Leseprobe Eine unschuldige Lady

Kapitel 1

London, 1885

Decker starrte auf die Liste, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag.

Mindestens ein halbes Dutzend Mal hatte er das blumige Schreiben gelesen, seit er es zwischen den Seiten eines Pamphlets gefunden hatte, das sein Verlag für die Lady’s Suffrage Society drucken sollte.

Die Worte verhöhnten ihn.

Sie reizten ihn.

Während des Lesens war sein Schwanz hart geworden. Zum einen, weil er nie dazu bestimmt gewesen war, sie zu lesen. Zum anderen wegen der Frau, die sie geschrieben hatte. Die stille, schüchterne Lady Jo Danvers, die ihn zu gern kritisch beäugte. Die ihn ansah, als wäre er ein Straßenräuber, der im Begriff war, ihre Handtasche zu stehlen. Die bis zum Hals zugeknöpft gewesen war, als sie ihr Pamphlet in seinem Kontor abgegeben hatte. Kein Haar hatte sich aus ihrer Frisur gelöst und sie hatte wie eine heilige Jungfrau ausgesehen, deren makelloses Äußeres er am liebsten befleckt hätte.

Verdammt, er musste aufhören, an sie zu denken. Er musste aufhören, diese Liste durchzusehen. Und das würde er, versprach sich Decker.

Bald. Aber zuerst würde er sie noch einmal lesen.

Wege, verrucht zu sein

1. Einen Mann küssen, bis man atemlos ist.

2. Eine Verabredung arrangieren – vielleicht mit Lord Q?

3. Mit einem Gentleman im Regen stehen. (Dies wird das Ausziehen nasser Kleidungsstücke erforderlich machen. Wähle besagten Gentleman mit Bedacht aus.)

4. Mitten in der Nacht in das Schlafgemach eines Gentlemans schleichen.

5. In die Privatgemächer eines Gentlemans gehen.

6. Eine Nacht im Bett eines Gentlemans verbringen.

7. Im Freien Liebe machen.

8. Bitte

Zur Hölle, die Punkte auf ihrer Liste waren köstlich genug, um seine Lust und sein Interesse gleichermaßen zu wecken. Aber diese unvollständige Nummer acht … Sie hatte gerade erst begonnen, sie zu formulieren. So, als wäre sie in medias res unterbrochen worden, als hätte sie noch mehr wundervolle sündige Dinge zu ihrer Liste hinzuzufügen. Nummer acht ließ seinen Schwanz jedes Mal zucken. Er hatte sich damit gequält. So viele Möglichkeiten …

Worum wollte sie bitten? Und wen wollte sie bitten? Gab es eine Nummer neun? Was hätte sie ihrer Liste sonst noch hinzugefügt?

Und vor allem: Wer zum Teufel war Lord Q?

Diese Frage beunruhigte ihn mehr, als sie es sollte. Decker sagte sich, dass es kaum eine Rolle spielte. Lady Jo war nicht die Art von Frau, mit der er sich abgab. Erstens war sie eine Lady. Zweitens war sie eine Unschuldige.

Das war sie doch, oder?

Die Liste vor ihm verhöhnte ihn.

Sie schien kaum der Feder einer jungfräulichen Lady entsprungen zu sein. Aber woher zum Teufel sollte Decker wissen, was eine jungfräuliche Lady schreiben würde? Er war seit Jahren keine Jungfrau mehr und er war nie eine verdammte Lady gewesen. Außerdem hatte er nicht mit Unschuldigen geschlafen, seit … Nun ja, noch nie. Seine Vorlieben waren weitaus verdorbener, als dass eine Jungfrau sie befriedigen könnte.

Aber oh, wie reizvoll wäre es, Lady Jo zu verführen.

Verflucht, seine Hose war zu eng. Jedes Mal, wenn er sich auf seinem Stuhl bewegte, um sein Unbehagen zu lindern, drückte sie gegen seine Erektion.

Der Zauber des Verlangens, den Lady Jos Liste auf ihn ausübte, war schwer und dick, unausweichlich. Wenn er heute noch irgendetwas zustande bringen wollte, würde er Hand an sich legen müssen.

Es gab nur eine Antwort auf seine derzeitige missliche Lage:

Er musste sich von der Liste befreien.

Die Verlockung beseitigen.

Sie ihrer rechtmäßigen Besitzerin zurückgeben und dann vergessen, dass er sie je gesehen hatte.

Natürlich, als ob er den letzten Teil auch nur irgendwie bewerkstelligen könnte.

Seufzend verfasste er eine knappe Notiz an Lady Jo Danvers.

***

Ich glaube, ich habe etwas von Ihnen.

D.

Die Notiz befand sich in Jos Handtasche, als sie darauf wartete, dass der grobschlächtige Schotte, der als Mr Elijah Deckers aide–de–camp fungierte, sie ankündigte. Sieben Worte, unterzeichnet mit seiner Initiale. Sie hatte sofort gewusst, von wem die Nachricht stammte. Und sie hatte auch gewusst, was sich in seinem Besitz befand. Was sie ihm versehentlich überlassen hatte.

Ihre Wangen glühten.

In ihrem Magen kochte das Elend.

Seit drei Tagen war ihre Liste verschwunden gewesen. Sie hatte überall danach gesucht. Zuerst glaubte sie, sie hätte sie irgendwie verlegt und sie befände sich unter ihrer Korrespondenz. Als eine gründliche Untersuchung die Liste nicht zutage beförderte, hatte sie befürchtet, ihr älterer Bruder Julian, der Earl of Ravenscroft, wäre darauf gestoßen. Doch nachdem sein beschützerischer brüderlicher Zorn nicht über sie hereingebrochen war, war sie zu einem anderen, weitaus beunruhigenderen Schluss gekommen.

Sie hatte ihre Liste ungewollt in die Seiten ihres Pamphlets für die Lady’s Suffrage Society gelegt und sie dem abscheulichen, sündhaft gut aussehenden, völlig selbstverliebten Wüstling übergeben, dem der Verlag gehörte und der jetzt alle Broschüren der Society druckte.

Diese sieben Worte, geschrieben in seiner arroganten Handschrift, bestätigten es und brannten ein wahres Loch der Schande in ihre Handtasche.

Von allen Personen, denen sie ihre Liste unabsichtlich hätte geben können, warum, oh, warum musste es ausgerechnet er sein?

Sie verabscheute ihn und Männer seiner Art.

Mr Elijah Decker war so etwas wie eine Hure. Eine Gentleman–Hure.

Nur, dass er kein Gentleman war.

„Was ist, Macfie?“, knurrte Mr Decker von irgendwo in seinem Kontor. Er klang gereizt. „Ich dachte, ich hätte gesagt, dass ich in der nächsten Stunde keine Unterbrechungen wünsche.“

„Verzeihen Sie, Sir, aber Sie haben einen Besucher“, beeilte sich Mr Macfie zu sagen. „Lady Josephine Danvers.“

Jo umklammerte ihre Handtasche so fest, dass ihr die Knöchel schmerzten. Sie hatte weniger als eine Minute Zeit, zu versuchen, sich zu beruhigen, bevor sie ihm gegenübertreten musste. Sie holte tief Luft. Sagte sich, dass sie standhaft bleiben müsse. Dass sie nicht einen Hauch von Verlegenheit zeigen dürfte. Sie würde verlangen, dass er ihr die Liste aushändigte und darüber Schweigen bewahrte.

Mr Macfie wandte sich ihr zu. „Er ist jetzt bereit für Sie, Mylady.“

Sie dankte ihm und betrat widerwillig Mr Deckers Höhle. Mr Macfie schlug die Tür mit mehr Kraft zu als nötig, sodass Jo zusammenzuckte.

