Kapitel 5
Hazel
Am nächsten Morgen werde ich von der Sonne geweckt. Sie fühlt sich wie eine warme Berührung auf meinen Wangen an; die Welt hinter meinen Lidern glüht. Doch die Illusion wird durch die Matratzenfeder gestört, die sich in meine Seite drückt, und mein Bewusstsein in dem Jetzt festhält.
Und dennoch, als ich dann auf die Uhr sehe, bin ich fest davon überzeugt, noch zu träumen. Es ist kurz nach neun Uhr. Mein erster Gedanke: Ich habe verschlafen. Wiederum auch nicht, denn kann man verschlafen, wenn man keine Termine hat, zu denen man zu spät kommen kann? Schließlich schäle ich mich aus den Laken. Die Dielen unter meinen Sohlen sind kalt, das Gefühl zieht meine Beine hinauf, bis sie an meinen Fingerspitzen ankommt. Ich fröstele leicht, als ich ans Fenster herantrete. Bei Tageslicht sieht alles ganz anders aus. Der Busch mitten auf der Einfahrt ist geblieben, doch es wirkt alles weniger bedrohlich. Alles hat einen verwegenen, verkommenen Touch, der eine gewisse Gemütlichkeit ausstrahlt.
Ein Blick auf die Handykarte bestätigt meine Vermutung, dass sich das Stadtzentrum von Cork nordwestlich von mir befindet. Und im Süden, vermischt im blauen Dunst des Himmels, befindet sich irgendwo das Meer. Ich schieße ein Foto von meinem Ausblick und teile es im Gruppenchat meiner WG.
Nicer Ausblick – Julie
Die Antwort von Maisie lässt ebenfalls nicht lange auf sich warten.
Willkommen in Cork – Maisie
Meine erste Amtshandlung, nachdem ich den Chat beendet und mich angezogen habe, ist es, den Mietwagen wieder abzugeben. Danach treibt mich der Hunger hinaus auf die Straße. Laut meinem Handy befindet sich fußläufig ein Café, etwas weiter entfernt ein Supermarkt und weitere kleine Geschäfte. Zuerst steuere ich das Café Aroma Mocha an, bevor ich mir über Weiteres Gedanken mache, wie ich das Haus am besten verkaufen könnte und welche Makler ich kontaktieren soll.
Leider ist das Café so gut besucht, dass alle Tische besetzt sind. Mir bleibt nur die Möglichkeit, mein Frühstück im Stehen zu verspeisen oder mitzunehmen. Bei dem Gedanken daran, in diese Stille des Hauses zurückzukehren, entscheide ich mich dagegen und dafür, über meinen Schatten zu springen. Als ich mich umsehe, entdeckte ich eine junge Frau, ungefähr in meinem Alter, mit roten Haaren und einem rehbraunen Hut auf dem Kopf, der einen schönen Kontrast bildet. Sie sitzt alleine an einem Tisch. Kurz überlege ich, ob ich es sein lassen soll, doch dann beiße ich die Zähne zusammen und steuere auf sie zu.
»Hey«, sage ich entschuldigend. »Sorry, wenn ich dich störe, aber darf ich mich zu dir setzen? Leider finde ich keinen Platz mehr …« Entschuldigend zucke ich mit den Achseln.
Etwas irritiert sieht sie von ihrem Notizbuch auf, in dem sie arbeitet. Dann breitet sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Na klar, lass es dir schmecken.«
»Danke«, sage ich erleichtert und gleite auf die Sitzbank ihr gegenüber. Die junge Frau widmet sich erneut ihren Notizen, ohne mir weitere Beachtung zu schenken. Auch ich ziehe mein Tablet hervor und öffne die Liste mit Maklern, die ich ausgehend von ihren Bewertungen im Internet im Vorfeld erstellt habe. Die Liste ist übersichtlich und ich bin vorsichtig optimistisch, dass ich jemanden finden werde, der dieses Haus kaufen oder verkaufen wird. Mein altes Ich sah in jeder Möglichkeit eine Chance. Das möchte ich mir wieder bewusst machen. Das Glas ist tendenziell eher halb voll als leer. Scheitern ist immer die Antwort, wenn man es nicht einmal versucht hat.
Nachdem ich den letzten Bissen von meinem Sandwich genommen und die Nummer im Handy eingetippt habe, drücke ich auf den grünen Hörer.
»Baker Estate Group, Sie sprechen mit Carl Baker. Wie kann ich Ihnen helfen?«, meldet sich beinahe sofort eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Es hat nicht ein Freizeichen gegeben!
Ich verschlucke mich beinahe an meinem Sandwich, während ich mich beeile aufzukauen.
»Hallo?«
»Hazel Hughes hier. Ich rufe wegen einer Immobilie an, die ich verkaufen möchte. Ich habe gehofft, dass Sie mir dabei unter die Arme greifen können.«
»Das ist meine Berufung!« Ich höre das Lächeln in der Stimme von Carl Baker, wodurch er mir direkt sympathisch wird. »Haben Sie sich vielleicht schon unser Leistungsportfolio auf unserer Webseite angesehen?«
»Leider nicht«, gebe ich zu.
»Das ist kein Problem, dann erzähle ich Ihnen gern jetzt von unseren Konditionen. Dabei heißt es, alles kann, nichts muss. Wenn Sie nicht in allen Bereichen Unterstützung benötigen, dann unterstützen wir nur dort, wo Hilfe benötigt wird. Gern können wir die individuelle Betreuung in einem persönlichen Termin besprechen und ich kann mir ein Bild von der Immobilie machen. Darf ich fragen, wo sich diese befindet?«
»Direkt in Cork.«
»Hervorragend, das liegt dann ja nur einen Katzensprung von unserem Büro entfernt. Das erleichtert vieles, auch wenn wir unsere Kunden über die gesamte Insel verteilt betreuen.«
»Eine Frage hätte ich noch, Mr Baker. Wie sieht Ihre zeitliche Verfügbarkeit aus, um die weiteren Schritte zu besprechen?«
»Ich muss gestehen, dass ich aktuell einige Projekte betreue, die meine Aufmerksamkeit erfordern. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass ich in naher Zukunft einige davon zum Abschluss bringen kann. Es spricht also nichts dagegen …«
Der Blick der Frau mir gegenüber liegt plötzlich auf mir. Ich denke mir nichts dabei, bis eine Handbewegung meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Sie schüttelt den Kopf und formt Worte mit ihren Lippen. Bevor ich darauf reagieren kann, hält sie inne und wirkt mit einem Mal unschlüssig. Kurzerhand greift sie nach einer Serviette und schreibt ein Wort darauf.
Hochstapler.
Ich runzle die Stirn. Kann sie wirklich den Mr Baker meinen, mit dem ich gerade telefoniere? Einer Eingebung folgend, rufe ich die Adresse des Maklerbüros auf meinem Tablet auf und drehe es in ihre Richtung. Als die Frau das Profil liest, nickt sie eindringlich.
