Leseprobe Eine verführerische Lady

Kapitel eins

London – Juni 1891

„Vermutlich möchten Sie alle den Grund wissen, warum ich Sie heute hierhergebeten habe“, sagte Lord Christopher Rathborne-Paxton, Marquess of Vegas, mit einer Ernsthaftigkeit zu seinen Söhnen, die Samuel so noch nie untergekommen war.

Samuel Rathborne-Paxton stand neben seinen Brüdern, in der Reihenfolge ihrer Geburt – Francis zu seiner Rechten, Dean links von ihm und Joseph auf der anderen Seite von Dean. Seit ihrer Kindheit hatte der Vater dies von ihnen verlangt, um sie einer Überprüfung, ähnlich der beim Militär, zu unterziehen. Vorsichtig musterte Sam Francis von der Seite, ein Blick, der mit dem gleichen Gefühl der Vorahnung erwidert wurde.

Es war noch nie ein gutes Anzeichen gewesen, wenn ihr Vater sie alle vier gerufen hatte und sie in dem unpersönlichen Salon im hinteren Teil des Londoner Stadthauses ihrer Familie vor ihm Aufstellung nehmen mussten.

Sie alle kannten das Prozedere. Die Brüder standen mit kerzengeradem Rücken da, mit einem Ausdruck erlernter Ernsthaftigkeit und Frömmigkeit in ihren Gesichtern. Schnell ging Sam die Liste seiner kürzlichen Fehltritte durch, als ob er den Beichtstuhl eines besonders unnachgiebigen Priesters beträte, auch wenn sie keine Katholiken waren. Nein, ihr Vater war der standhafteste, glühendste Anhänger der Kirche von England, der jemals auf Erden gewandelt war – fromm, selbstgerecht und gnadenlos zu seinen Söhnen, wenn es darum ging, die Moral und Gottes Gesetze aufrechtzuerhalten. Sam und seinen Brüdern waren seit ihrer Jugend Tugend und Würde eingetrichtert worden – sowohl durch das unbeugsame Beispiel ihres Vaters als auch durch eine Rute, die nicht gerade sparsam eingesetzt worden war.

„Vater, geht es Ihnen gut?“, fragte Francis, der Titelerbe und souveränste der Brüder, mit sorgenvoll gerunzelter Stirn, als ihr Vater ungewöhnlich zögerte und nicht direkt zum Punkt kam. „Sie sind recht blass geworden.“

„Ich …“ Lord Vegas öffnete den Mund, aber die Laute, die hervorkamen, klangen, als würden sie aus einem besonders staubigen Grab dringen. Das überraschte Sam überhaupt nicht. Das Beharren ihres Vaters auf moralischer Standhaftigkeit, Sparsamkeit, Frömmigkeit und Tugend war so bieder, dass es sich anfühlte, als wäre der Mann schon begraben. Gleiches erwartete er von seinen Söhnen, denn er bestand auch bei ihnen auf absoluter Perfektion und Gehorsam.

Nicht, dass sie diesem Beharren gefolgt wären. Kein bisschen.

Aber was Vater nicht wusste, konnte ihn nicht wütend machen.

„Ich fürchte …“, begann Lord Vegas, und seine Gesichtszüge wurden fahl vor Angst.

Sam runzelte die Stirn. Angst war das Einzige, was sein Vater nie zeigte.

„Das heißt, ich bereue sehr …“, versuchte es Lord Vegas erneut. Er stieß ein leises Stöhnen aus und bedeutete dann Samuels Mutter, aus der Ecke des Zimmers hervorzukommen – eine Ecke, in die sie während der letzten dreißig Jahre verbannt worden war, seitdem sie ihm einen Erben geschenkt hatte. „Riechsalz“, stöhnte Lord Vegas.

Natürlich hatte seine Mutter das Fläschchen in einer versteckten Tasche ihres schlichten Rocks zur Hand. Sie holte es schweigend hervor, übergab es wortlos und huschte zurück in ihre Ecke, wie die graue Maus, zu der ihr Mann sie gemacht hatte.

Sam stieg jedes Mal die Zornesröte ins Gesicht, wenn er darüber nachdachte, wie sein Vater mit seinen Moralpredigten und seinem Beharren auf weiblicher Tugend das Licht seiner Mutter zum Erlöschen gebracht hatte. Als er ein Knabe gewesen war, war sie jung gewesen und voller Lebenslust, sogar witzig. Jetzt war nur mehr ein Schatten ihrer selbst übrig geblieben.

Lord Vegas nahm einen langen Zug aus der Flasche mit dem Riechsalz, hustete, verzog das Gesicht und stöhnte wieder. Dann riss er sich endlich zusammen, um sich seinen Söhnen zu stellen. Er holte tief Luft, schien sich auf einen Punkt an der Wand hinter Sams Kopf zu konzentrieren und sagte dann: „Ich bedaure sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass die Familie Rathborne-Paxton bankrott ist.“

Einen Moment lang herrschte Grabesstille, während die Nachricht langsam in Sams Bewusstsein drang. Er drehte sich zu seinen Brüdern um, runzelte die Stirn und fragte stumm, ob einer von ihnen eine Ahnung hatte, was das zu bedeuten hatte. Letztlich richteten sich alle Blicke auf Francis.

Francis räusperte sich und kam gleich zur Sache, wie er es immer tat. „Vater, ich verstehe nicht. Bankrott?“

Lord Vegas verzog das Gesicht, als ob er gleich in Tränen ausbrechen würde. Dies war genug, um Sam einen unbehaglichen Schauer über den Rücken zu jagen, und seine Hände waren taub vor böser Vorahnung.

„Es ist weg“, gab Lord Vegas mit einem hoffnungslosen Achselzucken zu. „Alles. Es ist weg. Das Geld, die Immobilien … alles.“

„Wie bitte, Vater?“, fragte Joseph, der jüngste und ernsthafteste der Söhne. Er sah ehrlich besorgt aus.

„Sicher könent Sie nicht alles meinen“, sagte Dean, der drittälteste Sohn, mit einem halbherzigen Lachen. Für Dean war alles ein Witz, außer vielleicht in diesem Moment.

Lord Vegas kniff die Augen zusammen und atmete dann so tief aus, dass alle scheinheilige, selbstgerechte Lebenskraft aus ihm zu weichen schien. „Seit vielen Jahren bin ich … bin ich in … in Spekulationen verwickelt.“ Er öffnete die Augen und sah seine Söhne an.

Sam zuckte mit den Schultern. „Das ist doch nichts Besonderes. Sie wissen ganz genau, dass ich selbst zum Vergnügen an der Börse spekuliere.“

Lord Vegas runzelte die Stirn und brachte Sam mit einem böse funkelnden Blick zum Schweigen, der ihn daran erinnerte, welch allmächtiger, tyrannischer Vater er gewesen war.

Einen Moment später wurde sein Gesichtsausdruck schmerzerfüllt, als er den Kopf schüttelte und zugab: „Ich habe nicht an der Börse spekuliert. Ich habe … ich habe an Wetten und … und Spielen teilgenommen. Schlechten Spielen. Mit … mit Montrose.“

Sam sog scharf die Luft ein. Seine Brüder reagierten mit dem gleichen Schrecken. Montrose war berüchtigt unter dem Londoner Adel. Er war der wahre Teufel. Er war die Art Mann, dessen Namen man ohne eine Anrede benutzte, so berüchtigt war sein Ruf. Niemand war sich ganz sicher, woher Montrose kam und wie wohlhabend er wirklich war. Allerdings war gemeinhin bekannt, dass er seinen Reichtum nur dadurch angehäuft hatte, dass er Adlige mit gutem Ruf, aber vielleicht fragwürdigem Charakter systematisch zerquetschte.

Montrose vernichtete Existenzen. Hatte er einmal jemanden in seinem Fokus – aus Gründen, die nur er kannte –, verfolgte er diesen, bis er ausgelöscht war. Sam fielen sofort zwei Männer ein, die aufgrund von Montrose’ Machenschaften in den Selbstmord getrieben worden waren. Obwohl sich Montrose auf Adlige beschränkte, die ihren guten Ruf bereits selbst durch abscheuliche Handlungen beschmutzt hatten, so war es doch mehr als grausam, sie in den Suizid zu treiben. Montrose betrachtete sich selbst als eine Art Rächer, aber das hieß nicht …

Sams Gedanken kamen zu einem abrupten Halt. „Das kann nicht Ihr Ernst sein, Vater“, sagte er und trat einen halben Schritt vor. „Montrose ist nur hinter Adligen her, die sich etwas haben zuschulden kommen lassen.“

Lord Vegas’ blasses Gesicht bekam rote Flecken. Er zitterte sichtlich, als er sich zwang, Sam anzusehen. Er mochte es allerdings ganz und gar nicht, das Wort an Sam oder einen seiner jüngeren Söhne zu richten. So schaute er zu Francis hinüber, als er antwortete: „Ich habe schamlos gespielt. Im Laufe der Jahre wurden verschiedene Immobilien und Vermögenswerte als Sicherheiten für viel zu viele Kredite hinterlegt. Und … und es gab andere Dinge, auf die ich nicht stolz bin. Dinge, die …“ Er hielt inne und schluckte, dann verschränkte er die Hände vor dem Körper, um sie vom Zittern abzuhalten. „Dinge, die Montrose jetzt dazu nutzt, mich zu erpressen. Er will mich dazu bringen, ihm alle unsere Landsitze zu überschreiben, außer Paxton Manor – das, wie ihr wisst, nicht verkauft oder übertragen werden kann.“

Sam und seine Brüder starrten ihren Vater offenen Mundes ungläubig an.

„Wollen Sie damit sagen, dass Sie Ihr ganzes Vermögen verloren haben? Unser ganzes Vermögen?“ Deans Gesicht war starr vor Schock.

„Nein, Vater, einen Moment.“ Joseph hob die Hand. „Wollen Sie damit sagen, dass es Sie in Verlegenheit bringen würde – oder noch Schlimmeres –, wenn sich Ihr Verhalten herumspräche?“

Zu Sams völliger Überraschung trat seine Mutter aus ihrer Ecke hervor. Ihre Augen waren weit aufgerissen und alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. „Sagen Sie, dass dem nicht so ist“, verlangte sie von ihrem Mann, ihre Stimme ein heiseres Flüstern. „Sagen Sie, Sie haben nicht …“ Sie hielt inne und schluckte, während sie eine Hand auf ihren Magen drückte. „Vor Jahren habe ich gefragt, ob Sie … und Sie haben mir geschworen, dass es nicht der Fall wäre … aber es ist wahr, ist es nicht so?“

Sam hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon sie sprach, aber er konnte das kalte Feuer in den Augen seiner Mutter sehen und spürte die tiefe Schuld seines Vaters. Alles, was er wusste, war, dass sein Herz in diesem Moment für seine liebe, langmütige Mutter brach. Lord Vegas’ Verhalten würde sie ruinieren. Sie würde verarmen, ein Schicksal, welches sie mit Sicherheit nicht verdient hatte.