Mr Decker richtete sich zu seiner vollen imposanten Größe auf, seine unglaublich blauen Augen waren auf sie gerichtet. „Nehmen Sie es Macfie nicht übel. Er kennt seine eigene Stärke nicht.“

Sie starrte Mr Decker an und versuchte zu begreifen, was er gerade gesagt hatte. Sie blinzelte. Ihr fehlten die Worte und ihr Herz klopfte so laut, dass sie sicher war, dass Mr Decker es hören konnte.

„Das Zuschlagen der Tür, Mylady“, erklärte dieser und hob eine Braue.

Ihre Ohren fühlten sich an, als stünden sie in Flammen. „Natürlich. Mr Macfie sei verziehen. Ihnen jedoch nicht. Wo ist meine Liste?“

Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, schlenderte Mr Decker auf sie zu. „Ich kann mich nicht erinnern, Sie um Verzeihung gebeten zu haben, meine Liebe.“

Sie versteifte sich. „Ich bin nicht Ihre Liebe und Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Wo ist meine Liste?“

Wie er so vor ihr stand, sah er unerträglich gut aus. „Welche Liste meinen Sie, Lady Jo?“

Dieser Mistkerl.

Er spielte mit ihr, darauf würde sie ihre Mitgift verwetten.

„Das wissen Sie sehr gut“, behauptete sie.

„Hmm.“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger auf seine füllige Unterlippe, als dächte er nach. „Ich glaube, Sie müssen mir vielleicht einen Hinweis geben. Was steht denn auf Ihrer Liste?“

Ihre Wangen glühten. „Sie wissen, was darauf steht.“

„Weiß ich das?“ Er grinste teuflisch.

Sie hatte keinen Zweifel, dass er jedes ihrer Worte gelesen hatte.

Jede schockierende Sache, die sie bis jetzt notiert hatte, nachdem der Entschluss in ihr gereift war, ihr Leben zu leben und wahre Leidenschaft zu erfahren, so wie es alle anderen um sie herum taten. Ihre Schwester war selig verheiratet. Ihre liebste Freundin schwelgte im Eheglück und war schwer verliebt.

Aber Jo war noch nie geküsst worden.

„Ja“, zischte sie. „Das tun Sie.“

„Ich fürchte, mein Gedächtnis ist schrecklich lückenhaft. Helfen Sie mir auf die Sprünge, Mylady.“ Seine Stimme war leise. Neckend. Provozierend.

Verwegen.

Sie begriff, dass er nicht glaubte, dass sie die Kühnheit besäße, es auszusprechen.

Jo hielt ihren Blick unbeirrt auf ihn gerichtet.

„Wege …“

Sie zögerte.

„Wege?“, forderte er sie auf, während sein Blick zu ihren Lippen wanderte.

„Wege, verrucht zu sein“, platzte sie heraus.

„Oh ja, diese Liste. Jetzt erinnere ich mich.“ Die Art, wie er sie angrinste, war Sünde in ihrer reinsten, verführerischsten Form.

Verflucht sei er!

Und verflucht sei das seltsame Flattern, das in ihrem Bauch begann, nach unten glitt und sich zwischen ihren Schenkeln sammelte.

Jo war dem Untergang geweiht.

Diese Liste“, stimmte sie zu. „Sie haben mir eine Nachricht geschickt, dass Sie sie haben. Ich hätte sie bitte gerne zurück.“

So. Wenn er ein Gentleman wäre, würde er ihr weitere Demütigungen ersparen, und ihr die Liste ohne ein Wort aushändigen.

„Was haben Sie mit dieser Liste vor?“, fragte er, trat noch näher auf sie zu und lieferte den Beweis dafür, dass er kein Gentleman war.

„Das geht Sie wohl kaum etwas an.“ Sie sagte sich, sie würde sich nicht einen Zentimeter bewegen. Kein Schritt des Rückzugs. Aber er stand nahe genug, um ihn berühren zu können.

Sein Duft umwehte sie, ein Duft, wie sie ihn nie zuvor gerochen hatte – moschusartig und reichhaltig mit einem Hauch von Lorbeer. Nahe genug, dass sie graue und grüne Streifen in den hellblauen Tiefen seiner Augen entdeckte.

Er streckte seine Hand nach ihr aus und sie trat auf ihn zu. In Erwartung eines Kusses. Einer Umarmung. Die schwelende Hitze in ihr – teils aus Verlegenheit, teils aus Sehnsucht – wuchs zu einer Flamme.

Er nahm ihr den Hut vom Kopf und zeigte immer noch dieses schelmische Grinsen. „Ich fürchte, Sie haben es zu meiner Angelegenheit gemacht, als Sie mir Ihre Liste anvertraut haben, Bijou.“

Bijou? Nannte er alle seine gefallenen Frauen so?

Jo griff nach ihrem Hut und ärgerte sich über sich selbst, weil sie gedacht hatte, er würde sie küssen. Schlimmer noch, dass sie es gewollt hatte, wenn auch nur für ein paar Sekunden. Was war nur los mit ihr?

„Nennen Sie mich nicht so und geben Sie mir meinen Hut, Sie Schuft!“

Sie stürzte sich auf ihn, aber Mr Decker war zu schnell. Er hielt ihren Hut in die Luft, hoch über Jos Kopf und nutzte seine enorme Größe zu seinem Vorteil. Es war nicht das erste Mal in ihrem Leben, dass sie sich über ihre zierliche Statur ärgerte, aber die Demütigung des Augenblicks machte diese spezielle Szene noch schlimmer.

„Ich gebe Ihnen Ihren Hut zurück, wenn Sie meine Frage beantworten.“ Er hob eine dunkle Braue. „Mit dieser verflixten Vorrichtung auf dem Kopf konnte ich Ihre Augen nicht sehen.“

„Mein Hut entspricht der derzeitigen Mode.“ Jo verlor die Beherrschung und sprang nach oben, um den Hut aus seinem Griff zu befreien.

Aber ihr Versuch schlug fehl.

Und Mr Decker lachte über ihre Bemühungen, der Unhold.

„Müssen da wirklich so viele Federn dran sein?“ Er schüttelte den Hut und ließ ihn spöttisch über ihrem Kopf baumeln. „Oder muss er eine so ausgeprägte Krempe vorn haben? Sie verdeckt Ihr halbes Gesicht, Darling.“

Erst Bijou, jetzt Darling. Sie hasste ihn. Nun, sie wollte ihn hassen. Und sie wollte auch, dass er ihr den Hut und ihre Liste zurückgab. Aber in Wahrheit hatte die Art, wie er diese Kosenamen in seinem tiefen, einladenden Bariton aussprach, eine Wirkung auf sie, auch wenn sie sich geschworen hatte, diesem Mann gegenüber so unempfindlich zu bleiben wie möglich.

Und nach dem Lächeln auf seinen Lippen zu urteilen, wusste er das, der Schurke.

„Wenn ich das nächste Mal einen Hut aussuche, werde ich mich bemühen, Sie nach Ihrer Meinung zu fragen, Mr Decker. Und nennen Sie mich bitte nicht Darling.“ Sie versuchte, ätzend zu klingen, stellte aber verärgert fest, dass sie tatsächlich atemlos klang.

Benebelt.