In der Zwischenzeit ist Carl Baker zum Ende seiner Ausführung gekommen. »Was halten Sie von meinem Vorschlag, Ms Hughes?«
Ich habe keine Ahnung, was er in den letzten Sekunden von sich gegeben hat. Das Wort auf der Serviette leuchtet mir anklagend entgegen. »Ich würde dazu gern Rücksprache halten und mich morgen zurückmelden, ist das in Ordnung?«
Ich verschweige ihm, dass ich mit mir selbst Rücksprache halten werde.
»Selbstverständlich«, sagt Carl Baker gut gelaunt. »Sie können gern noch einmal auf unserer Webseite schauen, ob sich da einige Fragen klären lassen können. Dann warte ich auf Ihren Rückruf. Haben Sie einen wundervollen Tag!«
Ich erwidere seinen Gruß und lege auf. Von einer Sekunde auf die andere spüre ich ein Pochen hinter meinen Schläfen. Eine Ahnung beschleicht mich, dass es nicht so einfach sein würde, wie ich mir das vorgestellt habe. Bei der plötzlichen Stille sieht meine Sitznachbarin auf. Unsere Blicke treffen sich, ehe ihr Blick zu der älteren Dame springt, die vor unserem Tisch steht. Sie zieht einen kleinen Block aus einer Tasche ihrer geblümten Schürze und schiebt sich mit dem Kugelschreiber eine Strähne hinters Ohr. Die Geste lässt sie jünger wirken, dabei durchsetzen graue Strähnen ihr weißes Haupthaar.
»Amara, du hast gar nicht erzählt, dass du noch einen Gast mitbringst. Sonst hätte ich dir noch eine Kanne Kaffee hingestellt«, sagt diese tadelnd.
»Oh, das muss eine Verwechslung sein«, sage ich in dem Moment, in dem Amara peinlich berührt sagt: »Deirdre, das würde ich doch niemals wagen.«
»So?«, fragt Deirdre, macht jedoch keine Anstalten, sich mit dieser Antwort zufriedenzugeben. Sie hat ihre feinen Augenbrauen in einer Mischung aus Zweifel und Belustigung zusammengezogen.
»Ich und …«
»Hazel«, werfe ich wenig hilfreich ein.
»Wir … kommen nur in die Verlegenheit, zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Tisch zu sitzen«, fährt Amara fort.
In Deirdres Blick schwingt ein amüsiertes Funkeln mit, als dieser an mir hängen bleibt. »Dann entschuldigt bitte meine übereilte Annahme. Kann ich euch dafür als Entschädigung etwas aus der Auslage anbieten? Einen Kaffee? Einen Muffin?«
»Das wäre wirklich nicht …«, beginne ich, doch ich werde unterbrochen.
»Klar, sicher.« Amaras Blick fällt auf mich. »Bloß keine falsche Bescheidenheit. Die Frau hat es sich mit ihrer unverbesserlichen Neugier selbst zuzuschreiben. Deirdre gehört der Laden hier und damit denkt sie, sie hätte einen Anspruch darauf, in jedem Gespräch mitmischen zu dürfen.« Ein Schmunzeln begleitet ihre Worte, was mir verrät, dass die beiden sich sehr gut zu kennen scheinen.
»Amara Dayal, so redest du nicht mit mir«, sagt Deirdre sanft, doch auf ihren Lippen liegt ein Lächeln. Mit seinem Seufzen wendet sie sich mir zu. »Womit kann ich meinen Fauxpas wieder gutmachen?«
Kurz schwanke ich dazwischen, Deirdres Angebot abzulehnen. Andererseits ist gegen einen zweiten Gang auch nichts einzuwenden. »Ich würde einen Muffin nehmen. Und beim Essen erzählst du mir, weshalb Carl Baker ein Hochstapler sein soll, Deal?«, frage ich an Amara gewandt. Es muss Einbildung gewesen sein, doch bei der Erwähnung von Carl Baker verdreht die ältere Dame ebenfalls kurz die Augen.
»Deal.« Sie grinst spitzbübisch.
Es dauert nicht lang, bis vor uns eine Auswahl an Muffins und zwei dampfende Tassen Kaffee stehen. Letzteres habe ich bei Deirdre nicht bestellt, doch sie zwinkert mir nur verschwörerisch zu, als sie diese auf dem Tisch abstellt.
»Liebes, ich habe nicht nach deinem Nachnamen gefragt. Kommst du von hier?«, fragt sie.
»Das ist Hazel Hughes«, entfährt es Amara, bevor sie beide Hände vor dem Mund zusammenschlägt. »O Gott, es tut mir leid. Hazel ist superbekannt … bei uns jungen Leuten.«
Deirdre zeigt sich jedoch von Amaras Ausführungen wenig beeindruckt, was ich ihr hoch anrechne. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir ansieht, dass mir die Aufmerksamkeit unangenehm ist oder sie sich generell aus dem Thema nichts macht. »Hughes, hm? Du bist nicht zufällig verwandt mit – Gott habe sie selig – Eleonore Hughes?«
»Das ist … war meine Großmutter. Ich kümmere mich um ihren Nachlass.«
Deirdre schürzt die Lippen. »Das ist sicher schwer. Mein Beileid.«
»Danke«, sage ich. Sie nickt, ehe sie sich entschuldigt, um am nächsten Tisch die Bestellung aufzunehmen. Ich fühle mich etwas überrumpelt und ein Teil von mir hätte gern gefragt, wie gut sie Eleonore gekannt hat. Doch das Café ist gut besucht und mir erscheint es nicht nach dem richtigen Zeitpunkt. »Okay, ich höre«, sage ich dann an Amara gewandt, während ich das Papierförmchen von einem Blaubeermuffin abpelle.
Amara verzieht nachdenklich das Gesicht. Mit dem Zeigefinger trommelt sie beinahe ungeduldig auf der Tischplatte, als wüsste sie nicht, wo sie beginnen sollte. »Du kommst wahrscheinlich nicht von hier«, beginnt sie, was ich mit einem Nicken bestätige. »Dann kannst du es auch nicht wissen. Also wo fange ich da an? Vielleicht am Anfang, das wäre wahrscheinlich am sinnvollsten, nicht wahr?« Amara räuspert sich, als ihr klar wird, dass sie vor Nervosität zu brabbeln beginnt. Das wirkt so unglaublich sympathisch, dass ich mir ein Grinsen nicht verkneifen kann.
