Leseprobe Einen Earl küsst man nicht

Kapitel 1

Trotz der unheimlichen Beinahestille, die sich in den Stunden zwischen Abenddämmerung und Morgenröte über die Insel legte, hätte Lieutenant Thomas Sutherland um ein Haar den verräterischen Rhythmus von Ruderblättern überhört, die durchs Wasser glitten.

Verdammt und verflucht. Wenn er nicht achtgab, würde er nach so langer Zeit doch noch dem Feind in die Hände fallen – oder der Gnade seines Generals ausgeliefert sein, sobald er dem erklärt hatte, dass durch den Duft von Blüten seine Pflicht in Vergessenheit geraten war.

Sieben Jahre Dienst in Dominica hatten seine Konzentration geschärft, da Augen und Ohren stets auf den wahrscheinlichsten Landeplatz der französischen Flotte ausgerichtet waren. Er hatte sogar gelernt, das Surren und die Stiche der verdammten Moskitos zu ignorieren, auch wenn die eine besondere Vorliebe für sein Blut zu haben schienen. Aber vielleicht lag es ja auch am Whisky, der sich seine Adern in gleichem Maß mit dem Blut teilte.

Doch in der gesamten Zeit war er nie dahintergekommen, wie er über jenes süßliche, sinnliche Aroma hinweggehen sollte, das nachts schwer in der Luft hing. Nachtblühender Jasmin, dessen Duft bei ihm eigentlich keine Erinnerungen hätte wecken dürfen. Erst recht keine Erinnerungen an eine kleine Engländerin aus Sussex.

Mit finsterer Miene – die zu drei Vierteln Napoleon und zu einem Viertel ihm selbst galt – zwang er sich, seine Aufmerksamkeit auf das momentane Geschehen zu richten. Aufmerksam suchte er die geschützt liegende Bucht nach der Ursache für das Geräusch ab. Auch wenn der abnehmende Mond kaum mehr war als der Rand eines Fingernagels, genügte er, um die kräuselnden Wellen nahe dem Ufer in einen silbrigen Glanz zu tauchen. Ein breiterer Streifen Licht erfasste die Gischt dort, wo sich weiter draußen die Brandung brach.

Dann endlich machten seine Augen die gesuchte Bewegung aus. Ein Skiff bewegte sich unruhig im Wellengang, das Gewicht des Ruderers und eines Passagiers drückte es tief ins Wasser. Thomas berechnete die Stelle, an der sie das Ufer erreichen würden, dann lief er schnell und lautlos am Strand entlang, wobei er sich so lange wie möglich im Schutz des dichten Grüns bewegte und hin und wieder stehen blieb, um die nächtliche Schwärze hinter dem kleinen Boot abzusuchen. Irgendwo da draußen lauerte das Schiff, von dem aus die beiden Männer in noch unbekannter Mission an Land geschickt worden waren.

Als ihn nichts weiter als ein Streifen aus leuchtend weißem Sand vom Wasser trennte, ging er hinter einer Felszunge in die Hocke und wartete ab. Der Ruderer verharrte in seiner Bewegung und ließ die Wellen den Rest erledigen. Selbst aus dieser Entfernung wirkte er für seine Tätigkeit noch viel zu jung. Das kleine Boot huschte seitwärts durch das seichte Wasser, dann sprang der Junge heraus. Wasser spritzte in die Höhe, und er zog das Boot an den Strand.

Währenddessen saß der Passagier die ganze Zeit über reglos da und drehte nicht einmal den Kopf nach rechts oder links. Aber kaum dass das Skiff sicher auf dem Sand lag, verließ er es mit einem Satz und stand da, um zunächst den Strand, dann das Gebüsch und schließlich die weiter entfernten Bäume genauestens zu betrachten. Er versuchte nicht, sich vor den Blicken zufälliger Beobachter zu verstecken, so als sei das, wonach zu suchen er hergekommen war, auch das Risiko wert, entdeckt zu werden. Auch er war noch ein junger Mann, wenngleich auch einige Jahre älter als der Matrose, der ihn soeben an Land gebracht hatte. Er mochte zwanzig oder zweiundzwanzig sein. Dass er die makellose Uniform eines Offiziers der britischen Marine trug, änderte nichts an dem Argwohn, den Thomas für diesen Mann und dessen Absichten verspürte.

Die beiden Neuankömmlinge unterhielten sich so leise, dass er die Worte nicht hören konnte. War es Englisch? Oder Französisch? Das ferne Tosen der Wellen übertönte völlig den Klang ihrer Worte. Nach diesem kurzen Gespräch stieg der Matrose wieder in das Skiff und machte sich so flach, dass man ihn nur mit sehr geübtem Blick bemerken konnte. Der mutmaßliche Offizier drehte sich um und überquerte den Strand in Richtung Wald. Der Weg, dem er folgte, verlief keine fünf Schritte von der Stelle entfernt, an der Thomas kauerte.

Ohne den Mann aus den Augen zu lassen, zog Thomas sein Messer aus der Scheide und schob es in den Schaft seines Stiefels. Sie bewegten sich im Gleichschritt, sodass jedes von Thomas verursachte Geräusch von dem überdeckt wurde, welches der Mann vor ihm machte, während er sich durch das ihm fremde Gelände mühte und dabei mal auf dem lockeren Sand wegrutschte oder unbekümmert Muschelschalen unter seinen Schuhsohlen kleintrat, während er mit den Beinen am raschelnden trockenen Gras entlangstrich. Stück für Stück schloss Thomas zu ihm auf. Schließlich gelangte er zu einer Lichtung, auf der eine kleine Hütte stand. Sie war auf Pfählen errichtet worden, um den heftigen Tropenstürmen widerstehen zu können. Die Hütte war für Thomas das Basislager für seine Erkundungsgänge, doch er hatte auch Räumlichkeiten in Roseau, wohin er sich immer dann begab, wenn er Informationen anderer Art benötigte oder Nachrichten versenden musste.

Der Fremde sah sich gründlich um, betrachtete zuerst das kleine Bauwerk und spähte dann in den dunklen Wald ringsum. Als er einen Fuß auf die unterste Sprosse der Leiter setzte, die zur Tür hinaufführte, und im Begriff war, die nächste Sprosse zu erklimmen, da sagte Thomas: „Da, wo ich herkomme, ist es üblich, dass man wartet, bis man eingeladen wird.“

Der unerwartete Klang einer menschlichen Stimme erzielte genau die Reaktion, auf die er gehofft hatte, denn der Mann wirbelte abrupt herum, verlor den Halt und fiel zu Boden, noch bevor er Thomas’ Position bestimmen konnte, der im nächsten Moment nicht weit von ihm entfernt aus dem Schatten hervortrat.

„Himmel und Hölle“, keuchte der Mann, dem vor Schreck und durch den Sturz von der Leiter die Luft aus den Lungen gepresst worden war. „Was soll denn das?“ Sein verunsicherter Blick wanderte zwischen Thomas’ einfacher Leinenkleidung, der primitiven kleinen Hütte und der gekrümmten Klinge seines Messers hin und her. „Als man mir sagte, dass Sie schon viel zu lange hier sind, Sutherland, da haben sie nicht übertrieben.“ Der Mann hatte die Sprechweise eines Lehrers an einer Privatschule, sein englischer Akzent war fast schon so tadellos, dass man ihn kaum für echt halten wollte.

Thomas kam noch einen Schritt näher. „So? Und was hat man Ihnen sonst noch gesagt? Ich hoffe, die Parole hat auch dazugehört.“

„P…Parole? Ich bin Captain Bancroft von der Colchester.“ Ein verzweifelter Unterton prägte jetzt seine gedehnte Sprechweise, während er nach hinten zurückwich und wie eine verängstigte Krabbe auf der Flucht wirkte. „Ich überbringe Ihnen eine Depesche von General Zebadiah Scott.“

Die Abfolge an Namen diente dazu, Thomas’ Vertrauen zu gewinnen. Doch der blieb weiter vorsichtig. Hatte es ihm immer schon so sehr im Blut gelegen, eine Lüge zu erwarten und eine Falle zu vermuten? Vielleicht war er tatsächlich schon zu lange hier.

Nach einer kurzen Pause fuhr der Mann fort: „General Scott lässt ausrichten: ‚Es geht nach Hause, Magnus.‘“ Obwohl er sich in einer unterlegenen Position befand, betonte Bancroft – sofern er wirklich so hieß – die Nachricht so, als würde er sie auf keinen Fall wiederholen wollen. Nicht einmal, wenn er mit einer Klinge bedroht wurde.

Aber ein Wiederholen würde auch nicht nötig sein, denn Thomas hatte ihn klar und deutlich verstanden. Er selbst zeigte keine Regung, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn diese kurze Nachricht innerlich aufgewühlt hatte.

Bancroft schien Thomas’ regungsloses Verhalten als Ratlosigkeit zu deuten, daher wagte er es, sich ganz leise zu räuspern. „Ich gehe davon aus, dass Sie den notwendigen Code besitzen.“

Nach einer betont langen Pause sagte er schließlich: „Nay.“

Denn diesmal war kein Code erforderlich, um die Nachricht zu entschlüsseln. Magnus war zu selten und zu persönlich, sodass eine Verschlüsselung gar nicht erst nötig war. Zwar hatte Thomas ihn seit Jahren nicht mehr gehört, doch der Name war ihm bestens vertraut.