Weil sie es war. Die Nähe zu Mr Elijah Decker ließ sie Dinge fühlen, die sie nicht fühlen wollte. Er war in jeder Hinsicht völlig unpassend. Seit sie ihn kennengelernt hatte – Mr Decker war ein enger Bekannter des Earl of Sinclair, des Ehemannes ihrer Freundin Callie –, fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Aber sein Ruf als Schürzenjäger und sein großspuriges, eitles Auftreten hatten dazu geführt, dass sie ihn auf Anhieb nicht mochte.

Und ihm misstraute.

„Sie sind ein temperamentvolles kleines Ding, wenn Sie wütend sind, Lady Jo.“ Sein Grinsen wurde noch breiter und er zeigte mehr von seinen Zähnen. „Das gefällt mir.“

Sie wünschte, seine Worte würden ihr Herz nicht zum Klopfen bringen oder ein seltsames Bedürfnis, zähflüssig wie Honig, durch ihr Inneres gleiten lassen. Aber sie taten es.

Sie biss die Zähne zusammen. „Wie schön für Sie. Bitte geben Sie mir meinen Hut und meine Liste zurück, Mr Decker.“

„Ich habe Ihnen meine Bedingungen mitgeteilt. Beantworten Sie meine Frage und Sie bekommen Ihren Hut zurück.“

Sein Blick war intensiv und brannte sich in den ihren. Sie konnte nicht wegsehen. Es war, als nähme er ihr jede Möglichkeit zur Verteidigung.

Oh, sie hatte mehrmals mit Mr Decker gesprochen, wenn sie ihm die Flugblätter persönlich überbrachte. Sie hatte ihn bei Dinnerpartys und Bällen gesehen. Dennoch war sie ihm nie nah genug gewesen, um zu bemerken, wie lang seine Wimpern waren. Nah genug, um die volle Wirkung seiner rohen, sinnlichen Anziehungskraft zu erleben.

„Ich wollte versuchen, die Punkte auf meiner Liste zu erfüllen“, platzte sie heraus. „Das ist es, was ich damit machen wollte.“

„Hmm“, brummte er. „Erfüllen, sagen Sie. Und wie?“

Sie errötete noch einmal am ganzen Körper. „Auf die übliche Weise. Indem ich sie umsetze.“

„Ich verstehe.“ Ohne ihr den Hut zu übergeben, drehte er sich abrupt um, ging zu seinem Schreibtisch zurück und ließ ihren Hut darauf fallen, als wäre er ein toter Vogel. „Mit demselben Gentleman oder mit verschiedenen Herren?“

Sie hatte nicht mit mehr Fragen gerechnet. Jo blinzelte. Der Moment zwischen ihnen war intensiv gewesen. Aber wenn sie erwartet hatte, dass ihr Herz jetzt, wo er nicht mehr in der Nähe war, langsamer schlagen und sich die seltsame Schwere in ihrem Bauch auflösen würde, lag sie falsch. Die Schwere blieb.

Ihr Blick verlagerte sich auf ihren Hut, der unschön auf der Seite lag. Vielleicht, wenn sie schnell genug war …

„Sie können es versuchen, Bijou, aber ich bin schneller.“

Mr Deckers spöttische Stimme ließ Jos Augen wieder zu seinem Gesicht wandern. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie mich nicht so nennen sollen.“

Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Bringen Sie mich dazu, damit aufzuhören.“

Ihn zum Aufhören bringen? So etwas hatte sie noch nie gehört. Elijah Decker war zum Verrücktwerden. Unerträglich. Unhöflich.

Unwiderstehlich.

Sie runzelte die Stirn. „Sie sind ziemlich unfair, Mr Decker. Ich habe Ihnen die Liste versehentlich gegeben und jetzt hätte ich sie gern zurück. Wenn Sie auch nur einen Funken Ehre im Leib haben, werden Sie mir beides geben, die Liste und meinen Hut, und mich ohne weiteren Streit gehen lassen.“

Er grinste wieder. „Glücklicherweise habe ich sehr wenig Ehre.“

Das hatte sie bereits vermutet. „Was wollen Sie?“

„Wo soll ich anfangen?“ Seine Augen musterten ihre Gestalt in einer Liebkosung, die flüssige Hitze durch ihr Inneres schickte.

Jo wünschte, sie hätte einen Fächer, um sich kühle Luft zuzufächeln. Sie wünschte sich, dass sie nie in Mr Deckers Kontor gegangen und an einem Ort geblieben wäre, wo sie vor seinen Andeutungen und seinen schwelenden Blicken sicher wäre.

„Mr Decker, meine Zofe erwartet mich in der Kutsche“, blaffte sie. „Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

„Schade.“

In diesem einen Wort steckte eine so sinnliche Verheißung, dass Jo der Mund trocken wurde. Elijah Decker war gefährlich. Aber sie würde seinem tödlichen Charme nicht erliegen und keine weitere seiner Eroberungen werden.

Niemals!

Ihr Kinn hob sich. „Hören Sie auf, Spielchen mit mir zu spielen, Mr Decker.“

„Wer ist Lord Q?“

Seine Frage erschreckte sie und eine weitere Welle der Hitze stieg in ihre Wangen. „Lord Quenington.“

„Er ist ein notorischer Wüstling“, sagte Mr Decker in einem abfälligen Tonfall.

„Das Gleiche könnte man von Ihnen behaupten“, schoss sie zurück.

Vielleicht war das unklug. Immerhin war er immer noch im Besitz ihrer Liste und ihres Hutes.

„Ja“, stimmte er zu. „Das bin ich. Aber Quenington kann unmöglich mit mir konkurrieren. Wenn Sie etwas Verruchtes tun wollen, sollten Sie es mit dem besten Kandidaten tun.“

„Wer sagt, dass ich etwas Verruchtes tun will?“

„Sie und Ihre Liste.“ Er riss sie von seinem Schreibtisch und hielt sie in die Höhe. „Soll ich die Punkte laut vorlesen und Sie daran erinnern? Vielleicht haben Sie sie ja vergessen.“

Sie hatte die Punkte nicht vergessen. Natürlich hatte sie das nicht.

Jos Blick huschte von ihrer Liste zurück zu dem unmöglichen, verführerischen Mann, der sie ihr vorenthielt. „Ich weiß, was da steht. Lesen Sie es nicht laut vor.“

„Also gut.“ Er legte die Liste zurück auf seinen Schreibtisch. „Wir wissen beide, was da steht. Sie haben jedoch die Nummer acht nicht ausformuliert. Worum wollten Sie bitten? Seit drei Tagen quält mich die Neugier.“

Bitte einen Gentleman, dir beim Ausziehen zu helfen.

Sie hatte nicht vor, ihm das zu verraten, also ignorierte Jo seine Frage.

„Sie haben mir diese Liste drei Tage lang vorenthalten?“ Sie sollte empört sein.

Und ein Teil von ihr war es auch. Sie hatte angenommen, er hätte ihre Liste erst heute entdeckt. Wenn er jedoch schon vor drei Tagen wusste, dass sie in seinem Besitz war, bedeutete das, dass es einen Grund gab, warum er sie aufbewahrt hatte. War es nicht so?

„Das habe ich. Aber ich gebe sie Ihnen zurück, im Austausch für ein Versprechen.“

Seine beiläufige Äußerung überraschte sie und weckte auf einen Schlag ihre Wachsamkeit. „Welches Versprechen, Mr Decker?“

„Nur Decker, bitte“, sagte er mit dieser butterweichen Stimme. „Ich finde den Mister viel zu förmlich. Wenn wir Freunde sein wollen, können Sie mich genauso nennen, wie es alle meine anderen Freunde tun.“

„Ich habe nicht den Wunsch, mit Ihnen befreundet zu sein“, erwiderte sie, obwohl der Gedanke, mit ihm ungezwungen umgehen zu können und befreundet zu sein, köstlich verlockend war.

