Leseprobe Einmal Mord mit Schokolade

Kapitel 1

„Man kann seinen Freitagabend bestimmt netter verbringen.“

Nachdem sie die Nagellackflasche mit ‚Flaming Desire‘ auf das Armaturenbrett vor ihren Partner gestellt hatte, spreizte Savannah Reid die Finger und betrachtete das Ergebnis ihrer Maniküre im schwachen Licht der gelben Halogen-Straßenbeleuchtung. „Sich in einem alten Buick den Arsch abzufrieren …“, sagte sie gedehnt, „… und darauf zu warten, dass dieser Perverse uns seine Visage zeigt, ist nicht unbedingt das, was ich mir unter einem netten Abend vorstelle.“

Dirk Coulter ließ sich tiefer in seinen Sitz gleiten und stützte seine Ellbogen auf das Steuer. „Also das tut mir jetzt auch weh“, sagte er. „Ich habe mein Bestes getan, um dich während der letzten Stunde zu unterhalten mit meiner sprühenden Konversation, meinem trockenen Mutterwitz, meinem …“

„Ach, hör doch auf, Coulter. Als ich vor fünf Minuten damit begann, mir die Nägel zu lackieren, hast du geschnarcht wie ein Bär mit einer Stirnhöhlenvereiterung.“

„Und ich hätte ein nettes kleines Nickerchen machen können, wenn du nicht mit deiner verdammten Maniküre angefangen hättest. Diese Scheiße stinkt … erinnert mich an Äther … an meine Operation … ich könnte kotzen.“

„Ja, ja, die Geschichte kenn‘ ich schon, Schatz. Die alte Kriegsverletzung, stimmt‘s?“ Sie hielt inne und pustete jeden Nagel einzeln trocken.

Er kurbelte sein Fenster ein Stück herunter und wedelte mit der Hand, um den beißenden Azetongeruch zu vertreiben.

„Wann suchst du dir endlich eine andere Beschäftigung, wenn wir jemanden observieren? Ich sag‘ dir eins, diese Dämpfe bringen mich um.“

„Ich höre damit auf, wenn du das Rauchen aufgibst.“

Er warf ihr einen finsteren Blick zu und schwieg.

Sie fuhr fort, ihre Nägel anzuhauchen. „Ich habe noch nie gehört, dass jemand von ‚Flaming Desire‘-Dämpfen Krebs bekommen hat. Du?“

Er kurbelte das Fenster wieder nach oben und öffnete eine Thermoskanne mit Kaffee. Das Aroma vermischte sich mit dem penetranten Nagellackgeruch und abgestandenem Zigarettenqualm. „Du bist manchmal ein ganz schönes Miststück, Reid.“

Sie gluckste vor sich hin. „Ja, ich weiß. Aber ich habe tolle Fingernägel.“

„Und setzt klare Prioritäten“, murmelte er.

Sie hielt ihre Hände in die Höhe, betrachtete sie und seufzte. „Ich kann den Erfolg meiner Ermittlungen immer am Zustand meiner Nägel ablesen. Wenn es mies läuft, sehen sie perfekt aus … zu lange auf dem Beobachtungsposten.“

„Und wenn es gut läuft?“

„Dann breche ich mir auf einer Tour meist gleich zwei oder drei ab.“

Er warf einen Seitenblick auf ihre ausgestreckten Hände und schnaubte, als er einen Schluck Kaffee trank. „Dann wird‘s, glaube ich, Zeit, dass wir diesen Mistkerl festnageln.“

„Ja, höchste Zeit.“ Sie wandte sich von ihm ab und blickte aus dem Fenster, um ihr befriedigtes Lächeln zu verbergen.

In den letzten fünf Jahren, seit sie mit Dirk zusammenarbeitete, kam diese Äußerung einem Kompliment über ihr Äußeres näher als alles, was er ihr bisher gesagt hatte. Obwohl sie in den letzten paar Jahren etwas an Gewicht zugelegt hatte … okay, es waren dreißig Pfund, zugegeben … und die Vierzig überschritten hatte, sah sie ihrer eigenen Einschätzung nach immer noch recht gut aus.

Aufmerksamkeiten und Schmeicheleien vom anderen Geschlecht waren immer selbstverständlich für sie gewesen.

Aber Dirk war eindeutig nicht der sentimentale Typ.

Außer einem gelegentlichen ‚Klasse Oberweite, Mädel‘ hatte er jedes Lob für sich behalten. Mit Komplimenten war er ebenso geizig wie mit Geld.

Schäbig, sarkastisch, knickrig und zynisch, sogar wenn man es an Cop-Standards maß, aber Savannah mochte ihn trotzdem. Das war keineswegs immer so gewesen, er war ihr ans Herz gewachsen, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sie hatten einige hundert Nächte wie diese zusammen in rauen Gegenden zugebracht, hatten observiert, gewartet, auf das Beste gehofft, versucht, nicht das Schlimmste zu befürchten … so etwas trieb Menschen entweder auseinander oder ließ sie enger zusammenrücken. Gott sei Dank hatten die langen, schlaflosen Nächte, die sie in Dirks altem 62er Buick Skylark verbracht hatten, letzteres bewirkt.

Zum hundertsten Mal in den vergangenen Stunden blickte Savannah zum Wagenfenster hinaus und betrachtete ihre Umgebung. Im Westen konnte sie sehen, dass der südkalifornische Nebel wie jede Nacht von der Küste her die wohlhabenden Küstengebiete von San Carmelita sowie die ebenso exklusiven Hügel hinaufkroch. Schließlich hatte er sich seinen Weg in die östliche Talgegend der Stadt gebahnt.

Dort saßen sie jetzt, hier im weniger wohlhabenden oder exklusiven Teil der Stadt, einer Gegend, die die meisten der zur Oberschicht gehörenden Einwohner von San Carmelita am liebsten vergessen hätten. Und meistens tatsächlich vergaßen.

Vor dem fraglichen Wohnhaus war alles ruhig. Einen Häuserblock weiter sausten ein paar Halbwüchsige in zerlumpten T-Shirts und zerbeulten Shorts mit ihren Skateboards eine Rampe hinauf und hinunter. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite trieb es ein Pärchen in einem alten Ford, der wahrscheinlich aus dem gleichen Jahrgang stammte wie der Skylark; vor einer halben Stunde waren sie hinter der Windschutzscheibe abgetaucht und seitdem nicht einmal zum Luftschnappen wieder an die Oberfläche gekommen.

Ansonsten waren die Straßen und Bürgersteige leer.

Ungewöhnlich leer, dachte Savannah, für einen Freitagabend.

Sie fand das durchaus in Ordnung. Sie hatte eine harte Woche hinter sich und nichts dagegen, städtische Gelder dafür einzustreichen, dass sie einfach nur hier saß, ihre Fingernägel lackierte und ihr Bestes tat, um Dirk zu ärgern.

Dirk trank einen Schluck Kaffee aus seinem Winchell-Donuts-Becher. „Glaubst du, dass er irgendwann auftaucht?“

„Bestimmt.“ Sie nahm die Nagellackflasche und begann, eine zweite Schicht aufzutragen. „Ich weiß nicht, ob er noch heute Abend auftaucht, aber er kommt bestimmt, um seine Alte zu besuchen. Ein Kerl bricht nach sieben Jahren aus dem Knast aus … der ist geiler als ein paarungswilliges Opossum am Samstagabend.“

Dirk schüttelte den Kopf. „Deine Südstaatenmentalität kommt mal wieder durch, Reid.“

„Wie deine Kopfhaut, wenn du nichtjedes einzelne deiner klitzekleinen Härchen richtig darüberlegst, Schätzchen?“ Sie grinste ihn an, was die Grübchen in ihren beiden Mundwinkeln verstärkte. Normalerweise verfehlte dieses Lächeln bei ihm nie seine Wirkung, aber diesmal konnte es die Beleidigung nicht abmildern. Seine immer heftiger werdende Kahlköpfigkeit war ohnehin sein wunder Punkt. Dirks Frau, Polly, hatte ihn gerade wegen eines Jüngeren verlassen … einem Typen mit schulterlangem blonden Haar, der in einer Rockband den Bass spielte.

„‘tschuldigung“, sagte sie. „Das ging unter die Gürtellinie.“

„Ziemlich. Ich werde eine Woche lang den Sopran singen können.“

Plötzlich setzte er sich aufrecht hin und stieß ihr mit dem Ellbogen in die Rippen.

„He, sieh mal!“, rief er und deutete mit dem Kopf auf die andere Straßenseite.

Eine Sekunde lang starrte Savannah auf den langen Strich ‚Flaming Desire‘, der nun ihren Handrücken zierte.

„Danke“, murmelte sie.

