte sich um und verließ das Theater. Lily warf Dean einen Blick zu und fragte: „Ist das wirklich dein eigenes Umfeld? Ich bin mir nicht sicher, ob du es als dein Eigen bezeichnen kannst, wenn du nicht dafür bezahlt wirst, dass du hier arbeitest, so wie der Rest von uns.“
„Unsinn!“, platzte Martin heraus – so laut, dass er ihrer Gruppe einen weiteren tadelnden Blick von Mr Abrams einbrachte. „Unsinn“, wiederholte er im Flüsterton. „Dean ist einer von uns.“ Er hielt inne. „Aber vielleicht sollte er seine Schuldigkeit tun, indem er uns über die Bedeutung von ‚Du weißt, was das bedeutet‘ aufklärt, wie Lord Cathraiche andeutete.“
Sowohl Martin als auch Lily grinsten wie eine Katze, die einen Kanarienvogel gefangen hatte, und wandten sich Dean zu. Sie verschränkten sogar simultan ihre Arme und starrten ihn mit einem Blick an, der vermuten ließ, dass sie nicht lockerlassen würden, bis sie alles wussten.
Seltsamerweise hatte Dean keinerlei Skrupel, die Wahrheit zu sagen, auch wenn es sich um eine private Familienangelegenheit handelte.
„Unsere Familie braucht Geld“, meinte er achselzuckend. „Francis hat vorgeschlagen, dass wir das Geld so beschaffen, wie Adlige es seit Jahrhunderten tun. Er hat uns nahegelegt, dass wir alle wohlhabende Frauen heiraten.“
„Aber dein Bruder hat letzten Monat geheiratet, und soweit ich weiß, war Mrs Alice Rathborne-Paxton mittellos“, sagte Martin mit einem verwirrten Stirnrunzeln.
„Sie war seine Geliebte, nicht wahr?“, fragte Lily.
„Das war sie“, bestätigte Dean. „Und das ist der andere Teil von Francis’ Plan für uns alle.“
Er trat näher an Lily und Martin heran und senkte seine Stimme – sogar über das Maß hinaus, das Mr Abrams von ihm verlangt hätte.
„Seht ihr, Montrose ist immer noch hinter uns her. Und die einzige Möglichkeit, seine zerstörerischen Absichten gegenüber unserer Familie zu vereiteln, ist, wenn wir uns selbst zuerst vernichten.“
Martin und Lily sahen einander an, als wäre dies das Lächerlichste, was sie je gehört hatten.
„Erzähl weiter!“, sagte Lily, und ihre Augen leuchteten vor Aufregung.
Dean lehnte sich noch näher heran. „Francis kam auf die Idee, als Sam verkündete, dass er Alice zu heiraten gedachte, weil er glaubte, sie hätte Geld. Francis meinte, wenn wir vermögende Frauen heiraten, die aber gesellschaftliche Außenseiterinnen mit bereits ruiniertem Ruf sind, dann hätte Montrose keine Waffen mehr, die er gegen uns einsetzen könnte. Seine Absichten, uns zu ruinieren, werden vereitelt, und es wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als uns in Ruhe zu lassen.“
„Das“, begann Martin langsam, „ist entweder der dümmste … oder der genialste Plan, von dem ich je gehört habe.“
„Nein, er ist brillant!“, sagte Lily. „Denk doch an die Freiheit, die er ihnen gibt.“
Martin machte ein Geräusch, als hätte sie etwas Unsinniges gesagt.
„Wahrhaftig“, fuhr Lily fort. „Wenn alles, was ich gehört und in den Klatschspalten gelesen habe, richtig ist, konnte Mr Samuel Rathborne-Paxton so die Frau heiraten, die er liebt. Eine Frau, die er sonst nie hätte heiraten können.“
„Genau.“ Dean war erfreut darüber, dass jemand die Situation verstand.
Lilys Lächeln wurde noch breiter. „Das bedeutet, dass unser Dean hier ebenfalls in der Lage sein wird, die Frau zu heiraten, die er liebt.“
Deans Gesicht wurde heiß. „Ja, nun, ich habe die Angelegenheit überhaupt noch nicht in Angriff genommen.“ Er warf einen Blick über die Schulter, wo Nanette und Mr Jewel das neue Skript durchgingen.
„Fantastisch!“, rief Martin aus, der offenbar die Puzzleteile zusammengesetzt hatte. „Oh, das gefällt mir. Das gefällt mir sehr gut.“
„Mir auch“, fügte Lily lachend hinzu. Ihr Gesicht nahm einen feierlichen Ausdruck an, als sie einen Schritt auf Dean zuging und ihm eine Hand auf die Schulter legte. „Mr Rathborne-Paxton, ich erteile Ihnen hiermit demütig meinen Segen, Mademoiselle Nanette D’Argent den Hof zu machen – einer Frau, von der wir alle wissen, dass Sie sie verehren – und sie zu der Ihren zu machen.“
„Oh, ich sage …“, stammelte Dean, und sein Gesicht wurde noch heißer. Es war absurd, dass er so erfreut – oder so verlegen – darüber war, dass ein Theatermädchen ihm ihre Zustimmung gab, das Objekt seiner Begierde für sich zu gewinnen.
„Also gut“, rief Mr Abrams in diesem Moment. „Wir werden hier erst einmal aufhören. Eine halbe Stunde Pause, dann wird die Tanzgruppe mit dem Choreographen am Finale des ersten Aktes arbeiten.“
Das Geräusch von Schlurfen und Schritten hob an wie das Grollen vor einem Sturm, als Schauspieler und Bühnenarbeiter ihre Arbeitsplätze verließen, um ihre Pause zu beginnen.
Lily fasste Dean an den Schultern und drehte ihn zu Nanette herum. Sie stand in der Nähe des Bühnenrands und schrieb mit einem Bleistift etwas in ihr Skript. Deans Herz schlug freudig bei ihrem Anblick und pochte dann wild gegen seine Rippen, als Lily ihn vorwärtsdrängte.
Das war er. Dies war der Moment, von dem er geträumt und den er gefürchtet hatte, seit Francis auf die Idee gekommen war, dass sie alle unpassende Bräute heiraten sollten. Die Nachricht über den Sohn eines Marquess, der eine berühmte Schauspielerin und Tänzerin heiratete, würde durch die Skandalblätter fahren wie ein heißes Messer durch Butter. Es war genau das, was sie beabsichtigten. Für Dean war es jedoch mehr als das. Sein Herz stand auf dem Spiel.
Als er einen Schritt nach vorn trat und Nanette ihn mit einem unverbindlichen Lächeln anschaute, fragte er sich, ob er verrückt war oder ob dies der Beginn eines Lebens war, das glücklicher sein würde, als er es sich je hätte vorstellen können.
Kapitel zwei
Nan biss auf das Ende ihres Bleistifts, dann machte sie ein paar Notizen zur Inszenierung in ihr Skript, während der Rest der Besetzung und die Mitarbeiter ihre Pause begannen. Sie hatte ihr Möglichstes getan, um sich auf das Proben der Szene mit Everett und Mr Abrams zu konzentrieren, aber ihre Gedanken waren in tausend Richtungen zerstreut. Nicht nur die Bühne selbst summte wie ein Bienenstock von den Aktivitäten, die sie ständig von ihrer Arbeit ablenkten. Auch die Sorgen und Bedenken, die sie mit nach Hause nahm, wenn sie das Theater verließ, schienen größer als sonst.