Und natürlich völlig falsch und unmöglich.

Nie und nimmer konnte sie die Freundin dieses verwegenen Mannes sein.

„Vielleicht ändern Sie Ihre Meinung darüber, Bijou, wenn Sie meinen Vorschlag hören.“ Seine Lippen zuckten, als wolle er lächeln, es aber unterdrückte.

Es sollte ihr nicht gefallen, dass er sie so nannte – Bijou –, und doch tat es das. Umso mehr Grund, die Stirn zu runzeln.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich an irgendetwas Interesse haben könnte, was Sie vorschlagen, Mr Decker.“

„Sie haben eine Liste von Zielen, die Sie erreichen wollen“, betonte er vorsichtig. „Und dennoch, verzeihen Sie mir die Bemerkung, sind Sie eine unverheiratete Lady von ausgezeichnetem Rang. Eine mit einem unanfechtbaren Ruf. Was wissen Sie davon, Verabredungen zu arrangieren oder jemanden zu finden, der Sie küsst, bis Sie atemlos sind?“

Nichts, wünschte sie sich zu sagen. Deshalb hatte sie die verflixte Liste erstellt.

„Ich verstehe nicht, was das mit Ihnen zu tun hat“, sagte sie schroff. „Sie überschreiten Ihre Grenzen, Sir. Wenn Sie meine Liste oder meinen Hut nicht aushändigen wollen, werde ich einfach ohne sie gehen.“

„Ich werde beides zurückgeben, wenn Sie versprechen, dass ich Ihnen dabei behilflich sein darf, jeden Punkt auf Ihrer Liste zu erfüllen“, sagte er sanft und überraschte sie einmal mehr. „Einschließlich Nummer acht, falls Sie mir anvertrauen wollen, was es ist.“

„Sie wollen mir helfen?“, fragte sie ungläubig. „Wie? Warum?“

„Weil Sie eine gute Freundin der Countess of Sinclair sind“, erwiderte er. „Und weil Ihre Liste ein gefährliches Geschäft ist. Es wäre nachlässig von mir, Ihnen keine Beratung anzubieten. Unterstützung. Wie auch immer Sie es nennen wollen. Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass Sie nicht versuchen, eines Ihrer Ziele mit dem falschen Gentleman zu erreichen.“

Ihre Augen verengten sich, als sie ihn kritisch beäugte und versuchte, sich einen Reim auf den Mann zu machen. Sie scheiterte kläglich. „Ich verstehe Ihr Motiv nicht, Mr Decker.“

Er zuckte wieder mit den Schultern. „Vielleicht klammere ich mich an den letzten Fetzen von Ehre, den ich besitze.“

Jo glaubte dieser Erklärung nicht. Nicht einen Moment lang.

Sie fragte sich, wie er gleichzeitig so gut aussehend und so sorglos sein konnte. Wie er es schaffte, eine unverbindliche Geste zu machen und dabei sinnlich und anregend zu erscheinen.

Ungeachtet dessen hielt der Mann weiterhin ihre Liste und ihren Hut in seinem Besitz. Sie musste diese Pattsituation beenden.

„Angenommen, ich akzeptiere Ihre Hilfe bei meiner Liste“, sagte sie vorsichtig. „Was würde das bedeuten?“

„Lord und Lady Sinclair geben morgen Abend einen Ball. Ich nehme an, Sie werden daran teilnehmen?“

Natürlich würde sie dort sein. Der Ball war Callies Art, ihren einstmals geächteten Ehemann wieder in die Gunst der Gesellschaft zu bringen. „Ja.“

„Ausgezeichnet. Das werde ich auch. Reservieren Sie mir einen Tanz, dann reden wir weiter.“

Er wollte sie einen ganzen Tag warten lassen? Und warum sorgte die Aussicht darauf, tags darauf mit ihm zu tanzen, dafür, dass ihr Herz noch schneller schlug, als es das ohnehin schon tat?

„Gut“, stimmte sie grimmig zu. „Jetzt geben Sie mir meinen Hut und meine Liste, wenn ich bitten darf.“

Er nahm den Hut, ging um seinen Schreibtisch herum und kam vor ihr zu stehen. Wieder kämpfte sie gegen den Drang an, zurückzuweichen.

Er erschreckte sie, als er mit den Fingern über ihre Wange strich und dann eine verirrte Haarsträhne, die sie nicht bemerkt hatte, hinter ihr Ohr steckte.

Nur eine schnelle Berührung seiner nackten Haut auf der ihren, und doch spürte sie diese Berührung.

Überall.

„Eine verirrte Locke“, erklärte er, damit Jo nicht glaubte, es gäbe einen anderen Grund für diese flüchtige Liebkosung. „In Ihrem Zorn hat sie sich von Ihrer Frisur gelöst.“ Dann setzte er ihr den Hut ordentlich auf den Kopf. „Bitte sehr, Darling. Ich fürchte, die Liste muss leider noch bei mir bleiben.“

Er wandte sich von ihr ab und schritt zurück zur anderen Seite seines Schreibtisches. Während er ging, starrte sie auf seine breite, unbestreitbar männliche Gestalt und die langen Beine. Sie wünschte sich, sein Rücken wäre nicht ebenso schön geformt und genauso unwiderstehlich wie seine Vorderseite. Er war von großer, sinnlicher Eleganz und bewegte sich mit einer sorglosen Anmut, die einen Mann auszeichnete, der wusste, welche Wirkung er auf die Damen in seiner Gegenwart hatte.

Jo war keine Ausnahme, so sehr sie sich auch wünschte, es wäre nicht der Fall.

„Sie sagten mir, wenn ich Ihre Hilfe annehme, würden Sie mir die Liste geben“, zischte sie aufgebracht und irritiert.

„Das habe ich in der Tat“, stimmte er mit müheloser Gelassenheit zu und sah sie von seinem Schreibtisch aus an. „Aber ich bin ein Geschäftsmann, Sie verstehen. Ich gebe nicht meine ganze Macht aus der Hand, bevor ich nicht sicher bin, dass der Austausch auf Gegenseitigkeit beruht und nicht verweigert wird.“

„Sie Schurke!“, explodierte sie, ebenso wütend über sich selbst wie über ihn. „Das hätten Sie mir von Anfang an sagen können.“

„Das hätte ich.“ Das schelmische Grinsen war wieder da. „Aber es wäre nicht annähernd so amüsant gewesen. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe heute sehr viele Angelegenheiten, die meine Aufmerksamkeit erfordern. Macfie wird Sie zu Ihrer Kutsche begleiten. Bis morgen.“

Damit setzte er sich und begann, die Papiere auf seinem Schreibtisch zu durchforsten, als wäre sie bereits gegangen. Als wäre es für einen Gentleman völlig akzeptabel, sich in Anwesenheit einer stehenden Lady zu setzen. Noch dazu einer, die von höherem Rang war als er. Sie war die Schwester eines Earls, und er war der uneheliche Sohn eines solchen.

Jo hatte eine kurze, wilde Fantasie, sich über seinen Schreibtisch zu werfen und ihre Liste zu retten. Aber am Ende nahm sie die zerfledderten Reste ihres Stolzes und verließ das Büro von Mr Elijah Decker, dem gerissenen Wüstling der Extraklasse, mit ebenso leeren Händen, mit denen sie gekommen war.

Kapitel 2

Es war noch nicht an der Zeit für Decker, den versprochenen Tanz einzufordern.