„Muriel, wir werden das später besprechen“, befahl Lord Vegas.

Zum ersten Mal in seinem ganzen Leben wurde Sam Zeuge davon, wie seine Mutter vor Zorn den Rücken straffte. Anders als all die Male, die sein Vater sie angebellt und niedergemacht hatte, fauchte sie diesmal zurück. „Nein, das werden wir nicht“, zischte sie und rauschte aus dem Zimmer.

Sams Herz schwoll an vor Stolz auf seine Mutter. Er wechselte einen ungläubigen Blick mit Francis, als Lord Vegas rief: „Muriel! Kommen Sie sofort hierher zurück!“ Er staunte noch mehr, als Lord Vegas zischte: „Verdammt, zur Hölle mit allem.“ Noch nie hatte Lord Vegas geflucht.

„Vater, vielleicht …“, begann Joseph.

„Sei still!“, schnitt ihm Lord Vegas das Wort ab. Knurrend stemmte er die zu Fäusten geballten Hände in die Hüfte und sagte dann: „Was geschehen ist, ist geschehen, aber noch ist nicht alles verloren. Ich bin mittellos, ich … wir haben keinen einzigen Penny, aber wir haben noch Paxton Hall. Wir werden es ausräumen, die Möbel und Dekorationen verkaufen. Auch einen Teil der Ländereien. Aber das Geld aus diesen Verkäufen wird direkt an Montrose gehen, um die Schulden zu begleichen. Dieses Haus hier ist ebenfalls sicher, denn ich habe es vorsorglich auf Francis’ Namen übertragen. Als Earl Cathraiche gehört es ihm und kann daher von Montrose nicht angerührt werden. Aber ich würde es dem Bastard zutrauen, dass er sich an Sie vier wendet, jetzt, wo er mich in die Knie gezwungen hat.“

Sam erinnerte sich an die Eigentumsübertragung von Rathborne House vor sechs Monaten. Er hatte bei Francis nachgefragt, da diese Überschreibung irgendwie nicht zu Vaters Art passte. Dieser war von dem scheinbaren Akt der Nächstenliebe genauso überrascht gewesen wie der Rest der Familie. Francis hatte sein eigenes Anwesen in Hampshire, welches er zusammen mit dem Titel des Earl erhalten hatte. Jetzt verstanden sie die Hintergründe.

„Glücklicherweise liegt es im Rahmen unserer Möglichkeiten, das Familienvermögen wiederherzustellen, ebenso unseren guten Ruf und unser Ansehen in der Gesellschaft“, fuhr Lord Vegas fort.

Sam wechselte einen weiteren Blick mit Francis, dann mit Dean. „Wie soll das gehen, Vater, besonders da Sie auch andere Dinge als Geld erwähnten?“

„Angelegenheiten, von denen Mutter zu wissen scheint“, fügte Dean grollend hinzu.

Sam nickte. Bei der Erwähnung der Mutter richtete er sich gerader auf. Sie war jetzt seine Hauptsorge. Er würde alles tun, um sie aus dem Morast zu retten, in den Lord Vegas sie alle manövriert hatte.

Lord Vegas ignorierte Dean. Seine übliche Wut und Empörung über alles, was seine Söhne sagten, war zurückgekehrt. „Überlassen Sie diese Dinge mir. Das geht Sie nichts an. Sie sollten sich lieber darum kümmern, die Familie Rathborne-Paxton wieder mit Bargeld zu versorgen, und zwar mit einer ganzen Menge.“

„Was schlagen Sie vor, Vater, wie wir das bewerkstelligen sollen?“, fragte Joseph mit Angst und Ärger gleichermaßen in der Stimme.

„Durch Heirat“, sagte Lord Vegas. „Verheiraten Sie sich reich und schnell.“

Sam und seine Brüder waren fassungslos. Sicher, als Adliger aus einer angesehenen Familie hatte er schon immer gewusst, dass sie alle heiraten würden – oder zumindest sollten. Ehrlich gesagt waren Francis und er mit dreißig und achtundzwanzig Jahren bereits etwas spät damit dran. Francis deutete immer wieder an, dass er irgendwann schon eine Braut finden würde, aber „irgendwann“ war noch nicht eingetroffen.

Sam hatte andere Vorstellungen für sein Leben, nicht jeder Edelmann musste schließlich heiraten. Einige genossen einfach den Reichtum und den Status der Familie, stiegen in ein Geschäft ein oder spekulierten an der Börse, um ihr Vermögen zu steigern. Für Sam hatte der Begriff „reicher Müßiggänger“ nichts Spöttisches, sondern war eher ein erstrebenswertes Ziel. Wenn ihn jemand zwei Jahre zuvor gefragt hätte, wann er denn plane, sich eine Frau zu nehmen, wäre seine Antwort ähnlich der von Francis ausgefallen.

Aber seit einer glückseligen Fährfahrt von Belfast nach Liverpool hatte sich alles geändert. Es gab einen sehr guten Grund, warum Sam es nicht besonders eilig hatte, sich ins Eheglück zu stürzen. Der Grund hatte feuerrotes Haar, smaragdgrüne Augen und einen lebhaften Sinn für Humor, der ihn im Bett und außerhalb unterhielt. So schön und so entzückend dieser Grund auch war, leider war Alice Woodmont alles andere als eine passende Braut.

„Sie wollen, dass wir wohlhabende Frauen heiraten?“, wiederholte Francis die Aussage ihres Vaters und riss Sam damit aus seinen Gedanken.

„Ja“, sagte Lord Vegas. „Spätestens bis Weihnachten. Wenn Sie es schaffen, auch früher. Sonst sitzen wir alle auf der Straße, ohne Hilfe und Trost. Ich bin sicher, es gibt Dutzende Erbinnen, die auf Londons Straßen nach einem geeigneten Ehemann suchen. Gehen Sie und finden Sie sie.“ Bevor einer von ihnen protestieren konnte, marschierte Lord Vegas zur Tür. „Und nun entschuldigen Sie mich, ich habe mich um Lady Vegas zu kümmern.“

„Aber Vater …“ Joseph versuchte, Lord Vegas’ Aufmerksamkeit zu erregen, scheiterte aber. Fassungslos blieben die Brüder allein im Salon zurück.

„Was tun wir jetzt?“, fragte Dean und raufte sich die Haare. Wie immer entspannte sich die Stimmung erheblich, sobald sie allein waren.

„Wir heiraten, wie Vater es uns befohlen hat“, antwortete Joseph und starrte düster auf den Boden.

Sam schnaubte. „Du hast schon immer klein beigegeben“, sagte er, wenn auch nicht unfreundlich.

Joseph warf Sam einen bösen Blick zu. „Nur weil Vater gestrauchelt ist, bedeutet das nicht, dass der Rest von uns vom rechten Pfad abweichen muss. Er ist unser Vater. Wir müssen tun, was er sagt.“

Sam verzog das Gesicht und legte Joseph die Hand auf die Schulter. „Es tut mir leid, Joe. Ich weiß, dass du dir viele Dinge zu Herzen genommen hast, die Vater uns über die Jahre eingetrichtert hat, aber diesem Mann jetzt einfach zu gehorchen, nur weil er es verlangt, ist Unsinn.“

„Du bist noch jung“, fügte Dean hinzu. „Du wirst noch früh genug erfahren, wie die Dinge wirklich laufen.“

Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Joseph sich auf sie stürzen. Stattdessen stieß er einen Seufzer aus und sackte zusammen, wobei er sich mit der Hand über das Gesicht rieb.

Joseph war in einem Alter, in dem die Ideale, an denen er sich als Jugendlicher orientiert hatte, im Angesicht der Versuchungen der realen Welt bröckelten. Sie alle waren an diesem Punkt gewesen. Sam war dankbar, dass genug von Vaters Moralpredigten hängen geblieben war, sodass keiner von ihnen einem ernsthaften Laster verfallen war. Obwohl man argumentieren könnte, dass die Tatsache, dass er eine Liebschaft mit einer Frau wie Alice Woodmont unterhielt, Sam genauso lasterhaft machte, wie es sein Vater offensichtlich war.

„Also, was tun wir?“ Dean sah Francis fragend an.

Sam und Joseph wandten sich ebenfalls an Francis. Dieser straffte die Schultern, rieb sich den Nacken und runzelte die Stirn. „Zuallererst unterziehen wir Vaters Finanzen und diesen Montrose einer Untersuchung. Wenn Vater wirklich alles an diesen Teufel verloren hat, dann sollten wir, um ehrlich zu sein, vielleicht Vaters Forderungen beherzigen und Geld heiraten.“

„Francis, nein!“, protestierte Sam. Der Gedanke, dass sein Leben, welches er so genoss, auf den Kopf gestellt würde, schmerzte. „Ich werde mich und mein Leben nicht opfern, um einen Vater zu retten, der sich als die schlimmste Art von Heuchler hervorgetan hat. Und in Anbetracht dessen, was wir heute Abend gehört haben, bin ich mir ziemlich sicher, dass Vater unzählige Sünden begangen hat, von denen wir bislang noch gar nichts wissen.“

Francis starrte ihn an. „Ich stimme dir zu, aber wir dürfen Mutter nicht vergessen.“ Das nahm Sam den Wind aus den Segeln. Er wusste, wohin Francis’ Argumentation führen würde, bevor sein Bruder fortfuhr: „Vater kann zur Hölle fahren, aber Mutter verdient es nicht, dieses Schicksal zu teilen. Ich habe das ungute Gefühl, dass sie diesen Schlag stärker spüren wird als der Rest von uns. Ihr Ruf und ihr Wohlergehen sind in Gefahr. Ich glaube, sie weiß das ebenso, daher auch ihre Reaktion auf Vaters Enthüllung.“

„Mama weiß mehr als wir“, sagte Joseph, sein Gesichtsausdruck war zutiefst beunruhigt.

„Wir müssen Mutter um jeden Preis beschützen“, fuhr Francis fort. „Wenn wir vier wohlhabende Damen heiraten müssen, um ihr ein komfortables eigenes Heim einzurichten, müssen wir das tun. Wenn es das ist, was dazu erforderlich ist, dass sie in der Gesellschaft weiterleben kann, ohne ausgelacht, beschimpft und verunglimpft zu werden, müssen wir eben diese Bräute finden.“

Bei dem Gedanken, dass alte Freunde oder auch Fremde seiner Mutter den Rücken kehren würden oder dass sie sich schämen oder aufgrund von Vaters Machenschaften verletzt werden würde, zog sich Sams Herz schmerzhaft zusammen. „Wir müssen“, seufzte er.