Wie es dazu hatte kommen können, dass er ausgerechnet hier mit diesem Namen angesprochen wurde, das war ihm allerdings ein Rätsel.

Eine Erklärung hätte er auch mit einem Code nicht erhalten, denn die konnte nur General Scott liefern. Das wollte er aber offenbar nur von Angesicht zu Angesicht tun, anstatt seine Beweggründe einem Mittelsmann anzuvertrauen. Aus Gewohnheit legte Thomas den Kopf ein wenig schräg, als würde er auf etwas lauschen. Allerdings überschlugen sich seine Gedanken momentan so heftig, dass er außer dem Rauschen des Bluts in seinen Adern nichts hören konnte.

Zu seinem Glück war er aber nicht von all seinen Sinnen im Stich gelassen worden. Ein Hauch wie von einem Parfum stieg ihm auf einmal in die Nase. Wieder war es der nachtblühende Jasmin. Und wieder weckte der Duft eine vertraute Erinnerung. Das Gesicht einer Frau, die zu ihm hochsah. Nussbraunes Haar, volle Wangen, blaue Augen. Er versuchte, das Bild aus seinem Kopf zu bekommen.

Großer Gott, was hatte …?

Aber ja! Was genau hatte denn überhaupt die Zweige dieses infernalischen Gestrüpps in Bewegung versetzt? Es ging kein Windhauch, und sie waren schon zu weit vom Wasser entfernt, als dass die vom Ozean kommende Brise den Duft mit sich hätte tragen können. Irgendetwas – oder irgendjemand – näherte sich ihm.

Mit einem flinken und lautlosen Satz war er im nächsten Moment bei Bancroft angekommen. Bevor der Captain reagieren konnte, hatte Thomas ihn halb vom Boden hochgezogen und drückte ihn gegen einen der Pfähle, auf denen die Hütte stand. Er benutzte den Körper des Mannes und auch den massiven Stützbalken als Schutzschild gegen denjenigen, der sich ihm näherte. Mit einer Hand drehte er Bancrofts Arme auf den Rücken, mit der anderen drückte er dem Mann das Messer an den Hals.

„Mein Gott“, wimmerte Bancroft, was fast wie ein Stoßgebet klang. Allein dadurch, dass der Mann schlucken musste, wurde sein Hals gegen die Klinge gedrückt. Widerwillig veränderte Thomas die Haltung seiner Hand. Er verspürte nicht den Wunsch, Blut zu vergießen – jedenfalls noch nicht.

Einen Augenblick später stürmte der fast schon vergessene Matrose auf die kleine Lichtung und suchte nervös jeden schwarzen Schatten ab. Auch wenn der Junge noch keine zwölf Jahre alt zu sein schien, konnte Thomas ihn nicht als harmlos abtun, hielt er doch ein Ruder hoch erhoben.

Mit leiser Stimme begann Thomas zu reden, bevor der Junge ihn in der Finsternis ausfindig machen konnte. „Lass das Ruder fallen, Junge.“

Seine Worte machten den Jungen auf die gefährliche Situation aufmerksam, in die sein vorgesetzter Offizier geraten war. Das gleiche fahle Mondlicht, das vorhin die Wellen in einen silbernen Schimmer getaucht hatte, wurde nun von Thomas‛ Messer zurückgeworfen. Der Junge erstarrte mitten in der Bewegung und schwankte leicht wegen des Gewichts dieses Ruders und wegen des Schwungs, mit dem er ausgeholt hatte.

Mit einer knappen Handbewegung machte Thomas ihm deutlich, dass er das Ruder auf den Boden legen sollte.

„Mach schon, Perkins“, brachte Bancroft angestrengt heraus. „Ich habe keine Lust, von einem wahnsinnigen Schotten mit einem rostigen Messer in Streifen geschnitten zu werden.“

Bestürzt sah der Junge zwischen den beiden Männern hin und her, schließlich schüttelte er den Kopf und ließ das Ruder fallen. Das landete mit einem dumpfen Knall auf dem harten Boden, prallte davon ab und traf Bancroft am Kinn.

Der Schwall an Flüchen, der Bancroft daraufhin über die Lippen kam, wies ihn eindeutig als Engländer aus, denn die Menschen verfielen fast immer in ihre Muttersprache, wenn sie krank waren oder Schmerzen hatten. Thomas war sich auch sicher, dass dem Mann kein Knochen gebrochen worden war, da er ansonsten nicht so zusammenhängend und so erfindungsreich hätte fluchen können. „Kopf hoch, Captain.“ Er schob das Messer zurück in die Scheide, dann lächelte er den Mann lässig an. „Der Junge hätte auch eine Pistole in der Hand halten können.“

„Ich hatte gehofft, dass das Ruder überzeugend genug sein würde“, brachte Bancroft angestrengt heraus, während er eine Hand auf sein Kinn drückte.

Trotz der schwülwarmen Luft lief Thomas ein kalter Schauer über den Rücken. Der Captain hatte dem Matrosen aufgetragen, ihm zu folgen – und zwar bewaffnet. Wie es schien, hatten die beiden mit Ärger oder Widerstand gerechnet.

„Überzeugend genug?“

Bancroft verzog das Gesicht, da er Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Er stützte sich bei Perkins auf und deutete auf das Ruder, das er dann als behelfsmäßige Krücke zweckentfremdete. Dreck klebte an seiner eben noch makellosen Uniform. Ein Ärmel war zerrissen, Schweiß lief ihm in Strömen über sein Gesicht und verschmierte den Dreck auf seiner Wange. Dennoch hatte er nichts von seiner herablassenden Art verloren.

„General Scott hat keinen Zweifel daran gelassen, dass Sie noch nie sonderlich von dem Gedanken angetan waren, Befehle zu befolgen.“

Thomas zuckte gelassen mit den Schultern. Warum sonst hätte man ihn an diesen gottverlassenen Ort abkommandiert?

Mit dem Ruder zeigte Bancroft auf den Trampelpfad, den sie auf dem Weg vom Strand zur Hütte geschaffen hatten, und deutete damit an, dass Thomas vorausgehen sollte.

Was für eine simple Anweisung: Es geht nach Hause.

Doch wo war nach so langer Zeit noch sein Zuhause?

 

Anfang Januar war London immer noch ein betriebsamer, hektischer Ort. Auch wenn die Wichtigen und die Wohlhabenden auf ihren Landsitzen überwinterten, ging der Rest der Stadt wie immer seinen Geschäften nach und nahm keine Notiz vom grauen Himmel und dem kalten, feuchten Wind, der sich geradewegs durch den Mantel eines Mannes fraß, selbst wenn es ein roter Mantel war.

Thomas zog voller Unbehagen am Kragen seiner Uniform und glaubte, einen Hauch von Campher wahrzunehmen. Ein Wunder war das nicht, denn unter der Sonne Westindiens gab es keine Verwendung für die Wärme, die diese robuste Kleidung spendete. In Whitehall jedoch und zudem für ein Treffen mit General Scott konnte sogar er sich dazu durchringen, seinen Respekt vor Autorität zu demonstrieren.

Nachdem er den fast verwaisten Paradeplatz überquert und sich ins Innere der Horse Guards begab, einem gewaltigen Labyrinth aus Büros und Stallungen, blieb er stehen, um die Regentropfen von seinem Hut zu schütteln und ihn unter den Arm zu klemmen. Nachdem man ihm den Weg durch einen nördlichen Korridor gewiesen hatte, zählte er aus Gewohnheit seine Schritte, denn bei einem Mann mit seiner Erfahrung hätte es nicht gut ausgesehen, wenn er sich verlaufen hätte.

Schließlich blieb er vor einer unscheinbaren Eichentür stehen. Bevor er die Hand heben und anklopfen konnte, wurde die Tür geöffnet, so als hätte man ihn bereits erwartet. Als hätte ihn jemand beobachtet. Aber natürlich hatte ihn ja auch jemand beobachtet, denn hinter dieser massiven Vertäfelung – die sich seiner Ansicht nach als eine Reihe von Türen entpuppen würde, von denen eine stärker bewacht sein würde als die andere – fand sich der Kopf der britischen Geheimdienstoperationen.

„Lieutenant Sutherland.“ Der Offizier, der ihm die Tür geöffnet hatte, trug eine Uniform, die noch nie durchgeschwitzt oder mit Blut besudelt gewesen war oder die ganz unten in eine Truhe gesteckt worden war. Er sagte Thomas‛ Namen in einem Tonfall, als könnte es gar keinen Zweifel an der Identität des Besuchers geben. „Er erwartet Sie. Wenn Sie mir folgen würden.“

Thomas blieb kaum Zeit, um sich zu orientieren. In dem kleinen Zimmer standen ein Aktenschrank, ein Schreibtisch sowie ein Stuhl für denjenigen, der dort saß und arbeitete, aber keiner für Besucher. Ehe er entscheiden konnte, ob die beiden ordentlichen Papierstapel auf dem Schreibtisch Informationen enthielten, die von Bedeutung für die nationale Sicherheit waren, oder ob sie nur beeindruckend aussehen sollten, hatte der Mann auch schon die nächste Tür geöffnet – zwar nur eine, aber dafür von der Art, die so dezent in die Mauer eingefügt war, dass man sie leicht übersehen konnte – und Thomas in den Raum dahinter weitergeleitet. Die Tür fiel leise ins Schloss, kaum dass er die Türschwelle übertreten hatte.