Einer der ausgezeichneten Vorteile, mit dem Gastgeber und der Gastgeberin des Balls befreundet zu sein, war, dass er mit dem Grundriss des neu renovierten Stadthauses des Earl of Sinclair mehr als vertraut war. Das bedeutete auch, dass er es vermeiden konnte, angekündigt zu werden und so konnte er in der Zwischenzeit einem seiner liebsten Laster nachgehen – dem Beobachten.

Lady Jo Danvers war anwesend. Sie hatte einen Platz am Rande des Geschehens eingenommen und in ihrem rosa Seidenkleid mit den weißen Rosen sah sie unschuldig aus. Nun war diese Form des Beobachtens nicht annähernd so pikant wie die Variante, der er sonst bei seltenen Gelegenheiten frönte, aber es würde genügen.

Für den Moment.

Er genoss es, die Versammlung der Lords und Ladies von einem privaten Balkon außerhalb des Saales aus zu beobachten, von dem niemand wusste. Kurz nach Beginn des Balls hatte er sich hier niedergelassen.

Decker wünschte, er hätte einen Whisky, der ihm Gesellschaft leistete. Wäre Sin ein wirklich zuvorkommender Freund gewesen, hätte er dafür gesorgt, dass eine Karaffe und ein Glas in einer Ecke für ihn bereitstanden. Aber vermutlich konnte sich Decker nicht beklagen. Irgendwann würde er aus seinem Versteck schlüpfen wie eine tödliche Schlange, die zum Angriff bereit ist, und Lady Jo überrumpeln.

Das gestrige Zusammentreffen mit ihr hatte ihm große Freude bereitet. Mehr als alles andere in der Vergangenheit.

Zumindest, was Handlungen im vollständig bekleideten Zustand betraf. Zur Hölle. Wem wollte er hier etwas vormachen? Selbst als er nackt gewesen war und bis zu den Eiern in einer Möse gesteckt hatte, war er nicht so erregt gewesen wie tags zuvor, beim Wortgefecht mit Lady Jo.

Sein Schwanz wurde hart, wenn er nur daran dachte, wie herrlich empört sie gewesen war. Er hatte Lady Jo Danvers schon bei zahlreichen Gelegenheiten gesehen. Aber noch nie hatte sie so viele Worte zu ihm gesagt. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass sich hinter ihrem prüden Äußeren so viel Kühnheit verbarg.

Aber jetzt wusste er es.

Und um ehrlich zu sein, er wollte sie für sich selbst.

Nur eine Kostprobe. Wenn sie auf dem Weg ins Verderben war, was würde es schaden, der Mann zu sein, der ihr dabei half, einen der Punkte auf ihrer Liste zu erfüllen? Oder zwei, oder drei?

Oder gar alle? Das Verbotene, Lüsterne hatte ihn schon immer gereizt. Warum nicht Lady Josephine Danvers?

Verdammt!

Er musste seine Gedanken zügeln, denn die Vorstellung, jede von Lady Jos Fantasien zu erfüllen … Nun, sie erregte ihn zu sehr, als dass er in diesem Moment in der Lage gewesen wäre, einen Ballsaal zu betreten, in dem es von herablassenden Lords und Ladies wimmelte, die es liebten, ihn zu verhöhnen. Letztlich war er auf der falschen Seite des Bettes geboren worden. Er gehörte nicht in ihre Reihen.

Dann fiel ihm eine plötzliche Bewegung ins Auge. Erkenntnis versengte Decker. Seine Eingeweide kribbelten.

Der verdammte Quenington.

Derselbe Lord, den Lady Jo für eine Verabredung in Betracht zog.

Ein aufgeblasener Arsch, wenn man Decker fragte. Nicht, dass Lady Jo seine Meinung hatte wissen wollen.

Wie auch immer, Quenington ging direkt auf Lady Jo zu.

Die Besitzgier blühte in Decker auf und entfaltete sich wie die Blütenblätter einer Sommerblume unter der heißen Sonne. Er konnte es nicht ertragen, sie mit dem Viscount tanzen zu sehen. Und ein Rendezvous der beiden?

Unmöglich.

Lächerlich.

Inakzeptabel!

Decker öffnete die Balkontür. Der Lärm des Balls war nun nicht mehr gedämpft, sondern umfing ihn in vollem Umfang. Schnell schritt er über die Schwelle. Er ließ die ruhige Dunkelheit, in der er so oft verweilte, hinter sich und stürzte sich in den grellen gesellschaftlichen Trubel.

Er sagte sich, dass er dies für Lady Jo tat. Um sicherzustellen, dass sie ihre Unschuld nicht dem falschen Gentleman anvertraute.

In der Tat war er in seiner Vorstellung ein richtiger Galahad.

Nur dass er weder ihre Unschuld noch sie vor irgendetwas bewahren wollte, schon gar nicht vor ihrem Ruin.

Er selbst wollte Lady Jo Danvers kompromittieren.

Da war sie, die schändliche Wahrheit.

Hätte er auch nur einen Funken Ehre, würde er sie ihrem Schicksal überlassen. Er würde ihr erlauben, ungestört mit der Umsetzung der Punkte auf ihrer Liste fortzufahren. Würde Quenington erlauben, hereinzurauschen, und seinen Tanz mit Lady Jo zu beanspruchen, oder was auch immer er vorhatte.

Decker beschleunigte seinen Schritt und schaffte es, sich durch die versammelte Menge hindurchzuschlängeln. Schließlich erschien er vor Lady Jo, kurz bevor der Viscount eintraf. Ihre honigbraunen Augen weiteten sich.

Er verbeugte sich und tat das Richtige, obwohl ein Teil von ihm sich dagegen sträubte, sich den erwarteten gesellschaftlichen Interaktionen zu unterwerfen. „Lady Jo.“

„Mr Decker.“ Sie versank in einem passablen Knicks. Es war ein hastiger Knicks.

Ziemlich charmant. Sie war so verdammt klein und zierlich. Er wünschte, er könnte sie in seine Westentasche stecken und wegzaubern, ohne dass jemand etwas bemerkte.

„Ich fordere meinen Tanz ein“, sagte er.

Ihre Brauen hoben sich. „Jetzt? Aber ich habe diesen Tanz Lord Quenington versprochen.“

Der besagte Wüstling kam auf sie zu. Decker starrte ihn mit tödlichem Blick an. Einem Blick, der Vergeltung auf langsame und schmerzhafte Weise versprach, sollte seine Warnung ungehört bleiben. Queningtons Lippen kräuselten sich spöttisch.

Das war vorhersehbar.

Doch Decker war an die Verachtung der meisten Lords wie der des Viscounts gewöhnt – der Sorte Mann, die an der Brust ihres Vaters nuckelten, während sie darauf warteten, dass ihre Ehrentitel gegen die Krönchen ausgetauscht wurden, die ihnen nach dem Ableben des geliebten alten Herren übergeben würden.

Decker hätte Möglichkeiten, dafür zu sorgen, dass Queningtons lange, vollkommen gerade Nase für immer krumm bliebe – durch seine eigene oder durch angeheuerte Kräfte. Er kannte auch die Vorlieben des Viscounts. Außerdem war es eine unausgesprochene Regel, dass alle Mitglieder des Black Souls Clubs in Deckers Gunst stehen mussten, wenn sie ihre Mitgliedschaft behalten wollten. Wenn der Viscount also Teil des Clubs bleiben wollte, musste er auf seinen Tanz mit Lady Jo verzichten.

Einige Sekunden lang lieferten sich Decker und Quenington einen stummen Kampf, bevor der Viscount den Kopf neigte und in eine andere Richtung davonging.