»Ich bin echt gespannt, was das für ein Skandal sein soll.«
»Nun, also, die Firma Baker Real Estate gibt es wirklich. Sie war sogar mal sehr renommiert, daher gibt es überall die guten Erfahrungsberichte. Der Senior war wirklich eine gute Seele, hat viel für unsere Stadt getan – sein Sohn jedoch ist das genaue Gegenteil. Es ist quasi ein offenes Geheimnis, dass er sich auf dem Geld seiner alten Herren ausruht, nicht jedoch ohne weitere Vorteile mit seinem Namen rausschlagen zu wollen. Aber er verklagt auch gern jeden, der es wagt, ihn öffentlich anzuprangern.«
»Wow.« Ich lasse mich in meinen Sitz fallen und die Informationen für einen Moment sacken. »Das ist echt ein Ding.« Wenn das wahr sein sollte. Die kritische Stimme in mir kann nicht ganz still bleiben. Zwar zweifle ich Amaras Schilderungen nicht gänzlich an, doch ich sollte zumindest im Hinterkopf behalten, dass es nicht die Wahrheit sein muss. Auch wenn ich nicht wüsste, was Amara davon hat, eine gänzlich Fremde zu belügen.
»So ist es. Aus Cork ist das eigentlich allen Leuten bekannt, schließlich reden die Leute miteinander. Wir sind eine Community, wir halten zusammen. Es ist Fluch und Segen zugleich. Carl Baker findet jedoch immer wieder neue Opfer, seien es Hinzugezogene oder Menschen von außerhalb.«
»Dann … danke für diesen Ratschlag, schätze ich. Das ist nicht selbstverständlich.«
»Sicher doch.« Amara grinst. »Du kannst dich jederzeit dafür mit einem weiteren Muffin revanchieren. Aber bitte den ohne Blaubeeren, die kann ich nicht leiden.«
Schockiert greife ich mir ans Herz. »Ich habe noch nie gehört, dass jemand keine Blaubeeren mag. Was haben sie dir nur getan?« Doch bevor Amara antworten kann, klingelt mein Handy. »Tut mir leid, da muss ich rangehen«, murmle ich, als ich den Namen auf dem Display sehe. »Julie, wie kann ich dir helfen? Gibt es Probleme?«
»Hey, womit habe ich den panischen Unterton verdient?«, klingt Julies Stimme leicht verzerrt an mein Ohr. An den schlechten Empfang werde ich mich noch gewöhnen müssen. »Bisher läuft alles super. Ich bereite gerade den Content für das nächste Quartal vor.«
»Fleißig wie immer«, lobe ich.
»Davon träumst du wohl.« Julie schnaubt. »Ist das die irische Stadtluft, die dich so optimistisch stimmt?«
»Bisher habe ich noch gar nicht so viel von der Stadt gesehen«, gebe ich zu. »Ich sitze hier noch beim Frühstück, wenn ich ehrlich bin. Aber deswegen rufst du wahrscheinlich nicht an, habe ich recht?«
»Dann ist das sicher der Kaffee!«, witzelt Julie, bevor sie ernst wird. »Du hast recht. Du weißt, ich würde nie deinen Social-Media-Detox unterbrechen, wenn es nicht wichtig wäre. Ich schwöre. Der eigentliche Grund ist, dass heute eine Anfrage reinkam. Ich weiß, dass du schon so lange unbedingt so was machen wolltest.«
»Wer hat angefragt?«
Bei der Erwähnung von Crimson Orchard zieht sich alles in mir zusammen. Das ist groß. Das Unternehmen ist richtig in der Szene bekannt, mit hunderttausenden Abonnenten. Die Reichweite ist gigantisch. Das ist die Kooperation gewesen, von der ich geträumt habe, bevor ich meine Firma gründete. Wofür ich mir unzählige fiktive Interviews erdacht und durchgespielt hatte. Nun fragen sie ausgerechnet jetzt an – und statt Freude fühle ich nur Nervosität.
»Was stellen die sich vor?«
»Die wollen ein neues Format aufziehen und suchen Leute wie dich, die die Zuschauer begeistern können. Zehn Folgen sind vorerst geplant.«
»Eine ganze Staffel«, murmle ich fassungslos. »Crimson Orchard. Mit mir.«
Verdammt.
»Du sagst es«, bestätigt mit Julie mitfühlend. Ich habe nicht bemerkt, dass ich es laut ausgesprochen habe.
»Es wäre dumm, es nicht anzunehmen. Das ist die Erfüllung meiner Träume.« Meine Wünsche sind in den vergangenen Jahren zu einem Mantra geworden, beinahe zu einer Worthülse, und ich fragte mich, ob es noch mein Traum ist. »Aber ich kann nicht.« Das auszusprechen fühlt sich verboten, wenn auch befreiend an. Wenn mein Vergangenheits-Ich das nur wüsste.
»Ich hab’s mir schon beinahe gedacht.« Julie klingt, als würde sie überlegen. »Willst du, dass ich ihnen komplett absage?«
»Weißt du was? Nein.« Ich mache eine Pause, um meine Gedanken zu sortieren. »Du machst das, wenn du willst. Ich lasse dir freie Hand bei der kompletten Planung, zieh dein Ding durch. Du wolltest schon immer eine Plattform haben, auch wenn du dich bisher nicht getraut hast. Das wäre jetzt deine Chance. Was hältst du davon?«
»O my … darüber muss ich erst nachdenken. Das ist schließlich deine Arbeit, auf der das Ganze aufbaut. Das fühlt sich nicht richtig an, als würde ich mich in ein gemachtes Nest setzen.«
»Manchmal muss man nach einer Chance greifen, wenn sie sich einem bietet. Also, das ist sie! Die Leute sind völlig aus dem Häuschen gewesen, als wir das letzte Format zusammen gemacht haben. Erinnerst du dich?«
»Ich weiß nicht …« Julies ganze Zerrissenheit schwingt in den drei Worten mit. »Kann ich darüber eine Nacht schlafen? Ich würde das liebend gern machen, nur damit du mich nicht falsch verstehst …«
»Nimm dir so viel Zeit wie du brauchst. Dann ziehst du dein Ding durch«, gebe ich zurück.
»Hazel, damit machst du es mir wirklich nicht einfach.« Julie stöhnt und ich sehe vor meinem inneren Auge, wie sie ratlos ihre Hand gegen die Stirn legt, als würde sie bei sich Fieber messen.
»Ich habe nie gesagt, dass es einfach wird.«
»Auch richtig«, erwidert sie und seufzt.
Nachdem wir uns voneinander verabschiedet haben, bemerke ich Amaras Blick erneut auf mir liegen. Das Glitzern darin fällt mir augenblicklich auf – und es gefällt mir nicht.
»Ich wollte dein Telefonat wirklich nicht mit anhören, ich verspreche es dir. Aber du sitzt so nah und das Weghören fiel mir wirklich schwer.« Wieder verfällt sie in eine Art Redefluss, ehe sie sich selbst stoppt. »Das wird jetzt vielleicht unangenehm.«
»Okay?« Ich kann nicht verhindern, dass meine Reaktion verhalten ausfällt. Schließlich bin ich hierhergekommen, nicht nur, um meiner gescheiterten Beziehung mit Tyler zu entfliehen, sondern auch um herauszufinden, was ich mit meiner Arbeit anfangen will. Ohne dabei an meine Arbeit denken zu müssen.