Wie um diesen Punkt zu unterstreichen, sah sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel, und als sie sich umdrehte, um zu sehen, was es war, entdeckte sie Lily Logan, die Mr Dean Rathborne-Paxton in ihre Richtung schob. Mr Rathborne-Paxtons Gesicht glühte in einem reizenden Rotton, und zu der Bewunderung, die der Mann nie verbergen konnte, schien jetzt auch große Unruhe hinzuzukommen.
Nan wusste natürlich genau, worum es sich dabei handelte. Bewunderer waren in ihrem Beruf so üblich wie Nadeln in einer Nähstube. Seit Jahren verging kein Tag, an dem sie nicht von einem Dutzend Männern mit Blumen oder Pralinen und ehrerbietigen Blicken an der Bühnentür empfangen wurde, wenn sie das Theater verließ. Außerdem erhielt sie mindestens zwei Heiratsanträge pro Woche. Sie hatte sich manchmal von Everetts Patrick nach Hause begleiten lassen, wenn einige der Männer den Anschein gemacht hatten, als wollten sie mehr als nur ein Foto mit Autogramm von ihr. In den meisten Fällen waren diese Männer aber völlig harmlos.
Auch Mr Rathborne-Paxton war harmlos. Sie nahm an, dass es seinem Stand in der Gesellschaft zu verdanken war, dass er es geschafft hatte, ins Theater hineinzugelangen, anstatt am Bühneneingang zu warten wie die anderen. Er half beim Bau und beim Malen der Kulissen – auch wenn ihr die Komödie nicht entgangen war, die er und Martin vorhin versehentlich aufgeführt hatten –, und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, war er auch nicht schlecht anzuschauen. Er hatte ausdrucksstarke Augen, einen guten Körperbau, einen sinnlichen Mund und einen dichten Haarschopf, den sie in ihren Tagträumen mit ihren Fingern durchfuhr, wenn sie besonders verzweifelt war.
Aber Mr Rathborne-Paxton war nur ein weiterer Verehrer, der mit der Zeit das Interesse verlieren würde. Und wenn er – Gott bewahre – herausfand, wer sie wirklich war, würde er sich wahrscheinlich als Erster gegen sie wenden und sie den Wölfen zum Fraß vorwerfen, weil sie ihn getäuscht hatte.
Sie schloss ihr Skript und schenkte dem Mann noch ein höfliches Lächeln, bevor sie sich auf den Weg zu ihrer Garderobe machte. Anstatt sie nur anzugrinsen, wie er es sonst tat, eilte Mr Rathborne-Paxton vorwärts und fing sie mit diesem bewundernden Blick in den Augen ab.
„Mademoiselle D’Argent, würden Sie mir die Ehre erweisen, Sie zum Mittagessen begleiten zu dürfen?“, platzte er heraus und stolperte dabei fast über seine Worte und seine Füße.
Ein kleiner Schauer überlief Nan. Es war nicht so, dass sein Angebot einzigartig war. Sie würde vielleicht nie wieder ihr eigenes Essen kaufen müssen, wenn sie jede Einladung eines Verehrers annahm. Aber sie wusste sehr wohl, was diese Mahlzeiten wirklich kosteten und was die Herren, die sie bezahlten, als Gegenleistung erwarteten.
„Sie sind zu freundlisch, Mr Rathborne-Paxton“, sagte sie mit einem Lächeln, von dem sie hoffte, dass es den Stachel ihrer Ablehnung mildern würde. „Aber isch fürschte, dass isch meinen Text lernen muss, und deshalb kann isch nischt mit Ihnen gehen.“
„Oh, aber das Stück wird erst in drei Wochen aufgeführt, nicht wahr?“, protestierte Mr Rathborne-Paxton. „Ich bin sicher, Sie könnten sich einen Moment Zeit nehmen, um einen Happen mit mir zu essen.“
Nan lächelte. Der Mann war wirklich sehr charmant. Aber das waren die anderen drei Dutzend Verehrer ebenfalls, die ihr in den letzten zwei Wochen dasselbe gesagt hatten.
„Wirklisch, isch kann nischt, Monsieur. Aber isch bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Einladung.“
Sie wollte weitergehen, erstarrte aber, als Mr Rathborne-Paxton ihr nachrief: „S’il vous plaît, arrêtez, mademoiselle. Je souhaite simplement passer du temps avec vous.“
Nan schluckte. Es spielte keine Rolle, wie viel Zeit vergangen war oder wie lange sie ihren Ruhm und ihre Rolle genossen hatte. Jedes Mal, wenn jemand versuchte, mit ihr Französisch zu sprechen, hatte sie das Gefühl, als würde sie über glühende Kohlen gehen. Sie hatte hart gearbeitet und die Sprache so gut wie möglich heimlich gelernt, und vor einigen Jahren war sie sogar nach Paris gereist, um ihre Täuschung zu verbessern, aber Momente wie dieser waren genau das, was sie fürchtete.
Sie atmete tief ein und versuchte, sich zu beruhigen. Denk nach, Nan, befahl sie sich. Du kennst die Wörter. Enträtsele sie.
Sobald sie einigermaßen sicher war, dass Mr Rathborne-Paxton gesagt hatte, er wolle nur Zeit mit ihr verbringen, zwang sie sich zu einem Lächeln und drehte sich zu ihm um.
„Sie sind sehr freundlisch, Monsieur“, sagte sie und konzentrierte sich auf ihren Akzent. Zumindest den konnte sie täuschend echt. „Aber es ist kein guter Zeitpunkt, non?“
„Es ist immer ein guter Zeitpunkt für die Liebe“, erwiderte Mr Rathborne-Paxton, eilte zu ihr und nahm ihre freie Hand.
Nan entfuhr ein überraschter Aufschrei, und beinahe hätte sie ihr Skript fallen lassen.
Mr Rathborne-Paxton wich zurück, jedoch ohne ihre Hand loszulassen.
„Es tut mir leid“, sagte er und war wieder der charmante, etwas tollpatschige Adlige, den sie in den letzten Monaten flüchtig kennengelernt hatte. „Das war viel zu forsch von mir. Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an. Es ist nur so, dass sich meine Lebensumstände in den letzten Wochen ein wenig verändert haben, und ich denke, es ist an der Zeit, zu …“
Mitten in seiner blumigen, etwas peinlichen Rede schnappte Nan nach Luft, als sie einen ihr nur allzu bekannten Mann erblickte, der durch die Tür am anderen Ende der Hinterbühne ins Theater trat. Montrose. Der Mann besaß die teuflische Dreistigkeit, mitten am Vormittag im Concord Theatre aufzutauchen. Sie wusste auch genau, warum er da war.
„Sie müssen sisch nischt entschuldigen, Monsieur“, sagte sie und manövrierte ihn so, dass sein Körper sie vor Montrose’ Blicken verbarg. „Sie sind zu gütig. Sie sind der süßeste, der gütigste Mann, der je …“
Sie verstummte, als Montrose sich mit finsterem Blick an Mr Abrams wandte. Nan war nicht nah genug, um zu hören, was er sagte. Sie erkannte aber auch so, dass Montrose wissen wollte, wo sie zu finden sei. Und Mr Abrams – verdammt sei er! – begann, sich nach ihr umzusehen.
„Schnell!“, flüsterte Nan und zog Mr Rathborne-Paxton auf die andere Seite der Bühne. Sie reichte einem der jüngeren Bühnenarbeiter ihr Skript und ihren Bleistift und tauchte dann unter den Vorhängen hindurch, die gerade auf der Seitenbühne aufgehängt worden waren. Es war eine verdammte Schande, dass die gesamte Bühne offen war und alle fliegenden Vorhänge der aktuellen Aufführung hoch über ihnen schwebten. Es gab sehr wenige Möglichkeiten, sich zu verstecken.