„Uns bleibt nichts anderes übrig“, stimmte Francis mit einem Nicken zu. „Schauen wir, dass wir zu so vielen gesellschaftlichen Veranstaltungen wie möglich eingeladen werden. Dort treffen wir sicherlich ein paar geeignete Erbinnen.“

„Es ist zu schade, dass die Saison fast zu Ende ist“, grummelte Dean.

„Du schlägst aber nicht allen Ernstes vor, dass wir Frauen, die wir kaum kennen, nur des Geldes wegen heiraten, oder?“, empörte sich Joseph.

„Was ist los, Joe?“, fragte Dean mit einem Grinsen. „Macht dir der Gedanke an eine Ehefrau Angst?“

„Das habe ich nicht gesagt“, stammelte Joseph und wich einen halben Schritt zurück. „Ich glaube, wir sollten Vaters Forderungen nachkommen, aber …“ Er schluckte. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell passieren würde.“

Grinsend tätschelte Dean Josephs Schulter. „Die Zeit ist reif, Joe. Bereite dich darauf vor, deiner süßen Jungfräulichkeit Lebewohl zu sagen.“

Joseph wurde blass und wimmerte, während Dean und Francis lachten.

Sam genoss das Geplänkel zwischen seinen Brüdern. Sie alle verstanden sich prächtig, auch wenn ihr Vater ein Tyrann war und ihre Mutter eine entkräftete Märtyrerin. Wenn eine lohnende Heirat das Rezept war, damit seine Mutter und seine Brüder glücklich und finanziell abgesichert blieben, so würde Sam alles tun, was nötig war.

Alice wäre überhaupt nicht erfreut.

Aber wenn es eine Person gab, die wusste, wer die heiratswilligen Erbinnen der Saison waren und ob diese geneigt wären, in die Familie Rathborne-Paxton einzuheiraten, dann Alice.

„Brüder, ich glaube, wir wissen, was zu tun ist“, sagte Sam. Er legte seine Hände auf die Schultern von Francis und Dean. „Und deswegen hoffe ich, dass ihr mich entschuldigt. Ich glaube, ich muss mich in dieser Sache unverzüglich an die reizende und talentierte Mrs Woodmont wenden.“ Er ging zur Tür.

„Grüße Alice von mir.“ Dean lachte, als Sam ging.

Natürlich wussten alle seine Brüder von Alice. Sie kannten sie fast von dem Moment an, in dem er und Alice Bekanntschaft geschlossen hatten – vor zwei Jahren auf der Fähre aus Belfast, als Alice einigen Ärger in ihrer Heimat hinter sich gelassen hatte, um in London ein neues Leben zu beginnen.

Seine Brüder wussten, dass sie eng befreundet waren. Sie wussten auch, dass Alice sich diskret als Kurtisane angeboten hatte, nachdem sie sechs Monate nach ihrer Ankunft in London aus dem Haus ihrer Freunde, des Earls und der Countess of Carnlough, ausgezogen war. Und sie hatten sicherlich eins und eins zusammengezählt, wenn es um die Art seiner Beziehung zu Alice ging. Es war Sam egal. Alice war entzückend und seine Brüder teilten diese Ansicht. Wenn irgendjemand wusste, wie er aus seiner derzeitigen misslichen Lage herauskäme, dann wäre das Alice.

***

Der Hyde Park erstrahlte herrlich im warmen Licht des Junis, als Alice Woodmont Arm in Arm mit ihrer liebsten Freundin Maeve O’Shea, Countess of Carnlough, am Ufer des Sees Serpentine entlangschlenderte.

„Ich würde mich in Bezug auf meine Investitionen viel besser fühlen, wenn ich nach Südafrika reisen könnte, um mir die Mine selbst anzusehen“, erzählte Alice gerade Maeve, während die beiden den Nachmittag genossen.

„Das kann ich mir vorstellen. Und außerdem wäre eine Reise nach Südafrika wahnsinnig aufregend.“ Maeve schmunzelte.

„Das wäre sie, nicht wahr?“ Alice grinste. „Ich bin mir sicher, dass Ryan es lieben würde.“ Sie blickte nach vorn zum Ufer, wo ihr sechsjähriger Sohn das kleine hölzerne Boot, welches Alice ihm in der Woche zuvor gekauft hatte, an einer Schnur durch den See zog. „Ryan liebt Abenteuer.“

Maeve lachte auf. „Das tut er mit Sicherheit. So vieles in seinem Leben war bereits ein Abenteuer. Ich wage zu behaupten, dass er für den kleinen Alonzo ein richtiges Vorbild sein wird.“ Sie warf einen Blick auf den Kinderwagen, den ihr Kindermädchen mehrere Meter vor ihnen herschob.

Maeve und Avery hatten ihren Sohn Alonzo vor einem Jahr auf der Welt willkommen geheißen und Maeve hütete den Jungen wie ihren Augapfel. Sie hatte auch das beste Kindermädchen in ganz London gefunden, Mrs Cottrell, die Alonzo anhimmelte, als wäre er ihr eigener Sohn.

Die Fürsorge, die Mrs Cottrell Alonzo entgegenbrachte, gab Maeve ein sicheres Gefühl, sicher genug, um ab und zu einen Nachmittag mit ihrer eigensinnigen Freundin zu verbringen.

Nicht, dass Maeve eine Ahnung hatte, wie eigensinnig Alice geworden war. Das war ein Geheimnis, das Alice sehr gut vor ihrer Freundin hütete.

„Das Problem ist, dass ich seit Wochen nichts von Mr Kalman gehört habe“, fuhr Alice fort, sich über ihre Investition zu beklagen. „Die letzte Einzahlung auf mein Bankkonto wurde vor zwei Monaten vorgenommen und ich fürchte, ich bin im Moment ein bisschen knapp bei Kasse.“

„Ach wirklich?“ Maeves Gesicht hellte sich auf und Alice bereute es sofort, dieses Thema überhaupt angeschnitten zu haben. Sie wusste, was Maeve als Nächstes anbieten würde: „Wenn du ein bisschen Geld brauchst, um versorgt zu sein, bis deine Investition in Mr Kalman und seine Diamanten Früchte trägt, wären Avery und ich mehr als bereit, auszuhelfen.“

Alice lächelte, doch innerlich zuckte sie zusammen. Maeve und Avery waren die besten Freunde, die sie sich nur vorstellen konnte. Das Annehmen ihres großzügigen Angebotes wäre jedoch mit Verpflichtungen verbunden, die sie nicht haben wollte.

„Es ist noch nicht so weit, dass man sich darüber Sorgen machen müsste“, sagte sie und konzentrierte sich auf ihren Sohn, der am Ufer einen Spielgefährten gefunden hatte. „Ich habe noch einige Quellen, die ich anzapfen könnte.“

Allerdings war sie nicht sicher, dass sie einige Arten dieser Einnahmequellen tatsächlich in Erwägung ziehen wollte.

„Sei versichert, dass Avery und ich dir zur Verfügung stehen“, sagte Maeve mit einem Lächeln.

Alice war dankbar für die Freundschaft, die Maeve ihr seit ihrer Kindheit angedeihen ließ – mehr, als sie je ausdrücken konnte. Maeve war da gewesen, als der schändliche Michael Feeney ihr den Kopf verdreht, ihr Herz gestohlen und sie dann unverheiratet und mit einem Kind zurückgelassen hatte, bevor er sich nach Amerika absetzte. Sie war loyal gewesen, als Michael zurückgekehrt war und versucht hatte, Ryan zu entführen, in der Absicht, ihren Liebling dazu zu benutzen, Geld von seinem eigenen Bruder, Mr Rory Feeney, zu erpressen. Und als Ryans Abstammung enthüllt und Alice’ Ruf in Irland ruiniert worden war, hatten Maeve und Avery gnädig angeboten, sie mit nach London zu nehmen.

Sicher, innerhalb von wenigen Monaten nach der Ankunft in London war sie von einer Form des Verderbens in eine andere gerutscht. Sie hätte ein Mündel von Maeve und Avery bleiben können, aber das hätte sie auf die Rolle eines Kindes im Haus eines anderen reduziert.

Zunächst hatte Alice in verschiedenen Geschäften und Büros in London nach einer Erwerbstätigkeit gesucht, aber dann hatte sich eines Abends im Theater ein charmanter Herr mit einem schockierenden Angebot an sie gewandt. Sie hatte erkannt, dass es im Grunde das Gleiche war wie das, was sie für Michael getan hatte, dass sich damit aber eine Menge Geld verdienen ließ.

Es war überraschend einfach gewesen, in diese Art von Leben zu schlüpfen, ohne dass Maeve und Avery es erfuhren. Wie sich herausstellte, hatte sie offenbar besondere Fähigkeiten und somit die Möglichkeit, alles Notwendige zu tun, um Ryan das Leben zu ermöglichen, welches er verdiente. Außerdem war es ziemlich lukrativ, besonders dann, als einer ihrer ersten Liebhaber ihr Anteile an der Diamantenmine, die von Mr Kalman betrieben wurde, überschrieben hatte.

Jedoch hatte keiner ihrer Liebhaber Alice etwas bedeutet, außer Sam.

Sie hatte Samuel Rathborne-Paxton auf der Fähre von Belfast nach Liverpool getroffen, ganz am Anfang ihres neuen Lebens. Sie hatten während der Reise nach London eine tiefe Freundschaft geschlossen, und nachdem sie sich in der Stadt eingerichtet hatte, waren sie Freunde geblieben. Mehr als Freunde, wie sich herausgestellt hatte. Sobald Alice sich von ihren Skrupeln darüber, wie sie ihre Abende verbrachte, gelöst hatte, war Samuel einer der ersten Männer gewesen, die sie in ihr Bett genommen hatte.

Die Beziehung zu Sam war nicht ausschließlich geschäftlich. Sie waren zu gut befreundet, als dass ihre Interaktionen gefühllos geblieben wären. Sie genossen einander in jeder Hinsicht. Sam hatte ihr das Investieren und Spekulieren beigebracht, und obwohl sie nicht fand, dass sie sehr gut darin war, so gaben ihr seine Ermutigungen doch Hoffnung.

Nachdem die Diamantenmine mit der Produktion begonnen hatte und genügend Gewinne abwarf, hatte sich Alice prompt von all ihren Liebhabern getrennt, außer von Sam. Das eine Jahr, in dem sie alles Notwendige getan hatte, um für Ryans Wohl zu sorgen, schrieb sie als ein verlorenes Jahr ab. Aber jetzt, nur mit Sam, war sie wieder auf dem richtigen Weg.

Der Rest der Welt sah die Dinge allerdings nicht ganz so wie sie.

„Gerald, nein!“ Eine schroffe Frauenstimme riss Alice aus ihren Gedanken. „Gehen Sie sofort von diesem Jungen weg.“

„Aber Nanny“, jammerte der Junge, der mit Ryan spielte, „er ist mein Freund.“

„So ein Junge ist ganz sicher nicht Ihr … Freund“, erwiderte das Kindermädchen verschnupft. Sie warf Alice einen abschätzigen Blick zu. „Er ist Abschaum und wir spielen nicht mit Abschaum.“

„Aber Nanny“, protestierte der junge Gerald, als sein Kindermädchen hinunter zur Serpentine stapfte und ihn fortzog.