»Nun ja«, erwidert Amara gedehnt. »Es ist möglich, dass hier eine Aktion angeleiert wurde. Von mir, im Rahmen meiner Lehrtätigkeit an der Cork University. Die Lehrstühle für Psychologie und Sozialwissenschaften haben die Patenschaft für ein Jugendzentrum übernommen. Das muss aktuell jedoch dringend renoviert werden. Nachdem ich der Stadt jahrelang in den Ohren gelegen habe, haben sie endlich die Gelder zur Verfügung gestellt. Das Beste ist, dass die Jugendlichen die Räumlichkeiten mitgestalten können und somit vielleicht eine neue Seite von sich entdecken.«
»Das klingt nach einem spannenden Projekt«, beginne ich und muss mich wegen dem plötzlichen Kloß in meinem Hals räuspern. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich aktuell die richtige Person dafür wäre. Ich mache gerade so etwas wie eine Schaffenspause. Eine Freundin von mir übernimmt in dieser Zeit. Denn ich habe festgestellt, dass mir das aktuell weniger guttut.«
»Oh, das ist fantastisch!«, ruft Amara aus, bevor ihr klar wird, was sie soeben von sich gegeben hat und sich eine Hand vor den Mund schlägt. »O Gott, sorry. So meinte ich das nicht. Natürlich ist das nicht schön. Verzeih mir bitte, manchmal verbindet sich mein Hirn nicht korrekt mit meinem Mund und dann kommt genau das Gegenteil von dem raus, was ich eigentlich sagen wollte. Was ich sagen möchte, ist, dass wir noch jemanden brauchen, der wirklich Ahnung hat, was es heißt, so eine Renovierung durchzuziehen.«
»Ich …« Ich weiß plötzlich genau, wie sich Julie vor wenigen Minuten gefühlt haben muss. Die Zerrissenheit, die Sorge vor dem, wenn man der Erwartungen nicht gewachsen sein würde. Die Zweifel. Die Wünsche. Die leisen Hoffnungen, ob es so funktionieren würde, wie man sich es vorstellt oder ob man daran gänzlich scheitert.
»Bitte?«
»Darf ich mir das überlegen? Das Angebot kommt wirklich unerwartet, so vielversprechend es auch klingt.«
»Ja, bitte«, gibt Amara freudestrahlend zurück, als hätte ich bereits zugesagt. »Wenn es dir bei deiner Entscheidungsfindung hilft, heute Abend besprechen wir die weiteren Schritte in unserem Organisationsteam. Wenn du magst, kannst du gern dazukommen. Treffen ist um sieben. Wenn sich die Situation ergibt, musst du unbedingt das Codewort nennen: Da streiten sich die Geister.«
»Ihr habt wirklich ein Codewort?«
Amara grinst verschmitzt. »Nee, aber es regt Wyatt unglaublich auf, wenn ich Sprichwörter vertausche.« Wer auch immer Wyatt ist, ich nehme diese Information zur Kenntnis und nicke nur.
Nach dem Frühstück schlendere ich nachdenklich zurück zu Eleonores Haus. Ich kann nicht anders, als die ersten Minuten wie verloren durch die Räume zu wandeln, ehe ich Rechnungen vom Stromanbieter in einem alten Sekretär ausgrabe und somit verhindere, dass mir der Strom ausgerechnet am übernächsten Tag abgestellt werden würde. Dort finde ich auch einen Schlüssel, der etwas kleiner als der Hausschlüssel ist. Nach ein wenig Herumprobieren passt er zum Briefkasten, der erstaunlich leer ist. Ein Brief befindet sich darin, der an Eleonore Hughes adressiert ist und sich als Werbung entpuppt – und ein Flyer. Von Baker Real Estate. Carl Bakers Gesicht strahlt mir mit einem Zahnpastalächeln entgegen, darüber befindet sich ein handschriftlicher Kommentar.
Ich freue mich, von Ihnen zu hören.
C. B.
Eine Gänsehaut überzieht meinen Körpern. Alle Alarmglocken schrillen. Ich habe ihm am Telefon nicht meine Adresse genannt. Es kann Zufall sein, da er möglicherweise wie andere in der Stadt von dem vakanten Haus gehört hat. Doch an solche Zufälle glaube ich nicht. Er muss meinen Nachnamen erkannt haben. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt.
Nach kurzem Überlegen steht meine Entscheidung fest. Er wäre ganz sicher der Letzte, den ich kontaktieren würde.
Kapitel 6
Hazel
Ich entscheide erst in letzter Minute, mich auf den Weg zu machen, auch wenn ich nicht weiß, was mich dort erwartet. So richtig lässt mich Amaras Angebot nicht los. Selbst während ich mit weiteren Maklern telefoniert habe – nicht ohne mir die Liste von ihr zumindest zum Teil absegnen zu lassen –, höre ich den Personen am Telefon nur halbherzig zu, während meine Gedanken nur um dieses Treffen, von dem Amara gesprochen hat, kreisen. Aber was habe ich schon zu verlieren? Den ersten Termin mit der Maklerin habe ich für morgen verabreden können. Wenn alles gut läuft, bin ich in zwei Wochen wieder in London. Wenn ich sowieso die Zeit hier überbrücken muss, dann eben so.
Die einsetzende Nacht liegt wie eine schützende Decke über der Stadt. Die Straßenlaternen glühen wie Zündhölzer, die Luft riecht frisch. In der Ferne zirpen Grillen und zum ersten Mal seit langer Zeit spüre ich, wie der Druck auf meinem Brustkorb etwas nachlässt. Vielleicht hat Julie recht damit, dass hier etwas in der Luft liegt. Was auch immer es sein mag, ich kann davon nicht genug bekommen.
Laut der Navigationsapp auf meinem Handy komme ich der Adresse immer näher, die mir Amara genannt hat. Auf dem Weg dorthin drehen die Push-Benachrichtigungen bei mir durch. Beiträge, Kommentare, Likes. Ich nehme an, dass Julie neuen Content hochgeladen hat. Allein bei der Vorschau verknotet sich mein Magen zu einem nervösen Knäuel. Die Leichtigkeit, die ich vor wenigen Minuten noch verspürt habe, ist mit einem Mal fort. Es ist nicht Cork, das meine rasenden Gedanken beruhigt. Das wird mir jetzt klar. Sondern der Abstand zu allem. Natürlich nicht der Abstand zu Maisie und Julie, sie fehlen mir jede Minute, die ich hier bin.
Es ist der Abstand zu meiner Arbeit, zu dem, was mir früher so viel Freude bereitet hat.
Meine Schritte werden immer langsamer, bis ich gänzlich stehen bleibe. Kurz lege ich meine Hand auf mein pochendes Herz und versuche mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Sofort höre ich die Stimme von meinem Therapeuten, der sagt: Erkennen Sie Ihre Gefühle an. Julie hat so etwas ähnliches gesagt, nachdem ich mich von Tyler getrennt habe. Sie haben alle recht. Ich habe die Warnzeichen so lange von mir weggeschoben, bis sich meine Erschöpfung zu einem großen Wall aufgetürmt hat, der sich nicht mehr beiseiteschieben und mich eingekesselt zurückließ.