„Was ist denn los?“, fragte Mr Rathborne-Paxton, der neben ihr lief. Als er über seine Schulter zurückschaute und Montrose erkannte, änderte sich sein ganzes Verhalten. „Montrose“, zischte er. Er trat an Nans Seite, legte ihr eine Hand auf den Rücken und schirmte ihren Körper mit seinem ab. „Keine Sorge, Mademoiselle D’Argent. Ich werde Sie beschützen.“
Diese Worte hätten Nan nicht so beeindrucken dürfen, wie sie es taten. Etwas in ihrem Herzen lockerte sich und innerlich jubelte sie vor Erleichterung. Sie war Montrose jahrelang aus dem Weg gegangen, aber in den letzten vierzehn Tagen hatte er sie verstärkt verfolgt. Hätte sein Streben das Ziel gehabt, das die meisten anderen Männer verfolgten, hätte sie damit umzugehen gewusst. Aber Montrose wollte sie nicht wegen ihres Körpers. Er wollte sie aus weitaus gefährlicheren Gründen.
„Schnell, hier rein!“, flüsterte Mr Rathborne-Paxton, als sie sich einem Lagerraum näherten, in dem unbenutzte Requisiten aufbewahrt wurden.
„Non.“ Nan schüttelte den Kopf. „Es gibt keinen Weg aus diesem Raum ’eraus. Wir müssen irgendwo’in gehen, wo wir in der Lage sind, zu fliehen, falls es notwendig wird.“
„Richtig“, sagte Mr Rathborne-Paxton und führte sie hinter eine frisch bemalte Leinwand, die zum Trocknen aufgestellt worden war. „Lassen Sie mich überlegen …“
Während Mr Rathborne-Paxton sich nach einem Versteck umschaute, spähte Nan um die Kante der Kulisse, um zu sehen, was Montrose vorhatte. So wie es aussah, hatte ihn Mr Abrams zu ihrer Garderobe geschickt, aber Everett hatte den Bösewicht in ein Gespräch verwickelt, bevor er dort angekommen war.
Everett musste wissen, dass sie nicht in ihrer Garderobe war, aber vielleicht gab er vor, Montrose von ihrer Garderobe fernhalten zu wollen, als eine Art Ablenkungsmanöver, damit sie fliehen konnte.
„Ah!“, sagte Mr Rathborne-Paxton schließlich. „Ich weiß genau, wohin wir gehen können.“ Er zerrte Nan zu einer der schmalen Leitern, die in den Schnürboden hinaufführten, von dem aus die Kulissen und Vorhänge mit Seilzügen bewegt werden konnten. „Mademoiselle D’Argent, können Sie klettern?“
„Ob ich klettern kann?“ Nan wiederholte die Frage ungläubig, wobei ihr der Akzent ein wenig entglitt. Sie war auf dem Land aufgewachsen. Sie hatte gelernt, auf Bäume und an den Seiten von Scheunen und Heuhaufen hochzuklettern, kaum dass sie laufen konnte. Sie hatte klettern müssen, um bei der Reparatur von ein oder zwei Dächern zu helfen, als sie noch ein Kind gewesen war. Einmal sie sogar auf das Dach des Schulhauses geklettert, um den Ball zu holen, den einer der Jungen dort hinaufgeworfen hatte, um das Spiel der Mädchen zu stören.
„Oui, Monsieur, isch kann klettern“, sagte sie, schob Mr Rathborne-Paxton aus dem Weg und stieg vor ihm die Leiter hinauf.
Wie sich herausstellte, war Mr Rathborne-Paxtons Plan ein guter Plan. Sobald sie den Schnürboden erreicht hatten, konnten sie auf das Geschehen auf der Bühne hinunterschauen. Noch besser, der Schnürboden war dunkel. Da die gesamte Bühne für die Arbeiten an der Kulisse gut ausgeleuchtet war, war es für die Leute unten schwer, zu sehen, was sich über ihnen abspielte. Nan ging den schmalen Steg entlang, der um die Bühne herumführte, und hielt ihren Rücken so dicht wie möglich an die Wand gepresst. Zu ihrer Überraschung griff Mr Rathborne-Paxton einmal nach ihrer Hand – nicht um ihr Mut zu machen, sondern weil er Höhenangst zu haben schien.
Sie konnte nicht anders, als ein wenig zu kichern, trotz der gefährlichen Situation. „Sie ’aben Angst, non?“, fragte sie und grinste ihn im Halbdunkel an.
„Papperlapapp“, entgegnete er ein wenig atemlos. „Nichts macht mir Angst.“
Einer der Bühnenarbeiter, der im vorderen Bereich des Schnürbodens arbeitete, ließ eine Seilrolle fallen, die mit lautem Geklapper auf die darunterliegenden Bretter traf. Mr Rathborne-Paxton erstarrte und drückte sich fest an die Wand, als ob er sich an ihr festhalten könnte.
Nan begann zu lachen, fing sich aber einen Moment später wieder, als Montrose an die Stelle auf der Bühne trat, wohin die Seilrolle gefallen war. Er begann sofort, mit den Augen den Raum über sich abzusuchen.
„Wir müssen weiter“, zischte Nan und drängte Mr Rathborne-Paxton vor sich her.
Mr Rathborne-Paxton nickte und eilte vorwärts.
„Ich weiß, dass sie hier irgendwo ist“, sagte Montrose mit lauter Stimme von unten. „Sie können sich nicht ewig vor mir verstecken, Mademoiselle D’Argent.“
Die Art, wie er ihren Namen aussprach, ließ Nan erschaudern. Es war eine schreckliche, gefährliche Sache, wenn dein schlimmster Feind dein größtes Geheimnis kannte.
Sie und Mr Rathborne-Paxton erreichten das andere Ende der Bühne und bogen um die Ecke, um an einer besonders dunklen Stelle zu verharren. Das hatte den Vorteil, dass sie fast vollständig vor Blicken von unten verborgen waren, aber es war unmöglich, wieder nach unten zu klettern. Von da, wo er gerade stand, würde Montrose sie sehen. Bis Montrose weg war, saßen sie fest.
„Sie können sich nicht ewig verstecken, Mademoiselle D’Argent!“, rief Montrose erneut.
„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie nicht hier ist“, sagte Everett überheblich und ging auf Montrose zu, als ob die beiden eine Szene spielen würden. „Sie ist mit einem ihrer Bewunderer zum Mittagessen gegangen.“
„Eine glaubwürdige Geschichte“, spottete Montrose. Er drehte sich um und sah, wie Patrick auf ihn zukam. Dessen Hände waren zu Fäusten geballt und er sah so bedrohlich aus, wie er nur konnte.
Das ließ Everett erröten und er fächerte sich Luft zu. „Patrick, Schatz, nicht jetzt“, stichelte er.
Ein paar der Bühnenarbeiter, die Nan nicht sehen konnte, lachten. Sie beschwor sie innerlich, weiterzulachen. Nichts verunsicherte einen Mann, der sich selbst für eine Bedrohung hielt, mehr, als ausgelacht zu werden.
„Montrose ist ein Schurke“, brummte Mr Rathborne-Paxton neben ihr. „Der Mann sollte hängen.“
Nans riss die Augen auf. „Und was wissen Sie über Montrose, Monsieur?“, fragte sie.
