Kapitel 19
Kramers Nacken war steif, im Auto schlief es sich eben nicht so gut wie im eigenen Bett. Vor ihm stand ein Wagen, der vorhin noch nicht da gewesen war. In der einsetzenden Dunkelheit verschwammen die Konturen der Umgebung. Er rieb sich die Augen. Hatte er wirklich so lange geschlafen? Eine pelzige Schicht hatte sich auf seine Zunge gelegt. Er stieg aus, streckte sich und versuchte den pelzigen Belag vor sich auf die Straße zu spucken. Bevor er losmusste, prüfte er, ob Rokkos Maschine noch an Ort und Stelle war. Es hatte sich nichts getan, wahrscheinlich schlief Rokko gerade selbst. Die Tür des Laufhauses öffnete sich, Kramer zuckte zusammen, das Licht im Flur warf einen langen Schatten in den Innenhof. Mit einer schnellen Bewegung drehte er sich zur Seite weg und humpelte, so schnell er konnte, zum Auto. Der Vorsprung reichte aus. So behände wie möglich ließ Kramer sich in den Sitz und die Tür ins Schloss fallen. Halb hinter dem Lenkrad verborgen, mit rasendem Herzen, beobachtete er die Person, die in der Sekunde, in der er die Autotür geschlossen hatte, auf die Straße trat. War das Rokko? Nein, definitiv nicht. Kramer kam aus seiner Deckung und steckte den Schlüssel in die Zündung. Die Person, ziemlich sicher ein Mann, war zwar ähnlich aufgequollen, aber einen guten Kopf kleiner als Rokko. Die Lichter des Wagens erhellten die Dunkelheit und der Unbekannte machte sich davon.
Zum Glück war es nicht Rokko. Auf so engen Raum, was hätte er tun sollen? Das war nicht der Ort, den er sich für die Konfrontation ausgewählt hatte. Er würde, nein er musste, Rokko überraschen, wenn er eine Chance haben wollte und er hatte auch schon einen Plan.
Kramer steuerte seinen Wagen auf die Bundesstraße und verließ Westheim. War das Beinahetreffen mit Rokko schon unangenehm gewesen, war das, was nun vor ihm lag, die pure Überwindung.
Kurz vor der Autobahnauffahrt lag ein Parkplatz, Kramer setzte den Blinker und fuhr rechts ran. In ein paar Minuten sollte auch seine Verabredung hier sein. Er zog den Schlüssel aus der Zündung und hüllte sich in Dunkelheit. Gedanklich machte er sich schon darauf gefasst, dass dieser Typ aus dem Darknet nicht auftauchen würde. Es wäre auch zu schön, es würde alles viel einfacher machen. Kramer öffnete das Handschuhfach und zog einen Briefumschlag hervor. Er schaute hinein und fuhr mit den Fingerkuppen über die abgestoßenen Ecken der Geldscheine. Tausendfünfhundert Euro in kleinen Scheinen, die letzten Reste des Schweigegeldes. Es war schon ironisch. Die Scheine gehen zum Schutz des guten Rufs von der einen Hand in die andere und auf Umwegen beißen sie einem doch in den Arsch. Wie oft das wohl schon passiert war? Wäre sicher interessant, den Geschichten eines Geldscheins zu lauschen.
Ein Wagen näherte sich von hinten, Kramer steckte den Briefumschlag in die Jackentasche und stieg aus. Den Rücken an den Wagen gepresst, wartete er darauf, was passieren würde. Ob das sein Kontakt war? Sie hätten vielleicht ein Codewort ausmachen sollen, oder ein Zeichen wie in den Filmen.
Eine hagere Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit und kam langsam näher.
„Bist du der Typ aus dem Internet?“, fragte eine Stimme, die Kramer seltsam vertraut vorkam. „Ja. Wir hatten geschrieben. Ich hab das Geld, hast du die Karte?“
„Ja, die habe ich.“ Der Mann trug einen viel zu großen Pullover und hatte die dazugehörende Kapuze tief in die Stirn gezogen. Das Einzige, was Kramer erkennen konnte, war, dass der Mann einen buschigen Schnauzbart hatte.