Dieses Büro war eigentlich nur wenig größer als das Vorzimmer, und es war auch ähnlich eingerichtet. Allerdings fand sich hier ein etwas größerer Schreibtisch mit einem Stuhl dahinter und zwei Besucherplätzen davor. Insgesamt waren die Unterschiede gleichermaßen ansprechend, sodass man dem Büro eines attestieren musste: Es war … gemütlich. Ein abgewetzter, aber fröhlich gemusterter türkischer Teppich bedeckte größtenteils die nüchternen Bodenfliesen. So wie der Teppich hatte auch der Schreibtisch schon bessere Zeiten erlebt. Die Tischplatte war übersät mit Papierstapeln, die jeden Moment ins Rutschen zu geraten schienen. Hier und da sah Thomas ein Stück einer Landkarte oder ein rotes Siegel irgendeines wichtigen Schriftstücks aus den Stapeln herausragen. Im Zimmer hing eine dichte Rauchwolke, die den weißhaarigen Mann umgab, der mit dem Rücken zur Tür stand und durchs Fenster den grauverhangenen Himmel betrachtete.

„Ah, ja, kommen Sie, kommen Sie“, sagte General Zebadiah Scott, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, während er sich vom Fenster wegdrehte und Thomas zum Gruß die Hand entgegenstreckte. „Ich habe Sie schon erwartet. Allerdings dachte ich, Sie würden früher eintreffen. Aber von meinen Quellen weiß ich, dass Sie in einer … nun … persönlichen Angelegenheit in Portsmouth aufgehalten wurden.“

Ihm entging nicht das Funkeln in Scotts Augen, als Thomas sich auf den Platz setzte, auf den der General gezeigt hatte. Alles in allem war es für ihn kein Wunder, dass der Mann genau wusste, wie er die Tage unmittelbar nach seiner Ankunft in England verbracht hatte. Vermutlich konnte Scott ihm sogar aufzählen, welche Pubs er in der Zeit besucht hatte. Thomas selbst wäre dazu nicht in der Lage gewesen.

Aber Thomas richtete seinen Blick vor sich auf den Boden, da ihn das unangenehme Gefühl überkam, dass Scott sogar noch mehr wusste. Nämlich, dass Thomas für ein oder vielleicht sogar zwei Stunden mit dem Gedanken gespielt hatte, ob er auf der Rückreise nach London noch einen Abstecher in ein gewisses Dorf in Sussex unternehmen sollte, allein um sich selbst den Beweis zu erbringen, dass es sich bei der Frau, der er vor sieben Jahren begegnet war, nicht nur um ein Produkt seiner Fantasie handelte. Nur um herauszufinden, ob Miss Quayle immer noch Miss Quayle war.

Am Morgen hatte dann der gesunde Menschenverstand die Oberhand zurückerlangt, begleitet von einer ausgedörrten Kehle und rasenden Kopfschmerzen. Mit ernster Miene hatte er sich im Spiegel über der Waschschüssel angesehen und sich dann gesagt, dass ein solcher Umweg nichts weiter als verlorene Zeit sein würde. Miss Quayle war zweifellos inzwischen Mrs. So-und-so, mit ein paar Kindern, die sich an ihrer Schürze festklammerten. Es war besser, wenn er sie als süße Siebzehnjährige in Erinnerung behielt, die nach nachtblühendem Jasmin duftete.

Er hatte mit niemandem über seinen nicht durchdachten Plan gesprochen, auch nicht über seinen viel vernünftigeren Entschluss, davon Abstand zu nehmen. Nicht einmal ihren Namen hatte er vor sich hin gemurmelt. Doch als er jetzt den Kopf hob, musste er feststellen, dass Scott ihn noch immer mit wissendem Blick betrachtete und die Mundwinkel auf eine Weise verzogen hatte, die sich nur als Belustigung beschreiben ließ. Ein pflichtbewusster Bericht irgendeines Untergebenen über Thomas‛ Tage der Ausschweifungen in Portsmouth hätte den Mann nicht dazu veranlasst, ihn so anzusehen.

„Na gut. Willkommen zu Hause, Mr Sutherland.“ Der General legte seine Pfeife auf den kristallenen Aschenbecher, der so dicht an einem Stapel Unterlagen stand, dass Thomas fürchtete, er könnte Feuer fangen. Mit seinem flaumigen weißen Haar, seiner schmächtigen Statur und den runzligen Gesichtszügen erinnerte Scott an einen spitzbübischen Elfen. Niemand würde ihn für ein schöpferisches Genie, für ein militärisches Genie halten. Außer vielleicht, wenn er einen Teil seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten der Zauberkunst verdankte …

„Ich vergesse mich gerade“, rief Scott aus, klatschte in die Hände und lachte. „Ich muss doch jetzt ‚Mylord‘ sagen, denn Sie sind ja Lord Magnus.“ Er deutete eine Verbeugung an und musste immer noch kichern, als er hinter seinem Schreibtisch Platz nahm.

Thomas hatte fast die gesamten sieben Wochen auf See – sieben Wochen, in denen so gut wie nichts geschehen war, das ihn hätte ablenken können, nicht einmal ein Sturm oder die Sichtung eines französischen Schiffs – damit verbracht, hinter den Sinn der von Bancroft überbrachten Nachricht zu kommen. Er war im Geiste jede nur denkbare Erklärung durchgegangen, auch die, die Scott ihm gerade eben geliefert hatte: dass er, Thomas, nun einen Titel trug.

Immer wieder hatte er diese Erklärung als unmöglich abgetan.

Einmal mehr schob er einen Finger unter den Hemdkragen. „Ich bedaure, Sir, ich verstehe noch immer nicht …“

„… wie es sein kann, dass Sie eine Grafschaft geerbt haben? Oh, auf die übliche Weise, soweit ich weiß. Der bisherige Inhaber des Titels ist gestorben."

„Aye, Sir, aber wie kann ich der Nächste in der Erbfolge sein? Wie kann ich überhaupt für die Erbfolge infrage kommen? Soweit es mir bekannt ist, strömt nicht ein Tropfen blaues Blut durch meine Adern.“

Diese Bemerkung veranlasste Scott dazu, die Papierstapel auf seinem Schreibtisch zu durchwühlen. Unter einem Berg aus Blättern und sogar zwei Büchern zog er schließlich ein Schreiben hervor, auf dem sich ein offiziell aussehendes Siegel befand. „Aber genau das ist der Fall. Nun, zumindest war es bei Ihrer Mutter so. Wie es scheint, ist Magnus einer dieser eigenartigen schottischen Titel, die von weiblicher Seite weitervererbt werden können.“ Er hielt ihm das Pergament hin, aber Thomas machte keine Anstalten, es an sich zu nehmen, woraufhin Scott es losließ, damit es zurück auf den Stapel segeln konnte.

Seine Mutter, seine gütige, zierliche, kluge Mutter … eine Countess. Wenn sie nur lange genug gelebt hätte. In mancher Hinsicht mochte das die Enthüllung sein, die noch am wenigsten überraschte, denn während seiner Kindheit war sie der Quell aller Herzlichkeit und offenbar auch aller Eleganz gewesen.

Doch durch ihren Tod, verursacht durch eine unbekannte Krankheit, als er fünfzehn war, hatte sich für ihn alles verändert. Sein Vater, der am Boden zerstört gewesen war, hatte alle Habseligkeiten zusammengepackt und sich mit seinem Sohn auf den Weg nach Süden, nach England gemacht, wo der schon etwas ältere Mann nur drei Jahre später verstorben war.

In der Absicht, sich auf jeden Fall für das Militär anwerben zu lassen, hatte Thomas sein geringes Erbe genutzt, um ein Offizierspatent zu erwerben. Wie er den damaligen Colonel Scott auf sich hatte aufmerksam machen können, hatte er nie in Erfahrung gebracht. Niemand wusste so ganz genau, wie und warum Scott sich entschieden hatte, ihn in seine Dienste zu stellen. Doch es lief immer auf das Gleiche hinaus: eine intensive Ausbildung in der Kunst des Zusammentragens geheimer Informationen, gefolgt von einem gänzlich neuen Leben, in dem es keinerlei Berührungspunkte mit seiner Vergangenheit mehr gab. Dem schloss sich ein kurzer Aufenthalt an die Südküste Englands an, der kürzer ausfiel, als er es sich gewünscht hatte, und dann war er auch schon auf dem Weg zu den Karibischen Inseln gewesen, wo die Franzosen für Ärger sorgten. Die Highlands hätten für ihn ebenso gut am anderen Ende der Welt liegen können.

General Scotts Stimme unterbrach seine Gedankengänge. „Darf ich annehmen, dass Sie sich an Dunnock Castle erinnern?“

Thomas hatte viele Sommer im Schatten der verfallenen Mauern verbracht, wenn er seine Großmutter besucht hatte. Mama war fest davon überzeugt gewesen, dass die überlaufenen Straßen von Glasgow kein Ort für einen heranwachsenden Jungen waren. Das Eintauchen in diese Erinnerungen kam ihm nun so vor, als würde er Dinge hervorholen, die man ganz tief unten in einer seit Ewigkeit verschlossenen Truhe finden konnte: von Zeit zu Zeit eine Kostbarkeit, meistens jedoch Dinge, die muffig rochen und nicht mehr passten.