Mr Rathborne-Paxton drehte sich zu ihr um, als wäre sie gerade von einer Auslandsreise nach Hause zurückgekehrt und hätte noch nicht den neuesten Klatsch gehört. „Er hat meiner Familie den Krieg erklärt, Mademoiselle. Er ist dabei, meinen Vater zu vernichten – obwohl, wenn Sie mich fragen, hat der Mann es verdient, zerstört zu werden –, und er hätte beinahe meinen Bruder Samuel und seine neue Frau Alice ruiniert.“
Nan zuckte zusammen und stieß einen Laut des Verstehens aus. „Oui, natürlisch. Wie konnte isch das nur vergessen?“
Wie hatte sie das vergessen können? Vor einem Monat waren die Londoner Zeitungen voll von Gerüchten über Alice Woodmont – jetzt Mrs Samuel Rathborne-Paxton – gewesen. Nans eigenes Leben war während und seit dieser Zeit wie ein einziger Wirbelwind. Ihr Agent, Mr Brown, hatte sie für drei neue Werbekampagnen verpflichtet. Die Journalisten drängten sie ständig zu Interviews über das Ende der einen Inszenierung und die Premiere eines neuen Stücks. Und zu allem Überfluss war Montrose aus der Hölle emporgestiegen – Nan war sich sicher, dass er dort lebte –, um Geld von ihr zu verlangen.
Sie holte tief Luft, als sich mehrere Dinge in ihrem Kopf zusammenfügten. Montrose hatte Alice Woodmont das Leben zur Hölle gemacht, aber die neue Mrs Rathborne-Paxton war ihm aus der Falle entwischt und aufs Land gezogen. Nan hatte angenommen, dass Montrose von ihren neuen Werbeverträgen gehört hatte und deshalb plötzlich hinter ihrem Geld her war. Aber der Zeitpunkt deutete darauf hin, dass er sich, weil er von der einen Quelle nicht bekommen hatte, was er wollte, an eine andere gewandt hatte.
„Mademoiselle D’Argent, Sie sind blass geworden.“ Mr Rathborne-Paxton schien seine eigene Angst zu vergessen, als er sich ihr zuwandte und sie halb in seine Arme zog. Es war eine viel zu intime Geste, aber Nan fand Trost darin. „Gibt es irgendetwas, was ich tun kann?“
Nan biss sich auf die Lippe. „Vielleischt?“
Mr Rathborne-Paxton runzelte die Stirn über ihre Antwort. „Sie machen sich Sorgen wegen Montrose. Er will etwas von Ihnen.“ Sein Gesichtsausdruck wurde geradezu mörderisch.
„Non, das ist es nischt“, sagte sie in der Annahme, dass Mr Rathborne-Paxton glaubte, Montrose wollte sie. „Isch … ähm … es ist …“ Sie biss sich auf die Lippe und suchte nach einer Erklärung, die ihr Geheimnis nicht verraten würde.
Mr Rathborne-Paxton wartete geduldig auf ihre Antwort, seine Umarmung wurde langsam fester. Es hätte ihr nicht so gut gefallen dürfen, doch das tat es.
Um sich selbst davor zu bewahren, dem gut aussehenden und charmanten Mann auf eine Weise zu erliegen, von der sie wusste, dass sie katastrophal enden würde, zwang sie sich dazu, sich aufzurichten und Luft zu holen. „Wie kann isch das erklären?“, begann sie. „Montrose glaubt, isch schulde ihm eine Menge Geld.“
„Er glaubt, dass Sie ihm Geld schulden?“, fragte Mr Rathborne-Paxton und zog dabei eine Augenbraue hoch.
„Er glaubt, dass er ein Anrescht auf einen Teil meiner Einkünfte hat“, fuhr Nan vorsichtig fort.
Mr Rathborne-Paxton schüttelte verwirrt den Kopf. „Warum sollte er das denken?“
„Vor vielen Jahren hat er misch Monsieur Jewel vorgestellt. Everett machte misch mit Mr Cristofori bekannt. Die beiden gaben mir meine Karriere und meinen Ruhm.“ Sie schritt umher, während Mr Rathborne-Paxton verständnisvoll nickte. „Montrose glaubt, dass er jetzt Anspruch auf einen Anteil an meinen Einkünften hat.“
„Weil Montrose knapp bei Kasse ist und Geld beschaffen muss, auf welche Weise auch immer.“
Nan blinzelte ihn an, ermutigt von dem Gefühl, dass sie vor dem gleichen Problem standen. „Glauben Sie das auch?“ Sie verfluchte sich dafür, dass ihr vor Schreck der Akzent abhandengekommen war.
Glücklicherweise schien Mr Rathborne-Paxton das nicht zu bemerken. „Mein Bruder Sam und seine Braut haben herausgefunden, dass Montrose die meisten seiner ruchlosen Geschäfte auf Kredit finanziert hat. Er muss seinen Gläubigern immer einen Schritt voraus sein, um seine Herrschaft der Zerstörung fortsetzen zu können. Aber wir glauben, dass er an einem Punkt angelangt sein könnte, an dem sein Einfluss erschöpft ist. Der Mann ist verzweifelt.“
Mr Rathborne-Paxtons Vermutungen deckten sich mit Nans eigenen. Einen Moment lang klopfte ihr Herz vor Aufregung. Sie würde mit allen anderen jubeln, wenn Montrose seinen Untergang erlebte.
Einen Augenblick später kam ihr ein Gedanke, der sie dazu brachte, eine Hand auf ihren Magen zu pressen. Montrose war die Art von Mann, die noch bösartiger wurde, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlte.
„Er wird misch nischt in Ruhe lassen, bis er bekommt, was er will“, flüsterte sie.
Wie zur Bestätigung ihrer Worte schrie Montrose: „Wenn Sie die Frau nicht sofort hierherbringen, werde ich dafür sorgen, dass diese ganze Produktion, Sie alle und dieses Theater, in dem wir stehen, zerstört werden. Sie alle werden ruiniert sein. Sagen Sie mir jetzt, wo Mademoiselle D’Argent ist!“
Nan musste einen Laut von sich gegeben oder ihre Unruhe gezeigt haben. Mr Rathborne-Paxton trat wieder an sie heran und schloss seine Arme um sie.
„Haben Sie keine Angst, meine Liebe“, sagte er, romantischer als die Helden in Cristoforis Stücken. „Ich werde nicht zulassen, dass Ihnen auch nur irgendetwas zuleide getan wird. Sie können Ihr ganzes Vertrauen in mich setzen. Betrachten Sie mich als Ihren Helden.“
Es war albern angesichts der Situation und des Augenblicks, aber Nan lächelte dennoch. Vielleicht war Mr Rathborne-Paxton ja doch nicht wie jeder andere Verehrer, der jemals mit Rosen auf sie zugekommen war und ein Autogramm oder einen Kuss verlangt hatte.
Zugegeben, der Mann war ein wenig verrückt, aber Adlige hatten das Recht, exzentrisch zu sein. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, mochte sie den Narren eigentlich ganz gern.