Aber als sie das Objekt seiner Aufmerksamkeit erblickte, vergaß sie das Missgeschick. Eine magere blonde Frau rannte den Bürgersteig hinunter auf sie zu. Sie trug ein Trägerhemd und einen kurzen Jeansrock. Obwohl die Nacht recht kühl war, waren ihre Füße nackt. Sie wirkte glücklich, aber auch ängstlich, und bewegte sich mit tänzelnden Bewegungen auf wackligen Beinen vorwärts. Offensichtlich hatte der Drogenkonsum bereits seinen Tribut an ihrem Nervensystem gefordert. Savannah schätzte, dass sie etwa zwanzig war … aber wenn man in Straßenjahren rechnete, ging sie eher auf die Fünfzig zu.

„Das ist sie“, sagte sie. „Die Freundin.“

„Sieht aus, als wäre sie einkaufen gewesen.“

„Bestimmt.“ Savannah holte ein kleines Fernglas aus dem Handschuhfach und fixierte die Taschen, die die junge Frau trug. „Joes Schnapslädchen … sieht aus wie eine Flasche Champagner, ein paar Blumen, und …“ Sie betrachtete die rosafarbene Tüte genauer. „Und etwas aus dem Flittchenladen. Hmm-m-m. Kriegt bestimmt gleich Besuch von ihrer Familie.“

„Glaub‘ ich nicht“, antwortete Dirk trocken. „Aber Besuch bekommt sie garantiert.“

Savannah richtete das Fernglas auf das Gesicht der Frau.

Das Gesicht war knochig, blass und hager, nur ihre Augen waren lebendig. Selbst im fahlen Licht der Straßenlampe konnte Savannah die Aufregung sehen, die sich darin spiegelte.

Als die Frau sich dem Eingang des Gebäudes näherte, starrte sie auf ein Eckfenster im dritten Stock hinauf.

Savannah bemerkte in ihrem Gesicht … gleichzeitig Vorfreude und Besorgnis.

Nacht für Nacht hatte Savannah diesen Ausdruck auf den Gesichtern misshandelter Frauen wahrgenommen … Frauen aus dem wohlhabenden Küstengebiet, den exklusiven Häusern auf dem Hügel und hier aus dem Ostteil der Stadt. Der Ausdruck von Liebe, Furcht, Hass und Abhängigkeit, alles in einem.

„Sie erwartet keinen Besucher“, sagte Savannah leise und senkte das Fernglas.

„Was?“

„Er ist uns irgendwie durchgegangen. Er ist schon da oben. Komm schon; schnappen wir uns den Mistkerl.“

 

„Diese mitleidigen Liberalen in der Stadtverwaltung haben jede Menge Geld hier reingesteckt, und wofür?“ Dirk schnaufte und wurde noch roter im Gesicht, als sie die zweite Treppe erklommen. „Das Haus sieht immer noch wie ein Haufen Scheiße aus, und es riecht auch so.“

Savannah folgte ihm durch die Tür am oberen Treppenabsatz und in einen dunklen, engen Flur. „Er ist besser geworden“, sagte sie und versuchte wie immer, Dirks negativer Einstellung wenigstens teilweise entgegenzuwirken.

Der Mann bestand geradezu aus Pessimismus, und abhängig, wie sie dienstlich von ihm war, konnte Savannah dem Impuls, seine Welt etwas aufzuhellen, nicht widerstehen.

Ob er sie nun heller haben wollte oder nicht. Keiner sollte sich in diesem Maße im Fatalismus suhlen, dachte sie, selbst wenn derjenige es genoss.

„Beverly Winston hat bei der Sanierung gute Arbeit geleistet“, sagte sie, während sie den Flur hinuntergingen, der dank der streitbaren Stadträtin durch funktionstüchtige Glühbirnen erleuchtet war und dessen Wände nahezu grafittyfrei waren. „Die Toiletten und Heizungen funktionieren, und der Hof ist mit Gras statt mit Injektionsspritzen bedeckt. Das nenne ich eine Verbesserung.“

„Du scheinst ja tatsächlich beeindruckt zu sein.“ Dirk sah zunächst auf die Kritzeleien in seinem kleinen schwarzen Notizbuch und deutete dann auf die Tür, auf der die Nummer 347 stand.

„Soll ich es wie üblich machen?“, fragte Savannah mit angespanntem Lächeln. Der Flüchtige in der Wohnung gehörte eindeutig zur üblen Sorte. Er hatte eine zehnjährige Haftstrafe abgesessen, weil er ein zwölfjähriges Mädchen auf brutale Weise vergewaltigt hatte. In der Krankenstation des Gefängnisses hatte er den Arzt angegriffen und war entwischt. Er war bestimmt nicht begeistert darüber, wieder aufgegriffen zu werden.

Dirk nickte. „Dann los … Betty.“

„Der Kerl heißt Jim, stimmt‘s?“

Er warf einen weiteren Blick in sein Notizbuch. „Ja, James Robert Barnett.“

Savannah zog ihre Beretta aus dem Schulterhalfter unter ihrem Tweedblazer hervor und hielt sie vor sich, während Dirk seine Smith and Wesson zog und sich an der anderen Seite der Tür postierte.

Mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, beugte sie sich nach vorn und klopfte an die Tür. „He, Marco! Ich bin‘s, Betty. Mach‘ sofort auf, du Scheißkerl!“, lallte sie.

Drinnen blieb alles still.

Sie klopfte erneut. „Verdammt, ich weiß, dass du da bist, und ich muss mit dir über die Abtreibung reden. Es ist dein Kind. Du könntest wenigstens dafür blechen, du Arschloch!“

Eine Tür am anderen Ende des Flurs öffnete sich einen Spaltbreit, aber in Nummer 347 blieb alles still.

Savannah trat ein paar Mal gegen die Tür. „Wenn du nicht augenblicklich rauskommst, geh‘ ich zu deiner Alten und sag‘ ihr, wie das mit uns beiden wirklich war. Ich schwör‘ dir, das nehm‘ ich nicht so einfach hin! Mach auf!“

Sie hörten, wie sich leise Schritte der Tür näherten, und beide hoben ihre Waffen und richteten sie auf die Decke.

„Hier gibt es keinen Marco“, sagte eine weibliche Stimme.

„Hau ab, bevor ich die Bullen rufe.“

Savannah grinste Dirk zu und hob die Augenbraue. „Der war gut“, flüsterte sie. Dann schrie sie: „Du hast sogar eine Frau bei dir, Marco? Wer ist sie? Ich schlage die Tür ein und poliere ihr die Fresse, das schwör‘ ich!“

Sie klopfte erneut an die Tür, bis das Geräusch im gesamten Flur widerhallte. Ein paar Türen öffneten sich. Jeder Bewohner des dritten Stocks schien von der ‚Sache mit Betty und Marco‘ fasziniert zu sein.

Schließlich öffnete sich die Tür einen Spaltbreit. „Pass auf, du Schlampe“, sagte eine weibliche Stimme. „Ich hab‘ dir gesagt, in dieser Wohnung gibt‘s keinen Marco. Und wenn du weißt, was gut für dich ist, dann machst du jetzt die Biege … und zwar sofort!“

Savannah stellte sich vor die Tür und zeigte der Frau ihre Waffe und ihre Dienstmarke. „Kein Wort“, flüsterte sie und öffnete die Tür ein Stück weiter. „Hände hoch.“

Die junge Frau war einen Moment lang wie gelähmt, dann blitzte Verständnis in ihren Augen auf. „Nein“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Bitte … nicht.“

„Schhh … Wir wollen Jim, nicht Sie.“ Savannah bedeutete ihr, herauszukommen. „Kommen Sie in den Flur, schnell!“

Die Blondine zögerte einen Moment. Dann verwandelte sich ihre Furcht in Erleichterung. Schnell schlüpfte sie durch die Tür und trat mit erhobenen Händen auf den Flur hinaus.

Mit einem Blick sah Savannah, dass es nicht notwendig war, sie zu filzen. Die Frau trug bereits das Kostüm aus dem Nuttenladen … ein Hemdchen im Leopardenlook, Nylonstrümpfe und Strapse. Der durchsichtige Stoff verbarg noch nicht einmal ihre edelsten Teile, geschweige denn eine Waffe.

„Wer außer Jim ist sonst noch da drin?“, fragte Dirk sie und wandte die Augen ab, als er sie ein Stück von der Tür weg und in den Flur zog.

„Meine Tochter“, sagte sie, und ihre Zähne schlugen aufeinander.

„Sie liegt auf der Couch. Jim ist im Schlafzimmer.“

„Ist er bewaffnet?“, fragte Savannah.

Sie nickte. „Ja. Er hat eine Maschinenpistole.“

Eine Maschinenpistole. Savannah zuckte zusammen; sie hasste Maschinenpistolen. Eine normale Pistole, selbst ein Gewehr, hinterließen ein nettes kleines Loch und unter Umständen einen hübschen und ordentlichen Leichnam.

Aber sie würde sich nie daran gewöhnen können, was eine Maschinenpistole einem Menschen antun konnte. Im Laufe ihrer Karriere hatte sie ein halbes Dutzend Opfer von Maschinengewehrsalven gesehen, und jedes einzelne hatte sie nur daran erinnert, wie viel Flüssigkeit in einem menschlichen Körper war … bis die Kugeln einer solchen Waffe sie in einem Zimmer oder im Inneren eines Fahrzeuges verteilten.