Schweren Herzens fasse ich den Entschluss, die Benachrichtigungen für Social Media und die Videoplattformen zu deaktivieren. Das darauffolgende Schweigen auf meinem Handy fühlt sich heilsam an.
Ich gebe mir einen Ruck und setze meinen Weg fort. Inzwischen muss ich mir eingestehen, dass ich den Fußmarsch ins Stadtzentrum etwas unterschätzt habe. Der einzige Lichtblick ist, dass ich glaube, mein Ziel zu erkennen, zu dem mich mein Handy führt. In der Straße sind die Gebäude dicht an dicht aneinandergebaut. Die einzige Gemeinsamkeit, die sie haben, ist, dass sie mit zwei Stockwerken niedrig sind. Ansonsten gleicht keine Fassade der anderen – Backstein steht neben verputzten Wänden, manche Fensterrahmen sind weiß, andere in verschiedenen Farben angemalt.
Bei dem Haus, auf das ich zusteuere, ist das Erdgeschoss mit dunklem Holz vertäfelt, die verputzte Wand darüber ist hellgrün gestrichen worden. In goldenen Lettern steht Youth Centre über der Tür geschrieben.
Ein Glöckchen bimmelt, als die Tür aufgeht und eine hochgewachsene Person hinaustritt. Aus dem Transporter, der am Straßenrand geparkt ist, hebt sie einige Kartons von der Ladefläche, die gefährlich hin und her rutschen. An der Tür angekommen, bemerkt der Mann, dass er diese nicht wieder aufbekommt. Seine blonden Haare sind im Nacken zu einem kurzen, unordentlichen Zopf gebunden. Mir fallen sofort die geflickten Ellenbogen seines übergroßen Pullovers auf. Über dessen Stoff ziehen sich kreuz und quer dunkle Streifen, als hätte er daran beim Arbeiten unachtsam seine Hände abgewischt. Auch seine dunkle Jeans ist von Farbspritzern übersät. Mir ist er gleich sympathisch. Nach einem langen Tag auf der Baustelle oder im Studio bin ich nicht selten im gleichen Look nach Hause gegangen. Oh, wie oft bin ich morgens aufgewacht, und habe noch Staub und Farbe in meinen Haaren gefunden? Zu oft.
»Moment, ich kann helfen«, rufe ich und beeile mich, um zur Tür zu gelangen.
Überrascht wendet er sich mir zu, die Kartons schlingern bei der Bewegung in seinen Armen. »Das ist nicht nötig«, erwidert er steif.
Sein barscher Unterton bringt mich für eine Sekunde aus dem Konzept, doch ich entschließe ich dazu, diesen zu übergehen. »Das nicht. Aber hilfreich«, gebe ich zurück und ziehe die Tür auf. »Nach dir.«
»Das Jugendzentrum hat heute geschlossen«, erwidert er und etwas in seiner Miene verändert sich. Mit einem Mal wirkt er misstrauisch.
»Oh, ich weiß. Amara hat mich eingeladen.«
»Amara?« Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Wieso sollte sie?«
»Ich soll mir von dem Projekt selbst ein Bild machen«, erkläre ich.
»Typisch«, murmelt er mehr zu sich selbst als zu mir. Dann seufzt er schicksalsergeben. »Bitte, dann komm herein.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwindet er im Inneren. Verdattert starre ich ihm hinterher. Mit einem Mal bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das hier eine gute Idee gewesen ist. Trotzdem gebe ich mir einen Ruck und folge ihm. Die Tür führt in einen etwas größer angelegten Aufenthaltsraum, dessen Wände in einem grellen Grün gestrichen sind. Der Mann ist verschwunden, doch ich vernehme Stimmen, die näher kommen. Direkt neben der Tür hängt eine große Bilderwand, auf der hunderte Polaroids befestigt worden sind.
Bevor ich sie näher betrachten kann, biegen drei Personen um die Ecke. Amara erkenne ich augenblicklich, die in ein Gespräch mit einer jungen Frau vertieft ist. Hinter ihr befindet sich der Typ, der sich noch nicht einmal dafür bedankt hat, dass ich ihm die Tür aufgehalten habe. Beide sehen auf, als sie mich im Eingangsbereich bemerken.
»Hey«, sage ich und hebe unschlüssig die Hand zum Gruß.
»Hazel, was für eine Überraschung!«, ruft Amara und kommt auf mich zu, um mich zu umarmen. Ihre Offenheit ist entwaffnend, aber es hilft zugleich, meine Scheu abzulegen und mich weniger fehl am Platz zu fühlen.
»Das ist genau das, was ich meine«, ereifert sich der Mann. »Hier wird sich nicht an Absprachen gehalten, vor allem nicht von dir.« Anklagend deutet er auf Amara.
»Ich kann mich an keinen Moment erinnern, an dem ich mich nicht an irgendwas gehalten hätte«, erwidert sie erheitert. »Brooks, wie wäre es, wenn du dir dein Temperament für die wirklich wichtigen Dinge aufsparst? Mein Durchlauferhitzer ist kaputt und kein Handwerker sieht sich in der Pflicht, diesen Mist zu reparieren. Dem könntest du liebend gern einheizen.«
Brooks rollt zur Antwort nur mit den Augen.
»Ich hoffe, ich störe wirklich nicht«, sage ich in die Pause hinein.
Amara schüttelt sofort den Kopf. »Auf gar keinen Fall!«, sagt sie.
Währenddessen gibt Brooks ein Geräusch von sich, das einem verächtlichen Schnauben sehr nahekommt. »Solange du nicht so aufrührerisch wie der Rest bist, dann nicht. Mehr von dieser Sorte kann ich nicht ertragen.«
»Ich …« Seine direkte Art überrumpelt mich etwas. »Ich glaube nicht.«
»Wir werden sehen.« Er zieht sein Handy hervor und mustert das Display. »So, ich glaube, meine Aufgabe hier ist erledigt. Ruft mich nicht an, außer es brennt. Wirklich, Amara, ein loses Kabel ist kein Notfall. Das steht nicht in meiner Jobbeschreibung.« Er seufzt und murmelt etwas, das verdächtig nach »Ich werde zu alt für den Mist« klingt.
»Natürlich.« Amara klingt zuckersüß. Sie streckt ihm jedoch die Zunge heraus, als er sich zum Gehen wendet.
Doch sobald Brooks zur Tür raus ist, verändert sich die Stimmung. Amara grinst ihr Tausend-Watt-Lächeln und kommt auf mich zu. »Ich freue mich so, dass du es einrichten konntest. Du wirst es nicht bereuen, versprochen.«
»Ich war mir kurz nicht sicher«, gebe ich ehrlich zurück, was ihr ein Kichern entlockt.
