Prolog
2001
Die Plastikplane klebte wie eine zweite Haut an ihrem Rücken. Franziska schwitzte und fror gleichzeitig. Mit letzter Kraft öffnete sie die Augenlider, an denen unsichtbare Gewichte zu hängen schienen. Der Todesengel kniete direkt neben ihr. Seine langen Locken fielen auf ihr Gesicht und kitzelten ihre eiskalten Wangen. Er seufzte.
»Ich brauche noch mehr. Sie ist immer noch bei Bewusstsein.«
Zusammenhangslose Silben gurgelten aus ihrem Mund, als der zweite Schatten sich von der Wand löste. In der rechten Hand hielt er eine Spritze, deren Zylinder bis zum Anschlag mit einer goldgelben Flüssigkeit gefüllt war.
»Sch! Ganz ruhig!« Sanft legte der Engel den Zeigefinger auf ihre zitternden Lippen. »Keine Angst. Du wirst gar nichts merken.«
Sie versuchte den Arm zu heben, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht länger. Die Injektionsnadel, die durch ihre Haut glitt, spürte sie kaum. Nur ein leichtes Kribbeln, als er den Kolben nach vorn drückte und der Inhalt der Spritze sich in ihren Venen verteilte. Sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Schon nach der ersten Dosis war sie innerhalb weniger Minuten zusammengesackt. Kein Tunnel mit einem gleißenden Licht am Ende erwartete sie. Auch kein Stummfilm voller Erinnerungen, der vor ihrem inneren Auge ablief. Alles, woran sie denken konnte, während der Mann die Nadel aus ihrer Armbeuge zog, war das Leben, das sie verpassen würde. All die Dinge, die ihr so selbstverständlich vorgekommen waren. Nächste Woche wäre ihr fünfzehnter Geburtstag. Die Torte hatte sie selbst ausgesucht. Erdbeer-Sahne, ihre Lieblingssorte. Im Kleiderschrank ihrer Mutter hatte sie sogar schon die verpackten Geschenke gefunden. Bei dem Gedanken, wie alle an dem gedeckten Tisch saßen und auf ihren Stuhl starrten, der von jetzt an für immer leer bleiben würde, zog sich ihr Herz krampfartig zusammen. Zum Weinen blieb keine Kraft mehr. Eine einzelne Träne löste sich aus ihrem rechten Augenwinkel und strich sanft über ihre Wange.
»Gleich hast du es geschafft …«, sagte der Todesengel voller Mitgefühl. Er beugte sich zur Seite. Seine Hand schwebte für einen Moment über den Werkzeugen, die er wie OP-Besteck auf der Plane ausgebreitet hatte. Das Letzte, was sie sah, bevor ihr die Augen zufielen, war die Zange in seiner Hand.
Sie spürte kaum, wie die Metallzähne an ihrem Kopf ansetzten. Sie hatte keine Schmerzen mehr. Empfand nur einen leichten Druck und hörte ein schmatzendes Geräusch, als die Zange ein Stück Fleisch aus ihrem Kopf riss.
Sie konnte nichts mehr tun. Franziska ließ los.
Jetzt war es an der Zeit, zu sterben.
Kapitel 1
5 Jahre danach
Die Minuten zerrannen zwischen seinen Händen. Theo Weiland glaubte zu spüren, wie die Zeit zu Staub zerfiel und der lauwarme Wind sie über den Atlantik davontrug. Ihm blieben nur noch vier Stunden, bis der Flieger abhob, der ihn zurück nach Berlin bringen würde.