Wie jeder andere Cop hatte sich Savannah mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass sie in Ausübung ihrer Pflicht getötet werden konnte. Und egal was passierte, ihre Mama und ihre Geschwister würden auf einem offenen Sarg bestehen. Das war im Süden einfach so üblich. Wenn sie schon erschossen werden musste, betete sie darum, dass es nicht mit einem solchen Kaliber geschah.

„Sie bleiben hier draußen“, sagte Savannah. Die gegenüberliegende Tür öffnete sich, und eine ältere Dame lugte hinaus. „Wir werden Ihnen Ihre Tochter hinausschicken“, fuhr sie fort, „und dann will ich, dass sie beide sich in diese Wohnung dort begeben und dort warten, bis alles vorbei ist. Kapiert?“

Die Blondine nickte, ihre Nachbarin ebenfalls.

„Wenn Sie auch nur einen Laut von sich geben oder irgendwelche Tricks versuchen, dann könnte das Ihr Tod oder der Ihrer Tochter sein. Verstanden?“ sagte Dirk und schob sein Gesicht ganz dicht vor das ihre.

„Aber wenn alles glatt läuft, dann lassen wir Sie laufen“, fügte Savannah hinzu.

Tränen der Erleichterung schössen der Frau in die Augen, und Savannah sah, wie die Jahre auf der Straße von ihr abzufallen schienen. Vielleicht bestand ja noch Hoffnung für sie.

Savannah wandte sich Dirk zu und deutete mit dem Kopf auf die Tür. „Fertig?“

„Fertig.“ Er nahm seine Stellung neben der Tür wieder ein.

Savannah tat es ihm gleich, dann stieß sie vorsichtig die Tür auf. Gott sei Dank quietschte sie nicht. Aus ihrer Position konnte sie die eine Hälfte des kleinen Zimmers überblicken; sie wusste, dass Dirk die andere Hälfte sah.

„Das Kind?“ Sie formte die Worte mit den Lippen.

Er nickte. „Klar“, flüsterte er.

Mit gezogener Waffe betrat sie die Wohnung als erste, wobei sie die beiden Türen am Ende des Zimmers im Auge behielt. Sie war mit dem Schnitt der Wohnungen vertraut, sie wusste, dass die rechte Tür ins Schlafzimmer führte und dass sich hinter der anderen eine Besenkammer befand.

In den Augenwinkeln sah sie das Mädchen, das etwa vier oder fünf Jahre alt war und auf einem zerrissenen Sofa zu Savannahs Linken zusammengekauert saß. Es trug einen verwaschenen rosa Pyjama mit Motiven aus Die Schöne und das Biest, und sein schmutziges, kleines Gesicht blickte ängstlich drein.

Situationen wie diese, bei denen Kinder beteiligt waren, hasste Savannah wie die Pest. Sie fand es abscheulich, diese Kinder vor Angst fast um den Verstand bringen zu müssen, weil sie in ihr Zuhause eindrang, ihre Eltern festnahm und ihnen demonstrierte, dass alles, was sie über Cops gelernt hatten, sogar noch untertrieben war. Es war ihr egal, wenn die Verbrecher sie für den Schurken hielten; sollten sie doch von ihr denken, was sie wollten … oder womit sie sich am wohlsten fühlten. Aber sie hasste es, einem Kind gegenüber als der Bösewicht aufzutreten.

„Komm her, Süße“, flüsterte sie, verbarg ihre Waffe hinter ihrem Oberschenkel und streckte dem Kind die Hand entgegen. „Alles in Ordnung. Geh einfach nur nach draußen zu deiner Mami.“

Mit wachsamem Blick und einem verhaltenen Misstrauen, das man eher bei einer Erwachsenen vermutet hätte, betrachtete das Kind Savannah.

„Los jetzt“, sagte Savannah befehlend. „Schnell!“

Wie erwartet reagierte das Mädchen schneller auf strenge Worte als auf liebevolle. Sie sprang vom Sofa herunter und rannte zur Tür hinaus.

Savannah wartete, bis sie hörte, wie sich die Tür am anderen Ende des Flurs schloss. Mutter und Kind waren zunächst einmal sicher; zwei, um die man sich momentan keine Sorgen zu machen brauchte.

Unter der Schlafzimmertür konnte sie einen schmalen Lichtstreifen erkennen. Gut … wenn die schweren Jungs blöd waren, machte das ihren Job nur leichter. Sie machte die Lampe im Zimmer aus. Im schwachen Treppenhauslicht, das durch die halb geöffnete Eingangstür fiel, beobachtete sie, wie Dirk mit gezogener Waffe neben der Schlafzimmertür in Stellung ging.

Sie hatte keinen Zweifel daran, dass der gute alte Jim Bob … Kindervergewaltiger und entflohener Häftling … mit schussbereiter Waffe hinter dieser Tür saß.

Weder sie noch Dirk hatten Lust, Selbstmord zu begehen, indem sie in das Zimmer hineinplatzten. Und es bedurfte auch nicht ihrer jahrelangen Erfahrung, um zu wissen, dass Jim wohl kaum in absehbarer Zeit herauskommen würde, um frische Luft zu schnappen.

Das bedeutete, es war mal wieder Showtime.

Sie bewegte sich von der Tür weg, ließ sich auf einem Knie nieder und stützte den Ellbogen auf das andere. Sie hielt ihre Beretta in der rechten Hand, stützte den Kolben der Waffe mit der linken Handfläche ab und visierte ihr Ziel an.

Sie warf Dirk einen Blick zu. Fertig?

Er nickte. Fertig.

„Marco!“ kreischte sie. „Ich hab mich um deine kleine Schlampe gekümmert! Jetzt komm gefälligst raus und zeig dich mir wie ein Mann!“

Es war nicht schwer, angespannt und aufgeregt zu klingen.

Die Stimme, die in ihren Ohren klang, hörte sich verrückt genug an, um sogar sie selbst zu überzeugen. Sie machte diesen Job eindeutig schon zu lange.

„Komm raus, du Scheißkerl, oder ich ruf die Bullen, weil du mich neulich vermöbelt hast. Und ich hab immer noch ‘ne geschwollene Lippe, mit der ich das beweisen kann.“

Sie wartete weitere fünf Sekunden. Nichts.

Sie sah sich um und entdeckte erleichtert ein Telefon, das auf dem Boden neben dem Sofa stand. Es war eingestöpselt … ein gutes Zeichen.

„Okay, das war‘s“, sagte sie. „Ich ruf sie jetzt an. Erst vögelst du mich, machst mir ein Kind und gibst mir nicht, was mir zusteht. Und dann ziehst du mit dieser mageren blonden Schlampe zusammen. Ich werde …“

Die Tür öffnete sich nur einen Spaltbreit. Ein langer vertikaler Lichtstreifen strömte herein, sonst war nichts zu sehen.

Savannah konnte Dirks Anspannung fühlen. Sie konnte den Kerl auf der anderen Seite der Tür spüren. Sie konnte ihn atmen hören. Schwer atmen. Ihre eigenen Finger spannten sich um den Abzug.

„Wer zum Teufel ist da?“, fragte er, seine Stimme klang angespannt und heiser.

„Betty“, bellte sie. „Tu doch nicht so, als wüsstest du nicht, dass ich es bin.“

„Pass auf, Betty, du verschwindest jetzt besser, sonst puste ich dir deinen verdammten Kopf weg“, sagte er. Der Lauf einer Maschinenpistole schob sich durch den Türspalt.

Einen Sekundenbruchteil später trat Dirk krachend gegen die Tür, und sie flog auf.

Ein Schmerzensschrei, gefolgt von einem leisen Stöhnen, signalisierte, dass sein Timing perfekt gewesen war. Er hatte den Kontakt hergestellt, ganz nah und sehr persönlich.

Jim Bob lag auf dem Rücken, die Maschinenpistole neben sich auf dem Boden, helles rotes Blut strömte aus einer Platzwunde auf seiner Stirn.

Savannah rannte in das Schlafzimmer, schleuderte die Maschinenpistole mit dem Fuß aus seiner Reichweite und stellte sich neben ihn. Mit der Beretta zielte sie auf seinen Kopf und grinste ihn an.

Dirk folgte ihr mit gezückten Handschellen, rollte ihn auf den Bauch und legte sie ihm an. Als Dirk ihn auf die Füße gezogen hatte, starrte der Kerl Savannah durch seine blutigen, verfilzten Haare, die ihm ins Gesicht hingen, an.

„Bist du Betty?“, fragte er, offensichtlich völlig desorientiert und mehr als nur etwas verwirrt.