„Isch muss fliehen“, flüsterte sie und lehnte sich an ihn. Wenn Mr Rathborne-Paxton einen Moment erschaffen wollte, so wie Cristofori ihn schreiben würde, wer war sie, ihm dieses Vergnügen zu verwehren? „Wir müssen entkommen", fuhr sie fort. „Aber wir sind hier gefangen. Wie sollen wir uns aus dieser Situation befreien?“
Sie standen so dicht beieinander, dass sie die Wärme des anderen spüren konnten. Einen Moment lang dachte Nan, dass er versuchen würde, sie zu küssen. Es war kein abwegiger Gedanke, als er sich näher heranlehnte und ihr zärtlich und verlangend in die Augen schaute. Es war völlig verrückt, aber sie fühlte sich von diesem Verlangen angezogen. Es war nicht so, als wäre sie ein jungfräuliches, in Ohnmacht fallendes Veilchen. Im Lauf der Jahre hatte sie ihren Anteil an Liebhabern gehabt. Sie war nicht immun gegen die animalische Anziehungskraft, die einige ihrer Verehrer hatten. Mr Rathborne-Paxton könnte vielleicht zu mehr nützlich sein als nur dazu, Montrose zu entkommen.
Gerade als sie dachte, er würde sich herablehnen, um einen Kuss zu stehlen, zog er sich zurück und sagte: „Ich habe eine Idee.“
„Wirklisch?“ Vorläufig war Nan bereit, die Jungfrau in Nöten zu spielen, die von ihrem Helden gerettet werden musste, vor allem, weil sie keine eigenen Ideen hatte.
„Ja.“ Mr Rathborne-Paxton nahm ihre Hand und führte sie leise über den Schnürboden, bis sie zu einer der Leitern kamen.
„Non“, protestierte Nan, als er begann, die Leiter hinunterzusteigen. „Montrose wird uns sehen.“
„Im Moment nicht.“ Mr Rathborne-Paxton nickte zur Seite der Bühne, wo Montrose gerade mit Everett, Patrick und Martin diskutierte. „Er ist abgelenkt.“
Mr Rathborne-Paxton hatte recht. Sie hatten eine Chance zu entkommen, aber nur eine winzige. Sobald Mr Rathborne-Paxton weit genug unten auf der Leiter war, kletterte Nan hinter ihm her. Die ganze Sache fühlte sich äußerst gefährlich an.
Als ihre Füße auf dem Boden aufkamen, rief Montrose: „Das ist doch absurd! Sie ist hier irgendwo.“
Nan unterdrückte einen Schrei – nicht nur, weil Montrose sich von Everett und den anderen abwandte, sondern weil Mr Rathborne-Paxton sie am Handgelenk packte und direkt in eines der Kostümzimmer zog, das nur wenige Meter von der Leiter entfernt war.
„Aber Monsieur!“, protestierte sie, als er die Tür schloss. „Wir können nischt an diesem Ort bleiben, wo es keine andere Möglischkeit gibt, zu entkommen.“
„Oh, aber es gibt eine andere Möglichkeit, zu entkommen“, entgegnete Mr Rathborne-Paxton mit absoluter Überzeugung, eilte um die Kostümständer herum und schob Dinge beiseite. Er schien etwas zu suchen. Nan hatte keine Ahnung, was es sein könnte. „Es gibt immer eine Möglichkeit, zu entkommen, wenn man verkleidet ist.“
Ungeachtet ihrer Situation musste Nan lachen. Der Narr glaubte doch nicht wirklich, dass sie sich aus dem Theater schleichen konnten, indem sie sich einfach kostümierten, oder? Was für eine kühne und charmante Idee das doch war.
„Hier“, sagte er schließlich, als er einen langen, roten Kapuzenmantel gefunden hatte, von dem Nan sicher war, dass er vor ein paar Jahren in einer Weihnachtsaufführung von Rotkäppchen getragen worden war. „Ziehen Sie das an.“
Nan nahm den Mantel und warf ihn sich über die Schultern. „Und Sie?“ Sie hob fragend die Augenbrauen.
Mr Rathborne-Paxton wühlte sich durch ein paar weitere Kostüme, bevor sein Gesicht voller Inspiration aufleuchtete. Er grinste von einem Ohr zum anderen, nahm ein Kostüm von seinem Bügel und sagte: „Das.“
Kapitel drei
Dean grinste breit über das Kostüm, welches er von dem Ständer vor ihm genommen hatte. Er erinnerte sich an den leicht militaristisch aussehenden Anzug, dessen Brust mit Medaillen besetzt war. Er hatte ihn in einem faden patriotischen Stück gesehen, welches vor einigen Jahren aufgeführt worden war – keines von Cristoforis Stücken. Der Onkel der weiblichen Hauptfigur hatte ihn getragen, und eine der Kritiken an dem Stück war gewesen, dass der Darsteller, der dieses Kostüm trug, eine zu große Ähnlichkeit mit Knight Commander Sir Joseph Porter aus dem „Gilbert & Sullivan“-Stück H.M.S. Pinafore hatte, welches nur ein paar Straßen weiter aufgeführt worden war.
Dean hatte Pinafore geliebt, und er liebte es, sich die pompöse und übertriebene Jacke mit all ihren Medaillen anzuziehen.
„Das kann nischt Ihr Ernst sein, Monsieur.“ Nanette starrte Dean an, als er sein Kostüm vorn zuknöpfte. „Wie sollen wir Montrose entkommen, wenn wir derartig gekleidet sind?“
„Mit Stil, Mademoiselle, mit Stil“, sagte Dean und betrachtete sich grinsend im Spiegel.
Ein Teil von ihm war sich bewusst, dass die Situation derart ins Lächerliche abgedriftet war, dass man sie für surreal hätte halten können. Aber das spielte keine Rolle, denn Nanette brach in amüsiertes Lachen aus. Er hatte das Objekt seiner Bewunderung zum Lachen gebracht. Dafür würde er es mit jedem Schurken aufnehmen, mit jedem Drachen kämpfen.
„Wenn Sie es sagen.“ Nanette zuckte mit den Schultern, dann warf sie sich den roten Mantel mit einem dramatischen Schwung um die Schultern.
Dean verbrachte noch ein paar Minuten mit der Suche nach einem Hut, der zu dem Kostüm passte, welches er jetzt trug. Das Beste, was er finden konnte, war ein glänzender Zylinderhut. Nanette war ihm bei der Suche behilflich gewesen und hatte dabei auch nach Accessoires Ausschau gehalten, die ihre eigene Verkleidung vervollständigten. Dazu gehörte nun ein großer Fächer, mit dem sie ihr Gesicht verbergen konnte. Mehrmals hörte Dean Schritte von Leuten, welche an der Tür zum Kostümzimmer vorbeigingen, während sie sich anzogen, aber niemand betrat den Raum.
Dennoch sog Nanette jedes Mal ängstlich die Luft ein, wenn diese Schritte zu hören waren. Einmal sprang sie sogar an Deans Seite, schwankte dicht neben ihm und legte eine zarte Hand auf seinen Arm. Diese einfache Geste ließ Deans Brust vor Stolz und Zuneigung anschwellen, ganz zu schweigen von der Entschlossenheit, seine schöne Dame notfalls bis zum Tod zu verteidigen.
„Sind wir bereit?“, fragte er, als sie angezogen waren und es vor der Tür seit einer Weile still war.
„Wir sind bereit, Monsieur“, sagte Nanette, und ihr französischer Akzent verlieh den Worten eine aufregende Note.
Dean ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt breit, um sicherzustellen, dass niemand zwischen dem Kostümraum und dem Bühneneingang stand, der in die Gasse hinter dem Theater führte. Als er sicher war, dass der Weg frei war, setzte er sich den Zylinder auf den Kopf und reichte Nanette den Arm. Als sie ihn genommen hatte, öffnete er die Tür, und sie eilten in den Bereich hinter der Bühne.