„Halten Sie sich von Dreck fern“, sagte das Kindermädchen und schüttelte den armen Gerald.

Alice wurde schwer ums Herz, als Ryan traurig sein Boot einsammelte und den Hang hinaufeilte, um sein Gesicht in ihrem Rock zu vergraben.

„Ich muss sagen“, keuchte Maeve entsetzt, „ich habe nie … nie in meinem Leben etwas derart Unhöfliches gesehen.“

„Es ist in Ordnung.“ Alice seufzte und tätschelte Ryans Kopf.

Tatsache war, dass sie solche Unhöflichkeiten durchaus schon erlebt hatte. Sie wurde damit die ganze Zeit, jeden Tag konfrontiert, von allen, denen Gerüchte über ihren Ruf zu Ohren gekommen waren. Es waren Gerüchte, die sich nicht leugnen ließen, weil jedes einzelne von ihnen wahr war. Sie war eine gefallene Frau mit einem beschmutzten Ruf und sie wurde als solche behandelt.

„Ich sollte mit jemandem über dieses Verhalten sprechen“, polterte Maeve weiter. „Vielleicht weiß Mrs Cottrell, bei welcher Familie diese schreckliche Frau angestellt ist.“ Maeve marschierte zu ihrem eigenen Kindermädchen.

„Nein, Maeve, wirklich, das solltest du nicht.“ Alice versuchte sie aufzuhalten.

Einen Moment später schlug ihr Herz höher. Ihre gedrückte Stimmung verbesserte sich schlagartig, als sie an Maeve vorbei Sam erblickte, der auf sie zukam. Sam lächelte breit, als sich ihre Blicke trafen, und Alice wusste, dass ihr Tag gleich viel besser werden würde.

Kapitel zwei

Sam strahlte, als er Alice erblickte. Endlich ein Lichtstrahl in seinem ansonsten miserablen Tag. Alice war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Obwohl es modisch frisiert war und von einem kecken Hut mit Fasanenfedern verdeckt wurde, fing ihr feuerrotes Haar das Licht der Nachmittagssonne ein. Er mochte es, wie Alice’ seidiges Haar sich über das Kissen ausbreitete, wenn sie sich liebten. Er mochte den Alabasterglanz ihrer Haut und die perfekten Kurven ihres Körpers. Sogar in einem konservativen Ausgehkleid, wie sie es jetzt trug, strahlte ihr Körper Sinnlichkeit aus. Sam nahm an, dass das der Grund war, weshalb sie so eine teuflisch gute Kurtisane war.

Soweit er wusste, traf Alice im Moment keine anderen Männer außer ihm. Der Gedanke schickte ein Kribbeln durch sein Herz und in tiefere Regionen, und er genoss es.

„Guten Tag, Mrs Woodmont“, begrüßte er Alice und lüftete seinen Hut. „Und guten Tag, Master Ryan.“

„Guten Tag, Mr Rathborne-Paxton“, erwiderte Alice die förmliche Begrüßung mit ebenso viel Förmlichkeit. Ryan hingegen versteckte sich weiterhin in Alice’ Rock, auch wenn er dabei zu Sam hochsah.

Alice lachte. „Sie müssen Ryan entschuldigen“, sagte sie und streichelte den Kopf des klugen kleinen Burschen liebevoll. „Ich fürchte, wir hatten gerade einen etwas verstörenden Moment.“

„Ach wirklich?“ Sam vergaß plötzlich all seine eigenen Sorgen. Es war ihm ein Anliegen, dass Alice und Ryan glücklich waren.

Seine Frage wurde von Lady Carnlough beantwortet, die von der Seite her heranstürmte, wo ihr Kindermädchen auf den zukünftigen Lord Carnlough aufpasste. „Mrs Cottrell sagt, dass die fragliche Frau Agnes heißt und das Kindermädchen von Lord Manchester ist. Ich habe gerade große Lust, an Lady Manchester zu schreiben und – oh! Mr Rathborne-Paxton.“ Lady Carnloughs Gesichtsausdruck änderte sich von schrecklich verärgert zu rosig und wissend, als sie zu Alice blickte.

„Guten Tag, Lady Carnlough“, begrüßte Sam Alice’ Freundin mit einem weiteren förmlichen Antippen seines Hutes. Er mochte Lady Carnlough. Und auch Lord Carnlough. Die beiden hatten sich für Alice unter den außergewöhnlichen Umständen als wahre Freunde erwiesen. Das machte sie in Sams Augen zu den allerbesten Menschen. „Sie nutzen den schönen Nachmittag für einen Spaziergang?“, fragte er.

„Ja“, antwortete Lady Carnlough mit wachsendem Lächeln. Sie spähte zu Alice. „Es ist ein schöner Nachmittag dafür. Obwohl ich denke, dass es an der Zeit ist, dass Mrs Cottrell und ich den kleinen Alonzo nach Hause bringen.“

„Oh, Maeve, wirklich, du brauchst nicht zu gehen“, sagte Alice. Sams Blick verriet ihr jedoch vermutlich, wie begierig er darauf war, mit ihr allein zu sprechen, daher änderte sie ihre Meinung und räumte ein: „Aber wenn es auf die Teezeit zugeht …“

„Ich werde dich morgen früh besuchen“, flüsterte Lady Carnlough und warf Alice einen Blick zu, wie ihn nur Sandkastenfreunde miteinander teilen konnten. „Guten Tag, Mr Rathborne-Paxton.“

„Guten Tag, Lady Carnlough.“ Sam verneigte sich vor der Frau und sah zusammen mit Alice zu, wie sie zu ihrem Kindermädchen ging, um ihr Kind zu holen.

Sobald Sam und Alice allein waren, lockerte Sam seine Haltung und beugte sich zu Ryan hinunter. „Nun, mein Junge. Was war heute Nachmittag das Problem?“

Ryan löste sich weit genug von den Röcken seiner Mutter, um zu sagen: „Ich habe mit einem anderen Jungen mit meinem Boot gespielt. Aber sein Kindermädchen hat ihm verboten, mit mir zu sprechen, und hat mich als Abschaum bezeichnet.“ Ryans Unterlippe senkte sich zu einem Schmollmund.

Sam war drauf und dran, das betreffende Kindermädchen zu finden und zu fragen, wie sie es wagen konnte, auf diese Weise mit einem so süßen Kind zu sprechen. Alice war nicht die Einzige, die Sam während der letzten zwei Jahre lieb gewonnen hatte. Er hatte Ryan beim Wachsen zugesehen und genoss die Gesellschaft des kleinen Burschen sehr.

„Was ist das bloß für ein Kindermädchen?“, fragte er mit echter Empörung, auch wenn er versuchte, das Ganze Ryan zuliebe in etwas Humorvolles zu verwandeln. „Für mich klingt es, als wäre sie nicht besonders gescheit.“

„Ich glaube nicht, dass sie das ist“, sagte Ryan.

„Sicher nicht“, stimmte Sam zu. „Ich denke, wir sollten sie vergessen und zum Tee nach Hause gehen.“ Fragend schaute er in Alice’ Richtung und hoffte, dass er ihr mit den Augen zu verstehen geben konnte, dass er mit ihr über andere Dinge sprechen wollte, und zwar unter vier Augen.

„Können wir den Omnibus nehmen?“ Ryans Augen leuchteten.

Sam lächelte. „Natürlich können wir das, mein Junge. Komm mit.“

Es gab höchstwahrscheinlich Mitglieder der Londoner Gesellschaft, die es skandalös finden würden, dass er die Hand eines Jungen nahm, der unter zweifelhaften Umständen von einer Dame mit fragwürdigem Charakter geboren worden war. Sam wiederum hatte einen Vorschlag, wo jemand, der so etwas sagen würde, hingehen könnte.

Er ergriff eine von Ryans Händen und hob das Spielzeugboot des Jungen auf, während Alice Ryans andere Hand nahm. Zusammen gingen sie zur nächsten Omnibushaltestelle, von der aus sie Richtung Marylebone fahren konnten. Alice hatte ein bezauberndes Paar Wohnungen am Dorset Square, mit Blick auf einen wunderschön gepflegten Garten. Wenn es einen Ort gab, der Sam genug Ruhe spüren ließ, eine der schwersten Angelegenheiten seines Lebens zu diskutieren, dann waren das Alice’ Räume.

„Die Art und Weise, wie sich manche Menschen heutzutage verhalten, ist verwerflich“, beschwerte sich Sam stellvertretend für Alice und Ryan. Sie nahmen ihre Plätze im Omnibus ein. „Man sollte das Kindermädchen aufgrund ihrer Unhöflichkeit entlassen.“

Alice warf Sam einen süßen, aber auch strengen Blick zu. „Du weißt genau, warum jede Frau, die sich für respektabel hält, sich das Recht herausnehmen würde, solche Dinge zu sagen“, entgegnete sie. „Ryan, sei vorsichtig“, warnte sie ihren Sohn, als er sich auf dem Sitz zwischen ihnen umdrehte, damit er kniend zuschauen konnte, wie London am Fenster des Omnibusses vorbeirauschte.

„Ich verstehe“, sagte Sam seufzend, „aber ich bin trotzdem empört.“

Alice lachte. „Andere wären aus ganz anderen Gründen empört“, sagte sie und zog eine ihrer rostroten Augenbrauen nach oben.

„Dann würden sie sich irren“, beharrte Sam. „Sie wissen nicht, wie bezaubernd du bist.“

Er genoss es, Alice zum Erröten zu bringen. Es war einer der Gründe, warum er das Kompliment gemacht hatte. Sie war wirklich das entzückendste Geschöpf der ganzen Welt.

Aber sie befanden sich in einem öffentlichen Transportmittel und einige Leute beobachteten sie bereits interessiert, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatten, wer sie waren.

„Wie geht es in der Diamantenmine voran?“, fragte Sam, anstatt den Grund seines Besuchs anzusprechen. Alice genoss das Investieren und Spekulieren genauso sehr wie er, und seiner Meinung nach war sie viel geschickter darin als er.

„Ich habe seit Monaten nichts von Mr Kalman gehört“, antwortete Alice mit einem Stirnrunzeln. „Ich muss gestehen, ich war zu beschäftigt mit meiner ehrenamtlichen Arbeit im Clerkenwell Ladies Home, um Neuigkeiten über das Geschehen in Südafrika zu recherchieren. Aber ich habe gerade heute Morgen zu Lady Carnlough gesagt, dass es ein Abenteuer wäre, selbst nach Südafrika zu reisen.“

„Das wäre ein Abenteuer“, sagte Sam und sein Lächeln wurde breiter. Das war eines der Dinge, die er an Alice liebte. Sie beschränkte sich nicht darauf, die Art von Dingen zu denken, von denen wohlerzogene Damen der Gesellschaft annahmen, dass sie sie denken sollten. Sie hatte viel breitere Interessen und Geschmäcker.