Sie kicherte und schüttelte den Kopf. „Jim Bob, du bist ein richtiger Schnellmerker, stimmt‘s, Herzblatt?“

 

Als sie einige Stunden später die Wache verließen und James Robert Barnett sicher dem Gewahrsam des Staates Kalifornien überantwortet hatten, musste Savannah kichern, als sie sich an James‘ Gesichtsausdruck erinnerte. „Bilde ich mir das nur ein“, sagte sie, „oder sind die Kriminellen heutzutage dümmer als früher?“

Dirk legte seinen Arm um ihre Schultern, und sie gingen über den Parkplatz zu dem Buick. Die Sonne zeigte sich bereits über dem Dach der Wache, das mit spanischen Ziegeln gedeckt war. Der Geruch nach Pfannkuchen und Speck aus einem nahegelegenen Coffee-Shop durchzog die Luft.

„Ja, das bildest du dir ein. Sie waren immer schon dumm.

Wir beide werden einfach nur besser.“

Kapitel 2

Nachdem sie sich mit einem Frühstück aus Käsehörnchen mit frischem Erdbeerkompott und einem Klecks saurer Sahne gestärkt hatten, winkte Savannah Dirk und dem Buick hinterher und schleppte ihren müden Körper den Bürgersteig zu ihrem Haus hinauf. In dieser Gegend hatte sie keinen Ausblick auf die berühmten korallen- und türkisfarbenen Sonnenuntergänge über dem Pazifik. Wenn sie einen Spaziergang am Strand machen wollte, musste sie sich in ihr Auto setzen und fünf oder sechs Meilen fahren in der Hoffnung, einen Parkplatz zu ergattern, wenn sie am Ziel war.

Ihre Finanzlage stufte sie irgendwo zwischen den ‚Wohlhabenden‘ auf dem Hügel und den ‚Habenichtsen‘ im Ostteil der Stadt ein. Sie nahm an, dass sie hier in der Innenstadt als ‚Etwas-aber-niemals-genug-Habende‘ eingeschätzt wurde.

Aber sie liebte ihr Haus. Das malerische Gebäude im spanischen Landhausstil lag abseits der verkehrsreichen Straße. Im Garten spendete ein riesiger Magnolienbaum Schatten – ihr Stolz und ihre Freude. Der Baum spendete einem Mädchen aus Georgia, das weit von zu Hause entfernt war, etwas Südstaaten-Trost.

Die weißen, mit Stuck verzierten Wände leuchteten im Sonnenlicht des frühen Morgens und lieferten einen hervorragenden Hintergrund für die strahlend-roten Bougainvilleen, die die Vorderseite des Hauses überwucherten.

Die Bougainvilleen waren das kleine Gitter hinaufgeklettert, das sie vor einigen Jahren dort angebracht hatte, waren bis zum Dach hinaufgewuchert und schlängelten sich anmutig über der Tür entlang. Zuerst hatte sie mit den Kletterpflanzen gerungen, hatte sie alle paar Monate zurückgeschnitten.

Aber schließlich hatte sie beschlossen, dass es erheblich leichter war, vorzugeben, sie zu mögen. Und bald darauf musste sie noch nicht einmal mehr so tun als ob.

„Hi, Bogey“, begrüßte sie die Bougainvillea, als sie den Kopf einzog, um durch den farbenprächtigen Türrahmen zu treten und die Tür aufzuschließen. „Wie kannst du es wagen, so prächtig und munter aussehen, wenn ich seit sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen habe! Dreh es ein bisschen runter, ja?“

Als sie die Tür öffnete und das Haus betrat, sprangen zwei riesige schwarze Katzen auf sie zu. Die Tiere waren geschmeidig und glänzend, ihr Fell schimmerte wie poliertes Ebenholz, und beide trugen schwarze Lederhalsbänder, die mit Bergkristallen verziert waren. Sie betrachteten Savannah aus nachdenklichen blaugrünen Augen. Sie beugte sich nieder, um die Post vom Boden aufzusammeln und kraulte zuerst die eine und dann die andere hinter den Ohren. „Guten Morgen, Diamante, hallo, Cleopatra.“

Sie antworteten mit begeistertem Miauen und begannen, sich an ihren Beinen zu reiben.

„Freut ihr euch, mich zu sehen, oder habt ihr kein Futter mehr?“, fragte sie, als sie durch das Haus in die Küche ging. Dort standen zwei leere Fressnäpfe neben dem Ofen.

„Schätze, das beantwortet meine Frage.“ Sie füllte beide Näpfe mit Trockenfutter, nahm dann voller Schuldgefühle eine Dose mit Thunfisch aus dem Schrank und gab ihnen eine reichliche Portion.

Als sie sich eine Tasse heißen Kakao, verfeinert mit etwas Bailey‘s und gekrönt mit Schlagsahne und Schokoladenraspeln, zubereitete, konnte sie spüren, wie die vergangenen Stunden sie einholten. Ihre Muskeln wurden langsam hart wie Zement an einem heißen, trockenen Tag. Ihre Glieder wurden schwer.

Wenn sie nicht bald ein heißes Bad nähme, würde sie ebenso steif sein wie Oma Reid in Georgia. Aber ihre Oma hatte eine gute Entschuldigung. Sie war zweiundachtzig.

Savannah war weniger als halb so alt.

„Vielleicht sind nicht die Jahre, sondern das, was man hinter sich hat, daran schuld“, murmelte sie, als sie zum Badezimmer schlenderte.

Allein schon beim Anblick dieses hübschen Zimmers mit seiner altmodischen, mit Rosen bedruckten Tapete, den spitzenbesetzten Handtüchern und den rosafarbenen Geranien, die auf dem Fensterbrett blühten, fühlte sie sich besser.

Die hohe viktorianische Badewanne mit den Tierpfoten winkte sie zu sich heran … als ob es notwendig gewesen wäre, sie zu verführen. Auf dem Toilettentisch wartete ein weißer Weidenkorb, der mit parfümierten Seifen, Ölen, Gels und Feuchtigkeitscremes gefüllt war. Hinter der Tür hing ihr Lieblingskleidungsstück, ihr dicker, kuschliger Plüschbademantel.

Ahhh, sie konnte es kaum erwarten.

Sie ließ die Jalousien herunter, schloss das harte, weiße Sonnenlicht aus und ersetzte es durch den goldenen Schein einiger rosafarbener Votivkerzen.

Feierlich goss sie eine große Portion Badegel mit Gardenienduft in die Wanne und drehte das Wasser auf.

Aber als sie nach ihrer Tasse Kakao Ausschau hielt, bemerkte sie, dass sie sie in der Küche stehengelassen hatte.

Oh, nun gut… nur noch einmal ein kurzer Ausflug in die Wirklichkeit, bis sie sich in ihren Träumen verlieren konnte.

Als sie in die Küche kam, klingelte das Telefon und riss sie aus ihrer Tagträumerei.

„Lass‘ mich in Ruhe“, sagte sie zu ihm. Sie sah auf die Uhr, die über dem Ofen hing – Viertel vor sechs. „Wer immer du bist, geh ins Bett zurück und lass mich zufrieden.“

Der Anrufbeantworter nahm das Gespräch entgegen, und Savannah hörte, wie ihr Spruch abgespult wurde. Sie zuckte zusammen, als sie die schnarrend-nasale Stimme ihres Captains hörte.

„Reid, hier spricht Bloss. Ich weiß, dass Sie da sind. Nehmen Sie den Hörer ab.“

Sie schnitt dem Anrufbeantworter eine Grimasse und machte eine leicht obszöne Geste. Sie erlaubte sich grundsätzlich nur, ihre Gedanken lautlos zu artikulieren. Sie hatte die irrationale Vorstellung, dass die Person am anderen Ende der Leitung sie aufgrund irgendeiner seltsamen Laune der Technik vielleicht doch einmal hören könnte, wenn sie sprach.

Captain Bloss war nicht nur seit drei Wochen ihr Vorgesetzter, es war ihr auch bereits mindestens ein halbes Dutzend Male gelungen, ihm gründlich die Laune zu verderben.

„Nehmen Sie ab, Reid. Ich hab gerade mit Coulter gesprochen, und er sagte, dass er sie vor zehn Minuten zu Hause abgesetzt hat.“

Verdammt, Dirk, dachte sie und griff nach dem Hörer. Mich einfach verraten, warum tust du das?

„Ja… hallo Captain“, sagte sie und keuchte in den Hörer.

„Ich komme gerade von einem Dauerlauf wieder. Was für ein Glück, dass ich den Anrufbeantworter hörte.“

„Ja. Stimmt.“

Er zog ausgiebig die Nase hoch, was sie erschauern ließ.

Vielleicht sollte sie ihm eine Megapackung Papiertaschentücher zu Weihnachten schenken, … wenn er sie bis dahin nicht gefeuert hatte.

„Ein Mord in der Innenstadt… in einem der Läden auf der Hauptstraße. Der Hausmeister hat mich vor einer Viertelstunde angerufen. Wir haben ein paar Streifenbeamte hingeschickt.

Ich will, dass Sie sich darum kümmern“, sagte er.

„Jetzt?“, fragte sie und fühlte sich plötzlich erheblich müder und älter als Oma Reid.