Sie schafften es ohne Schwierigkeiten bis zum Bühneneingang. Dean grinste und beglückwünschte sich, dass er seine Liebste in Sicherheit gebracht hatte.
Sobald er die Bühnentür geöffnet hatte und mit Nanette in die schwüle Julihitze in der Gasse trat, änderte sich jedoch alles.
„Nanette! Da ist sie ja!“
„Mademoiselle D’Argent! Würden Sie mein Programmheft signieren?“
„Ich komme jeden Abend, um Ihre Darbietung zu sehen, Nanette.“
Mindestens ein Dutzend Männer und ein paar Frauen hielten sich in der Nähe des Bühneneingangs auf, und in dem Moment, in dem Nanette auftauchte, wurden sie alle hellwach. Die meisten von ihnen schienen jünger und relativ harmlos, aber die Tatsache, dass sie überhaupt da waren, und der Eifer, mit dem sie sich Nanette näherten, alarmierten Dean sofort.
Nanette jedoch schien es mit Fassung zu tragen.
„Ah, meine ’erren, Sie sind zu freundlisch“, sagte sie und schlüpfte in eine Art Rolle, als sie am oberen Ende der kleinen Treppe stand, die zur Gasse führte. Die Männer versammelten sich am Fuß der Treppe, als warteten sie darauf, dass ihr Engel zu ihnen hinabstieg.
„Was hat das alles zu bedeuten?“, flüsterte Dean und lehnte sich dabei dicht an Nanettes Ohr.
„Das sind Verehrer“, murmelte sie achselzuckend zurück. „Sie sind immer ’ier. Aber keine Sorge, sie sind freundlisch und ’armlos.“
Dean bezweifelte, dass jeder von ihnen völlig harmlos war. Er wusste alles über die Männer, die sich nach den Aufführungen versammelten, um einen Blick auf Nanette zu erhaschen. Vielleicht war er gelegentlich selbst einer von ihnen gewesen. Aber die Anzahl der Männer zu sehen, die sogar morgens vor dem Theater warteten, wenn sie eigentlich an ihren Arbeitsplätzen oder in manchen Fällen in der Schule sein sollten, war beunruhigend.
Er war kurz davor, sie wegzujagen und Nanette zu entführen, als einer der Männer rief: „Mein Gott, das ist ja Prinz Arthur!“
„Prinz Arthur?“, antwortete ein anderer. „Mademoiselle D’Argent geht mit Prinz Arthur aus?“
„Es ist Prinz Arthur!“, keuchte ein dritter.
„Dient Prinz Arthur nicht gerade in Bombay?“, fragte einer der Männer am Rande der Gruppe mit leiser Stimme.
Er wurde ignoriert. Dean bediente sich der verwegenen Idee und stellte sich aufrecht hin, wobei er seine Brust herausstreckte. „Sehe ich so aus, als wäre ich in Indien?“, fragte er und imitierte so gut er konnte eine fürstliche Stimme. Die Männer in der Gasse murrten und starrten ihn an. Sie wichen zurück, als Dean ihnen zu verstehen gab, dass sie ihm und Nanette Platz machen sollten, sodass sie die Treppe langsam und majestätisch hinuntergehen konnten.
Aus dem Augenwinkel sah Dean, wie Nanette versuchte, ein Lächeln zu verbergen. Genau wie im Kostümzimmer spornte ihn dieser kleine Anflug der Belustigung zu dem an, was er bereits als die größte Theateraufführung seines Lebens betrachtete.
„Ich danke Ihnen allen für Ihre Aufwartung bei meiner … lieben Freundin, Mademoiselle D’Argent“, sagte er und stellte sich so hin, wie er Prinz Arthur vor Jahren bei einer Veranstaltung im Buckingham Palace hatte stehen sehen. Er versuchte sich ebenfalls an dem hochmütigen Akzent der königlichen Familie. „Ich wäre Ihnen auch dankbar, wenn Sie uns ein wenig Privatsphäre gönnen würden, da wir uns auf dem Weg zu einem wichtigen Termin befinden.“
„Ja, Eure Königliche Hoheit“, sagte einer der Männer und verneigte sich.
Die anderen taten es ihm gleich, traten noch weiter zurück und verbeugten sich tief, sodass Dean und Nanette zur Straße gelangen konnten. Dean hielt seine Miene stolz und die Schultern gestrafft, als er Nanette an ihnen vorbeiführte. Er war sich jedoch sicher, dass er den Schalk nicht aus seinen Augen fernhalten konnte, als er zu Nanette hinüberschielte.
„Danke, meine ’erren“, rief Nanette ihren Anhängern über ihre Schulter zu. „Isch kann Ihnen versischern, dass isch später wiederkommen werde, und dann wir werden unseren Spaß haben, non?“
Die Herren verabschiedeten sich von ihr und himmelten sie aus der Ferne an, als Dean und Nanette das Ende der Gasse erreichten und auf die Straße hinaustraten. Einer rief sogar: „Nanette D’Argent geht mit Prinz Arthur aus!“
Sobald sie aus dem Blickfeld der Verfolger waren, brachen Dean und Nanette in Gelächter aus. Nanette umklammerte Deans Arm fester, was seine Freude über die Situation nur noch verstärkte.
„Isch werde Sie nischt anlügen, Monsieur“, sagte Nanette, als sie ihr Tempo beschleunigten und sich nach Osten wandten. „Das war der größte Spaß, den isch seit einer Ewigkeit ge’abt ’abe.“
„Ich glaube, ich könnte dieses Theaterleben sehr lieb gewinnen.“ Dean nahm wieder seine Prinz-Arthur-Haltung ein. „Ich würde einen guten Hauptdarsteller abgeben. Mr Jewel sollte besser aufpassen.“
Nanette lachte, und der Klang erfüllte Dean erneut mit Wärme und Verlangen. „Isch glaube nischt, dass Sie … wie sagt man … den Karren vor den Ochsen spannen sollten?“
Dean lachte, ließ seine pompöse Haltung fallen und lächelte Nanette zärtlich an. Noch vor einer Stunde war er nur einer ihrer Bewunderer gewesen. Jetzt, wie durch ein Wunder, hatte er das Gefühl, als hätten sie die Grenze zur Freundschaft überschritten.
Nein, es war kein Wunder, es waren Montrose und die gemeinsamen Probleme, die sie mit diesem Bastard hatten.
Dean wurde ernster. „Ich hoffe, Sie sind zufrieden mit der Art und Weise, wie wir Montrose aus dem Weg gegangen sind“, sagte er. „Der Mann ist eine Plage für die Menschheit, und meine Familie kämpft mit allem, was wir haben, um zu verhindern, dass er uns in den Abgrund reißt, so wie er es mit zu vielen anderen adligen Familien tat.“
Auch Nanette verging das Lachen. „Monsieur Montrose ist ein schleschter Mensch. Rücksischtslos und feige zugleisch. Nur wenige Dinge machen mir Angst, Monsieur Rathborne-Paxton, aber Montrose’ Entschlossen’eit, Geld von mir zu erpressen, durschaus.“
„Bitte“, sagte Dean. Weichheit und Zuneigung sickerten in seinen Tonfall und, wie er hoffte, auch in seinen Gesichtsausdruck. „Nennen Sie mich Dean. Ich weiß, dass es nicht angemessen ist, da ich ein Prinz bin und so …“
Nanettes Lächeln kehrte für einen Moment zurück, und Deans Herz schlug höher.
„… aber ich möchte so gern, dass wir Freunde sind.“
Er wünschte sich, dass sie viel mehr als nur Freunde wären, aber irgendwo musste ein Mann ja anfangen.