»Mach dir nichts draus, das ist halt Brooks, wie er leibt und lebt. Ein wenig mürrisch, aber herzensgut. Und verlässlich, was jedwede Unterstützung anbelangt. Er hat uns gerade den ersten Schwung an Werkzeug vorbeigebracht. Übrigens, das ist Margot. Sie ist die gute Seele des Jugendzentrums.«
Margot rollt bei den Worten mit den Augen, doch das Lächeln auf ihren Lippen zeigt deutlich, dass es nicht böse gemeint ist. »Du übertreibst mal wieder schamlos.«
»Die Wahrheit ist niemals übertrieben. Mit Margot würdest du viel zusammenarbeiten. Ich bin selbst nur für die anfängliche Koordination mit dabei. Wenn es dann ernst wird, werde ich mich ein wenig im Hintergrund halten. Ich überlasse die Arbeit lieber denjenigen, die keine zwei linken Hände haben. Und nun, wo du da bist, fehlt eigentlich nur noch eine Person«, sagt Amara. Bevor ich etwas darauf erwidern kann, dringen gedämpft Stimmen von draußen zu uns. Es klingt, als würden mehrere Personen hitzig miteinander diskutieren.
»Ich habe mich zuerst dafür gemeldet!«
»Da wusstest du noch gar nicht, worum es ging«, giftet eine weitere Stimme.
Die Eingangstür wird geöffnet. Mit einem Mal schwappen die Geräusche ungefiltert ins Innere. Das Streitgespräch geht noch einige Sekunden hin und her, bis sie unterbrochen werden.
»Wenn ihr so weitermacht, wird das aber nichts.« Die Mahnung zeigt ihre Wirkung. Eine kurze Pause entsteht, bevor eine Gruppe Jugendlicher hineinstürmt. Sie sind in eine Diskussion vertieft und scheinen nichts um sich herum wahrzunehmen.
Nach ihnen betritt ein Mann das Innere und schließt hinter sich die Tür, nicht bevor er noch etwas zu einer Person sagt, die sich außerhalb meines Blickwinkels befindet. Vielleicht Brooks. Nachdem er sich von ihm verabschiedet hat, wendet er sich uns zu.
Sein Blick fällt zuallererst auf Amara, dann auf mich. Wenn er nicht so ernst wirken würde, würde er gut aussehen. Herzbrecherisch gut. Die braunen Haare sind an den Seiten kürzer rasiert, leichte Locken fallen ihm in die Stirn. Mein Körper reagiert, ohne dass ich es will. Mein Herz fängt vor Aufregung an, kräftiger zu schlagen. Er trägt eine braune Cordjacke, darunter ein schwarzes Shirt mit V-Ausschnitt, das Ton in Ton mit seiner Hose geht.
Noch bevor er uns erreicht, ist die Sorgenfalte auf seiner Stirn zu erkennen, die sich auf seiner Stirn bildet. Mit jedem Schritt wächst in mir eine Vorahnung dessen, was nun folgen wird.
»Amara, wem hast du eigentlich erzählt, dass ich heute dabei sein werde?«, frage ich leise.
Doch der Mann kommt mir zuvor, ohne mich jedoch eines weiteren Blickes zu würdigen. »Niemanden anscheinend«, antwortet er gedehnt. »Wir hatten gesagt, dass wir heute mit den Jugendlichen die nächsten Schritte besprechen werden. Wir sind dafür verantwortlich, ihnen wenigstens hier ein stabiles Umfeld zu bieten. Dafür haben wir unsere Absprachen. Jemanden Fremdes mitzubringen war nicht Teil davon.«
Natürlich verstehe ich seine Beweggründe. Wenn er für die Jugendlichen verantwortlich ist, muss er jedes Risiko abwägen. Trotzdem sind seine Worte wie ein Stich in meinem Inneren. Es fühlt sich nicht gut an, unerwünscht zu sein.
»Ich dachte, dass nur wir heute dabei wären …«, versucht sich Amara zu rechtfertigen.
Der Mann schnaubt, es klingt beinahe belustigt. Für einen Moment wirkt er sichtlich aufgebracht, doch seine Stimme bleibt die ganze Zeit über ruhig, beinahe sanft. »Du solltest wirklich die Nachrichten bis zum Ende durchlesen, die ich dir schicke.«
»Wyatt«, mischt sich nun Margot ein. Sie tritt zu ihm heran, bevor sie ihm eine Hand beschwichtigend auf den Arm legt. »Amara sollte wirklich etwas an ihren voreiligen Schlüssen arbeiten.« Ein vorwurfsvoller Blick in Amaras Richtung lässt ihren Einwand verstummen. »Doch sie hat es nur gut gemeint. Vielleicht kann Hazel unser Problem lösen, dass wir niemanden finden, der vom Fach ist. Du weißt, dass Brooks nicht alles übernehmen kann.«
Wyatt wirkt überrascht. Zum ersten Mal scheint er mich wirklich wahrzunehmen. »Ist das so?«
»Sie ist Hazel Hughes, natürlich hat sie Erfahrung«, bricht es aus Amara heraus. »Unter welchem Stein hast du die letzten Jahre gelebt? Hazel ist sozusagen die Vorreiterin dessen gewesen, was Nachhaltigkeit in einer Zeit angeht, in der alles neu sein muss. Von ihr habe ich gelernt, was Upcycling bedeutet.«
Von so viel Lob schießt mir die Röte ins Gesicht.
»Ist das der Ursprung für deine Ambitionen, dir ein eigenes Bett aus Paletten zu bauen?«, fragt Wyatt und klingt dabei ziemlich resigniert.
»Äh, vielleicht?«
Ich räuspere mich, bevor das Gespräch eine noch unangenehme Wendung für mich nehmen kann. »Ich kann auch die nötigen Referenzen vorlegen, wenn ihr die braucht.«
Eine Emotion huscht über Wyatts Gesicht. »Hast du Erfahrung mit Jugendarbeit?«
Die Frage trifft mich unvorbereitet. »Nein«, gestehe ich schließlich.
Wyatt nickt nur und wendet sich an Amara. »Darüber reden wir noch«, sagt er ruhig, bevor er sich umdreht.
Die Jugendlichen haben von unserer Diskussion scheinbar nichts mitbekommen, während sie auf der großen Couch sitzen und in eigene Gespräche vertieft sind.
»Miles, nimm die Füße von den Sitzlehnen«, ermahnt Wyatt einen Jungen mit übergroßer Jacke und roten Haaren. Dieser grinst ertappt, bevor er der Anweisung folgt.
»Okay, bevor wir anfangen … Josephine, hast du das Popcorn gerade gefunden, was du da gerade im Begriff bist zu essen?« Wyatt klingt noch resignierter als vorher, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Ein Mädchen mit brauner Haut und Braids, in die hellere Strähnen eingearbeitet sind, hält in der Bewegung inne.