„Nein, Detective Reid“, sagte er in beißendem Ton, „wann immer es Ihnen passt. Sie wissen ja … nach Ihrer Gesichtsmaske und Massage und vor Ihrer Tennisstunde.“

Sie biss sich auf die Unterlippe und schluckte ihren Zorn hinunter. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich ‚in Harnisch bringen‘ zu lassen, wie ihre Großmutter sagen würde.

„Wo liegt das Geschäft?“, fragte sie und griff nach Notizblock und Stift neben dem Telefon.

Er gab ihr die Adresse. Sie lag im renovierten, historischen Teil der Stadt, in der Nähe der alten Mission. Vor zehn Jahren war dieses Gebiet kurz davor gewesen, zum Slum zu verkommen. Jetzt standen dort wertvolle Immobilien, großkotzige und exklusive Boutiquen, Cappuccinobars, Bademodengeschäfte und Juweliere, die handgefertigte afrikanische Perlenketten verkauften.

„Haben Sie Dirk bereits informiert?“, fragte sie.

Am anderen Ende der Leitung entstand eine kleine Pause. „Nicht über diesen speziellen Fall“, antwortete er.

„Ich will, dass Sie sich darum kümmern. Ich habe Dirk mit etwas anderem beauftragt.“

Savannah war verblüfft. Sie und Dirk arbeiteten fast immer zusammen, besonders wenn es um die Aufklärung von Mordfällen und Gewaltverbrechen ging. Nicht dass sie die Gelegenheit, einen Auftrag zur Abwechslung mal allein zu erledigen, nicht willkommen hieß, aber sie fragte sich unwillkürlich, wieso.

Eine innere Stimme befahl ihr, keine Fragen zu stellen.

„Ich bin in zehn Minuten da“, sagte sie. Aber Bloss hatte bereits aufgelegt.

Sie rannte die Treppen hinauf ins Badezimmer. Sie drehte die Hähne zu und starrte bedauernd auf den Berg Seifenschaum, der im goldenen Kerzenlicht glitzerte.

„Nun gut“, sagte sie, als sie die Votivkerzen ausblies, deren Rauch den Raum mit Nelkenduft füllte. So viel zu ein paar Augenblicken im Traumland. Zurück auf den Boden der Tatsachen – es war nicht zu ändern.

 

Als Savannah an der betreffenden Adresse eintraf, fragte sie sich, warum Bloss ihr ein kleines Detail verschwiegen hatte: Der Mord war in der exklusivsten Boutique der Stadt verübt worden. Sie gehörte Jonathan Winston, dem Ehemann der Stadträtin Beverly Winston.

Die Vertreter der Medien waren offensichtlich nicht gerade dabei gewesen, sich ein Schaumbad einlaufen zu lassen, als sie informiert worden waren. Sie hatten sie überrundet und bereits die Beleuchtung und die Kameras aufgestellt … und Action.

Savannah erkannte einige der Reporter der ortsansässigen Fernsehstationen, der beiden Zeitungen und sogar die Mannschaft eines Radiosenders.

Sie war erleichtert, als sie ihre Lieblingspolizisten an der mit gelbem Klebeband versiegelten Eingangstür Wache stehen sah. Das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte, war ein Tatort, an dem Spuren verwischt worden waren.

„Detective Reid!“, rief Rosemary Hülse, eine Reporterin des San Carmelita Star. Sie rannte zu Savannah hinüber und zauberte einen kleinen Kassettenrecorder hervor. Ist das Ihr Fall?“

„Ja, Rosemary. Scheint so.“ Savannah eilte unbeirrt weiter, wohl wissend, dass es ein Fehler gewesen wäre, den Schritt zu verlangsamen. In der Vergangenheit hatte sie gezögert und war dann von Reportern umzingelt worden.

„Wissen Sie schon, wer ihn getötet hat? Haben Sie bereits irgendwelche Verdächtigen?“, drängte Rosemary.

Ein oder zwei Sekunden lang erwog Savannah, ehrlich zu sein und zuzugeben, dass sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht einmal wusste, bei wem es sich um ‚ihn‘ handelte; dann entschied sie sich dagegen. Es würde noch viele Gelegenheiten im Verlauf der Ermittlungen geben, bei denen sie sich als inkompetent erweisen konnte; sie musste nicht jetzt schon damit anfangen.

„Im Augenblick kein Kommentar, Rosemary“, sagte sie.

„Ich bin sicher, dass wir später eine Stellungnahme abgeben werden, wenn ihr Leute hier lange genug herumhängt.“

Sie erreichte die Tür und die Streifenbeamten, die bei ihrem Anblick erleichtert schienen. Jake McMurtry und Mike Farnon waren schon seit ihrer Kinderzeit Freunde gewesen und gingen jetzt zusammen auf Streife. Beide waren recht neu bei der Polizei, und aufgrund ihrer kreidebleichen Gesichter schloss Savannah, dass dies ihr erster Mordfall war.

„Hi, Jake, Mike“, sagte sie. „Ist das Opfer da drin?“

Jake nickte. „Im Büro hinter dem Laden. Er sitzt am Schreibtisch.“

Savannah stieg über das Band, und die beiden Männer folgten ihr in das Gebäude, nachdem sie die Tür gewissenhaft hinter sich geschlossen hatten. Die Zuschauer starrten weiter durch die dunkel getönten deckenhohen Fenster.

„Wer ist es?“, fragte sie nun, da sie außer Hörweite waren.

Jake warf Mike einen kurzen Blick zu, den Savannah bestenfalls als verhängnisvoll einschätzte.

„Ah … wir sind nicht sicher“, sagte er. „Ist… hm … schwer zu sagen.“

Ihr Pessimismus wuchs. „Weil Ihr mit Jonathan Winston und seinem Personal nicht so vertraut seid oder weil es … eine unangenehme Sache ist.“

„Unangenehm“, sagte Mike ohne Zögern. „Sehr unangenehm.“

„Oh, du meine Güte.“ Sie konnte fast schon spüren, wie die Käsehörnchen in ihrem Magen Polka tanzten.

„Der Hausmeister hat ihn vor einer Stunde gefunden“, sagte Mike und deutete mit einer großen, fleischigen Hand in den Flur, der vom Ladenlokal wegführte. „Er hat es um halb sechs gemeldet. Wir waren gerade hier auf der Straße, also kamen wir her, um nachzusehen.“

„Wo ist der Hausmeister jetzt?“

„Er sitzt im Streifenwagen“, sagte Jake. „Er bat uns, das Haus verlassen zu dürfen. Es verfolgt ihn.“

„Okay, ich werde später mit ihm reden.“ Sie betrachtete den eleganten Eingangsbereich aus rosa Marmor mit bronzenen Spiegeln und Messingbeschlägen, die überall wie Gold glänzten. „War außer euch beiden und dem Hausmeister noch jemand da drin?“

„Nein. Wir haben dafür gesorgt, dass keiner etwas anrührt“, antwortete Jake stolz.

„Gute Arbeit“, sagte Savannah. „Ich werde das in meinem Bericht erwähnen.“ Sie blieb inmitten des Ladenlokals stehen und betrachtete jedes Detail. Ein antiker Schrank bedeckte beinahe die ganze Wand. Er war mit erlesenen Kleidern gefüllt, Kleider, wie Savannah sie noch nie gesehen, geschweige denn getragen hatte. Ein elegantes Wandgemälde zierte die gegenüberliegende Wand – ein feingeschwungenes J. W. – das Wahrzeichen eines außerordentlich erfolgreichen Designers.

Das Zimmer machte einen geradezu jungfräulichen Eindruck, ganz sicher war es nicht Schauplatz einer Gewalttat gewesen. Die Blumenarrangements waren unberührt, ebenso die Fotoalben auf dem niedrigen Cocktailtisch vor dem weißen Ledersofa. Der blaugrüne Teppich wies keinerlei Fußspuren auf, abgesehen von einigen wenigen, die durch die Mitte des Raumes führten.

„Seid ihr Jungs hier vorher schon mal durchgegangen?“, fragte sie.

„Ja … um zur Vordertür zu gelangen“, gab Mike zu.

„Ist schon gut, ich habe nur gefragt.“ Savannah blickte auf ihre Füße hinunter. Verdammt, sie trugen Schuhe mit Profilsohlen.

„Zeigt mir Eure Schuhsohlen“, sagte sie und kauerte nieder.

Sie blickten einander verwirrt an. „Was?“, fragte Jake.

„Haltet Eure Füße hoch. Ich will Eure Schuhsohlen sehen.“ Sie grinste. „Am besten immer nur einen Fuß auf einmal.“

Sie taten, was sie wollte. Außer einem Kaugummi und etwas Straßenschmutz war nichts zu sehen.

„Ich weiß, dass Ihr Jungs auf Streife griffiges Schuhwerk braucht“, sagte sie, „aber wenn Ihr einen mit Teppich ausgelegten Tatort betretet, ist es besser, wenn Ihr glatte Ledersohlen tragt. Eure Profilsohlen können jegliche Spur aufnehmen und sie zur Tür hinaustragen. Ich kenne einen Typen, der das einzige Beweisstück am ganzen Tatort unter den Sohlen fortgetragen hat. Er fand es dann später in der Nacht, aber da war es schon gehörig durch die Mangel gedreht.“

„Hmm-hmm … tut mir leid, Detective“, murmelte Mike verlegen.