„Und die anderen Investitionen?“, fragte er. „Dieser Laden zum Beispiel, den du finanzieren wolltest.“

Alice seufzte und ließ ihre Schultern ein wenig hängen. „Ich hatte auf eine höhere Rendite dieser Investition gehofft“, sagte sie.

„Mama, schau.“ Ryan nutzte die Gesprächspause, um auf etwas Interessantes außerhalb des Omnibusses zu zeigen, und beendete damit das Gespräch der Erwachsenen für den Moment. Sam war nicht besonders erpicht darauf, Alice um mehr Details zu ihren Investitionen zu bitten, während es so viele lauschende Ohren um sie herum gab. Nicht, dass es noch jemandem einfiele, einer oder beide von ihnen wären es wert, sie zu überfallen, sobald sie den Bus verließen. Er würde mit weiteren Fragen warten, bis sie am Dorset Square waren.

Als sie jedoch den Dorset Square erreichten, wurde Sam anderweitig abgelenkt.

„Oh, Mrs Woodmont.“ Harriett, das Hausmädchen, welches auch als Ryans Kindermädchen diente, begrüßte sie, als sie in der ersten von Alice’ beiden Wohnungen ankamen. „Mrs Knox würde gern ein Wort mit Ihnen wechseln, wenn Sie einen Moment Zeit haben.“

„Danke, Harriett“, sagte Alice mit einem Lächeln, nahm ihren Hut ab und legte ihn neben der Tür ab, während Sam im Zimmer wartete. „Wir hatten ein bisschen Ärger im Park“, fuhr sie fort. „Also vielleicht geben Sie heute Abend etwas mehr Zucker in Ryans Tee.“

„Ja, Mrs Woodmont.“ Harriett lächelte Alice zu und blickte Ryan mit einem Ausdruck tiefen Mitgefühls an. „Was hat dich denn heute so geärgert, mein Liebster?“ Harriett ging direkt zu Ryan und befreite Sam mit einem freundlichen Lächeln und einem ehrerbietigen Nicken von dem Spielzeugboot. Harriett wusste, woher der Wind wehte, wenn es um Sams Verbindung mit Alice ging.

„Ein Kindermädchen hat mich Abschaum genannt“, berichtete Ryan, als Harriett ihm mit seinem Mantel half und ihn dann zu dem kleinen Tisch an einem Ende des Salons führte.

„Was für ein schreckliches Kindermädchen“, sagte Harriett.

„Das habe ich ihm auch gesagt“, fügte Sam hinzu.

„Ihr seid ein guter Mann, Mr Rathborne-Paxton.“ Harriett nickte ihm zu.

Sam war versucht zu lachen. In Marylebone lagen die Dinge ganz anders als in Mayfair, welches nicht allzu weit entfernt lag. Die Großen und Mächtigen lebten in Mayfair und deren Mätressen und Liebhaber meist in Marylebone. Sam war lieber hier, an einem Ort, an dem die Leute praktischer über die Beziehung zwischen Männern und Frauen dachten und wo keiner erwartete, dass man einem unmöglichen Standard gerecht wurde – dem Standard seines Vaters.

Obwohl, wie sich herausgestellt hatte, der Standard seines Vaters offenbar nicht der war, den er ihnen immer gepredigt hatte.

Alice betrachtete Ryan mit angespannter Zuneigung, in ihren Augen all die Liebe, die sie für ihn empfand, aber auch die Sorge um seine Zukunft. Sam fand sie in ihrer Sorge tausendmal attraktiver als jede andere unbeschwerte Schönheit der Gesellschaft. Und doch, mit einer dieser unbeschwerten Damen der Gesellschaft musste er sich jetzt einlassen.

„Ich sollte dir wahrscheinlich erzählen, warum ich dich aufgesucht habe“, sagte er mit leiser Stimme, umfasste dabei Alice’ Ellbogen und signalisierte ihr so, dass er sie allein sprechen wollte.

Alice wandte sich ihm mit einem angespannten Lächeln zu und ließ ihre Hand in seine gleiten. „Ja, natürlich.“ Zu Harriett sagte sie: „Wir gehen nach nebenan.“

„Ja, Mrs Woodmont.“ Harriett nickte.

Alice führte Sam aus der gemütlichen, familiären kleinen Wohnung hinaus in den Flur. In Sams Augen hatte sie eine geniale Lösung für ihr Wohnarrangement gefunden. Mit Ryan lebte sie in einem bescheiden und respektabel eingerichteten Zuhause. Es hatte ein Schlafzimmer für sie, eines für Ryan, eine Küche, einen Salon und nicht viel mehr. Allem Anschein nach war es genau die Art von Wohnung, in der eine Witwe – und Alice setzte notgedrungen alles daran, dies glaubhaft zu vermitteln – und ihr Sohn leben sollten.

Eine Tür weiter auf der anderen Seite des Flurs hatte sie jedoch eine zweite Wohnung, zu der auch Sam den Schlüssel besaß. Er schloss auf und zog Alice hinein. Diese Wohnung war ganz anders und viel exotischer eingerichtet. Schwere Samt- und Seidenstoffe in Rot und Burgunderrot beherrschten hier das Ambiente, die Möbel waren eher zum Liegen und zur Gästebewirtung einer etwas anderen Art gedacht. Die Wände zierten Kunstwerke, die für Kinder wie Ryan gänzlich ungeeignet waren.

Diese Wohnung war kleiner, hatte einen opulenten Hauptraum, eine kleine Küche an der Seite und ein großes Schlafzimmer mit Blick auf die Stallungen statt auf den Square. Während die eine Wohnung ein Gefühl von Häuslichkeit vermittelte, knisterte diese vor Sünde.

Sam fühlte sie durch jedes seiner Körperteile aufsteigen und sobald er die Tür hinter sich geschlossen und verriegelt hatte, zog er Alice in seine Arme.

„Es tut mir sehr leid, dass du heute mit so vielen Vorurteilen konfrontiert wurdest“, sagte er mit einem leisen Knurren, während er mit den Händen an Alice’ Seiten hinabfuhr und seinen Mund dicht an ihren brachte. „Jeder, der in dir etwas anderes sieht als einen Schatz, ist ein Narr.“

Alice brummte als Antwort, aber Sam ließ ihr keine Zeit, etwas zu sagen. Er legte seinen Mund auf ihren und küsste Alice mit all dem Hunger, der sich seit seinem letzten Besuch vorgestern bei ihm aufgestaut hatte.

Alice zu küssen war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, ebenso wie er es liebte, wenn seine Investitionen Früchte trugen. Alles an Alice war wunderbar, von ihrem Geschmack auf seinen Lippen bis zur Wärme ihrer Kurven, die er streichelnd mit den Händen nachzeichnete. Er hatte sie fast von dem Moment an begehrt, in dem sie sich getroffen hatten. Als sie sich ihm vor eineinhalb Jahren dann so lustvoll hingegeben hatte, hatte er mit Freuden akzeptiert, was sie war, und nie zurückgeschaut.

„Oh, das ist wunderschön.“ Sie seufzte, als Sam die Knöpfe an ihrem hohen Kragen öffnete, damit er ihren Hals mit Küssen bedecken konnte. „Das ist genau das, was ich nach einem Morgen wie diesem brauche.“

„Es tut mir so schrecklich leid, dass du ein derartiges Verhalten ertragen musstest“, raunte Sam und knöpfte dabei ihr Mieder weiter auf, um noch mehr von ihrer Haut zu schmecken. „Du bist viel zu gut für die.“

Alice lachte, und die Vibrationen trafen auf seine Lippen und wanderten direkt zwischen seine Beine. „Sehr viele Leute würden dir in dieser Hinsicht nicht zustimmen“, sagte sie mit hochgezogener Augenbraue.

„Sie sind meiner Aufmerksamkeit nicht wert“, sagte er und zog sich weit genug zurück, um sie weiter zu entkleiden.

Zum Glück machte sich auch Alice an die Arbeit, löste seine Knöpfe und schob seine Jacke von seinen Schultern, während er sich ihr widmete. Sie nahm seinen Hut ab und warf ihn halb durch den Raum, als ob sie keinerlei Sorgen hätten.

Das Problem war, dass sie sehr wohl Sorgen hatten.

„Bevor wir weitermachen“, sagte er seufzend und mit mehr als nur ein bisschen Bedauern in der Stimme, „muss ich dir den Grund dafür mitteilen, dass ich dich heute aufgesucht habe.“

Alice grinste und zog sein Hemd über seinen Kopf, warf es beiseite und breitete ihre Hände auf seiner nackten Brust aus. „Du bist aus einem anderen Grund als diesem hier zu mir gekommen?“ Sie bekräftigte ihre Frage, indem sie sich vorbeugte, um an einer seiner Brustwarzen zu lecken.

Verlangen durchströmte Sam. Egal wie oft er und Alice zusammen gewesen waren, es überraschte ihn immer wieder. Er knurrte, vergrub seine Finger in Alice’ Haar und zog daran, sodass ihre Haarnadeln auf den Boden fielen.

„Ja“, sagte er mit einem Lachen, das sich in ein wohliges Stöhnen verwandelte. „Tatsächlich gibt es einen anderen Grund als diesen. Und Alice … ich fürchte, es ist ernst.“

Alice richtete sich auf und sah ihn an, als führten sie ein normales Gespräch im Hyde Park statt halb ausgezogen und auf dem Weg ins Bett. „Nicht zu ernst, hoffe ich“, sagte sie und legte eine Hand an seine Wange.

Sams Herz krampfte sich zusammen. Ihm lag wirklich viel an Alice und er wusste, dass es umgekehrt genauso war. Er fühlte sich äußerst verlegen, als er mit seinen Neuigkeiten herausplatzte: „Ich muss eine geeignete Frau zum Heiraten finden.“

Alice versteifte sich und blinzelte. „Oh.“

Sam seufzte, nahm ihre Hand und führte sie ins Schlafzimmer. Er hasste es, ihr wehtun zu müssen, nur weil sein Vater sich falsch verhalten hatte.

„Glaub mir, es ist nicht das, was ich will“, sagte er und zog sie wieder in seine Arme, sobald sie im Schlafzimmer waren. „Wenn es nach mir ginge, würde sich überhaupt nichts ändern.“ Er lächelte und küsste Alice sanft, um seine Aussage zu unterstreichen. „Ich liebe mein Leben genau so, wie es ist, mit dir darin. Aber so ist das nun mal in der verdammten Aristokratie.“ Er fühlte sich bedrückter, als er geglaubt hatte.