»Für wie eklig hältst du mich?« Josephine hält eine aufgerissene Tüte hoch. »Ich habe mir meine eigenen Snacks mitgebracht. Keiner hat je gesagt, dass das verboten ist.«
»Krass, du lebst echt im Jahr 2300«, ruft Miles erstaunt. Josephine erstrahlt, dann klatschen sie einander ab.
»Wenn ihr bereit seid, können wir über die Planung für die nächsten Wochen sprechen. Im Sommer planen wir, – Chance, pack dein Handy weg –, das Jugendzentrum zu renovieren.« Der Angesprochene lässt es in seiner Jackentasche verschwinden und fährt sich mit einer beiläufigen Bewegung durch das schwarze Haar. Das andere Mädchen neben ihm schnaubt belustigt, hält sich jedoch im Hintergrund. »Dafür hat die Stadt uns ein ziemlich großzügiges Budget zur Verfügung gestellt. Es geht hier natürlich um euch. Was ihr euch vorstellt, was ihr euch wünscht. Wie die Räume aussehen sollen, in denen wir viel Zeit verbringen.«
»Wie schräg darf es denn werden?« Die Frage kommt von Miles.
Für einen Moment wirkt Wyatt, als würde ihn die Frage aus dem Konzept bringen. »Nun, es sollte im besten Fall allen gefallen.«
Nach dem etwas überraschenden Zusammenstoß mit Wyatt halte ich es für das Beste, mich im Hintergrund aufzuhalten und unauffällig umzusehen. Der erste Eindruck von dem Jugendzentrum ist nicht schlecht. Die Basis ist solide, aber es erwartet sie einiges an Arbeit. Vieles ist über die Zeit heruntergekommen. Man sieht an einigen Ecken, dass Zeit und Geld gefehlt hat, um Kleinigkeiten zu reparieren, bis aus den Kleinigkeiten größere Schäden entstanden sind. Es ist relativ dunkel hier drin, das könnte ein Problem sein. Alles wirkt etwas einengend und düster. Mehr Licht wäre gut, vielleicht mit Deckenspots, damit es hell und freundlich wird.
Es ist beeindruckend mitanzusehen, wie gut sich Wyatt, Amara und Margot ergänzen. Es liegt auf der Hand, dass sie sich schon lange kennen und einander wichtig sind. Nachdem die erste Verwirrung überwunden ist, strotzt der Dialog mit den Jugendlichen nur vor Insiderwitzen und Gelächter.
»Okay, fünf Minuten Pause«, sagt er schließlich. »Danach schreiben wir unsere Ideen für die Renovierung auf.«
Amara nickt bekräftigend, dann verschwindet sie durch eine Tür. Wyatt bleibt bei den Jugendlichen stehen und verwickelt sie in ein Gespräch.
Margot kommt direkt auf mich zu, als würde sie ahnen, dass ich nichts mit mir anzufangen weiß.
»Kann ich mich irgendwie nützlich machen?«, frage ich, als sie neben mir stehen bleibt.
»Du musst es nicht. Aber wenn du möchtest, könntest du Stifte aus dem Lager holen«, bietet sie mir an, was ich dankbar annehme. Sie erklärt mir kurz den Weg und während ich den Flur entlanglaufe, höre ich ein Poltern, das von weiter hinten zu kommen scheint. Dem Geräusch nach zu urteilen sind eine Menge Kartons von einem Regal heruntergefallen. Die entsprechende Tür steht offen, durch die ein schmales Lichtband in den Flur fällt.
Ich finde Amara in einem Abstellraum vor. Fluchend kriecht sie über den Boden und sammelt Papierbögen ein.
»Kann ich dir helfen?«
Sie zuckt ein wenig zusammen und sieht mit gerötetem Gesicht hoch.
»Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken«, schiebe ich hinterher und bücke mich, um eine Klopapierrolle aufzuheben, die bis zur Tür gerutscht ist.
»Lieb, dass du fragst, aber ich glaube, ich habe das hier im Griff.« Sie lacht, doch es klingt angestrengt. Etwas an ihr ist anders, auch wenn ich es nicht genau benennen kann. Doch die Leichtigkeit, die sie sonst wie ein anziehendes Parfum umgibt, ist mit einer anderen Emotion durchtränkt. »Ich wollte nur an den obersten Karton gelangen und es sind alle anderen ebenfalls mit runtergekommen. Toll, oder?«
»Hast du dir wehgetan?«
Als Amara den Kopf schüttelt, atme ich erleichtert auf. Trotz ihres Protestes helfe ich ihr, das Chaos zu beseitigen.
»Margot sagte, in dem Raum würden Stifte gelagert werden, damit wir unsere Ideen notieren können«, sage ich schließlich.
Amara tätschelt den Karton in ihrem Arm. »In diesem befindet sich genau, was wir brauchen.«
Nachdem wir in den Aufenthaltsraum zurückgekehrt sind, verteilt Amara Kärtchen, auf denen jeder seine Wünsche notieren soll. Nach einer kurzen Denkpause stellen alle ihre Ideen vor.
»Neue Toiletten. Welche, bei denen das Wasser nicht vom Waschbecken auf den Boden tropft«, sagt Josephine und erntet dafür zustimmendes Gemurmel.
Amara lehnt sich zu mir und flüstert: »Nach dem Händewaschen kannst du jedes Mal den Boden wischen.«
»Immerhin ist nicht das Klo undicht«, erwidere ich trocken, woraufhin sie mir einen Blick aus weit aufgerissenen Augen zuwirft.
»Das wäre ja traumatisch!«, sagt sie und lacht. Dafür erntet sie einen irritierten Blick von Wyatt. Als dieser auch über mich gleitet, zieht sich etwas in meiner Magengegend zusammen.
»Eine Leseecke, am besten eine eigene Bibliothek«, sagt das Mädchen, deren Namen ich noch nicht kenne, und reißt mich aus meinen Gedanken.
»Und ein Ruhezimmer für Hausaufgaben«, ergänzt Miles.
Chance stöhnt. »Ernsthaft, ihr wollt euch mit Schule beschäftigen? In eurer Freizeit?«
Die Diskussion reißt nicht ab, während Amara die Gedankenblasen einsammelt und an einer Pinnwand befestigt.
»Gibt es hier etwas, woran euer Herz hängt?«, frage ich, als eine kurze Pause entsteht. Sofort bin ich mir Wyatts Aufmerksamkeit bewusst. Sein Blick löst ein Prickeln auf meiner Haut aus, als wäre dieser eine physische Berührung, und es kostet mich meine ganze Willensanstrengung, diesen nicht zu erwidern.
»Die Fotos«, sagt Chance sofort und deutet auf den Bilderrahmen neben der Tür, der mir bereits beim Eintreten aufgefallen ist. Die anderen stimmen ihm zu, und nennen weitere Dinge, die ihnen wichtig sind, wie einen Ort, an dem alle zusammensitzen können, und Gesellschaftsspiele.