„He, kein Problem. Jetzt wisst Ihr Bescheid. Schaut einfach nur unter Eure Schuhe, wenn Ihr geht.“

Sie sah sich nochmals schnell im ganzen Raum um und versuchte, so viele Details wie möglich aufzunehmen, dann ging sie den Flur entlang zum hinteren Teil des Gebäudes.

„Da hinten hinein?“, fragte sie.

„Ja, und dann links“, antwortete Jake.

Sie bemerkte, dass sie ihr keineswegs auf den Fersen blieben, als sie sich dem fraglichen Raum näherte. Sie konnte ihnen keinen Vorwurf daraus machen: Es war nicht leicht beim ersten Mal. Zum Teufel, es war auch beim hundertsten Mal nicht leicht. Sie hatte niemals begreifen können, was Menschen einander antun konnten. Mehr als einmal wollte sie die Zugehörigkeit zu ihrer Spezies aufkündigen, nachdem sie die Desaster gesehen hatte, derer menschliche Wesen fähig waren.

Noch bevor sie die Tür zu besagtem Zimmer erreicht hatten, konnte Savannah ihn riechen – den eindeutigen, unvergesslichen Gestank des Todes. Der kupferartige Geruch des Blutes, der sich mit dem Gestank nach Fäkalien und Urin vermischte. Und natürlich das, was man nicht durch den Geruchssinn, sondern auf einem erheblich primitiveren Niveau, durch den Instinkt, wahrnahm: nackte Angst, die in der Luft hängt. Sie dringt unter die Haut und in den Blutkreislauf und in das Nervensystem, bis man sie als bitteren Geschmack im Mund wahrnimmt. Ein Abklatsch dessen, was das Opfer in seinen letzten Momenten empfunden hat.

Die Tür des Büros stand weit offen. Ein Staubsauger lag quer über der Schwelle.

„Der Hausmeister sagte, dass er die Tür öffnete, den Leichnam sah und seinen Staubsauger fallen ließ“, erklärte Mike.

„Das überrascht mich nicht“, sagte Savannah leise, als sie über den Staubsauger stieg und das Büro betrat.

Das Opfer lag auf dem Rücken hinter dem schwarz lackierten Schreibtisch mit Messingbeschlägen. Ein Blick genügte Savannah, um die Todesursache festzustellen: mindestens drei Salven aus einem Maschinengewehr.

Das Schlimmste, das sie bis dahin gesehen hatte, war eine Salve pro Leichnam bei einem Doppelmord gewesen.

„Sie wollten ihre Sache besonders gut machen“, sagte Mike, der im Türrahmen stehengeblieben war.

Savannah antwortete nicht. Sie kniete in einiger Entfernung vor dem Leichnam nieder und schaltete geistig auf Autopilot um. Gefühle wurden ausgeschaltet – bis später.

Der Verstand arbeitete auf Hochtouren.

Wenn sie diesen Leichnam als menschliches Wesen betrachtete, würde sie nicht in der Lage sein zu funktionieren.

Zorn würde vernünftige Schlussfolgerungen unmöglich machen.

Den Menschen gab es nicht mehr. Das Einzige, was sie jetzt noch für ihn tun konnte, war, seinen Mörder der Gerechtigkeit zuzuführen, indem sie die Spuren deutete, die seine Überreste aufwiesen.

Eine der Salven hatte ihn direkt ins Gesicht getroffen, was jegliche Hoffnung auf eine leichte Identifikation zunichtemachte. Seine Gesichtszüge waren zu einem blutigen Nebel aus Gewebeteilchen reduziert worden, der sich auf der weißen Wand hinter ihm verteilt hatte, wie bei einem makabren Rorschach-Test. Die Höhe des Flecks deutete darauf hin, dass er wahrscheinlich stand, als er erschossen wurde.

Eine weitere Salve hatte seinen rechten Arm voll getroffen und entfernt. Die Überreste zerfetzten Fleisches und zersplitterter Knochen lagen auf dem Teppich hinter ihm.

Anscheinend hatte er auf dem Boden gelegen, als diese Salve ihn traf.

Der dritte Schuss hatte die äußere Hälfte seines rechten Oberschenkels weggerissen. Genau wie bei seinem Arm hatten sich Gewebeteilchen und Flüssigkeit auf dem Teppichboden verteilt.

„Ich würde sagen, er wurde zuerst im Gesicht getroffen“, sagte sie. „Zumindest um seinetwillen hoffe ich das.“

„Ja“, antwortete Mike und trat einen Schritt näher. „Dann hat er wenigstens nichts mehr gemerkt.“

„Er hat den Lauf des Maschinengewehrs für … wir wissen nicht wie lange angesehen.“ Savannah schüttelte den Kopf. „Ich bin sicher, er hatte ein furchtbares, flaues Gefühl, dass er nun sterben würde.“

Ohne den Leichnam zu berühren oder etwas zu verändern, ging sie um den Körper herum und betrachtete ihn von allen Seiten. Im Geiste machte sie sich ein paar Notizen.

Er war gut gekleidet, trug ein cremefarbenes Seidenhemd und braune Leinenhosen. Er war nicht besonders groß, aber er war ganz gut gebaut, wie ein Amateur-Bodybuilder.

Seinem Schmuck nach zu urteilen – er trug eine schwere Goldkette um den Hals, eine Rolex-Uhr und einen auffälligen Ring aus Diamanten und Rubinen in Form eines Hufeisens am Finger – war er ein wohlhabender Mann gewesen.

Das war kein Raubmord, dachte sie, sonst hätten sie ihm den Finger abgeschnitten, um an diesen Ring zu kommen.

Das spärliche Haar, das auf dem verstümmelten Kopf des Opfers übriggeblieben war – dem Teil, der nicht blutdurchtränkt war –, schien eine stahlgraue Farbe zu haben.

Instinktiv hatte Savannah in dem Moment, als sie das Büro betrat, gewusst, wer er war. Aber in der Hoffnung, sich zu irren, hatte sie den Gedanken beiseitegeschoben und sich selbst ermahnt, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

„Glaubt Ihr, dass es sich um Jonathan Winston handelt?“, fragte sie ruhig.

„Ich habe ihn höchstens ein- oder zweimal gesehen“, sagte Jake, „aber das Haar sieht aus wie seines. Ich denke, er hatte auch ungefähr diese Größe.“

„Hat der Hausmeister ihn identifiziert?“, fragte sie.

„Nein. Er hatte solche Angst, dass er seine eigene Mutter nicht erkannt hätte. Als er das ganze Blut sah, rannte er wie ein Besessener davon.“

„Kann ich ihm nicht verdenken“, antwortete sie. Sie wandte sich Mike zu und fragte: „Was ist mit dir? Glaubst du, dass der Leichnam Winston ist?“

„Schwer zu sagen ohne das Gesicht.“ Mike räusperte sich und wandte den Blick ab, als hätte er plötzlich großes Interesse für seine Fußspitzen entwickelt. „Aber ich halte es für durchaus möglich. Wahrscheinlich ist er es.“

„Ja, das glaube ich auch. Warum, glaubst du, lässt sich so ein feiner Pinkel wie Jonathan Winston wohl abknallen?“

dachte sie laut. „Ein faules Geschäft? Persönliche Probleme …?“

„Vielleicht ist jemand nicht mit dem einverstanden, was seine Frau in der Stadtverwaltung macht“, schlug Jake vor.

Savannah verspürte große Trauer, wenn sie an Beverly Winston dachte. Obwohl sie mit der Stadträtin nur ein paarmal kurz gesprochen hatte, mochte sie sie wirklich.

Während der letzten Jahre hatte Savannah wohlwollend beobachtet, wie sich Beverly die politische Leiter emporarbeitete.

Sie hatte einige altruistische Projekte angeführt, die den verwahrlosten Kindern und hilflosen Frauen der Stadt ebenso wie den Obdachlosen und Nichtsesshaften zugutekamen, einer Wählerschaft also, die von ihren Vorgängern übersehen worden war. Es ging das Gerücht, dass sie im kommenden Herbst für den Senat kandidieren wollte.

Während ihrer eigenen beruflichen Laufbahn hatte Savannah schon viel zu vielen Menschen gesagt, dass ihre Angehörigen gestorben oder schwer verletzt worden waren.

Das war von ihren beruflichen Pflichten bei Weitem die härteste.

Aber es war umso härter, wenn man den Betreffenden kannte.

Mein Gott .. sie wollte einer großen Lady wie Beverly Winston nicht erzählen, dass jemand den Körper ihres Mannes in seinem eigenen Büro mit einem Maschinengewehr zerfetzt hatte.

„Lasst den Leichenbeschauer kommen und die Spurensicherung, um Proben zu entnehmen und Aufnahmen zu machen.“

Sie richtete sich auf, zog ein Notizbuch aus ihrer Tasche und machte sich Notizen und kleine Skizzen von allem, was von Bedeutung sein konnte.