„Wie kam es eigentlich dazu?“, fragte Alice, löste ihren Rock und ihre Unterröcke und trat aus ihnen heraus.

Sam zuckte mit den Schultern und zog sich weiter aus. „Mein Vater ist in das Netz dieser Bestie Montrose geraten. Sein und Mutters Ruf wurden so stark kompromittiert, dass er ungewöhnlich zurückhaltend über die Einzelheiten war. Wenn man überhaupt etwas über Montrose weiß, dann, dass derjenige, den er sich zum Opfer wählt, dem Untergang geweiht ist.“

„Das ist mir bekannt“, sagte Alice mit argwöhnisch geweiteten Augen.

„Alles ist weg“, fuhr Sam fort. „Vater verlangt, dass seine Söhne gute Partien machen, um das Ansehen der Familie wiederherzustellen. Meinen Brüdern und mir ist es egal, was Vater denkt, aber wir müssen es für Mutter tun. Ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte, wenn sie wegen der Sünden meines Vaters geächtet und ausgelacht würde.“

Alice drehte sich zu ihm um, während sie ihr Korsett öffnete, und kaute dabei auf ihrer Lippe. „Wie kam es dazu, dass dein Vater mit einem Mann wie Montrose zu tun hat?“

Sam neigte seinen Kopf zur Seite, als er aus Hose und Socken schlüpfte und dann die Tagesdecke vom Bett zog. „Um ehrlich zu sein, haben wir nicht nach Details gefragt. Ich bin nicht sicher, dass er darüber gesprochen hätte. Er sagte etwas über Wetten und Spekulationen und Erpressung. Wir glauben, Mutter weiß mehr als wir.“

„Du lieber Himmel.“ Alice’ Augen waren vor Schreck aufgerissen, aber das hinderte Sam nicht daran, ihren Anblick in sich aufzusaugen, als sie den Rest ihrer Kleidung auszog und ihren engelsgleichen Körper enthüllte. Egal wie oft er sie gesehen hatte, der Anblick von Alice’ perfekten, runden Brüsten brachte sein Blut in Wallung und weckte sein Verlangen nach ihr.

Alice wusste das. Sie nahm sich Zeit, bevor sie ins Bett kam, zündete eine Lampe an, die ihren Körper in warmes Licht tauchte, und schloss die Vorhänge, um auch die geringste Möglichkeit auszuschließen, dass jemand von den Stallungen aus hereinspähen konnte. Erst dann kroch sie zu ihm ins Bett und setzte sich rittlings auf seinen Schoß, während er sich die Kissen hinter den Rücken schob.

„Findest du es gerecht von deinem Vater, seinen Söhnen so etwas abzuverlangen, um seine Fehler auszumerzen?“, fragte sie, während sie mit den Händen über seine Brust und Schultern strich, dann beugte sie sich herunter, um ihn zu küssen.

Ihr Kuss war so berauschend, dass Sam beinahe vergaß, worüber sie sich gerade unterhielten. Er strich mit den Händen nach unten, umfasste ihre Pobacken und zog ihre Mitte näher an seine harte Länge heran.

Sie war bereits heiß und feucht und er konnte nicht widerstehen. Er ließ seine Finger zwischen ihre Schenkel gleiten, um sie in ihre Tiefen zu tauchen. Das brachte Alice zum Keuchen. Er antwortete mit einem Stöhnen.

Erst als Alice sich aufrichtete, um die restlichen Nadeln aus ihrem Haar zu ziehen, fiel ihm wieder ein, dass er eigentlich hier war, um ein wichtiges Gespräch zu führen. Er sah an ihrem listigen Blick, dass sie wusste, dass seine Gedanken abgewandert waren. Der Anblick der Kaskade von feuerrotem Haar, welches sich über ihre Schultern und ihren Rücken ergoss, half ihm wenig dabei, sich zu konzentrieren.

„Ob es gerecht ist oder nicht“, antwortete er einen Moment zu spät, „es ist, was er verlangt.“

„Ich verstehe“, sagte Alice und bedeckte seine Brust mit Küssen.

„Ich bin heute zu dir gekommen, weil, nun ja, weil ich hoffte, du wüsstest vielleicht, welche junge Erbin gerade verzweifelt einen Ehemann sucht.“ Er atmete stoßweise, als ihre Lippen immer tiefer und tiefer wanderten. Sie hatte fast seinen harten, vor Verlangen zuckenden Schwanz erreicht, als sie zu ihm aufblickte.

„Muss sie jung sein?“, fragte Alice mit Schalk in den Augen.

Sam lachte und schnappte dann nach Luft, als sie sanft ihre Hand um den Ansatz seiner Härte schloss. „Ich weiß nicht“, seufzte er. „Vater erwähnte diesbezüglich nichts.“

„Nein, das dachte ich auch nicht“, sagte Alice mit einer hochgezogenen Braue.

Sie kehrte zu ihrer Aufgabe zurück, schloss den Mund um die Spitze seiner Erregung und strich mit der Zunge darüber. Sam stieß sein Becken nach vorn, bevor er sich beherrschen konnte, und vergrub sich tiefer in ihren Mund. Sein Kopf setzte aus. Alice war die wundervollste Frau auf Gottes grüner Erde. Keine Frau, egal wie wohlhabend, würde es in Betracht ziehen, die Dinge zu tun, die sie beide so gern miteinander taten.

Wie Alice bereits mehrfach wiederholt hatte, liebte sie es, ihn zu befriedigen. Und sie war auch noch außerordentlich begabt darin. Ihre Lippen und Zunge waren magisch, als sie seine empfindliche Spitze neckten und liebkosten, ihre Hand pure Glückseligkeit, als sie seine Länge streichelte. Als sie beides kombinierte und ihn so tief wie möglich in ihren Mund hineinzog, stöhnte Sam vor Ekstase und musste sich am Kopfteil festhalten, um nicht mehr von ihr zu fordern, als sie aufnehmen konnte. Er achtete darauf, die Dinge immer auf Alice’ Art zu tun und sie nie weiter zu drängen, als sie gehen wollte.

„Oh Gott, Liebling, ich bin schon nah dran. Ich brauche dich heute einfach so sehr, dass …“

Alice unterbrach sein verzweifeltes Geplapper, indem sie sich aufrichtete und ihn küsste. Sie lachte dabei, positionierte sich dann über ihm, um ihn tief in sich aufzunehmen.

Sie machten beide lustvolle Geräusche, als sich ihre Körper verbanden. Sam umfasste ihre Hüfte und stieß in sie hinein, während Alice ihn ritt und sich selbst das Vergnügen verschaffte, welches sie brauchte. Sie waren so gut zusammen, erregten sich gegenseitig so immens. Es war eine verdammte Schande, dass der Sohn eines Marquess unmöglich seine Geliebte, eine bekannte Kurtisane, heiraten konnte. Wenn die Gesellschaft dies zulassen würde, stünden er und Alice noch vor Ablauf des Tages vor dem Altar.

Er war kurz davor zu explodieren, aber er wartete, biss in seine Lippe und zwang sich mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, einzuhalten, bis Alice’ Schreie schrill wurden und dann in ein tiefes, erfreutes Keuchen übergingen, als sie kam. In dem Moment, als sie sich um ihn zusammenzog, ließ Sam auch los und ergoss sich mit einem so lauten Schrei in sie, dass es schon fast ungehörig war. Sie hätten wahrscheinlich vorsichtiger sein sollen, aber Sam kannte ihren Zyklus so sicher wie das Glockenspiel von Big Ben, und Alice versicherte, dass sie wusste, wie man eine Schwangerschaft vermied. Er vertraute ihr, und das war mehr, als er über die meisten Menschen sagen konnte.

Als sie sich beide entspannten, keuchten und gegeneinander sackten, zog er Alice in seine Arme.

„In Ordnung“, sagte sie zwischen kurzen Atemzügen. „Ich werde dir helfen. Irgendwo da draußen in London gibt es eine wohlhabende Frau, die geradezu auf dich wartet. Ich werde dir helfen, sie zu finden.“

Kapitel drei

Das Leben für die Art von Frau, zu der Alice innerhalb der letzten zwei Jahre, seit ihrer Ankunft in London, geworden war, hatte definitiv Vor- und Nachteile. Sie hätte ihre Freiheit für nichts in der Welt eintauschen wollen, eine Freiheit, die nur wenige Frauen, die ihrer gesellschaftlichen Stellung angehörten, je würden genießen dürfen.

Das Leben als Kurtisane ermöglichte ihr, das Leben nach ihren Wünschen zu gestalten, fabelhaft auffällige Kleider zu tragen – wie dieses auberginefarbene Kleid und die glitzernden falschen Diamanten und Amethyste, die sie für den heutigen Abend gewählt hatte – und ins Theater zu gehen, wann immer sie wollte.

Nachdem sie ihre funkelnden Ohrringe befestigt hatte, trat sie zurück und bewunderte sich in einem der vielen bodentiefen Spiegel in ihrem beruflich genutzten Boudoir  das Geschenk eines ehemaligen Liebhabers mit einer Vorliebe dafür, sich selbst beim Liebesakt zu beobachten. Sie grinste ihre eigene Erscheinung an und drehte sich hin und her, um ihre Wirkung einzuschätzen. Ihr Aussehen – besonders ihr atemberaubend irisches Haar – war nur eine der Eigenschaften, die bestimmte Herren im vergangenen Jahr so an ihr geschätzt hatten, als sie, wie jede andere Kurtisane, nach Kunden gesucht hatte. Sie hoffte inständig, dass diese Tage hinter ihr lagen, aber sie wusste auch, dass Sam ihr Aussehen gefiel, und das war alles, was zählte.

Sam.

Alice stieß einen Seufzer aus, ließ die Schultern sinken und drehte dem Spiegel den Rücken zu. Dies war die schmerzhafte Kehrseite ihrer kurzen Karriere und ihres derzeitigen Rufs. Es war sinnlos zu leugnen, dass Samuel Rathborne-Paxton einen besonderen Platz in ihrem Herzen einnahm. Er hatte ihr auf sehr reale Weise geholfen, als sie aus Irland geflohen war, und war seitdem unzählige Male in den vergangenen zwei Jahren für sie da gewesen.

Von ihrem Boudoir ging sie nach vorn in den Salon ihrer professionellen Wohnung und schnappte sich den kunstvollen Fächer und das Opernglas, das er ihr vergangenes Weihnachten geschenkt hatte. Sie hielt einen Moment lang inne und betrachtete sie, als ob es Juwelen wären.

Sam musste heiraten. Sie hatte von Beginn an gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Alleinstehende Söhne eines angesehenen Marquess blieben nicht lange allein. Und zu ihrem Leidwesen heirateten sie nicht ihre Mätressen. Sie konnten nicht. Es wäre ein entsetzlicher Skandal gewesen. Selbst wenn Sam über ihre bürgerliche Herkunft, ihre professionellen Tändeleien mit anderen Männern und Ryans Existenz hätte hinwegsehen können – obwohl sich Sam und Ryan prächtig verstanden, was das Ganze nur noch verschlimmerte –, würde die Gesellschaft sie niemals als seine Braut akzeptieren.