Die Idee, sich eine Auszeit zu nehmen, war eine Kurzschlussentscheidung gewesen. Er hatte den verstaubten Rollkoffer von seinem Dachboden geholt, ihn bis zum Rand mit Kleidung für alle Wind- und Wetterlagen gefüllt und war dann nach Berlin-Tegel gefahren. Der Zufall setzte ihn per Direktflug auf Madeira ab. Eine Insel, die wie ein Relikt aus einer anderen Zeit schien. Kilometertiefe Schluchten durchzogen das raue Vulkangestein, aus dem die Insel bestand, wie vernarbte Wunden. Wenn Theo in einen der Abgründe blickte, kam er nicht umhin, sich zu wundern, dass der Boden unter ihm nicht auseinanderbrach. Seine Tage hatte er damit verbracht, auf den steilen Straßen zu laufen, bis seine Füße ihn keinen Schritt mehr weitertragen konnten. Er hatte Wein getrunken, bis das Meer vor ihm schwankte wie ein sturzbetrunkener Seemann. Gegessen, bis sein Bauch rund war. Trotzdem fühlte er sich ausgehungert und leer.
Drei Wochen lang hatte er versucht, an alles, nur nicht an den Brief auf seinem Küchentisch, zu denken, der sein Leben für immer verändert hatte. Doch die Worte verfolgten ihn wie sein eigener Schatten, bei allem, was er tat.
Dienstuntauglich.
Auf unbestimmte Zeit freigestellt.
Mit sofortiger Wirkung.
Jede Silbe traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Nach über zwanzig Jahren schlafloser Nächte, mehr Überstunden, als er zählen konnte, und Bildern von Mordopfern, die sich wie Säure in seine Netzhaut geätzt hatten, war dieser Brief wie ein erhobener Mittelfinger. Das Schlimmste an dem Brief war jedoch, dass jeder der penibel dokumentierten Vorwürfe darin der Wahrheit entsprach. Bei seiner letzten Ermittlung hatte Weiland einen Zeugen körperlich bedroht und sich ohne Beschluss Zugang zu mehreren Gebäuden verschafft, weil er darin ein Kind in Lebensgefahr vermutete. Moralisch hatte er richtig gehandelt. Gesetzlich nicht. Wo lag die feine, unsichtbare Grenze, über die ein Polizist sich hinwegsetzen konnte, um ein Menschenleben zu retten? Eine Frage, auf die weder sein Verstand noch sein Herz bis heute eine Antwort gefunden hatte. Weiland wusste nur, dass er ohne zu zögern jeden Fehler genau so wiederbegehen würde.
Die Wolken am Horizont vor ihm rissen auf. Er blinzelte in die Sonne, die ihn nicht länger wärmte. Trotz der angenehmen zwanzig Grad fröstelte er. Die Kälte hatte sich in seinem Körper eingenistet, eine dünne Eisschicht, die jeden Zentimeter seiner Organe zu bedecken schien. Das Meer klang heute wütender als sonst. Unruhiger. Die Wellen zerschellten an den schwarzen Steinen unter seinen Füßen, griffen nach seinen Beinen, als wollten sie ihn nicht gehen lassen. Er würde diesen Anblick vermissen. Das Wellenrauschen in seinen Ohren, das ihn beständig wie ein Atmen durch die nach Salz riechenden Straßen begleitete.
Ein letztes Mal sog er jetzt die kalte Atlantikluft ein.
Zeit, nach Hause zu gehen. Zurück in die Leere.
Knapp neun Stunden später setzten die Räder des Fliegers auf der Landebahn in Berlin-Schönefeld auf. Die Passagiere klatschten, ein kollektives Aufatmen ging durch die Reihen. Zwischen den Sturmböen hatte sich das Flugzeug so robust angefühlt wie ein Papierflieger. Während des gesamten Fluges schoben sich graue Wolkenwände vor die Fenster, die aussahen, als könnten sie die Maschine zwischen sich zermalmen.
Weilands Magen rumorte noch immer, als er als einer der letzten Passagiere auf das Rollfeld trat. Sein Kopf dröhnte, als hätte ein riesiger Vorschlaghammer seine Schädeldecke zu Staub zertrümmert.
Was er brauchte, waren zwei Aspirin, ein Whiskey auf Eis und sein Bett.
Der Gedanke, die Augen zu schließen und in einen tiefen, traumlosen Schlaf zu fallen, trieb ihn dem nasskalten Wind entgegen weiter nach vorn. Innerhalb von Sekunden durchnässte der Regen seine Kleidung. Die Kälte biss sich in seine sonnengebräunte Haut.