Mike ging zum Schreibtisch und streckte die Hand nach dem Telefon aus.

„Nicht das“, sagte sie und griff ihn am Arm. „Wir müssen es auf Fingerabdrücke untersuchen und die Wahlwiederholung prüfen, um zu sehen, mit wem er als letztes telefoniert hat.“

„Oh ja … Entschuldigung“, sagte Mike. „Ich werde vom Wagen aus telefonieren. Ich muss mich sowieso noch um den Hausmeister kümmern.“

„Ich will auch noch mit ihm reden. Aber nicht gerade jetzt. Sorg dafür, dass wir wissen, wo wir ihn während des heutigen Tages erreichen können.“

Savannah folgte Mike aus der Eingangstür hinaus und ließ die Gruppe von Reportern hinter sich. Sie musste ihre eigenen Utensilien aus dem Kofferraum holen. Die Spurensicherung würde Fingerabdrücke abnehmen, den Teppich und das Mobiliar absaugen, um nach Beweisspuren zu suchen und sämtliche Proben nehmen und Fotos machen, die notwendig waren. Anschließend würden sie mit den Ergebnissen zu ihr kommen.

Aber Savannah machte gern selbst noch ein paar Aufnahmen.

Manchmal sah sie auf ihnen später noch etwas, das sie auf den offiziellen Fotographien nicht bemerkt hatte.

Durch das Fenster des Polizeiwagens konnte sie Jake sehen, der mit einem älteren Mann sprach, der zu Tode erschrocken zu sein schien. Er hatte den Mord nicht begangen, das sah sie auf den ersten Blick. Sie würde jedoch mit ihm reden müssen, um festzustellen, ob etwas an seiner Aussage, egal wie unwichtig es zu sein schien, bei der Aufklärung des Verbrechens weiterhelfen würde. Aber das konnte bis später warten. Wenn es sich bei dem Leichnam dort drinnen um die Person handelte, die sie vermutete, dann war eine eindeutige Identifikation zunächst vorrangig.

„Savannah!“, rief Rosemary Hülse, als sie über die Straße rannte, um Savannah den Weg abzuschneiden, bevor diese ihr Auto erreichte. „Was ist passiert?“

„Ein Mord“, antwortete sie, öffnete ihren Kofferraum und nahm eine überdimensionale Aktentasche heraus, die die Werkzeuge ihres Berufs enthielt: eine Kamera, medizinische Handschuhe, Gefäße für Proben und ein Spachtelmesser zum Abkratzen sowie Klebeband und Plastiktüten.

Savannah war gern auf alles vorbereitet.

„Das weiß ich schon. Wer ist der Tote?“, fragte Rosemary brutal. Reporter waren immer brutal – vielleicht brutaler als Cops.

Savannah hielt einen Augenblick lang mit der Aktentasche in der Hand inne, bevor sie den Kofferraum zuschlug.

Vor ihrem geistigen Auge konnte sie den amputierten Arm, den verstümmelten Oberschenkel, das zerschmetterte Gesicht sehen.

„Das wissen wir noch nicht genau“, sagte sie leise. „Und ich fürchte, es dauert noch eine Weile, bis wir es wissen.“

 

Savannah stand am Rande des Sunset Park und staunte darüber, dass dieser kleine Block mindestens die Hälfte der Einwohner dieser Stadt auf einmal in sich aufnehmen konnte.

An jedem zweiten Sonntag im Monat organisierte San Carmelita in diesem malerischen Park in der Nähe des Strandes einen Kunstgewerbemarkt. Auf den achtzig Quadratmetern Grasfläche hatten die Künstler farbige Buden errichtet, um ihre Waren feilzubieten: Keramik, bunt lackierte Holzarbeiten, Gemälde und T-Shirts mit Airbrushmotiven.

Auf einer hastig aufgebauten Sperrholzbühne beweinte eine Countryband das Unglück eines Cowboys, der in vier Frauen gleichzeitig verliebt war. Das Publikum scharrte sich um einen bunt kostümierten Jongleur und eine mittelmäßige Bauchtänzerin.

Eine kalte, feuchte Schnauze stieß Savannah in die Handfläche, und als sie hinunterblickte, sah sie Fiero, ihren Lieblings-Polizeihund. Der hübsche deutsche Schäferhund hatte seinen Partner, Officer Carl Browning, mitgebracht, und die beiden unterhielten eine Gruppe von Kindern mit Fieros Tricks.

„Fiero, auf!“, rief Carl und hielt seine Arme mit nach oben gerichteten Handflächen ausgestreckt.

Der Hund sprang, drehte sich in der Luft herum und landete rücklings in Carls Armen. Die Kinder lachten vergnügt und applaudierten.

Savannah tauchte in der Menge unter und bahnte sich ihren Weg entlang der Imbissstände, die von wohltätigen Organisationen betrieben wurden. Der Geruch von geräucherten Würstchen und frisch gebackenen Zimtröllchen lag in der Luft. Normalerweise hätte Savannah angehalten, um darin zu schwelgen, aber im Augenblick hatte sie keinen Appetit – das war dem zu verdanken, was sie am Morgen gesehen hatte, und dem, was sie jetzt tun musste.

Beverly Winstons Haushälterin hatte ihr gesagt, dass sie heute am Stand von Hope Haven aushalf, einem Frauenhaus.

Savannah konnte die auffällige rote Fahne am anderen Ende des Hauptganges erkennen.

Als sie näher kam, erkannte Savannah Beverly, die Broschüren verteilte und um Spenden bat. Sie war keine hübsche Frau – zumindest nicht, wenn man sie an den ultraweiblichen Südstaatenstandards maß, mit denen Savannah aufgewachsen war. Die Stadträtin trug kein Make-up, ihr bereits ergrauendes aschblondes Haar hing gerade und ohne modischen Firlefanz bis zum Kragen herunter. Ihre zwanglose Kleidung bestand aus einem steif geschnittenen Marine-Hosenanzug, einem weißen Hemd und einem roten Seidenschal. Savannah verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln, als sie bemerkte, dass Mrs. Winstons Farben ebenso politisch korrekt waren wie ihr Lächeln, das sie aufsetzte, wenn sie Fragen beantwortete oder Hände schüttelte.

Savannah schlenderte um eine Bude herum, in der Handarbeiten verkauft wurden, und beobachtete Beverly ein paar Minuten lang. Bis jetzt hatte sie die Stadträtin nur ruhig, selbstbewusst, in Einklang mit sich selbst und ihrer Umwelt erlebt. Aber heute schien ihr Lächeln angestrengt zu sein, ihre Körperhaltung war ungewöhnlich steif, ihre Bewegungen ruckartig.

Hatte es ihr etwa schon jemand gesagt?

Das war schon möglich, aber Savannah glaubte nicht daran. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass eine Frau weiterhin auf dem Basar arbeiten würde, wenn sie erfahren hätte, dass ihr Mann möglicherweise ermordet worden war.

Savannah bemerkte, dass ihre Aufmerksamkeit immer wieder von den Menschen, mit denen sie sprach, abgelenkt wurde. Ihre Augen schweiften einen Augenblick lang über die Menge hinweg, als ob sie eine Art Konfrontation oder einen Angriff fürchtete.

Savannah bekam ein flaues Gefühl in der Magengrube.

Sie wollte sich im Moment noch keine Gedanken über die möglichen Auswirkungen machen. Morgen würde noch genügend Zeit sein, um dies in aller Ruhe zu tun. Unglücklicherweise musste sie jetzt eine unerfreuliche Aufgabe erledigen, und sie sollte es besser so bald wie möglich hinter sich bringen.

Als sie an den Stapeln spitzengesäumter Kissen und geknüpfter Afghanteppiche vorbeiging, um zum Stand der Stadträtin vorzudringen, entdeckte Savannah ein vertrautes Gesicht, das sich von der linken Seite aus näherte.

Schnell versuchte sie, sich ihm in den Weg zu stellen.

Gary Anderson war ein blasierter, unangenehmer Reporter, der mit Rosemary Hülse zusammenarbeitete. Aber ihm fehlten Rosemarys Takt oder Diskretion. Schon mehr als einmal hatte Savannah ihn davon abgehalten, seine Kamera oder seinen Kassettenrecorder einem von Trauer überwältigten Angehörigen vors Gesicht zu halten.

„Anderson“, rief sie. Er ging weiter, sie offensichtlich ignorierend.

Sie ging schneller, griff nach seinem Oberarm und wirbelte ihn zu sich herum.

Was für ein Weichling, dachte sie. Ihr eigener Bizeps war kräftiger als der, den sie jetzt stark genug zusammendrückte, um seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen.

„Detective, was für eine angenehme Überraschung“, sagte er mit einem sarkastischen Grinsen, das jedoch die Tatsache, dass er zusammenzuckte, nicht überspielen konnte.

Sie vergrub ihre Nägel noch etwas tiefer in sein Fleisch und blickte zu Beverly Winston hinüber. Die Frau beobachtete sie aus den Augenwinkeln, ihr Gesicht sah besorgt aus.