Alice fuhr mit den Fingern über die zarte Seide des Fächers, den Sam ihr geschenkt hatte, und öffnete ihn, um eine grelle gemalte Szene zu enthüllen, die Irland darstellen sollte, wie irgendein Einfaltspinsel es sich vorstellte. Sie und Sam hatten schallend über das lächerliche Grün, die Regenbögen und Fabelwesen gelacht, als sie den Fächer bei einem Schaufensterbummel in einem Geschäft in der Oxford Street entdeckt hatten. Passanten hatten sich nach ihnen umgedreht und sie hatten missbilligende Blicke ob ihres Ausbruchs geerntet, aber das war es wert gewesen. Und dann war Sam, dieser verrückte Kerl, zurückgegangen und hatte das scheußliche Ding für sie gekauft.

Alice blinzelte schnell, überrascht, dass die Erinnerung sie jetzt zu Tränen rührte. Aber warum auch nicht? Ihr liebster, süßer, rücksichtsvoller Liebhaber hatte sie um Hilfe gebeten, ihm eine respektable Ehefrau zu finden, während sie ihn am Nachmittag zuvor geritten hatte, und selbstquälerisch, wie sie war, hatte sie zugestimmt. Hätte sie doch nur zu einer ganz anderen Frage Ja sagen können!

Ein Klopfen an der Wohnungstür riss sie aus ihren trüben Gedanken. Alice schniefte hörbar und betupfte ihr Gesicht, um sicherzustellen, dass ihre Schminke nicht von ihrem melancholischen Ausbruch verschmiert war, und ging, um die Tür zu öffnen.

„Oh, guten Abend, Mrs Knox.“ Alice tat ihr Bestes, um unbeschwert zu lächeln, als sie ihrer Vermieterin die Tür öffnete. „Sie sehen sehr hübsch aus heute Abend.“

Mrs Knox, eine Frau, deren beste Jahre weit hinter ihr lagen und der wahrscheinlich nie gesagt worden war, dass sie hübsch war, begegnete Alice’ Kompliment mit einem angespannten Lächeln. Alice’ Herz flatterte ängstlich.

„Das kam vorhin für Sie, Mrs Woodmont, aber ich hatte noch keine Gelegenheit, es vorbeizubringen“, sagte Mrs Knox und präsentierte Alice einen zerknitterten Umschlag.

„Vielen Dank, Mrs Knox“, sagte sie voll aufrichtiger Dankbarkeit und nahm den Brief. „Sie sind ein Geschenk des Himmels. Ich wüsste nicht, was ich ohne Sie täte.“

Alice’ Lächeln geriet ins Stocken, als sie auf den Umschlag blickte. Er war mit Briefmarken und Poststempeln aus Südafrika bedeckt. Ihr Bauch krampfte sich zusammen.

„Ja, gut“, fuhr Mrs Knox eher zögerlich fort. Ihr Gesicht verzog sich peinlich berührt. „Da ist auch noch die Sache mit der Miete, wissen Sie?“

Alice schluckte und fühlte sich plötzlich unwohl. „Ich habe meinen Bevollmächtigten angewiesen, Ihnen die Zahlung so schnell wie möglich weiterzuleiten, Mrs Knox. Leider scheint es so, dass es im Moment zu einer gewissen Verzögerung kommt.“

Mrs Knox’ Mundwinkel zuckte. „Ja, Mrs Woodmont.“ Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob sie noch mehr sagen wollte, dann schloss sie den Mund, schüttelte den Kopf und trat zurück. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Mrs Woodmont.“

„Und Ihnen auch, meine Liebe.“ Alice lächelte die Frau an, trat dann zurück und schloss die Tür. Ihr Lächeln verschwand, als sie den Brief aufriss.

Wie erwartet enthielt er schlechte Nachrichten.

Sehr geehrte Mrs Woodmont.

Ich bedauere, Ihnen und allen Investoren der Niemeer-Mine mitteilen zu müssen, dass der Diamantenabbau aufgrund der Sondervereinbarung mit De Beers Consolidated Mines zu diesem Zeitpunkt gestoppt wurde. Alle Gewinnauszahlungen werden so lange ausgesetzt, bis sich Niemeer Mines neu organisieren und über künftige Optionen nachdenken kann. Ihre Geduld in dieser Angelegenheit wird geschätzt.

Hochachtungsvoll

Randulph Kalman.

Alice atmete tief durch und ließ den Brief auf den nächsten Tisch fallen, als hätte sie sich die Finger daran verbrannt. Sorge und Wut kämpften in ihr. Mr Kalman hatte nicht geschrieben, dass es in der Mine keine Diamanten gab oder dass der Vorrat erschöpft sei, nur, dass sie nicht mehr abbauen würden.

Sie biss die Zähne zusammen und ging zurück zum Tisch neben ihrem Sofa, wo ihre Handtasche für den heutigen Abend lag. Verdammt, Cecil Rhodes und seine elenden De Beers Consolidated Mines. Je mehr sie über den Mann und seine Geschäfte erfuhr, desto mehr verfluchte sie seinen Namen, ungeachtet dessen, wie unfassbar reich er geworden war.

Einen Moment später verwandelte sich ihre Wut in ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, als sie sich ihre Handtasche schnappte und in den Flur trat. Es hatte keinen Sinn, gegen Leute wie Cecil Rhodes oder einen anderen der großen Titanen des Handels zu kämpfen, genauso wenig, wie es Sinn hatte, sich einzureden, dass Aristokraten Huren heirateten. Ihr ganzes Leben schien darauf hinauszulaufen, ein tapferes Gesicht aufzusetzen und sich den bestmöglichen Weg durchs Dornengestrüpp des Lebens zu suchen. Und genau das würde sie tun.

In Anbetracht des Briefes schien es keine kluge Idee, sich eine Mietdroschke zu mieten, welches sie zum Concord Theatre brachte. Aber so, wie sie gekleidet war, würde sie sich nur Ärger einhandeln, wenn sie ein öffentliches Verkehrsmittel nahm.

Als sie in der hell erleuchteten, überfüllten Empfangshalle des Theaters ankam, zog sie mehr Blicke auf sich, als ihr in diesem Moment lieb war, auch wenn sie nicht zum ersten Mal ohne Begleitung an einem öffentlichen Ort erschien und dort Aufmerksamkeit erregte. Sie tat ihr Bestes, das unangenehme Gefühl zu ignorieren, und machte sich auf die Suche nach Sam. Sie hatten sich im Theater verabredet, um zu schauen, welche von Londons Debütantinnen infrage kämen, einen verzweifelten Mann zu heiraten – und natürlich, um das neueste Niall-Cristofori-Stück zu sehen, mit dem unvergleichlichen Everett Jewell in der Hauptrolle.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Menschenmenge in der Empfangshalle zu überblicken, entdeckte jedoch nicht Sam, sondern leider eine andere Person.

„Guten Abend, Mrs Woodmont“, sprach sie der bedrohliche Montrose an. Der Mann hatte sie offenbar verfolgt, seit sie eingetroffen war, und bahnte sich nun einen Weg durch die wartende Menge, die sich vor ihm teilte. Offensichtlich gingen ihm die Leute lieber aus dem Weg. „Sie sehen wie üblich umwerfend aus.“

„Danke, Mr Montrose.“ Alice lächelte und hielt ihm ihre Hand hin, nach der Montrose griff. Zitternd ließ sie sich von ihm den behandschuhten Handrücken küssen.

„Wie schön, Sie heute Abend hier zu sehen, nachdem Sie so einen schweren Schlag hinnehmen mussten“, fuhr Montrose mit einem aufgesetzten Lächeln fort und richtete sich zu voller Größe auf.

Alice’ Magen verkrampfte sich. Wie war es möglich, dass Montrose über Sam Bescheid wusste? Nun, er war derjenige, der die Familie Rathborne-Paxton in den Schlamassel manövriert hatte, in dem sie sich jetzt befand. Außerdem waren sie und Sam nie besonders geheimnisvoll mit ihrer Beziehung umgegangen, wenn sie sich in bestimmten Kreisen bewegt hatten.

„Dinge wie diese passieren“, antwortete sie ihm möglichst gelassen.

„Ja.“ Montrose’ Antwort triefte vor Mitgefühl, das genauso falsch war wie die Juwelen um Alice’ Hals. „Das Monopol von De Beers in Südafrika ist skandalös und ausgesprochen ungerecht gegenüber Investoren, wie Sie es sind.“

Alice gefror das Blut in den Adern. Dass Montrose ihr den Verlust von Sam unter die Nase rieb, hätte sie vielleicht verstanden. Aber dass er von ihrer Investition bei Niemeer Mining und von den Verlusten wusste, die das Unternehmen erlitten hatte, war ein noch tieferer Schlag, als wenn er von ihrem Liebeskummer gewusst hätte.

„Ich bin mir sicher, dass Mr Kalman seine Investoren angemessen entschädigen wird“, entgegnete sie heiser.

„Ja, in der Tat.“ Montrose nickte. „Aber natürlich, Mrs Woodmont. Dennoch, falls Sie jemals Hilfe brauchen sollten …“ Er beendete seine Aussage nicht.

Alice bemühte sich, ihr Lächeln beizubehalten, aber Montrose war bei Weitem die verstörendste Person, die sie je getroffen hatte. Umso mehr, als sie keinerlei sexuelle Neigung ihr gegenüber bei ihm spüren konnte. Er starrte ihr nicht in den Ausschnitt, schaute sie nicht lüstern an und hatte ihr nie ein unmoralisches Angebot gemacht, obwohl sie es aufgrund des schnell verdienten Geldes angenommen hätte. Noch seltsamer war, dass er auch an niemand anderem interessiert schien, weder Frau noch Mann. Diese Dinge ließen ihn einfach kalt. Und nichts war für sie beunruhigender als ein Mann, der kein Interesse an den Vergnügungen im Bett hatte.

„Ja, danke“, stammelte Alice. Sie hatte keine Ahnung, was sie von seinem Hilfsangebot halten sollte. „Ich bin mir nicht sicher …“

„Ah, da sind Sie ja, Mrs Woodmont.“

Alice atmete erleichtert auf, als sie unerwarteterweise von Mr Dean Rathborne-Paxton gerettet wurde. Sams Bruder schritt durch die Menge direkt auf sie zu. Sein Mund war zu einem Lächeln verzogen, aber seine Augen blickten eisig zu Montrose.

„Wir haben oben in der Loge auf Sie gewartet“, sagte Dean. Geschickt schlüpfte er zwischen Alice und Montrose und bildete so eine Art Schutzschild, auch wenn dies einer offenen Missachtung von Montrose gleichkam.