Aber nun verdankte er einem … nein, von „glücklich“ wollte er nicht reden … einem Umstand, dass ihm eine Burg gehörte. „Dunnock Castle“, wiederholte er leise und gedankenverloren. „Meins.“

„Ja, Ihres“, bestätigte Scott. „Allerdings …“ Abermals begann der General, in seinen Unterlagen zu wühlen. „… ist da noch die Sache mit dem Pachtvertrag.“

„Pachtvertrag?“

„Wie Sie wissen, hat sich der letzte Earl of Magnus nur selten in Dunnock blicken lassen.“

Thomas konnte sich daran erinnern, dass sich seine Großmutter darüber beklagt hatte, dass der Laird für die Menschen von Balisaig kaum mehr als ein Name war. Magnus war irgendein gichtkranker alter Kerl, der seine Tage lieber in wärmeren und trockeneren Gefilden verbrachte. Thomas vermutete allerdings, dass nicht einmal seine Mutter etwas von dieser Verbindung zwischen ihren beiden Familien gewusst hatte.

„Um also zu verhindern, dass das Anwesen verfällt …“

Vollends verfällt, wollte Thomas einwerfen.

„… hat er es vermietet. Ich habe von einem meiner Adjutanten alle Einzelheiten für Sie zusammentragen lassen. Ah, hier!“ Nachdem er endlich die gesuchten Papiere entdeckt hatte, begann die Suche nach seiner Brille, die er – wie er schließlich feststellen musste – auf die Stirn hochgeschoben hatte. Dort hatte sie sich bereits befunden, als Thomas zu ihm ins Büro gekommen war. Selbstironisch lachend, tippte er sie mit einem Finger an, sodass sie wieder auf seinem Nasenrücken landete. „Wollen wir doch mal sehen …“ Er überflog den ersten Teil des umfangreichen Dokuments, dann nickte er. „Da kommt eine ordentliche Summe an Mieteinnahmen zusammen. Das muss ich schon sagen.“

Thomas Argwohn erfuhr noch eine Steigerung. „Wer bezahlt denn eine ordentliche Summe, um in einer Bruchbude am Ende der Welt zu leben?“

„Ah.“ Es war nicht nur Belustigung, die Scotts Mundwinkel gleich darauf zucken ließ. „Das wäre dann wohl Robin Ratliff. Der Schriftsteller.“

„Von dem habe ich noch nie gehört.“

„Dann müssen Sie aber der Einzige sein, der ihn nicht kennt, Sutherl… ähm, Magnus.“ Der General musste lachen. „Er schreibt Gruselromane von der Art, die in Kurorten und in Leihbüchereien beliebt ist. Schreckliches Zeugs, sagt meine Frau. Sie muss es wissen, wenn ich mir die Rechnungen ansehe, die mir mein Buchhändler schickt.“

Thomas brachte ein angemessenes Lächeln zustande. „Was den Pachtvertrag angeht …“

„Ja, richtig, der Pachtvertrag.“ Er vertiefte sich wieder in die Unterlagen, die er in der Hand hielt, und blätterte immer wieder hin und her. „Insgesamt weisen die Vertragsbedingungen nichts Außergewöhnliches auf. Natürlich können Sie sich immer noch überlegen, ob Sie den Vertrag am nächsten Mietzahltag verlängern wollen oder nicht. Damit bleibt Ihnen eigentlich noch genug Zeit, um zu … oh.“ Er hielt inne, um die nächste Zeile noch ein zweites Mal zu lesen.

Thomas wusste nicht, wie er das Zögern des Generals deuten sollte. „Genug Zeit, um … was?“

„Na, ich denke, das ist ganz natürlich.“ Seine Verlegenheit war nicht zu übersehen. „Ich war davon ausgegangen, dass Sie bis Mariä Verkündigung im März Zeit haben, müssen Sie wissen. Aber der nächste schottische Mietzahltag ist …“

„Mariä Lichtmess“, ergänzte Thomas widerwillig.

Also der zweite Tag im Februar. Damit blieb ihm weniger als ein Monat, um von London nach Edinburgh zu gelangen, am Lyon Court erfolgreich den Titel für sich zu beanspruchen und dann noch einmal hundertfünfzig Meilen in die Highlands bis nach Balisaig zu reisen. Und das mitten im Winter.

Thomas‛ Skepsis musste ihm anzusehen gewesen sein, denn Scott versicherte ihm prompt: „Ich weiß, es wird keine angenehme Reise werden, aber es ist machbar. Anschließend werden Sie dadurch in der Lage sein, das Anwesen zu begutachten und die Bedürfnisse der Mieter einzuschätzen. Und Sie werden auch über die Verwaltung des Guts entscheiden können, bevor die … ähm … die Pflanzsaison im Frühling beginnt“, fügte er hoffnungsvoll hinzu.

Thomas vermutete, dass der Mann von Landwirtschaft noch weniger Ahnung hatte als er selbst.

„Und vielleicht lernen Sie ja ein nettes Mädchen kennen und beschließen, dort sesshaft zu werden.“

Sesshaft werden? Beinahe hätte Thomas laut gelacht. General Scott befehligte Männer der Tat, Offiziere, die nur mit ihrer Pflicht verheiratet waren. Wer hätte diesen Mann für einen Ehestifter gehalten?

Nicht, dass Thomas etwas gegen die Ehe einzuwenden hatte. Er war selbst kurz davor gewesen – manche würden sogar ‚bedenklich kurz davor‘ sagen –, einen Heiratsantrag zu machen, von dem er sich sicher gewesen war, dass er auch angenommen worden wäre. In den seitdem verstrichenen sieben Jahren war er immer wieder an die Frau erinnert worden, die er damals zurückgelassen hatte. Doch er war viel öfter daran erinnert worden, wieso ein Mann in seiner Position – ein Soldat und Spion – gar kein Recht darauf hatte, mit dem Gedanken zu spielen, sesshaft zu werden.

„Und wenn ich das alles nicht mache?“

„Nicht …?“ General Scott bedachte ihn mit einem fragenden Blick, da er sicher zu sein schien, dass er Thomas falsch verstanden hatte.

„Wenn ich den Titel nicht für mich beanspruchen will? Wenn ich mit Dunnock Castle nichts zu tun haben will?“ Was wusste er schon darüber, was es hieß, ein Grundbesitzer zu sein? „Wenn ich bei dem bleiben will, was mir vertraut ist?“

Das spitzbübische Funkeln in den Augen, das selbstironische Lachen – alles hatte sich so schnell in Luft aufgelöst, dass Thomas fast glauben wollte, sich diese Beobachtungen nur eingebildet zu haben. Scotts Miene wirke jetzt wie versteinert und ließ ihn nun ganz und gar wie einen General aussehen. „Ich bin mir durchaus der Gefahren bewusst, denen unsere Soldaten ausgesetzt sind, und ich weiß auch, wie dringend Informationen benötigt werden, um ihr Leben schützen zu können. Aber wenn von einem meiner Männer verlangt wird, dass er seinen häuslichen Pflichten nachkommt, dann erwarte ich von ihm, dass er diesen Ruf so befolgt, als würde er von mir kommen, Lieutenant.“

Thomas bezweifelte nicht, dass Scott seinen neuen Titel absichtlich ausgelassen hatte.

„Ein Mann ohne Ehre hat hier nichts verloren“, redete Scott weiter. Mit einer Hand machte er eine ausholende Geste, die sich quer über den Schreibtisch erstreckte, und deutete dabei auf die Landkarten und die Briefe, die allesamt die unablässigen Bemühungen der britischen Armee dokumentierten, mit denen ein Feind geschlagen werden sollte, der es darauf abgesehen hatte, einen immer größer werdenden Teil der Erde in Angst und Schrecken zu versetzen. Das Territorium, das er in einem einzigen Wort zusammengefasst hatte – hier –, war von gewaltiger Größe.

Bislang war noch mit keinem Wort die Rede davon gewesen, dass Thomas gezwungen werden sollte, seinen Dienst zu quittieren, um eine so gut wie wertlose Grafschaft zu übernehmen, und allein dafür war er schon dankbar. Doch der General ließ ihn durch die Blume wissen, dass er sich ohne weitere Verzögerung um seine Angelegenheiten in Schottland kümmern sollte, wenn er darauf hoffte, in Zukunft je wieder einen interessanten oder wertvollen Auftrag zu erhalten.

Da er seiner Stimme nicht vertraute, streckte er nur seine Hand nach dem Bericht aus, den Scott ihm mit triumphierendem Blick überließ. Er blätterte die Seiten flüchtig durch und kam zu dem Schluss, dass die Untersuchung tatsächlich gründlich vorgenommen worden war. Daten, Zahlen, ein detaillierter Stammbaum. Vertraute Namen. Namen von Leuten, die einst seine Freunde gewesen waren. Leute, die jetzt seine Pächter waren. Seine Verantwortung. Eine Verantwortung, die er nicht tragen wollte.

„Ratliff kann nicht bei Verstand sein“, stellte er fest, als er den Betrag sah, den der Schriftsteller für das Privileg bezahlte, um auf Dunnock vor Kälte zu zittern.

Scott zuckte mit den Schultern. „In seinen Büchern wimmelt es von Unfug und Unsinn, daran gibt es keinen Zweifel. Aber er ist so reich wie Krösus und viel bekannter als der. Überlegen Sie mal, was Ratliffs Unterschrift auf dem Pachtvertrag bei einer Auktion einbringen würde“, murmelte Scott gedankenverloren und tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Lippen.