Äußerst zufrieden wandte sich Decker wieder Lady Jo zu.

„Nicht mehr.“

Sie begann zu protestieren. „Aber Lord Quenington …“

„Er hat seine Meinung wohlweislich geändert“, unterbrach Decker sie ohne Skrupel. „Ich werde Ihr Tanzpartner sein.“

„Sie haben ihm gedroht“, warf ihm Lady Jo leise vor und ihre hohen Wangenknochen färbten sich rosa.

Verdammt, sie war herrlich, wenn sie verärgert war.

„Machen Sie sich nicht lächerlich“, antwortete er ohne den kleinsten Gewissensbiss. „Er hat eingesehen, dass er in Aussehen und Charme unmöglich mithalten kann und beschloss klugerweise, sich zurückzuziehen.“

Er hatte dem Viscount nicht mit Worten gedroht. Das war ein Unterschied. Quenington hatte es verdammt noch mal nicht verdient, etwas mit Lady Jo Danvers zu tun zu haben, egal ob es sich um einen unschuldigen Tanz oder um ein Rendezvous handelte.

Vor allem nicht ein Rendezvous.

Decker würde so etwas niemals zulassen. Sie war wie eine Blumenblüte in einem Hagelsturm, keine Chance.

Lady Jo beäugte ihn immer noch misstrauisch. Das Orchester spielte auf.

Ausgezeichnet.

Er bot ihr seinen Arm an. „Mylady?“

Ihre Nasenflügel blähten sich, das einzige Anzeichen für ihre Verärgerung. Sie legte ihre Hand auf seinen angebotenen Arm. „Nun gut.“

„Klingen Sie nicht so enttäuscht“, raunte er, während er sie auf das glänzende, frisch reparierte Parkett führte, auf dem sich die anderen Tänzer versammelt hatten. „Ich bin ein verdammt talentierter Tänzer. Da kann Quenington unmöglich mithalten.“

Er warf ihr gerade in dem Moment einen Blick zu, sodass er sah, wie ihre Lippen zuckten.

„Und so bescheiden, Mr Decker“, fügte sie spöttisch hinzu.

„Ich kenne meine Stärken.“ Subtil zwinkerte er ihr zu.

Die Röte in ihren Wangen vertiefte sich.

„Warum so verlegen, Chérie?“ Er konnte sich die Frage nicht verkneifen. „Wenn Sie sich all meiner Stärken bewusst wären, würden Sie sicher erröten.“

„Mr Decker!“, schimpfte sie in missbilligender Gouvernantenmanier. Ihre Stimme war die personifizierte Empörung.

Er konnte sich kaum ein Grinsen verkneifen – sie sollte nicht merken, wie sehr er sich amüsierte. Oder der Rest des Ballsaals. Nicht, dass er sich einen Dreck darum scherte, was die Gesellschaft von ihm hielt, aber er hatte bei den Londoner Damen einen gewissen Ruf aufrechtzuerhalten.

Decker nahm seinen Platz ihr gegenüber ein. Er legte eine Hand auf die Mitte ihres Rückens, während die andere sich mit ihrer Hand verband, die in einem Handschuh steckte. Ihre linke Hand legte sie auf seine Schulter.

„Ja, Lady Josephine?“

Sie bedachte ihn mit einem grimmigen Stirnrunzeln. „Alle meine Freunde nennen mich Jo.“

Er wollte weit mehr als nur ihr Freund sein. Er wollte sie in eine dunkle Kammer entführen und … Himmel, am besten verbannte er diesen Gedanken.

Für den Moment.

„Gehöre ich denn zu Ihren Freunden?“, fragte er leichthin.

„Nein“, sagte sie. „Natürlich nicht, aber ich mag es überhaupt nicht, Josephine genannt zu werden. Der Name passt besser zu einer verbitterten Witwe, die stolz darauf ist, jeden um sich herum mit bösartigen Beleidigungen niederzumachen.“

Er tat sein Bestes, um die Enttäuschung zu überspielen, die ihre rasche Erklärung in ihm hervorrief. Was wäre nötig, fragte er sich, um das Vertrauen der Frau zu gewinnen, die gerade in seinen Armen lag?

Warum kümmerte es ihn überhaupt? Er redete sich ein, dass es ihm nicht so wichtig sei, als die Musik einsetzte. Und dann tanzten sie, wirbelten über die Tanzfläche. Obwohl er ein ganzes Stück größer war als sie, passten sie auf eine beunruhigend natürliche Weise zusammen. Auf eine Art und Weise, die ihn darüber nachdenken ließ, wie sie sonst noch zusammenpassen könnten.

Im Schlafgemach.

Nicht der richtige Zeitpunkt, um sich mit Dingen zu beschäftigen, die ihm einen Ständer inmitten eines Tanzes einbringen könnten, erinnerte er sich.

Aber etwas beunruhigte ihn. „Warum nicht?“

Er führte sie in eine Drehung.

„Warum nicht was, Mr Decker?“, fragte sie, als sie die Tanzfläche noch einmal überquerten.

Sie bewegten sich mit einer gegenseitigen Anmut, die er einfach nur bewundern konnte.

„Warum zählen Sie mich nicht zu Ihren Freunden?“, erklärte er und führte sie durch die anderen Paare.

Er konnte sich kaum erinnern, wann er das letzte Mal getanzt hatte, aber manche Dinge waren wie Reiten. Wenn man es einmal gelernt hatte, vergaß man es nie wieder. Es schockierte ihn zutiefst, dass er diesen Tanz genoss.

„Ich kenne Sie kaum“, sagte sie. „Und muss ich Sie daran erinnern, dass Sie meine Liste als Geisel halten?“

„Ich ziehe es vor, sie als sicher aufbewahrt zu betrachten.“ Er grinste, dann wirbelte er sie wieder herum.

Nicht nur der Tanz hatte etwas fesselnd Sinnliches an sich, sondern auch sie. In einer Parade bewegten sie sich an den anderen Paaren entlang, drehten sich einander zu, dann drehten sie sich weg, um sich dann wieder einander zuzuwenden.

Sie wirbelten noch ein paar Mal durch den Ballsaal und ihr stieg Farbe in die Wangen. „Sicher ist das das letzte Wort, das mir im Zusammenhang mit Ihnen in den Sinn kommen würde, Mr Decker.“

„Oh?“ Er führte sie durch eine weitere Reihe von Schritten.

„Und welche Worte, bitte schön, würden Ihrem scharfen Verstand in Verbindung mit mir einfallen, Bijou?“

Er drehte sie, genoss die Volants ihres Kleides und die Figur, die sie machten, weit mehr als er sollte. Sie blickte ihn mit leuchtenden Augen an. „Irritierend.“ Sie tanzten eine weitere Parade, wandten sich ab und kehrten dann zueinander zurück.

„Aufdringlich.“ Weitere Schritte, bis sie ihm wieder gegenüberstand. „Gefährlich.“

Als sie wieder in seinen Armen landete und sie eine weitere Runde über die Tanzfläche drehten, konnte Decker ein lautes Lachen nicht unterdrücken.

„Das Letzte akzeptiere ich, aber die erste und zweite Eigenschaft fechte ich an.“

„Haben Sie einen besseren Vorschlag?“ Ihr Blick war auf seinen geheftet, während sie sich gemeinsam bewegten.

„Gut aussehend“, versuchte er.

„Eitel“, erwiderte sie.

„Außerordentlich klug“, fuhr Decker fort, als hätte sie nichts gesagt.

„Extrem arrogant“, gab sie zurück.