Montrose schien es egal zu sein. Er hüstelte, zog einen Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln nach oben, blickte Alice an, als ob er sein Hilfsangebot wiederholen wollte, und ging dann davon.

Alice legte ihre Hand in Deans Ellenbeuge, als dieser ihr den Arm bot. „Danke“, hauchte sie. „Dieser Mann ist unglaublich furchteinflößend.“

„Er ist der wahre Teufel“, stimmte Dean zu. Er hielt inne und fragte dann: „Ich vermute, dass Sam dich über die Sorgen unserer Familie informiert hat?“

„Hat er“, gab Alice mit einem müden Seufzen zu. „Und es tut mir entsetzlich leid.“

Dean schnaubte. „Mein geschätzter Vater ist derjenige, dem es leidtun sollte“, sagte er, als sie den jungen Mann, der die Karten kontrollierte, passierten und die Treppe hinauf zu den privaten Logen gingen. „Alle vier Söhne und seine Frau haben sich gegen ihn gewandt. Mutter hat ihre Sachen gepackt und ist heute Morgen zum Anwesen meiner Tante Josephine in Shropshire abgereist. Ich glaube nicht, dass sie jemals zurückkehren wird.“

„Sollte mir das leidtun?“, fragte Alice, als sie durch den Gang zur Loge der Familie Rathborne-Paxton schritten.

Dean schüttelte den Kopf. „Keineswegs. Es war höchste Zeit, dass sich Mutter von dem Tyrannen lossagt.“

Mehr Zeit zum Austausch blieb nicht, denn sie waren an der Loge angekommen. Sam saß in der Nähe der Brüstung und war tief in ein Gespräch mit Francis versunken, während sie den Blick über den Zuschauerraum schweifen ließen. Als Alice ihn sah, sang ihr Herz, und zum ersten Mal an diesem Tag fühlte sie sich glücklich.

Als ob er ihre Gegenwart spüren könnte, drehte Sam sich zu ihr um und brach mitten im Satz ab. Sein ganzes Gesicht erstrahlte. Es drückte die Freude und Wertschätzung aus, die er bei Alice’ Anblick empfand. Sam sprang von seinem Sitz auf, um sie zu begrüßen.

„Ich schwöre, Alice“, sagte er, nahm ihre Hand und zog sie in einer fließenden Bewegung an seine Lippen, „du wirst immer schöner, jedes Mal, wenn ich dich sehe. Ist das ein neues Kleid?“

Alice lachte, ihr Herz hüpfte. „Nein, du Narr. Es ist dasselbe Kleid, das ich letzte Woche im Theater getragen habe.“

„Oh.“ Sam musterte ihren Körper, seine Augen blieben einen Moment lang an ihrem Ausschnitt hängen. „Vielleicht erkenne ich es besser, wenn es zerknittert neben dem Bett liegt.“

Alice kicherte. Selbst wenn sich Sam so anzüglich benahm, fühlte sie sich unglaublich glücklich.

„Jetzt mal langsam“, sagte Francis mit gespielt missbilligendem Blick. „Wir sind in der Öffentlichkeit.“

„In einer privaten Loge mitten in einem lauten Theater“, erwiderte Sam und führte Alice zu den vordersten Plätzen. „Und ich wage zu behaupten, dass es niemanden gibt, der nicht im Bilde darüber ist, was hier passiert.“

„Wahrscheinlich nicht.“ Dean lachte und scheuchte sie zur Seite, damit auch er in der vorderen Reihe Platz nehmen konnte. „Aber Cristofori und Selby sind in der Loge nebenan und haben heute Abend ihre ganze Kinderschar dabei.“

Alice strahlte. Sie lehnte sich nach vorn, um an der Trennwand vorbei in die andere Loge zu sehen. In der Tat, Niall Cristofori und Blake Williamson – der Duke of Selby für diejenigen, die ihn und seine ganze tragische Geschichte nicht persönlich kannten, so wie Alice es tat – saßen da mit Selbys drei Kindern und einem Mädchen, das Alice unbekannt war. Selbys Kammerdiener, Mr Lawrence, war bei ihnen. Das war zwar ungewöhnlich, ließ Selby aber in Alice’ Augen noch liebenswürdiger erscheinen.

Als Selby ihren Blick bemerkte, lächelte Alice ihm zu und winkte. „Euer Gnaden, Ihr seid aus Amerika zurückgekehrt. Wie schön, Euch zu sehen.“

Da ihr Verhältnis freundschaftlich war, lächelte Selby zurück. „Seit letzter Woche“, erwiderte er. „Die Mission war ein Erfolg.“

Er legte eine Hand auf den Kopf seines kleinen Sohnes. Diejenigen in der hochwohlgeborenen Londoner Gesellschaft, denen die Geschichte der Selbys bekannt war, neigten dazu, ihre Nase darüber zu rümpfen. Lady Selby war mit Selbys Sohn Alan zum Wohnsitz ihrer Familie in New York geflohen, als sie herausfand, dass Niall Cristofori vor zehn Jahren Selbys Geliebter gewesen war. Ihre Reaktion und ihr Entsetzen über die Neigungen ihres Ehemannes hatten den paradoxen Effekt gehabt, Selby zurück in Cristoforis Arme zu treiben … wo er jetzt höchst zufrieden zu sein schien. Alice hieß die Beziehung gut, denn sie war wild, unkonventionell und jenseits der Grenzen des Anstands. Ihre Zeit in den weniger erlauchten Kreisen der Gesellschaft hatte ihr gezeigt, dass Liebe viele Facetten hatte. Und was die moralisierenden Damen und Herren der feinen Gesellschaft nicht wussten oder nicht wissen wollten, darüber konnten sie sich auch nicht entrüsten.

„Wie kannst du es wagen, den Abend damit zu verbringen, deine Aufmerksamkeit anderen Männern zu schenken?“, fragte Sam scherzhaft und gab ihr einen spielerischen Klaps. „Du musst mir helfen, das Publikum nach einer Erbin abzusuchen.“

Alice lachte und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Sam, auch wenn es ihr dabei einen Stich ins Herz gab. Es änderte nichts, sie musste Sam alle Hilfe geben, die er brauchte. So unangenehm es für sie war, sie hätte alles für Sam getan.

„Was genau suchen wir?“, fragte sie und tat so, als wäre sie eine Maklerin auf der Suche nach der richtigen Investition für ihren Kunden. Sie lehnten sich über die Brüstung und sahen sich das Publikum an, welches ins Theater strömte.

„Ist mir egal“, seufzte Sam, lehnte sich gegen ihren Arm und spähte in einige der benachbarten Logen. „Jemanden mit Geld? Das ist ja der ganze Zweck dieses Unterfangens.“

Er tat Alice furchtbar leid. Für wen sie sich auch entschieden, Sam würde für den Rest seines Lebens an die Frau gebunden sein. „Ist Geld das Wichtigste?“, fragte sie.

„In Vaters Augen, ja“, sagte Sam und blickte über den Theatersaal anstatt zu ihr. „Ich selbst bin mir nicht so sicher“, fügte er mit leiser Stimme hinzu.

Alice nickte und glaubte verstanden zu haben, dass Sam, ungeachtet dessen, was Lord Vegas verlangt hatte, die Ehe an sich viel wichtiger war als das damit einhergehende Bankkonto. Sam wollte heiraten. Es war an der Zeit.

Mit noch schwererem Herzen überblickte sie die Menge. An einem gewöhnlichen Abend war nicht abzusehen, wer im Theater sein würde. Da dies aber die Premiere von Cristoforis neuestem Stück war, waren alle mit Rang und Namen anwesend.

„Was ist mit Miss Nelson?“, fragte Alice und neigte den Kopf in Richtung der Industrieerbin in der gegenüberliegenden Loge.

Sam brummte und verzog das Gesicht. „Sie ist ein bisschen zu jung für mich.“

Tatsächlich war die Frau kaum über zwanzig und gerade erst in die Gesellschaft eingeführt. „Dann vielleicht Lady Heloise?“, fragte sie und wies zu einer Loge im hinteren Teil des Theaters.

Sam neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. „Ihr Vater ist ein Earl. Die Familie besitzt ein Anwesen in der Nähe von Lancaster und auch eines in Cornwall, wenn ich mich recht entsinne.“ Er rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. „Gibt es nicht auch irgendwo eine Amerikanerin im Publikum?“

„Du willst also eine Amerikanerin heiraten?“ Alice hoffte, dass sie amüsiert klang, denn tatsächlich ließ sie dieser Gedanke vor Angst zittern. Wenn sie als Irin als exotisch galt, dann wäre eine Amerikanerin noch zehnmal exotischer.

Sam rieb sich übers Gesicht, als ob alles, was er vor sich sah, nur Waren zweiter Wahl wären. „Nein, vermutlich sollte es Lady Heloise sein.“

Alice’ Augenbrauen hoben sich. „Ist das dein Ernst?“

Sam seufzte, lehnte sich in seinem Sitz zurück und wandte sich ihr zu. „Was denkst du?“, fragte er, während er seine Finger mit ihren verschränkte.

Was Alice dachte, war, dass Lord Vegas zehnmal grausamer war als Montrose, weil er seine Söhne zwang, jemanden zu heiraten, den sie nicht wollten. Was sie dachte, war, dass die Standards einer Gesellschaft, die einem Mann verboten, die Frau zu heiraten, die er liebte und mit der er glücklich sein könnte, unglaublich ungerecht waren. Was sie dachte, war, dass ein Mädchen wie Lady Heloise nicht zu schätzen wüsste, welchen Schatz sie gefunden hätte, sollte Sam seine Aufmerksamkeit auf sie richten und ernsthaft um ihre Hand anhalten.

„Ich denke, Lady Heloise ist genau die Art von junger Frau, mit der dein Vater einverstanden wäre“, war ihre besonnene Antwort.

Sam lachte und schüttelte dann den Kopf. „Gott hilf mir, ich glaube, du hast recht.“ Die Lichter im Theatersaal wurden gedimmt und das Orchester schlug die ersten Töne der Ouvertüre an, als Sam fortfuhr: „Ich denke, ich werde mich ihr während der Pause vorstellen und das Mädchen danach irgendwann ausführen. Bis dahin …“ Er schlüpfte aus seinem Schuh und schob seinen bestrumpften Fuß unter den Saum von Alice’ Kleid. Ein unbeteiligtes Gesicht aufzusetzen, war alles, was Alice tun konnte, sodass jemand, der sie aus einer anderen Ecke des Theaters beobachtete, nicht sofort sah, was hier vor sich ging.

So schön es auch war, sich mit Sam ungehörig zu benehmen, Alice beschlich das Gefühl, dass sich ihre gemeinsame Zeit mit Sam dem Ende zuneigte. Und sie wusste nicht, wie ihr Leben weitergehen sollte, wenn das passierte.