Thomas hörte kaum, was Scott sagte. Der General konnte darauf bestehen, dass er nach Schottland reiste und seine Angelegenheiten regelte. Aber er konnte ihm nicht befehlen, dortzubleiben. Wenn es dem letzten Lord Magnus möglich gewesen war, Dunnock mit der Hilfe von Anwalt, Verwalter und Steward aus der Ferne zu verwalten, warum sollte er das dann nicht auch können?

Schon ein flüchtiger Blick auf die Papiere legte allerdings den Verdacht nahe, dass der alte Earl seine Stellvertreter nicht immer mit Bedacht ausgewählt hatte. Thomas könnte Mühe haben, den richtigen Mann zu finden, der sich in Balisaig um alles kümmerte.

Scott riss sich aus seinen Überlegungen und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem, worauf es jetzt ankam. „Auf jeden Fall rate ich Ihnen, mit Higginbotham anzufangen.“

„Higginbotham?“

„Ratliffs Sekretär – sozusagen der Mann, der ihn nach außen hin repräsentiert. Es heißt, dass Ratliff so was wie ein Einsiedler ist. Alle geschäftlichen Angelegenheiten überlässt er Higginbotham.“

Alle geschäftlichen Angelegenheiten? Dann musste Ratliffs Sekretär schon jetzt zumindest in einzelnen Bereichen damit beschäftigt sein, Dunnock zu führen. Vielleicht ließ sich dieser Higginbotham ja dazu überreden, diese Funktion auszuweiten und bei der Gelegenheit den Arbeitgeber zu wechseln.

Und Thomas konnte sein Leben so leben wie bisher.

„Er hat alles fest im Griff“, fügte General Scott an.

Ein schwaches Lächeln umspielte Thomas‛ Mundwinkel. Er konnte sich den Mann jetzt schon vorstellen, Tintenflecken an den Fingern, die Nase in ein Hauptbuch gesteckt. Üblicherweise verabscheute er solche Verwalter, doch unter diesen Umständen …

„Ich kenne diesen Gesichtsausdruck“, warnte ihn Scott. „Versprechen Sie mir, dass Sie Higginbotham nicht gegen sich aufbringen, Magnus. Es ist durchaus möglich, dass Sie Unterstützung benötigen, wenn Sie Dunnock erreicht haben.“

Thomas lächelte noch breiter. „Higginbotham gegen mich aufbringen? Daran würde ich nicht mal im Traum denken, Sir.“

Kapitel 2

Gedankenverloren spielte Jane mit dem Perlmuttgriff ihres Taschenmessers. Dann bohrte sie völlig abrupt die scharfe Spitze durch die Papiere bis in die Eichenholzplatte ihres ramponierten Schreibtischs. Für gewöhnlich störte es sie nicht, wenn sie einen besorgniserregenden Brief erhielt.

Heute waren von dieser Art aber gleich zwei in der Post gewesen.

Sie hatten die Unverfrorenheit besessen, gemeinsam hier einzutreffen, in einem Paket, dem ihr Londoner Verleger Mr Canfield eine Notiz begleitet hatte, um sich dafür zu entschuldigen, dass er sie mit solcher Verspätung an sie weitergeleitet hatte. Wie er erklärte, hatte er seinen ältlichen Vater in Bath besucht, wohin man den Gentleman in der Hoffnung geschickt hatte, dass sich sein Rheuma bessern würde.

Sie hegte keine großen Erwartungen, als sie den ersten Umschlag öffnete, der ein langes Schreiben eines Anwalts enthielt. Der berichtete vom Ableben des Earl of Magnus, Laird von Dunnock Castle, und davon, dass der Erbe endlich ausfindig gemacht worden war, der sich an irgendeinem abgelegenen Punkt auf der Erde aufhielt und damit von daheim so weit weg war, dass mit einer unverzüglichen Einmischung in die häuslichen Angelegenheiten vorläufig nicht zu rechnen war.

Als Mr. Ratliffs Berater in rechtlichen Angelegenheiten, schrieb der Anwalt gegen Ende seiner Ausführungen, fühle ich mich jedoch verpflichtet, ihn darauf hinzuweisen, dass eine Verlängerung des Pachtvertrags für Dunnock Castle keine Selbstverständlichkeit sein wird.

Seit über fünf Jahren war Dunnock Castle ihr Zuhause. Fast kam es ihr so vor, als würde es ihr auch gehören, zumal der mittlerweile verstorbene Earl keinerlei besitzergreifendes Verhalten hatte erkennen lassen, wenn es um die alte Burg, das Land und die Leute ging, die dort lebten. Doch der neue Earl mochte das ganz anders sehen, auch wenn er derzeit noch in weiter Ferne weilte. Es könnte sein, dass sie auf einmal wieder obdachlos war.

Von einem schweren Seufzer untermalt, warf sie diesen Brief auf den Schreibtisch und nahm sich den zweiten vor, bei dem sie auf erfreulichere Neuigkeiten hoffte. Stattdessen aber wurde sie mit einer detaillierten Beschreibung jener Hölle konfrontiert, in die Autoren von Büchern wie Die Braut des Totenbeschwörers verbannt gehörten.

Ihr war schon immer klar gewesen, dass es Menschen gab, die Bücher nicht leiden konnten. Erst recht nicht jene Art von reißerischen Schauergeschichten, die sie unter dem Namen Robin Ratliff verfasste. Sie war Kritik gewohnt.

Doch das hier war anders. Das war nicht nur Kritik, sondern eine regelrechte Drohung. Zugegeben, sie war ziemlich melodramatisch abgehalten, es sei denn, der Verfasser konnte es in Sachen schwarzer Magie mit den Figuren aufnehmen, die sie geschaffen hatte. So oder so hatten ihr die Worte eine unerfreuliche Gänsehaut über den Rücken laufen lassen.

Demonstrativ zog sie das Messer aus der Tischplatte und stach damit auf diese widerwärtigen Blätter ein.

Vom Kissen nahe dem Kamin, auf dem die Hunde lagen und schliefen, kam ein müdes Stöhnen.

„Ich weiß, ich weiß“, murmelte sie beschwichtigend. Sie wollte sich nicht durch leere Drohungen und sinnlose Sorgen von ihrer Arbeit abhalten lassen.

Aber sie zog auch nicht die Klinge aus der Tischplatte.

Stattdessen legte sie ein zur Hälfte beschriebenes Blatt vor sich hin und griff mit der anderen Hand nach dem Federkiel. Dann lehnte sie sich zurück, strich mit der Feder über ihre Lippen und überflog, was sie bislang geschrieben hatte.

Nebel trieb durch das Unterholz. War das ein spektrales Leuchten, das von einer der Grüfte auf dem Kirchfriedhof ausstrahlte? Nein, das Licht kam von weiter hinten, irgendwo aus dem Wald. Alloras bleiche Hand zitterte, als sie sie auf den kalten Stein des Fenstersimses legte …

Janes Blick wanderte vom Blatt in ihrer Hand zum knisternden Kaminfeuer. Einer der Hunde hatte angefangen zu schnarchen. So würde das nichts werden. Sie legte den Federkiel zur Seite, schob den Stuhl nach hinten und stand auf, dann ging sie zum Fenster und öffnete es. Im Zimmer war es einfach viel zu warm.

Sie war bis nach Schottland gereist, um verfallene Burgen und wilde Landschaften zu finden, um regionale Legenden aller Art zutage zu befördern: Irrlichter und Hexen, dämonische Bärengeister und zeitreisende Steinkreise.

Sie war hergekommen, um Inspiration zu finden.

Vor allem aber war sie in Schottland frei, und diese Freiheit würde sie sich nicht durch zwei Briefe nehmen lassen.

Sie drückte das schmale Bleiglasfenster auf, das aus so vielen kleinen Stücken Glas bestand, dass es das Herz eines jeden Menschen mit romantischer Neigung höherschlagen ließ. Sie atmete die feuchte Winterluft tief ein und sah sich um. Die Düsternis der Dämmerung hatte bereits von den Tälern und Hängen Besitz ergriffen, und tief unter ihr war Dunnock Castle schon teilweise in Finsternis getaucht. In der Ferne war der See zu sehen, der so schwarz wie eine Lache aus vergossener Tinte wirkte.

Ihr Blick wechselte begierig von einem Schatten zum nächsten. Auch wenn der Regen jeden Moment in Eisregen überzugehen drohte, würde ihre Heldin Allora in einer solchen Nacht nicht daheimbleiben, wo es gemütlich und sicher war. Sie würde sich ihren Weg zwischen den schroffen Felsen hindurch bahnen, obwohl ihre Hausschuhe ihr keinen Schutz vor den gnadenlos scharfen Gesteinskanten und -spitzen boten. Sie würde die dem Frost erlegene Heide überqueren, obwohl sie nichts weiter als ihr Nachthemd trug. Sie würde um die uralte Kirche herumgehen und zwischen den von Moos überzogenen Grabsteinen umherziehen. Zwar waren ihr die Gerüchte nur zu vertraut, die besagten …

„Gütiger Himmel, Ma’am! Sie werden sich noch den Tod holen!“

Agnes Murdoch, die ältliche Haushälterin, stand im Zimmer und hatte sich zu voller Größe aufgerichtet, die sich auf gerade einmal einen Meter fünfzig belief.