Während die anderen Reisenden von Männern in neongelben Warnwesten wie Vieh in Richtung Ankunftshalle gedrängt wurden, steuerte eine Frau in dunklem Anzug direkt auf ihn zu. Ein gelber Regenschirm schützte sie vor den Sturzbächen, die von dem schwarzen Nachthimmel herabfielen.
»Willkommen zurück in Berlin. Wir haben Ihren Koffer. Der Fahrer erwartet Sie bereits.«
Sie brüllte die einzelnen Wörter, um trotz des rauschenden Windes gehört zu werden, und schob den Regenschirm nach vorn, sodass sie gemeinsam im Trockenen standen. Die anderen Reisenden hatten jetzt die Türen zum Flughafenterminal erreicht. In der Entfernung schrumpften sie zu schwarzen Punkten am Horizont.
»Das muss ein Missverständnis sein. Sie verwechseln mich mit einem anderen Fluggast.«
Die Frau lächelte und schüttelte den Kopf.
»Ausgeschlossen. Anscheinend hat Sie niemand informiert, Herr Weiland, aber ich habe die Anweisung, Sie zu Ihrem Fahrer zu bringen.«
»Ich werde am Hauptausgang von meiner Familie abgeholt. Entschuldigen Sie, ich muss jetzt wirklich …«
»Ihre Tochter ist leider verhindert. Sie wird nicht kommen.«
Für einige Sekunden war nur der prasselnde Regen unter Weilands hektischem Atem zu hören. Der Schmerz in seinem Schädel verwandelte sich. Ein Gefühl, als steche ein glühendes Messer abwechselnd in seine Augenhöhlen.
»Ich weiß nicht, was hier vorgeht. Aber ich werde jetzt den normalen Eingang nehmen, genauso wie der Rest der Passagiere.« Er wandte sich um und blickte zu der Tür auf der anderen Seite des Rollfeldes, hinter welcher der Rest der Passagiere verschwunden war. Ein Mann in Sicherheitsweste verschloss sie gerade.
»Bitte!«, behutsam legte die Frau eine ihrer behandschuhten Hände auf seinen rechten Arm. »Der Verkehr ist teilweise zum Erliegen gekommen. Einige Straßen sind gesperrt, und die U-Bahnen fahren auch nicht mehr, weil die Schächte volllaufen. Ihre Tochter ist sicherheitshalber zu Hause geblieben. Der Fahrer wird Sie zu ihr bringen.«
»Wer genau hat Sie engagiert?«
»Tut mir leid«, entgegnete sie. »Ich habe nur die Anweisung, Sie abzuholen und in unsere Lounge zu bringen. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen würden.«
Die Frau deutete mit dem Regenschirm auf eine unscheinbare Tür am Rand der Landebahn.
»Wenn Sie möchten, können Sie an der Bar noch ein Getränk einnehmen. Vielleicht einen wärmenden Kaffee oder einen Wein, um den Abend ausklingen zu lassen?«
»Ich möchte nur nach Hause«, antwortete Weiland.
Hatte seine Tochter Hanna den Fahrer schicken lassen? Aber warum hatte sie ihn dann nicht angerufen, um ihm Bescheid zu sagen? Winzige Steine knirschten unter den Sohlen ihrer Schuhe, als sie über das Rollfeld gingen. Bevor Weiland weiter grübeln konnte, traten sie durch die Tür in einen Bereich des Flughafens, den er noch nie zuvor gesehen hatte.
Schlagartig wurde der prasselnde Regen von leiser Klaviermusik aus zwei Boxen abgelöst. Der quadratische Raum war mit einem teuer aussehenden, dunkelblauen Teppich ausgelegt. Gedimmtes Licht beleuchtete eine Bar aus dunklem Holz, an der zwei Männer Rotwein aus eleganten, bauchigen Gläsern tranken. Weiland ließ den Blick über die geschmackvolle Einrichtung schweifen. Sky Lounge, stand in goldener Schrift auf einem Schild an der Wand. Das war wohl einer der Orte, die Normalsterbliche wie er sonst nicht zu Gesicht bekamen. Die Männer an der Bar sahen kurz auf, nickten Weiland zu, als seien sie Teil einer Gemeinschaft, und vertieften sich dann wieder in ihre Weingläser.