„Danke, Dean.“ Nanette neigte ihren Kopf zu ihm. „Und Sie dürfen misch Nanette nennen.“
„Sie sind zu freundlich“, sagte Dean. Als sie eine Straßenecke erreichten, hielt er inne, wandte sich ihr zu und fragte: „Darf ich Sie zum Mittagessen einladen? Vielleicht am Ufer des Serpentine-Sees im Hyde Park?“
Nanettes Augen weiteten sich, und einen Moment lang schaute sie verblüfft zu ihm auf. „Sie wollen mit mir ausgehen?“
Deans Herz schlug schneller, als er das Misstrauen in ihrer Stimme vernahm. Und warum sollte sie nicht misstrauisch sein, wenn ein Mann versuchte, sie zum Essen einzuladen? Er hatte gerade ein Dutzend Männer erlebt, die um ihre Aufmerksamkeit gebuhlt hatten, ohne einen anderen Grund, als dass sie berühmt und das Objekt ihrer Begierde war. Nach allem, was Nanette wissen konnte, war er nicht anders als diese Männer.
Er betrachtete sie aufmerksam und nahm eine ihrer Hände. Sie waren so schnell aus dem Theater geeilt, dass Nanette keine Gelegenheit gehabt hatte, Handschuhe anzuziehen, und so fühlte sich die Geste noch intimer an. „Mademoiselle, ich weiß, dass Sie in mir nichts anderes sehen als einen Ihrer Bewunderer, aber erlauben Sie mir zu sagen, dass ich Sie in meiner Zeit als Assistent am Concord Theatre aus der Ferne beobachtet habe, und ich habe das Gefühl, Sie – die wahre Frau, die Sie sind – zu kennen.“
Aus irgendeinem Grund brachten seine zärtlichen Worte das Lächeln in Nanettes Augen vollständig zum Erlöschen. Tatsächlich wirkte sie für einen Moment regelrecht erschrocken, und ihr Gesicht verlor etwas von seiner Farbe. „Sie … Sie kennen misch?“, fragte sie mit hoher und dünner Stimme.
„Ja, ich glaube, das tue ich.“ Dean lächelte, um sie zu beruhigen. „Sie sind die Güte und Freundlichkeit in Person. Sie sind Schönheit und Anmut. Ich habe gesehen, wie Sie mit den Bühnenarbeitern umgehen und wie Sie jeden Handwerker behandeln, als wäre er Ihnen ebenbürtig. Sie mögen von der besten Ballettschule in Paris kommen, aber Sie haben deswegen keine Allüren. Sie stehen über anderen Frauen, und ich …“ Er hielt inne, bevor er eine alberne Liebeserklärung machen konnte. Stattdessen sagte er: „Ich bewundere Sie ungemein und wünsche mir sehr, dass wir uns besser kennenlernen.“
Nachdem er seine Rede beendet hatte, wurde ihm heiß, weil er befürchtete, dass er sich zu einem sentimentalen Narren gemacht hatte. Francis würde ihn verspotten und den Kopf schütteln, Sam jedoch würde es gutheißen. Sam redete ständig davon, wie lächerlich es sei, dass Männer ihre sanften Gefühle unterdrückten.
Zum Glück kehrte Nanette zu ihrem leichten, entspannten Lächeln zurück. „Auch Sie sind freundlisch und großzügig, Monsieur.“ Ihr Lächeln wurde breiter. „Es wäre mir eine Ehre, mit Ihnen im Hyde Park zu Mittag zu essen.“
Dean hätte fast vor Erleichterung aufgelacht, dann drehte er sich um und rief eine der Mietdroschken, die in der Nähe auf Fahrgäste warteten.
„Danke, Nanette“, sagte er und nannte ganz bewusst ihren Namen. „Und wenn wir schon dabei sind, sollten wir uns überlegen, wie wir Montrose davon abhalten können, Sie noch einmal so zu belästigen, wie er es in der Vergangenheit getan hat.“
Nanettes Lächeln erstarb wieder, als eine der Mietdroschken heranfuhr und der Fahrer absprang, um ihnen die Tür aufzuhalten. Dean gab dem Mann die Anweisung, sie zum Hyde Park zu fahren. Als sie sicher in der Kutsche saßen und unterwegs waren, atmete Nanette tief durch und sagte: „Isch fürschte, es gibt keinen einfachen Weg, Montrose davon abzuhalten, misch zu verfolgen.“
Dean runzelte die Stirn und grübelte über das Problem nach, während er die Krempe seines Hutes drehte, den er beim Einsteigen in die Droschke abgenommen hatte. „Sie sagen, er meint, Sie stünden in seiner Schuld, weil er Ihnen den Einstieg am Londoner Theater ermöglicht hat?“
„Oui“, seufzte Nanette, die Schultern leicht gebeugt. „Er meint, weil er misch vor Jahren am Theater eingeführt hat, hat er nun ein Anrescht auf einen Anteil meines aktuellen Einkommens.“
Deans Atem stockte unbarmherzig in seiner Brust bei der Erwähnung des Wortes Einkommen. Auch wenn er sich dadurch genauso geldgierig wie Montrose fühlte, fragte er: „Ist das Einkommen denn beträchtlich?“
Nanette schwieg einen Moment lang, ihr Kopf war gesenkt und ihre Wangen färbten sich rosa. „Es gibt eine ganze Menge Geld zu verdienen, wenn man es versteht, den Hunger des Publikums nach Berühmt’eit auszunutzen.“
„Ja.“ Dean nickte langsam und sein Gesicht erhitzte sich, als er an die Sammelkarte mit Nanettes Bild dachte, die auf seinem Nachttisch stand. „Ich sehe Ihr Gesicht überall, sogar in meinen Träumen.“
Seine alberne Bemerkung erfüllte ihren Zweck, und Nanette grinste beschämt. „Das ist eine neue Mode, diese Faszination für berühmte Menschen und das Benutzen ihrer Bilder, um Produkte zu verkaufen. Aber damit lässt sisch eine ganze Menge Geld verdienen. Isch verdiene mehr an den Verträgen, die mein Agent mit diesen Gesischtscremefirmen und diesen Keks’erstellern macht, als dursch mein Engagement am Theater.“
„Wirklich?“ Dean riss die Brauen nach oben.
Aber dann wiederum ergab es Sinn. Dean konnte Dutzende Schauspieler und Schauspielerinnen aufzählen, die im letzten Jahrhundert auf der Londoner Bühne berühmt geworden waren, aber nur wenige, die als wohlhabend bekannt waren, so wie Nanette.
Er blinzelte, dann fragte er: „Agent? Was ist das?“
„Das ist eine Person, die nach Möglischkeiten für Künstler sucht“, erklärte Nanette. „Es gibt schon seit Jahrzehnten Agenten, die im Namen von Schriftstellern agieren und mit Verlegern ver’andeln, aber erst in den letzten paar Jahren ’aben geschäftstüchtige Künstler wie isch die Dienste dieser Leute für sisch in Anspruch genommen. Und die Ergebnisse waren gut, non?“
„Ich nehme an, das waren sie“, sagte Dean. In der Tat, viele Dinge bezüglich Nanettes Bekanntheitsgrad ergaben nun Sinn.