Jane hatte nichts davon mitbekommen, dass die Frau das Zimmer betreten hatte. Sie war so sehr in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie weder deren Schritte auf der Wendeltreppe noch das Anklopfen an der Tür gehört hatte. Das Schweigen der Hunde hatte sich Mrs Murdoch schon vor langer Zeit mit Käsewürfeln erkauft. Ein Blick auf die dicken Kissen vor dem Kaminfeuer bestätigte, dass sich keiner von ihnen gerührt hatte, um sie auf ihre Besucherin aufmerksam zu machen. In dem Gewirr aus braunem und weißem Fell war nur ein wachsam dreinblickendes Auge zu erkennen, denn es konnte ja durchaus sein, dass Agnes etwas Interessantes mitgebracht hatte.

Mrs Murdoch schaute zwischen Jane und dem Schreibtisch hin und her, da sie offenbar nicht wusste, ob sie ihre Herrin vom Fenster wegzerren und es schließen oder doch mehr das Verhalten einer Dienerin an den Tag legen sollte, indem sie hinging und die Blätter aufhob, die von einem Windstoß vom Tisch geweht worden waren.

Jane hatte schließlich Mitleid mit ihr und machte das Fenster zu. Der Wind kam zum Erliegen, sodass keine weiteren Blätter von der glatten Tischplatte auf den Boden geweht wurden. Sie konnte nur hoffen, dass die Texte dadurch nicht all ihrer Magie beraubt worden waren.

„Unten wartet ein Gentleman, der nach Ihnen gefragt hat, Ma’am“, verkündete Agnes schließlich.

„Wer kommt so spät am Tag noch her?“

Agnes hob eine Schulter und schüttelte betreten den Kopf. „Dougan hat nicht daran gedacht, ihn nach dem Namen zu fragen.“

Jane nickte verstehend. Dougan hatte das Herz und den Verstand eines Kindes, das im Körper eines Mannes steckte. Die Leute würden es als ein Zeichen Ihrer Güte ansehen, wenn Sie eine Möglichkeit finden würden, dass er bleiben kann, hatte Agnes zu ihr gesagt, gleich nachdem Jane auf Dunnock eingetroffen war. Er mag das Gefühl, sich hier nützlich zu machen.

Wie sich dann herausgestellt hatte, war Dougan der Ansicht, dass er sich vor allem dann nützlich machte, wenn er in seinem Kilt auf der Brustwehr hin und her marschierte und manchmal dabei auf dem Dudelsack spielte. Dennoch war Jane sofort einverstanden gewesen, ihn als Torwächter zu behalten, zumal sie zu dieser Zeit nicht damit gerechnet hatte, dass jemand sie hier besuchen würde.

Jetzt dagegen … Sie sah zum Schreibtisch und den Briefen, die dort lagen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, und sie machte einen Schritt weg vom Fenster, obwohl das fest geschlossen war.

Handelte es sich bei dem Besucher womöglich um den neuen Earl?

„Dougan hat nicht zufällig erwähnt, dass der Mann in einer reich verzierten Kutsche hergekommen ist, die von sechs schwarzen Pferden gezogen und von dazu passenden Vorreitern begleitet wurde, oder?“ Die Adligen in ihren Geschichten – allesamt ruchlose Schurken – reisten ständig auf diese Weise durchs Land.

„Nein, das hat er nicht.“ Der Gedanke, eine so wichtige Persönlichkeit bewirten zu müssen, versetzte die alte Haushälterin sichtlich in Sorge. „Aber er sieht gut aus.“

In fast jeder Hinsicht war ihre Haushälterin eine ernste Frau, die stets den gebührenden Anstand wahrte. Da sie jedoch davon überzeugt war, dass Mrs Higginbotham in dieser Abgeschiedenheit von Einsamkeit geplagt werden musste, ließ sie keine Gelegenheit aus, um sie auf begehrenswerte Männer aufmerksam zu machen. In der Vergangenheit hatte die Auswahl dabei vom schmächtigen Sohn des Kleinbauern, dessen Gesicht ständig gerötet war und der im Sommer frisches Gemüse brachte, bis hin zum silberhaarigen Küster gereicht, der stets Dreck unter den Fingernägeln hatte. Zu Janes Erleichterung – und Agnes’ Missmut – fanden sich in der Umgebung von Dunnock Castle nur wenige „gut aussehende Kerle“.

Nun war es nicht so, als hätte Jane sich nicht von einem hübschen Männerkörper angezogen gefühlt. Schließlich war sie erst vierundzwanzig und verfügte über exzellente Sehkraft. Aber das Aussehen eines Mannes wertzuschätzen, hieß nicht zwangsläufig, dass sie für seine Reize empfänglich war. Es hatte sie viel Mühe gekostet, eine Frau zu werden, die von allen unabhängig war, und sie konnte sich bestens damit arrangieren, derartige Torheiten den älteren Dienerinnen und den fehlgeleiteten Heldinnen ihrer Bücher zu überlassen.

„Das mag wohl sein“, gab Jane geziert und grimmig zurück.

Agnes setzte daraufhin eine Miene auf, die zu Janes Ausdruck passte. „Dann kommen Sie nach unten, Ma’am.“

Es war keine Frage. Für einen Moment spielte Jane mit dem Gedanken, Agnes anzuweisen, dass sie den Mann wegschicken sollte. Dass sie ihm sagen sollte, morgen früh wieder herzukommen. Oder auch gar nicht. Doch die Neugier war bereits erwacht und wollte keine Ruhe geben, ganz so, wie es einer ihrer Hunde machte, der immer wieder ihre Hand anstieß, weil er gestreichelt werden wollte.

„Wenn es sein muss.“

Da sie nicht zerzaust aussehen wollte, wenn sie einem Fremden gegenübertrat – oder genau genommen: wenn sie irgendwem gegenübertrat –, hielt Jane kurz inne, um ihre Haare glatt zu streichen und um ihren faltigen Rock auszuschütteln. Mit ihren Bemühungen veranlasste sie Agnes zu einem verstohlenen Blick, da die zweifellos glaubte, dass sie sich zurechtmachte, bevor sie sich dem gut aussehenden Besucher zeigte. Schließlich las Jane auch noch die umhergewirbelten Blätter auf und legte sie als ordentlichen Stapel neben den Papieren ab, die sie mit ihrem Taschenmesser durchbohrt hatte.

Dann nickte sie der Haushälterin zu, damit sie vor ihr her zur Tür ging. Beide Hunde hoben den Kopf und sahen ihr hinterher, doch keiner von ihnen machte Anstalten, ihr zu folgen. Niemand würde jemals den Fehler begehen, sie für Wachhunde zu halten.

Als sie das Zimmer betrat, in dem man den Fremden hatte warten lassen, war ihr erster Gedanke, dass Agnes ruhig hätte erwähnen können, wie groß er war. Mindestens ein Meter achtzig, schätzte Jane. Und das im riesigen Großen Saal von Dunnock Castle, in dem alle Dinge etwas kleiner wirkten, als sie es in Wahrheit waren.

Er war groß und breitschultrig. Die Arme hielt er vor der Brust verschränkt, sodass sich der Stoff seines Mantels über den Schultern spannte, während er dastand und einen geschlissenen Wandteppich betrachtete, der über dem Kamin hing. Dem Kamin, in dem kein Feuer brannte. Sie ließ für gewöhnlich kein Kaminfeuer nur für den Fall brennen, dass sich noch Gäste einfanden.

Obwohl er von ihr so frostig empfangen wurde, hatte der Mann etwas Lässiges und Vertrautes an sich. Sie kannte diese Sorte Männer. Männer, die sich sofort breitmachten, wenn man ihnen nur einen Stuhl zum Sitzen anbot. Sie hegte nicht die Absicht, so etwas zu tun.

Er stand mit dem Rücken zu ihr, daher konnte sie sich mehr oder weniger nur einen Eindruck von seinem sichtlich feuchten Mantel machen, der weder einen neuen noch einen modischen Schnitt aufwies. Mit einer Kutsche, gezogen von sechs schwarzen Pferden, war er nicht gereist, es sei denn, er hatte sie im Dorf gelassen, um den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen.

Als sie näher kam, schien ihm das leise Geräusch ihrer weichen Schuhsohlen auf dem Natursteinboden nicht aufzufallen. Wohl, weil er so in Gedanken versunken war. Oder weil er so wie der Küster schwerhörig war.

Ein halbes Dutzend Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen und sagte mit lauter Stimme: „Sie wollten mich sprechen, Sir?“

Seine Reaktion bestand darin, dass er leicht die Schultern anhob und dann langsam den Kopf zur Seite drehte. Er wirkte mehr verärgert denn überrascht. „Da muss es ein Missverständnis gegeben haben.“ Dem Akzent nach musste er ein Schotte sein, doch seiner klang erheblich sanfter als alles, was sie über Dunnock gehört hatte. „Ich hatte darum gebeten, mit Robin Ratliffs Sekretär zu sprechen.“

„Dann sind Sie bei mir genau richtig.“

Jeder auf Dunnock Castle, im Dorf Balisaig und sogar Mr Canfield hielten Jane für die Sekretärin des berühmten Schriftstellers – auch wenn sie persönlich ja den Titel Amanuensis bevorzugte.

Das Genie Ratliff – so hatte sie ihrem spärlichen Personal auf Dunnock erklärt – benötigte für seine Arbeit völlige Abgeschiedenheit vom Rest der Welt. Um Fragen machte sie meistens einen Bogen, indem sie vorgab, er sei monatelang auf Reisen, mal um für seine Bücher zu recherchieren, mal um sich zu erholen. Wenn jemand sie beim Schreiben störte, gab Jane vor, lediglich die Notizen des Schriftstellers ins Reine zu schreiben.