Das Licht eines vorbeifahrenden Autos erhellte kurz die Szenerie und Kramer sah, wie der Mann etwas aus der Bauchtasche des Pullovers zog. „Da ist das Ding. Damit kommt man so gut wie überall hin auf dem Gelände. Ist ‘ne VIP und Pressekarte.“
„Wo hast du die her?“
„Das tut nichts zu Sache.“
„Woher weiß ich, dass das Ding funktioniert und nicht nur Plastikmüll ist?“
„Ich zeige es dir.“ Der Mann hob die Karte auf Kramers Augenhöhe und tippte auf einer der Ecken. Kramer wollte sich die Karte greifen, aber der Mann zog sie schnell weg. „Erst will ich das Geld haben. Woher soll ich wissen, dass in dem Umschlag nicht nur Altpapier ist?“
Kramer trat einen Schritt zurück, zog den Umschlag hervor und die Scheine heraus, die sich leicht auffächerten. „Das Geld. Kann ich jetzt die Karte sehen?“
Der Mann trat einen Schritt auf Kramer zu und hielt seinem Kunden die begehrte Ware erneut vors Gesicht. Kramer kniff die Augen zusammen. In der Dunkelheit konnte er fast nichts sehen, doch er erkannte sofort, dass die Karte echt war. Das Logo des SFC Westheim prangte groß darauf. Wie bei einer Kreditkarte war der Name ihres Besitzers erhaben in das Plastik gestanzt. Harald Schneider. Der Name kam Kramer seltsam bekannt vor, aber er wusste nicht woher.
„Siehst du?“ Mit einer schnellen Bewegung drehte der Mann die Karte um und tippte wieder auf dieselbe Stelle. „Die Karte ist noch die gesamte Saison gültig. Damit kommt man überall rein. Pressestelle, VIP-Bereich, einfach überall.“
„Gut. Hier sind die tausendfünfhundert Piepen.“ Kramer hielt dem Mann den geöffneten Briefumschlag hin.
„Was das Geld betrifft. Tausendfünfhundert sind zu wenig für so ein Prachtstück.“ Der Mann wich erneut einen Schritt zurück.
„Du hast die Karte für diese Summe im Darknet angeboten.“
„Ich weiß, aber jetzt haben sich meine Lebensumstände geändert, ich brauch mindestens zweitausend.“
„Was?!“ So viel Geld hatte Kramer nicht mehr, das dicke Bündel im Umschlag war alles, was er noch auf der Bank gehabt hatte. Selbst wenn, würde er es diesem dreisten Strich nicht in den Rachen werfen. „Es ist mir egal, was in deinem Scheißleben passiert. Wir hatten einen Deal und den hältst du gefälligst ein.“
„Einen Deal? Du bist irgendein Typ aus dem Internet, der sich hier gerade strafbar macht. Zeig mir den Kaufvertrag und du bekommst die Karte für tausendfünfhundert.“ Der Mann lachte. „Also wie sieht’s aus? Zweitausend? Wenn nicht, kannst du abhauen, ich finde schon einen anderen Trottel.“
„Was soll der Mist? So viel hab ich nicht. Das war nicht abgemacht!“ Kramers Faust ballte sich um den Umschlag mit dem Geld.
„Dann haben wir wohl ein Problem.“ Der Mann ließ die Karte wieder in der Bauchtasche verschwinden.
„Ja. Wir haben ein Problem. Und zwar, dass du mich verarschen willst.“ Bevor der Mann etwas erwidern konnte, schlug Kramer zu.
Sein Opfer hatte keine Chance, den Schlag abzuwehren. Mit beiden Händen in der Bauchtasche, wurde er direkt ins Gesicht getroffen. Taumelte und hob die Arme zur Verteidigung nach oben. Kramer packte sich seinen hageren Kontrahenten am Kragen und riss ihn mit unbändiger Wut zu Boden. Niemand würde zwischen ihn und seine Rache kommen. Nicht die Polizei und schon gar nicht, dieser Hanswurst. Mit einem dumpfen Klatschen schlug der Mann auf dem Boden auf. Er stöhnte. Mit einem Tritt in die Seite rollte Kramer ihn auf den Rücken, dann war er über ihm. Noch immer hielt er das Bündel Geldscheine fest umschlossen, während er noch einmal zuschlug. Der Mann unter ihm zappelte wie wild und schirmte seinen Kopf mit den Armen ab. Doch seine Verteidigung war Kramers Wut nicht gewachsen.
„Du. Wirst. Mich. Nicht. Verarschen!“ Immer wieder schlug er zwischen den Armen hindurch und traf Kopf und Hals seines Opfers. Blut spritzte bei jedem Treffer, er spürte, wie unter seinen Schlägen, Zähne aus dem Kiefer gebrochen wurden. Der Mann schrie vor Schmerz, Kramer schrie vor Wut und Ekstase. Er hörte erst auf, als ihm die Luft ausging.
Er erhob sich. Der Mann unter ihm bewegte sich kaum noch. Kramer zog die Karte aus der Bauchtasche und prüfte sie noch einmal. Sie war unversehrt, dann warf er das Geld neben den jammernden Mann auf den Boden. „Dein Geld. Viel Spaß damit. Hoffe, es ist genug für deine neuen Lebensumstände.“