„Fähig, eine Lady zu küssen, bis sie atemlos ist“, konterte er, bevor er sie noch einmal herumwirbelte.

Ihre Augen trafen auf seine und einen Moment lang war sie sprachlos.

„Nicht diese Lady“, zischte sie schließlich.

Sie wandten sich voneinander ab und tanzten weiter, als hätten sie sich nicht gerade auf bedeutsames Terrain begeben.

„Woher wollen Sie das wissen, wenn Sie es nicht versuchen?“, drängte er.

Sie sahen sich wieder an. Ihre Gesichtsfarbe wurde intensiver. „Verzeihung, wie lautete Ihre Frage, Mr Decker? Ich bin mir sicher, dass ich mich verhört habe.“

„Und ich bin ebenso sicher, dass Sie das nicht haben. Was ich gefragt habe, war: Woher wollen Sie das wissen, wenn Sie mir nicht die gleiche Chance einräumen, die Sie einem Fiesling wie Quenington geben würden?“ Innerlich trat er sich selbst in den Hintern.

Was hatte er getan? Was hatte er sich nur dabei gedacht? Von all den schlechten Ideen, die er je gehabt hatte, war der Vorschlag, die unschuldige Freundin von Sins Countess zu küssen, wohl die schlimmste.

Doch als er Lady Jo Danvers jetzt ansah, konnte er nicht leugnen, dass es auch die faszinierendste war. Die verlockendste.

So wie sie. Sie war wirklich ein kleines Juwel, so viel Feuer, das sich unter ihrem ruhigen Äußeren verbarg. Früher hatte er sie immer für prüde gehalten. Kaltblütig. Ihre Liste hatte das Gegenteil bewiesen. Es gab vieles, was unter ihrer Oberfläche verborgen brodelte. War es falsch von ihm, eine Kostprobe zu wollen?

Sein Schwanz sagte ihm Nein.

Sein Gewissen sagte ihm Ja.

Leider gewann sein Schwanz.

„Ich wäre eine völlige Närrin, wenn ich so etwas Leichtsinniges tun würde.“ Endlich fand sie Worte, während sie sich den letzten Takten der Musik näherten.

Er wirbelte sie herum, schneller als nötig, drehte sie ein letztes Mal, bevor der Tanz endete. Er verbeugte sich.

Sie sank in einen Knicks.

„Treffen Sie mich in einer halben Stunde im Blauen Salon“, forderte er sie auf und bot ihr seinen Arm an.

„Sie verschwenden Ihre Zeit, Sir“, sagte sie leise, während er sie von der Tanzfläche geleitete.

„Wenn Sie sich zu sehr fürchten, verstehe ich das natürlich.“ Er führte sie an den Rand des Gedränges, wo er sie gefunden hatte.

„Natürlich habe ich keine Angst.“

„Ach?“ Er warf ihr einen Blick zu, der deutlich sagte, dass er ihr nicht glaubte.

Lady Jos Wangen waren immer noch gerötet aufgrund einer Kombination aus Anstrengung und charmanter Verlegenheit. Ihre honigbraunen Augen glänzten, die rosa Lippen waren geöffnet. Am liebsten hätte er sie aus dem Ballsaal gezerrt und sie nicht nur atemlos, sondern auch um den Verstand geküsst.

„Ich habe keine Angst“, beteuerte sie. „Sie machen mir keine Angst.“

Er hätte ihr verdammt noch mal Angst machen sollen. Wenn sie eine Ahnung von den Gedanken hätte, die ihm gerade durch den Kopf schossen – all die Dinge, die er ihr antun, sie lehren könnte –, würde sie fliehen wie die unterlegene Flanke der Infanterie vor dem Angriff der Kavallerie.

„Dann beweisen Sie es. Der Blaue Salon. In einer halben Stunde.“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, entfernte sich Decker von ihr. Er würde lügen, wenn er behauptete, dass er ihren Blick nicht wie eine Liebkosung auf sich spürte, als er wegging.

***

Jo sagte sich, dass sie nicht in den Blauen Salon gehen würde.

Sie würde nicht zu Mr Elijah Decker gehen.

Nicht in einer halben Stunde.

Niemals.

Nein, wirklich nicht. Sie wollte verruchte Dinge tun, aber nicht mit einem Mann wie ihm. Ihre Liste war nicht vollständig und was da geschrieben stand, war achtlos zusammengekritzelt. Angespornt durch ein weiteres Abendessen, bei dem sie die ekelhaft verliebten Paare um sich herum beobachtet und viel zu viele Gläser Wein getrunken hatte, hatte sie eines Nachts vor dem Schlafengehen mit ihrer albernen Liste begonnen.

Aus einer weintrunkenen Laune heraus, so viel war wahr.

Aber selbst eine Anfängerin wie Jo wusste, dass es Gentlemen gab, mit denen man gefahrlos flirten konnte, und dann gab es Mr Elijah Decker. Der lästige, wahnsinnig gut aussehende Mann war eine Klasse für sich.

„Hast du das Tanzen, die Kriecherei und den Unsinn schon satt?“ Unvermittelt stand Lady Alexandra Marlow, Jos Schwester an ihrer Seite. Sie konnte ein Gähnen kaum unterdrücken.

Alexandra war eine wissenschaftlich denkende Frau. Sie verabscheute Bälle. Aber sie und ihr Mann, Lord Harry Marlow, hatten zugestimmt, Jo heute Abend zum Ball ihrer Freundin Callie zu begleiten. Jo mochte Bälle auch nicht besonders, aber Callies erstes Fest als Countess of Sinclair hatte sie nicht verpassen wollen.

„Der Ball hat gerade erst begonnen“, sagte sie zu Alexandra und runzelte die Stirn. „Du willst doch nicht schon gehen?“

„Meine Berechnungen warten auf mich“, sagte Alexandra. „Ich stehe an der Schwelle zu einigen sehr wichtigen Erkenntnissen über Regenbänder und mein Buch schreibt sich nicht von selbst.“

Jo liebte ihre Schwester, aber sie würde Alexandras Faszination für das Wetter nie ganz verstehen. „Das ist Callies Ball, und ich habe ihr versprochen, dass ich bis zum Ende bleiben werde.“

Alexandra rümpfte angewidert die Nase. „Ich hatte gehofft, ich könnte dich von deiner Vorstellung von Loyalität abbringen, so bewundernswert sie auch ist. Grundgütiger, Jo, keine von uns beiden hat diese Art von Spektakel je unterhaltsam gefunden.“

Nein, das hatte Jo nicht.

Zumindest nicht, bis ein teuflisch gut aussehender Wüstling mit ihr getanzt und eine Verabredung arrangiert hatte. Nicht, dass sie Mr Decker treffen wollte, rief sie sich in Erinnerung. Er war unzuverlässig und sich seiner eigenen männlichen Schönheit viel zu bewusst. Sogar Callie hatte zugegeben, dass sein Ruf schrecklich war und hatte sie bei zahlreichen Gelegenheiten darauf hingewiesen, Abstand zu halten. Er war die Art von Gentleman, die man aus der Ferne bewundern konnte, eher wie einen Löwen in einer Menagerie. Nie würde sie es wagen, seinen Käfig zu betreten, sich ihm allein zu stellen.

Seiner Gnade ausgeliefert.

Nein!

Und doch blieb ein Teil von ihr neugierig, wollte ein Teil von ihr diese Einladung in den Blauen Salon annehmen. Um ihm zu erlauben, zu beweisen, dass er sie atemlos küssen konnte. Er war attraktiv. Verführerisch.

Er war alles, was sie meiden sollte.