Ratliff war nichts weiter als eine Erfindung, die aber erheblich vielschichtiger war als all die Figuren in den billigen kleinen Büchlein mit Frakturschrift auf der Titelseite – Bücher, die ihren Weg in die Quartiere von Hausangestellten ebenso fanden wie in die Salons der angesehenen Bürger. Ratliffs Bücher hatten sie reich gemacht, doch ihre Rolle als Ratliffs Assistentin hatte ihr mehr verschafft, als sie mit Geld und Ruhm jemals hätte erreichen können, etwas, das sogar noch kostbarer war. Da die Leute sie für wenig mehr als eine Dienerin hielten, hatte sie vor ihnen allen ihre Ruhe.

Jedenfalls vor den meisten von ihnen. Unter ihren Röcken begann ihr Zeh, vor Ungeduld auf den Boden zu tippen, während sie den Rücken des Fremden mit einem finsteren Blick bedachte. Von seinem Gesicht war nichts weiter zu sehen als ein Teil seiner Wange, die an diesem Morgen offenbar nicht rasiert worden war. Seine Aufmerksamkeit schien immer noch mehr dem Wandteppich zu gelten, der eine vor langer Zeit ausgetragene Schlacht zeigte. Wie es hieß, war die Seite der Sieger von dem Mann angeführt worden, der dafür als erster Earl of Magnus geehrt worden war.

„Ich bezog mich auf Mr Higginbotham“, sagte er.

Wie konnte ein Mann bloß so gelassen und gleichzeitig so ungeduldig klingen?

„Es gibt keinen Mr Higginbotham.“ Aus Gewohnheit sah sie nach unten auf ihr schwarzes Wollkleid und seufzte schwer. „Jedenfalls gibt es ihn nicht mehr.“

Es war eine Leidensgeschichte, die sie schon oft zum Besten gegeben hatte – und jedes Mal mit Erfolg. Nach einer hingemurmelten Beileidsbekundung sahen die Leute eine respektable Witwe in schwarzer Kleidung, sogar eine junge Witwe. Und das war genau das, was Jane erreichen wollte.

In Wahrheit hatte es nie einen Mr Higginbotham gegeben, denn ihn hatte sie ebenfalls erfunden: den perfekten Mann, der so nett und so sanftmütig und so ganz anders als Robin Ratliff war, der Held oder Schurke sein konnte, ganz so, wie sie ihn haben wollte. Am wichtigsten war aber, dass er so großzügig gewesen war, ihr ein solches Vermögen zu hinterlassen, dass sie als Witwe völlig selbstständig sein konnte, noch bevor sie mündig war.

Abgesehen davon, dass niemand etwas von ihr wollte, sorgte der erfundene Name Mrs Higginbotham dafür, dass Jane noch zusätzlich vor jedem geschützt war, der ihr Übles wollte – oder der ihr Übles gewollt hätte, wäre die Wahrheit allgemein bekannt. Eine Gesellschaft, die im Angesicht von weiblichem Ehrgeiz die Nase rümpfte. Der Verfasser des Drohbriefs. Ihre eigene Familie.

Niemand zwischen London und den schottischen Highlands kannte sie als …

„Miss Quayle?“

Ruckartig hob sie den Kopf. Sie war so darauf konzentriert gewesen, eine angemessen traurige Miene zu wahren, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, wie der Fremde sich ganz zu ihr umgedreht hatte. Jetzt, da er seinen Hut abgenommen hatte, konnte sie sein welliges dunkelbraunes Haar ebenso sehen wie die vollen Augenbrauen, die seine ausdrucksstarken braunen Augen zusätzlich hervorhoben.

Ein vertrautes Gesicht, aber nicht, weil er aussah wie Dutzende andere Männer. Nein, vertraut, weil sie ihn kannte. Oder, besser gesagt: weil die Frau ihn kannte, die sie einmal gewesen war.

Erstaunen, Verwunderung, Unglauben huschten über Lieutenant Thomas Sutherlands sonnengebräuntes Gesicht, während er zögerlich einen Schritt auf sie zukam und dabei eine Hand ausstreckte. Fast hätte sie glauben wollen, dass er etwas seit langer Zeit Gesuchtes entdeckt hatte und nun fürchtete, dass ein falscher Zug das Gefundene gleich wieder verschwinden lassen könnte.

Ein weiterer Beleg dafür, dass ihr Verstand an diesem Abend zu dummen Gedanken neigte.

„So wurde ich schon seit vielen Jahren nicht mehr angeredet“, sagte sie und widerstand dabei dem inneren Drängen, ihre Finger in seine Hand zu legen, so wie sie es vor langer Zeit schon einmal getan hatte.

Ihr kühler, distanzierter Tonfall schien ihn daran zu erinnern, weshalb er eigentlich hergekommen war. Er straffte die Schultern und ließ die Hand sinken, dann klemmte er sich den Hut unter den Arm. „Wie ich bereits sagte, habe ich etwas Dringendes mit Mister … ähm, mit Robin Ratliffs Sekretär zu besprechen.“

„Amanuensis“, korrigierte sie ihn hastig.

„Ama… was?“

„Eine Amanuensis, Mr Sutherland, ist eine Person, die die Arbeit eines anderen niederschreibt oder die ein Manuskript kopiert“, erklärte sie pikiert, doch das schien ihn nur umso mehr zu amüsieren, da sich ein Grübchen in seiner linken Wange bildete, als es ihm nicht ganz gelingen wollte, sich ein breites Lächeln zu verkneifen. „Die Aufgaben eines Sekretärs sind dagegen viel anspruchsvoller und viel breiter gefächert“, fuhr sie fort. „Diese Aufgaben würden zweifellos meine bescheidenen Fähigkeiten deutlich übersteigen.“ Je weniger von der erfundenen Mrs Higginbotham erwartet wurde, umso mehr Zeit konnte Jane auf die Romane des ebenso erfundenen Robin Ratliff verwenden.

Daraufhin musste Mr Sutherland laut lachen und benötigte anschließend über eine Minute, um mit viel Mühe seiner Belustigung wieder Herr zu werden. „Verzeihen Sie, Miss Quayle. Aber ich habe dieses Funkeln in Ihren Augen schon früher gesehen, und das steht nicht für Bescheidenheit.“

Miss Quayle. Schon wieder ihr wahrer Name, ihr größtes Geheimnis, förmlich hinausgeschrien in die Welt! Und das nicht nur einmal. Und hier im Großen Saal, wo so gut wie jeder … o mein Gott! … hier, wo Agnes es hören konnte! Das durfte nicht sein! Ohne zu überlegen, streckte sie die Hand aus und legte sie auf seinen Ärmel.

Im gleichen Moment wusste sie, dass sie einen fürchterlichen Fehler begangen hatte. Sie hatte kein Recht, eine Brücke zu bauen, um den mit Problemen behafteten Strom der Vergangenheit überwinden zu können und um so eine Verbindung zwischen zwei Menschen zu schaffen, die im Lauf der Jahre zu Fremden geworden waren. Und … oh, das war noch schlimmer! Plötzlich wurde ihr auf eine fast schmerzhafte Weise bewusst, wie stark sein muskulöser Unterarm war.

Was für ein völliger Unsinn! Sie wollte in der Lage sein, durch zwei dicke Lagen Wollstoff hindurch die Konturen seiner Muskeln zu ertasten? Es war eine Sache, wenn sie sich so etwas für die Heldin in einem ihrer Romane ausdachte. Die Leser erwarteten übersteigerte Gefühle und übertriebene körperliche Reaktionen. Sie wollten alles erleben, was auch die Romanfigur erlebte.

Es war aber eine ganz andere Sache, wenn sie feststellte, dass sie als die stets vernünftige Jane Quayle ihre Fingerspitzen in den kühlen, klammen Mantelstoff eines Mannes bohren wollte.

„Ich halte es für das Beste, wenn wir uns woanders unterhalten“, sagte sie und zog hastig die Hand zurück.

Zwar nickte er zustimmend, dennoch konnte sie sehen, wie er erneut spöttisch lächelte.

Sie führte ihn aus dem Saal und tadelte sich innerlich dafür, dass sie so überhastet diesen Vorschlag gemacht hatte. Zu dieser Uhrzeit war ihr privates Arbeitszimmer der einzige Raum, in dem es Licht gab und der geheizt war.

Als sie die Wendeltreppe im Südturm hinaufging, sah sie immer wieder über die Schulter. Er war einige Stufen hinter ihr und schien wieder in Gedanken versunken zu sein. Wo war er in all den Jahren gewesen? Was für eine dringende Angelegenheit war es, die ihn nach Dunnock Castle führte? Und was sollte das alles mit ihr oder mit den Personen zu tun haben, hinter denen sie sich verbarg?