»Die Dinge sollten erhalten werden, damit es sich später immer noch wie euer Treffpunkt anfühlt. Und eure gemeinsame Geschichte nicht verloren geht.«
»Das war ohnehin geplant«, sagt Wyatt und auch wenn es sich hierbei um eine reine Information handelt, neutral und ohne Wertung, fühlt es sich anders an. »Die erste Phase besteht darin, hier alles raus zu schaffen. Nachdem wir alles eingepackt haben, werden wir hier kernsanieren. Da dürft ihr leider nicht dabei sein. Das –«
»Wieso nicht?«, unterbricht ihn das Mädchen, das sich bisher zurückgehalten hat. »Das ist doch das Beste daran. Sachen kaputtmachen zu dürfen.«
Er seufzt. »Sienna, wieso wusste ich, dass dir das am meisten gefallen wird?«
Sie grinst, es erreicht jedoch ihre Augen nicht. Sie wirkt auf diese Weise älter, als sie vermutlich ist. »Du kennst mich halt.«
Er nickt ihr zu. »Sobald das durch ist, helft ihr bei der Gestaltung.«
»Ein paar Eckpunkte sind für mich noch unklar«, werfe ich schließlich ein. »Wie hoch ist das Budget? Wann muss es fertig sein? Muss das nötige Werkzeug noch gekauft werden oder ist alles vorhanden? Hat jemand bereits einen Bauschuttcontainer bestellt?«
Ein Muskel in Wyatts Kiefer zuckt. Aus irgendeinem Grund habe ich einen Nerv bei ihm getroffen, auch wenn ich mir nicht erklären kann, wieso. »Nicht sehr hoch, vier Monate, letzteres und nein, daran hat noch niemand gedacht«, beantwortet er mir meine Fragen in einem Rutsch.
Ich halte inne. Vier Monate sind ein ambitioniertes Ziel, dabei kenne ich den Zustand der übrigen Räumlichkeiten nicht.
»Seid ihr sicher, dass vier Monate reichen werden?«, hake ich nach.
»Ja, es geht nicht anders.«
Ich verenge meine Augen zu Schlitzen. »Ich glaube, da streiten sich die Geister.«
Bei meinen Worten hellt sich Amaras Gesicht auf. Sie steht hinter Wyatt und applaudiert geräuschlos.
Er schließt resigniert die Augen und reibt sich mit dem Knöchel über die Schläfe, ohne davon etwas mitzubekommen. Dabei fällt mir ein Silberring an seinem kleinen Finger auf. Von meiner Position kann ich aber die Details darauf nicht erkennen. »Das ist bereits entschieden worden und steht nicht zur Debatte.«
Enttäuscht schüttle ich den Kopf. Ist das eine Prinzipiensache? Verletzter Männerstolz? So hätte ich Wyatt zwar nicht eingeschätzt, aber irren kann man sich immer. Mir fällt kein Grund ein, weshalb das Datum nicht an den Fortschritt der Renovierung geknüpft sein sollte. Das macht alles komplizierter, und dieses Projekt würde bereits kompliziert genug werden. Darauf würde ich mein Studio verwetten.
»Welche Rolle wirst du haben?«, fragt Chance interessiert und wendet sich mir zu. Es ist das erste Mal, dass die Jugendlichen mich direkt ansprechen.
»Keine große – ich fliege in zwei Wochen zurück nach Hause, daher kann ich euch nur ein paar Tipps mit auf den Weg geben. Den Rest müsst ihr leider allein schaffen.«
Was ich nicht ausspreche, ist, dass ich nicht weiß, ob ich die Richtige für die Aufgabe bin – die Richtige im Umgang mit ihnen. Ich bin Amara dankbar, dass sie bei dieser wertvollen Aufgabe an mich gedacht hat. Aber ich habe eigene Probleme, die ich angehen sollte, bevor ich in der Lage bin, anderen zu helfen.
»Jedenfalls, ich finde es schön, euch kennenzulernen. Es ist sehr beeindruckend, dass ihr Lust habt, das Jugendzentrum mitzugestalten.«
Chance lächelt, Josephine nickt.
»Das ist ja herzerwärmend.« Der Kommentar stammt von Sienna. Sie hat die Arme verschränkt, ihr Blick ist beinahe feindselig.
Ich spüre, wie das Lächeln auf meinen Lippen verrutscht. Das Mädchen hat so eine krasse Ausstrahlung und ich frage mich, was in ihrem Leben vorgefallen ist, weswegen sie sich so feindselig verhält.
»Sienna«, murmelt Josephine, das Wort klingt beinahe flehend.
Eine Pause entsteht. Wyatt blickt auf die Uhr an seinem Handgelenk und erhebt sich. »Okay, für heute sind wir durch.«
Seine Worte sind wie ein Weckruf. Der Aufenthaltsraum leert sich langsam und ich ertappe mich dabei, wie ich ebenfalls aufstehe. Auch wenn der Gedanke daran, in die Stille des Hauses zurückzukehren, mich abschreckt. Aber hier zu sein, fühlt sich auch nicht richtig an.
Amara und Wyatt unterhalten sich leise, aber eindringlich miteinander. Margot nimmt die Gedankenblasen von der Pinnwand ab und verstaut sie in einer Klarsichtfolie.
Bevor ich mich verabschiede, betrachte ich den Bilderrahmen an der Tür. Auf vielen Polaroids sind die Jugendlichen zu sehen, Chance, Josephine, Sienna, Miles, mal alleine, mal mit anderen. Dazwischen taucht immer mal wieder Margot auf. Ein Bild erwischt mich kalt. Es ist das, worauf Wyatt lacht.
In der linken Wange hat er ein Grübchen.
Als jemand meinen Namen ruft, drehe ich mich ertappt herum.
»Willst du etwa schon gehen?« Amara lächelt. Wyatt nicht. Sein ernster Blick macht mich unruhig. Unruhiger, als ich mir eingestehen möchte. Jedoch bin ich fast erleichtert, dass er nicht lächelt. Denn dieses Grübchen könnte fatal sein.
»Im Gegenteil«, sage ich und deute zur Bilderwand.
Amara nickt. »Ich weiß, dass das heute ziemlich viel war. Besonders mit meinem Überfall. Lass dir das gern durch den Kopf gehen, Hazel. Hier, wenn ich darf, würde ich dir gern meine Nummer geben.«
Sie kommt auf mich zu und ich reiche ihr mein Handy. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich Wyatt abwendet.
»Die Tage treffen wir uns hier wieder. Ich war so frei, mir eine Nachricht zu schicken«, sagt Amara und gibt mir mein Handy zurück. »Selbst wenn es nicht für dich passt, das Projekt, meine ich, fände ich es schön, wenn wir in Kontakt bleiben.«
Dafür würde ich sie am liebsten umarmen. Sie scheint den gleichen Gedanken zu haben, denn sie zieht mich an sich. Sogleich umhüllt mich der Duft von Citrus und Jasmin.
»Das würde mich freuen«, sage ich.