„Genießen Sie den Flohmarkt, Gary?“, fragte Savannah in pseudo-beiläufigem Ton.

„Oh, ja, außerordentlich“, antwortete er. „Ich komme jeden Monat hierher, um mir die Keramikarbeiten anzusehen.“

Ihre blauen Augen fixierten ihn, ihr Blick war wie ein Schlag ins Gesicht. Er zuckte erneut zusammen, diesmal ohne gekniffen worden zu sein.

„Lassen Sie sie in Ruhe, Anderson“, sagte sie sanft.

„Wen in Ruhe lassen?“ Er sah sie mit großen, unschuldigen Augen an und schenkte ihr ein Grinsen, wofür sie ihn am liebsten geohrfeigt hätte.

„Seien Sie kein Schwein. Sie weiß noch nichts.“

Prompt machte er Männchen. Er erinnerte sie an einen Beagle. „Also ist er es.“

„Wir wissen es nicht. Aber jedenfalls werden Sie ihr jetzt keinen Schlag in die Magengrube versetzen. Keinesfalls. Kapiert?“

Ihre Hand schloss sich wieder fest um seinen Arm, und ihr Gesichtsausdruck machte ihm jeden Widerstand unmöglich.

„Wie ich schon sagte …“ Er entwand ihr seinen Arm und zuckte die Achseln. „… ich bin nur vorbeigekommen, um mir die Keramikarbeiten anzusehen.“

Sie wartete, bis er am anderen Ende des Parks angelangt war, bevor sie sich dem Stand näherte. Beverly folgte jeder ihrer Bewegungen, und ihr zuvor leicht beunruhigtes Gesicht drückte nun heftige Besorgnis aus.

„Detective Reid“, sagte sie, als Savannah sie erreichte. „Wie schön, Sie zu sehen.“

Zum zweiten Mal innerhalb von drei Minuten hatte jemand Savannah gesagt, wie froh er war, sie zu treffen. Und zum zweiten Mal glaubte sie dem Betreffenden kein Wort.

„Wann haben wir uns zum letzten Mal gesehen …?“

Beverly streckte ihre Hand aus und schüttelte Savannahs mit dem perfekten Maß an Festigkeit und Stärke. „… bei diesem Treffen im Frauenzentrum für Selbstverteidigung, stimmt‘s?“

„Ja, ich glaube“, sagte Savannah und erwiderte das Lächeln nicht. Sie blickte sich um. Es standen zu viele Menschen in der Nähe. Es war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort.

„Mrs. Winston …“ Savannah beugte sich über den Tisch, der von Broschüren übersät war, und legte ihre Hand auf Beverlys Unterarm. „Ich muss mit Ihnen sprechen. Es ist sehr wichtig.“

„Jetzt?“, fragte sie und deutete mit dem Kopf auf die Menschenschlange, die darauf wartete, mit ihr zu reden.

„Ja, tut mir leid. Wenn Sie einfach für ein paar Minuten mit mir kommen könnten …“

Beverly wandte sich an eine ältere Frau, die in einem Klappstuhl unter dem Sonnensegel des Standes saß.

„Marge, könnten Sie mich für eine Weile vertreten? Ich muss mich um etwas anderes kümmern.“

„Sicher.“ Marge hievte sich auf die Füße und glitt auf den Platz, den Beverly gerade verlassen hatte. „Lassen Sie sich Zeit.“

„Danke.“ Beverly holte ihre Handtasche unter dem Tisch hervor, schob sich den schweren Lederriemen über die Schulter und folgte Savannah, die sich von der Menge fortbewegte.

„Hätten Sie etwas dagegen?“, fragte Savannah, als sie mit der Hand auf ihren roten Camaro deutete, der auf der Straße stand. „Wir könnten uns in mein Auto setzen, um uns zu unterhalten.“

„Natürlich. Das wäre gut.“

Als Savannah die Beifahrertür öffnete und Beverly hineinbat, bemerkte sie, dass die Stadträtin in keiner Weise überrascht zu sein schien. Sie hatte nicht verlangt, die Neuigkeiten, die Savannah ihr zu übermitteln hatte, sofort zu erfahren. Die meisten Menschen fragten als Erstes: „Was ist los? Was ist geschehen?“

Vielleicht war Stadträtin Winston ja auch einfach nur eine sehr kühle, gefasste Frau.

Savannah glitt auf den Fahrersitz und holte tief Luft.

Dann schaltete sie ihre Ratio ein, wie sie es am Tatort schon einmal getan hatte. Wenn sie sich gestattet hätte, Mitleid mit demjenigen zu empfinden, dem sie eine solche Schreckensnachricht zu überbringen hatte, wäre sie nicht in der Lage gewesen, die Reaktionen dieses Menschen sorgfältig zu beurteilen. Und dazu hatte sie sowieso nur einen kurzen Augenblick Gelegenheit.

„Mrs. Winston, haben Sie …“

„Bitte, nennen Sie mich Beverly“, antwortete diese, ohne Savannah anzusehen. „Jeder nennt mich so.“

Savannah betrachtete sie neugierig. Es schien fast so, als wolle sie den Augenblick der Wahrheit hinauszögern, eine sehr ungewöhnliche Reaktion.

„Danke, Beverly.“ Sie wandte sich in ihrem Schalensitz so weit wie möglich der anderen Frau zu. „Haben Sie, seit Sie heute Morgen das Haus verlassen haben, mit jemandem aus dem Geschäft Ihres Mannes oder einem Mitglied Ihres Haushaltes gesprochen?“

„Nein, das habe ich nicht.“

Wieder hatte sie die unvermeidlichen Fragen nicht gestellt.

„Dann tut es mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass es in Mr. Winstons Geschäft auf der Main Street eine Schießerei gegeben hat. Wahrscheinlich geschah es heute am frühen Morgen. Und leider mit tödlichem Ausgang.“

„Eine Schießerei? Jemand ist erschossen worden?“

Savannah beobachtete Beverly sorgfältig, jede Nuance ihres Gesichtsausdrucks, ihrer Stimme. Aber sie sah nur Erstaunen und Verblüffung.

„Ja, leider.“

„Aber … wie kann das …? Jemand wurde getötet … in Jonathans Geschäft?“

„Das ist richtig. In seinem Büro“, fügte Savannah sanft hinzu in der Hoffnung, ihr die grausame Wahrheit langsam nahezubringen.

Beverly Winston schüttelte den Kopf und starrte geradeaus.

Sie beobachtete eine Gruppe von Kindern vor dem Auto, die sich mit Eishörnchen und Luftballons vergnügten.

„Wer? Wer tut so etwas?“

Einen Augenblick lang antwortete Savannah nicht, da sie über die Bedeutung der Tatsache nachdachte, dass Beverly nach der Identität des Verbrechers und nicht nach der des Opfers gefragt hatte.

„Wir wissen es nicht. Noch nicht. Aber wir arbeiten daran.“

„Wie schrecklich“, flüsterte Beverly. „Dort… in seinem Büro.“

„Ich muss Sie um einen Gefallen bitten, Beverly“, sagte Savannah. „Würden Sie bitte mit mir zum Leichenschauhaus fahren und den Toten gegebenenfalls für mich identifizieren?“

Beverly schien plötzlich aus ihrer Trance zu erwachen, als sie sich Savannah zuwandte und nickte. „Oh, ja … natürlich. Ich sollte diejenige sein, die ihn identifiziert. Jonathan würde es so wollen.“

Die beiden Frauen saßen einen Augenblick lang schweigend nebeneinander. Savannahs graue Zellen arbeiteten auf Hochtouren. Sie hatte nicht erwartet, dass die Unterhaltung so verlaufen würde. Beverly Winston war keine dumme Frau … beileibe nicht! Wenn sie ihren Mann getötet hätte, dann hätte sie es sicher vermieden, wie selbstverständlich davon auszugehen, dass es sich bei dem Opfer um ihn handelte, bevor man sie darüber informiert hatte.

„Beverly, wir haben den Leichnam noch nicht offiziell identifiziert. Wir wissen bislang noch nicht mit Gewissheit, wer es ist.“

„Oh, es ist Jonathan, bestimmt.“ Sie hielt inne, um sich mit der Hand über die Augen zu reiben, als ob sie plötzlich ziemlich müde wäre.

„Wie können Sie da so sicher sein?“

Beverly kicherte, aber es klang eher wie ein unterdrücktes Schluchzen. „Sie kannten meinen Mann nicht, stimmt‘s?“

„Nein, nicht persönlich. Haben Sie irgendeine Idee, wer ihm hätte schaden wollen?“

Sie lachte nochmals, ein sarkastischer, bitterer Laut.

„Oh, einige Ideen“, sagte sie, „Jonathan hatte nicht gerade die Gabe, das Gute im Menschen zu fördern. Es hätte jeder von uns sein können, die ihn gekannt und geliebt haben. Ich fürchte, Detective Reid, dieser Fall ist genau das Richtige für Sie.“