Er hatte seine Handschuhe ausgezogen, und sie beobachtete, wie er mit seinen langgliedrigen Fingern ganz sanft über die Steine strich, die so behauen waren, dass die Oberfläche leicht nach innen gewölbt war. Ehe sie sich davon abhalten konnte, hatte ihre hinterlistige Fantasie das Bild dieser Berührung auf ihre eigene Haut übertragen, sodass ihr ein Schauer über den Rücken lief. Wie grundlegend doch diese letzten sieben Jahre hätten verlaufen können, wenn nur …

Im allerletzten Moment riss sie sich zusammen und konnte so verhindern, dass sie über die nächste Stufe stolperte. Oben angekommen, blieb sie vor der Tür stehen und musste erst einmal tief durchatmen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Es war bloß ein Zimmer. Ein Zimmer mit einem Schreibtisch und zwei Bücherschränken mit Glastüren, mit bequemen Ledersesseln und einem unbequemen Rosshaarsofa. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, irgendwelche Möbel durch neue zu ersetzen, als sie in Dunnock Castle eingezogen war. Stattdessen hatte sie nur hie und da für eine persönliche Note gesorgt. Obwohl sie diesen Raum als ihr privates Arbeitszimmer bezeichnete, war das einzig wirklich Private das Manuskript, an dem sie derzeit arbeitete.

Aber vielleicht war er ja genau deswegen hergekommen. Womöglich hoffte er ja, einen Blick in den nächsten Roman aus der Feder von Robin Ratliff werfen zu können.

Ein verstohlenes Lächeln huschte über ihre Lippen. Jetzt ging ihre Fantasie aber wirklich mit ihr durch. Sicherlich war Mr Sutherland ein Mann, der seine ganz eigenen Talente besaß, so wie es für jedes von Gottes Geschöpfen galt. Aber er sollte ein Spion sein?

Er erreichte die oberste Stufe in dem Moment, als sie den Riegel der Tür anhob.

„Also“, begann sie, drückte die Tür auf und ging nach drinnen, „was diese dringende Angelegenheit betrifft …“

Als die Hunde ihre Stimme hörten, kamen sie wie weiß-braun gefleckte Blitze zu ihr gestürmt, während ihre Schlappohren umherwirbelten, als würden sie von einem eigenen Windstoß bewegt. Dann aber sahen sie, wie hinter ihr ein Fremder das Zimmer betrat. Prompt hielten sie an, rührten sich nicht von der Stelle und fingen an zu bellen. Ein tiefes Knurren untermalte die Geräuschkulisse.

Die kleinen Spaniel, die als Schoßhunde für eine Dame gezüchtet worden waren, reagierten immer lautstark auf die Anwesenheit von Männern. Es war ein Überbleibsel aus ihrer Zeit bei einem Londoner Dandy, von dem sie getreten und angebrüllt worden waren. Jane hatte die beiden … nun, sie legte es gern so aus, dass sie sie gerettet hatte, aber gestohlen war wohl die treffendere Bezeichnung für ihr Handeln.

Es war zum Teil Angst vor dem Mann, aber sie reagierten auch auf Janes schlechte Stimmung, indem sie lautstark ihren Argwohn gegenüber Mr Sutherland kundtaten. Oder wussten die Hunde mehr über den Mann als sie?

Sie drehte sich zu ihm um und sah, dass er eine Augenbraue weit hochgezogen hatte. Er schien insgesamt aber mehr amüsiert als verängstigt angesichts dieser unerwarteten Zurschaustellung von … nun, Wildheit war wohl eine treffende Bezeichnung. Sie schnippte mit den Fingern, zeigte auf den Boden und sagte energisch: „Athena! Aphrodite!“

Überrascht und erleichtert stellte sie fest, dass die Hunde sich tatsächlich hinsetzten und verstummten. Dennoch ließen sie den ungebetenen Besucher nicht aus den Augen, und Athenas Nackenfell sträubte sich, als Mr Sutherland näher kam.

„Athena und Aphrodite“, wiederholte er die Hundenamen und lächelte dabei ironisch. „Mr Ratliff hat offenbar eine Schwäche für Drama – im … äh … klassischen Sinn.“

Sie bückte sich und nahm mit jedem Arm einen Hund hoch. Athena wand sich, da ihre Aufmerksamkeit weiterhin dem Fremden galt, während Aphrodite aufgeregt an Jane schnupperte, als wollte sie sich vergewissern, dass ihrem Frauchen nichts zugestoßen war.

Eine Schwäche für Drama? Ja, allerdings. „Es tut gut, in der Wildnis des Nordens von ihnen beschützt zu werden.“

„Beschützt?“, wiederholte er und zog nun auch noch die andere Augenbraue hoch, während er die Hunde betrachtete. Von den beiden war Athena die etwas Größere, aber selbst sie wog höchstens sechs Kilo. „Erwarten Sie, dass die beiden jeden Eindringling zu Tode abschlecken, Miss … Mrs Higginbotham?“

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass es auch nicht besser war, wenn er diesen Namen aussprach. „Zweifeln Sie etwa an der Wirksamkeit einer solchen Methode, Mr Sutherland?“

Auch wenn sie ganz so gesprochen hatte, wie es Mrs Higginbotham tat, wenn sie wieder einmal Agnes klarmachen musste, dass sie von ihr mit niemandem verkuppelt werden wollte, war die Wirkung dieses Tonfalls auf Mr Sutherland eine völlig andere. Seine dunklen Augenbrauen … nun, sie wackelten hin und her, was die einzige Beschreibung war, die ihr bei diesem Anblick in den Sinn kommen wollte. Gleichzeitig hatte sein Lächeln einen eindeutig verruchten Zug angenommen. „Das hängt ganz davon ab, wer das Abschlecken übernimmt.“

Die unschuldige Jane Quayle hätte die unzüchtige Doppelbedeutung dieser Worte gar nicht erfassen dürfen. Selbst die sanftmütige Witwe Mrs Higginbotham konnte noch Ahnungslosigkeit vorgeben. Doch Robin Ratliff verstand genau, was er meinte. Ihre Wangen begannen zu glühen, was ihr ein weiteres warnendes Bellen einbrachte.

„Aphrodite, ruhig.“

„Ich vermute, sie sind gereizt, weil wir sie aus einem tiefen Schlaf geholt haben“, gab Mr Sutherland zu bedenken und setzte eine Miene auf, die etwas wie förmlichen Anstand ausstrahlen sollte. Doch sie wusste, ihm war nicht entgangen, wie ihre Wangen mit einem Mal rot geworden waren. „Bestimmt haben sie im Traum Kaninchen gejagt, und durch unser verfrühtes Eintreffen haben wir sie um ihre Beute gebracht.“

Athena wand sich so heftig, dass sie Janes Griff um den rundlichen Bauch zu entgleiten drohte. Wenn diese Hunde von etwas träumten, dann von Agnes’ Käse, und das war eine Beute, die ihnen nur selten entkam. Aphrodite bellte nun noch energischer.

„Vielleicht sollte ich wieder gehen“, bot er laut genug an, um über den Lärm hinweg gehört zu werden. Er machte aber nicht den Eindruck, dass er seinen Vorschlag auch mit Begeisterung in die Tat umsetzen wollte. „Ich könnte auch morgen früh wieder herkommen.“

Ja! Es war ohnehin ein Fehler gewesen, diesen Mann hierher mitzubringen. Sie hatte zugelassen, dass er in ihr Allerheiligstes vorgedrungen war. Die Hunde versuchten, sie zu beschützen, da sie spüren mussten, dass der Fremde Janes Abwehrmechanismen ins Wanken gebracht hatte. Es wäre tatsächlich viel besser, diese Begegnung bei Tageslicht fortzusetzen.

Doch selbst im schwachen Kerzenschein konnte sie jetzt, nachdem der erste Schreck abgeklungen war, dem Mann deutlich ansehen, wie müde und erschöpft er von seiner Reise war. Eiskalte Regentropfen glitzerten noch auf dem Wollstoff, der seine Schultern bedeckte. Seine Sonnenbräune täuschte über die Blässe, die durch die Müdigkeit verursacht wurde, genauso hinweg wie über die Tatsache, dass er sich seit zwei oder drei Tagen nicht mehr rasiert hatte. Bei genauer Betrachtung wirkte er … ja, ausgezehrt war das Wort, das ihr am passendsten erschien. Es tat seinem guten Aussehen aber keinen Abbruch, dennoch war offensichtlich, dass er sich beeilt hatte, um herzukommen. Und um etwas Dringendes zu besprechen, und zwar mit … ihr?

Vor ihr lag die Aussicht auf eine schlaflose Nacht voller Erinnerungen und Überlegungen, was wohl so dringend sein mochte. Sie schüttelte den Kopf. „Ich bringe nur die Hunde nach unten, damit wir in Ruhe reden können.“

Er sah die Hunde an, dann kehrte sein Blick zu ihr zurück. „Wenn Sie sich sicher sind.“

Natürlich war sie das nicht. In den vergangenen Jahren war sie immer wieder gezwungen gewesen, aufgrund der jeweiligen Umstände schnell Entscheidungen zu treffen. Eine nachsichtige Seele mochte den größten Teil davon als überhastet bezeichnen.

Ein nächtliches Wiedersehen mit diesem Mann mochte durchaus die schlechteste Entscheidung von allen sein, und das wollte schon etwas heißen.

Doch die Neugier nagte an ihr. Was konnte ihn in ihr Leben zurückgebracht haben? Und wenn es ihm gelungen war, sie ausfindig zu machen, wer mochte ihm dann noch alles folgen und ebenfalls hier auftauchen? Sie nickte schroff, da sie spürte, dass sowohl die Situation als auch die Hunde dicht davor waren, ihrem Griff zu entgleiten. „Je eher ich Ihnen eine Gelegenheit gebe, mir zu erklären, welcher Anlass Sie zu mir geführt hat, Mr Sutherland, umso eher können Sie sich wieder auf den Weg machen.“