Und er war alles, was sie wollte. Vor sich selbst konnte Jo sich die schreckliche Wahrheit eingestehen, wenn auch vor niemandem sonst. Mr Decker faszinierte sie wie kein anderer Mann zuvor.

„Jo?“, drängte ihre Schwester. „Bist du betrunken?“

Das wäre die einzig angemessene Entschuldigung für die Gefühle gewesen, die sie durchströmten. Aber leider hatte Jo nur die Limonade gekostet.

„Natürlich nicht. Ich habe kaum einen Tropfen angerührt.“

Oder einen Bissen gegessen. Vielleicht war es dieses Bedürfnis, welches tief in ihrem Inneren rumorte. Hunger – der gewöhnlichen Sorte und nicht der sinnlichen.

Vielleicht hatte das seltsame Gefühl flatternder Schmetterlingsflügel in ihrem Bauch nichts mit Mr Deckers Einladung zur Sünde zu tun.

Oh, wem wollte sie etwas vormachen? Es hatte alles mit ihm zu tun. Er hatte die Schmetterlinge dort platziert, mit seinen Händen und der köstlichen Art, wie er sie durch den Tanz geführt hatte. Sie war aufgedreht gewesen, sie hatte Ehrfurcht vor ihm und sehnte sich nach …

Mehr.

Was auch immer das bedeutete. Sie war sich sicher, dass ein Mann wie Mr Elijah Decker kein Problem haben würde, sie damit bekannt zu machen, was auch immer damit war, was auch immer damit bedeutete.

„Du scheinst abgelenkt zu sein.“ Alexandras Augen verengten sich, als sie Jos Gesicht musterte.

„Ich habe Callie gesucht“, log sie. „Hast du sie gesehen? Der Andrang hier ist so groß, dass ich nur einmal die Gelegenheit hatte, mit ihr zu sprechen.“

„Bist du sicher, dass ich dich nicht zur Vernunft bringen kann, liebste Schwester?“, fragte Alexandra mit einem Hauch von Hoffnung in der Stimme.

„Ich bin noch nicht bereit, zu gehen.“

Wie lange war es her, dass er ihr gesagt hatte, sie solle sich mit ihm im Blauen Salon treffen? War die halbe Stunde schon vergangen? Was, wenn er dort auf sie wartete, jetzt?

War ihr das egal?

Ja.

Nein, flüsterte eine verruchte Stimme in ihr.

Jo verbannte die Stimme. Verbannte auch den Drang, seinem Willen nachzukommen. Was würde es ihr schon bringen, außer einem ruinierten Ruf? Oder schlimmer noch, einem gebrochenen Herz?

„Ihr zwei seht aus, als würdet ihr etwas Teuflisches planen“, sagte ihr Schwager Lord Harry, als er sich zu ihnen gesellte.

„Ich plane nichts“, verteidigte sich Jo. „Ihre Frau ist die teuflische Schwester von uns beiden. Das müssten Sie doch inzwischen wissen.“

Lord Harry grinste und zwinkerte. „Ich lebe in Angst.“

Er war fröhlich, man konnte sich gut mit ihm unterhalten und er schätzte Alexandras Eigenheiten und ihren scharfen Verstand gleichermaßen. Außerdem war er unsterblich in sie verliebt. All diese Eigenschaften führten dazu, dass Jo ihren Schwager außerordentlich mochte. Er war der perfekte Partner für Alexandra.

Spielerisch schlug ihm Alexandra auf den Unterarm. „Sag das in ein paar Monaten deinem Sohn.“

Das Lächeln, das Lord Harry ihrer Schwester schenkte, war voller Liebe.

„Oder unserer Tochter.“

Jo kämpfte gegen einen ungewollten Anflug von Neid an, als sie daran erinnert wurde, dass sie unverheiratet war. Ungeküsst. Unberührt. Unglücklich.

In der Zwischenzeit war ihre Schwester schwer verliebt und trug ihr erstes Kind unter dem Herzen. Die Rundungen ihres Bauches waren geschickt unter den Falten ihrer schönen Röcke versteckt.

Aber Jo war ein Mauerblümchen, unfähig, sich aus der Form zu befreien, in die man sie gepresst hatte. Sie war nicht so intelligent und gut aussehend wie Alexandra, die einen Verstand hatte, der scharf genug war, um jeden anderen in Stücke zu reißen. Sie war auch nicht so temperamentvoll, gesellig und schön wie ihre Freundin Callie. Sie war klein, still und schüchtern in der Gegenwart anderer.

Sie seufzte.

„Ihr beide bringt mich zum Würgen“, verkündete sie. Natürlich liebte sie ihre Schwester und deren Mann, und sie freute sich darüber, dass die beiden ihr Glück gefunden hatten. Aber war es falsch von ihr, dasselbe für sich selbst zu wollen?

„Oder vielleicht bringen wir dich dazu, dir selbst eine Liebesheirat zu wünschen“, sagte Alexandra, scharfsinnig wie immer. „Gibt es jemanden, der dir gefällt?“

Ein Bild von Mr Elijah Decker kam Jo in den Sinn.

Verflixt, sogar in ihren Gedanken sah er gut aus. Genauso attraktiv und verlockend. Sündhaft.

„Niemand“, sagte sie, vielleicht einen Hauch zu fröhlich. „Ich bin noch nicht so lange in die Gesellschaft eingeführt, sicherlich braucht so etwas Zeit.“

Alexandra und Harry warfen sich einen vielsagenden Blick zu.

„Natürlich braucht es das, meine Liebe“, sagte ihre Schwester mit einer hohen Stimme, die Jo sofort erkannte.

Sie bedeutete, dass ihre Schwester log.

„Nur weil du und Lord Harry euch auf den ersten Blick verliebt habt, heißt das noch lange nicht, dass alle anderen das auch müssen“, brummte Jo.

„Es war nicht auf den ersten Blick“, stritt ihre Schwester ab.

„Natürlich war es das, Liebling“, erwiderte ihr Mann warm und seine Augen strahlten vor Liebe, als er Alexandra musterte.

Jo seufzte. „Turtelt ruhig weiter, ihr beiden. Ich werde Callie suchen.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, begab sie sich in das Gedränge. Aber die Menge der Menschen – wirklich eine überwältigende Anzahl von Gästen – bedeutete, dass das Zurücklegen einer kleinen Strecke große Anstrengung erforderte. Sie umging die Leute, knickste, unterhielt sich kurz und war so höflich, dass es wehtat.

Als sie Callie endlich fand, knirschte Jo schon mit den Zähnen.

Aber das Lächeln ihrer Freundin vertrieb all ihren Groll.

„Ich wollte dich gerade suchen“, sagte Callie zu ihr. „Sin sagte, ich solle dir Zeit geben, dich unter die Gäste zu mischen, bevor ich dich dem Gedränge entreiße.“

Sin war der Earl of Sinclair, Callies Ehemann.

„Sinclair ist die Rücksichtnahme in Person“, gab Jo zurück. „Wie auch immer, ich habe nicht den Wunsch, Teil des Gedränges zu sein, wie du sehr wohl weißt. Rette mich daraus, wann immer du willst.“

„Das habe ich ihm auch gesagt“, stimmte ihre Freundin zu und schob ihren Arm in Jos Ellenbeuge. „Und jetzt komm mit. Ich möchte dir einige Damen vorstellen, die meiner Meinung nach eine hervorragende Ergänzung für die Lady’s Suffrage Society wären …“

Jo ließ sich von Callie fortführen.

Sie schaffte es nicht in den Blauen Salon oder zu Mr Decker.

Und sie sagte sich, dass es das Beste sei.