Nanette nickte. „Isch prophezeie, dass jeder Schauspieler, Sänger und Tänzer, der eine Karriere anstrebt, die ’ilfe eines Agenten in Anspruch nehmen wird, auch wenn dieses Konzept noch rescht neu ist.“
„Ich glaube, Sie haben recht.“
Einige Minuten später erreichten sie den Hyde Park, und Dean beeilte sich, Nanette die Kutschentür aufzuhalten und ihr selbst beim Aussteigen zu helfen, anstatt auf den Kutscher zu warten. Er bezahlte diesen und half Nanette, ihren roten Mantel so zu drapieren, dass er ihre Erscheinung etwas verdeckte. Dann geleitete er sie in den Hyde Park.
„Weiter hinten gibt es ein kleines Teehaus, das meine Brüder und ich gern besuchen“, erklärte er, während sie durch den Park gingen.
Auch wenn sie ihr Äußeres zu verbergen versuchte, war es klar, dass die Leute Nanette erkannten. Es war schwer, sie nicht zu erkennen. Sie kamen an einem kleinen Stand vorbei, an dem Seifen, Düfte und andere Toilettenartikel verkauft wurden, und auf allen prangte Nanettes Gesicht.
Vielleicht lag es an der Größe und Offenheit des Parks oder an der Anzahl der Menschen, die dort waren, vielleicht war es aber auch Deans eindrucksvolle Präsenz oder das Kostüm, das er trug – obwohl die Parkbesucher lächelten und winkten, wagte es niemand, Nanette direkt anzusprechen.
„Isch sollte Ihnen nischt erlauben, mein Mittagessen zu kaufen, Monsieur“, sagte Nanette, als sie den Weg zur Serpentine einschlugen.
„Unsinn, Mademoiselle“, sagte Dean mit gespielter Empörung. „Ein Gentleman zahlt immer für seine Dame.“
Nanette belohnte diese Bemerkung mit einem breiten Lächeln. „Oui, aber ’aben Sie mir nischt vor’in gesagt, dass Montrose ’inter Ihnen und Ihrer Familie ’er ist und Sie fast in den Ruin getrieben ’at?“
„Ich kann mir immer noch ein Mittagessen kaufen.“ Dean lachte.
Aber es war nicht zum Lachen. Die Drohungen von Montrose waren sehr real. Sie waren der Grund, warum er überhaupt den Mut aufgebracht hatte, mit einer berühmten Schauspielerin auszugehen. Nun, der Grund, warum er Lily und Martin erlaubt hatte, ihn in diese Situation zu drängen. Diese Drohungen waren der Grund, dass er unverblümt und stürmisch war, anstatt die Situation mit Finesse anzugehen.
„Ich möchte mehr tun, als Sie zum Mittagessen einzuladen, Nanette“, sagte er mit möglicherweise etwas übertriebener Ernsthaftigkeit, als sie an einer Gruppe von Mädchen vorbeikamen, die auf einer Decke auf der Wiese mit ihren Puppen spielten. Die Kindermädchen machten beim Anblick von Nanette große Augen, steckten ihre Köpfe zusammen und flüsterten.
„Sie wollen misch auch noch zum Abendessen einladen, non?“, fragte Nanette mit einem Ausdruck gespielter Unschuld in den Augen, als sie zu ihm aufblickte.
Dean lachte, aber sein Magen rebellierte ein wenig. Er war nicht so dumm, wie die Leute dachten. Er konnte sehen, dass sie glaubte, er wolle mit ihr schlafen. Und auch wenn er das tatsächlich wollte – wer wollte das nicht bei einer so schönen Figur und einem so lebendigen Geist? –, so gingen seine Absichten ihr gegenüber weit darüber hinaus. Es tat ihm weh, dass sie glaubte, er sei nur hinter einer Sache her.
„Ich möchte Sie zu allem einladen, Nanette“, sagte er so ernsthaft, wie er konnte. „Ich weiß, wir haben uns gerade erst kennengelernt, aber ich habe das Gefühl, als würden wir uns schon lange kennen. Wir haben Monate im Umkreis des anderen verbracht. Wir sehen uns einem gemeinsamen Feind gegenüber. Mir kommt der Gedanke, dass die Lösung für unseren Kampf mit Montrose darin besteht, sich auf … intime Art und Weise zu verbünden.“
„Oh?“
Nanettes einsilbige Antwort auf seine teilweise Offenbarung trug nicht dazu bei, Deans Geist zu beruhigen oder seine Seele zu besänftigen. Es war die wachsame Art, mit der Nanette ihn beobachtete. Vielleicht war es ihr Talent als Schauspielerin, aber Dean war es unmöglich, herauszufinden, was sie von seinen Annäherungsversuchen ihr gegenüber hielt. Er war sich einigermaßen sicher, dass sie ihn nicht mehr nur als einen weiteren Bewunderer betrachtete, aber darüber hinaus tappte er im Dunkeln.
Er musste viel offener und unverblümter über seine Absichten und die Hintergründe sein. In der Nähe einer Gruppe von Jungen, die einander einen Ball zuwarfen, hielt er inne und sagte: „Die Wahrheit ist, Nanette, meine Brüder und ich haben bereits einen Plan ausgearbeitet, den wir für geeignet halten, Montrose’ Absichten zu durchkreuzen.“
„Haben Sie?“ Nanette schien erstaunlich interessiert zu sein.
Ermutigt fuhr Dean fort. „Ja. Es hat etwas mit Heirat zu tun.“ Er wandte sich ihr zu, wie er es an der Straßenecke getan hatte, bevor er die Droschke gerufen hatte, und griff nach derjenigen ihrer Hände, die nicht ihren Fächer hielt. In dem Moment kam der Ball, den die Jungen geworfen hatten, durch die Luft gesegelt und schlug den Zylinder direkt von seinem Kopf.
Dean zuckte wegen des plötzlichen Verlusts seines Hutes zusammen und drehte sich stirnrunzelnd zu den Jungen um. Sie kicherten und einer krümmte sich vor Lachen, was Dean davon überzeugte, dass sie absichtlich auf seinen Hut gezielt hatten.
Er löste sich von Nanette und eilte davon, um seinen Hut und den Ball zu fangen. Sobald er den Ball in der Hand hatte, warf er ihn so fest er konnte nach den Jungen und funkelte sie dabei böse an. Die Jungen schrien auf und stoben auseinander wie Kegel auf der Kegelbahn.
Der Ball flog direkt an ihnen vorbei und prallte in die Seite einer vage vertraut aussehenden, gut gekleideten indischen Dame, die auf einem Hocker saß und die Serpentine skizzierte. Die Frau schrie auf, als ihr Skizzenblock und ihr Bleistiftkasten davonflogen, und sie fasste sich an den Arm, wo der Ball sie getroffen hatte.
„Monsieur!“ Nanette keuchte. „Was haben Sie getan?“
„Es war ein Unfall, ich schwöre es“, sagte Dean an Nanette gewandt und eilte dann auf die Inderin zu. „Es tut mir so, so leid“, sagte er zu der Frau.
Sie wich zurück, als er auf sie zustürmte, und fiel dabei von ihrem Hocker.
Zu allem Überfluss und zu Deans Unglück ging auch noch Francis zufällig in diesem Moment durch den Park und wurde Zeuge der ganzen Szene.
„Dean!“, rief Francis. „Was in Gottes Namen tust du da?“
Dean zuckte zusammen. In Anbetracht der Wut seines Bruders, des Ärgers der indischen Frau und Nanettes Schocks fürchtete er, dass er nicht nur seine Chancen bei Nanette ruiniert hatte. Er hatte sich genauso aufgeführt wie die dummen Jungs, die immer noch schallend lachten, als sie den Schauplatz ihres Verbrechens verließen.