Nur ein einziger weiterer Gast saß mitten im Raum an einem der Tische. Im Gegensatz zu den Männern an der Bar trank er nicht. Statt an ein Glas klammerten seine Finger sich an ein etwa zwanzig Zentimeter großes, in rotes Geschenkpapier gewickeltes Paket, das vor ihm auf der Tischplatte lag. Trotz der Entfernung konnte Weiland sehen, dass es bereits einmal geöffnet worden war. Die Reißkanten auf dem Papier hatte man provisorisch mit Klebeband verschlossen.
Der Fremde musterte ihn so unverhohlen, als sei er ein Ausstellungsstück in einem Museum. Langsam und mit sichtlicher Verwunderung ließ er seinen Blick über Weilands zerknittertes Hemd und den löchrigen Wollmantel wandern.
»Noah ist heute Abend Ihr Fahrer. Bleiben Sie, so lange Sie möchten, unser Gast. Getränke und Speisen gehen selbstverständlich aufs Haus. Haben Sie noch irgendwelche Wünsche?«
Die Frau, die ihn hergebracht hatte, war direkt hinter der Tür stehen geblieben, als gäbe es eine unsichtbare Mauer, eine Grenze, die sie nicht überschreiten durfte. In der Dunkelheit hatte Weiland ihr Gesicht kaum erkennen können. Im dämmrigen Licht wirkte sie viel jünger, als ihre rauchige Stimme erahnen ließ. Unter ihren Augen waren tiefe Halbmonde. Vermutlich eine Studentin, die sich mit drei Nebenjobs gerade so über Wasser hielt.
»Nein, ich … danke, sehr freundlich von Ihnen.«
»Dann wünsche ich Ihnen eine gute Heimreise.«
Sie nickte ihm ein letztes Mal zu und schlüpfte dann durch die Tür zurück nach draußen, wahrscheinlich heilfroh, einen unbequemen Kunden wie ihn losgeworden zu sein. Das Letzte, was er von ihr sah, bevor die Tür endgültig zufiel, war der gelbe Regenschirm.
Der Mann namens Noah, der zuvor am Tisch gesessen hatte, war aufgestanden und kam jetzt direkt auf Weiland zu, während er ihn weiter taxierte. Das eigenartige Geschenk hatte er an seinem Platz zurückgelassen.
»Möchten Sie etwas trinken? Ich kann den Merlot sehr empfehlen.«
»Ich möchte nach Hause. Sind Sie mein Fahrer?«
»Ja und nein. Ich werde Sie nach Hause bringen. Aber vorher möchte ich Ihnen ein Angebot machen. Entschuldigen Sie den Überfall, aber wenn ich Sie vorgewarnt hätte, dann hätten Sie einem Treffen wahrscheinlich nicht zugestimmt.«
»Da haben Sie recht. Hören Sie, ich bin seit 5 Uhr morgens auf den Beinen. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Augenblick explodieren. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich jetzt nach Hause fahren würden. Ansonsten rufe ich mir ein verdammtes Taxi.«
»Viel Glück dabei. Es fahren kaum noch Taxis, die Straßen sind so gut wie dicht. Ich verspreche Ihnen, Sie nach Hause zu bringen, sofern Sie das nach unserem Gespräch noch wünschen. Ich bitte Sie nicht um viel, nur um fünf Minuten Ihrer Zeit.
»Drei Minuten. Danach bin ich weg«, sagte Weiland und ließ sich in einen der Cocktailsessel sinken. Sein im Flugzeugsitz malträtierter Körper schmerzte an Stellen, deren Existenz er zuvor noch nicht einmal wahrgenommen hatte. Noah setzte sich ebenfalls und tippte dann sanft gegen das Paket vor sich auf dem Tisch.
»Hier drin sind Informationen, die Ihr Leben verändern können. Wenn Sie den Auftrag annehmen, gehört all das Ihnen.«
Weiland seufzte. Das lief ja ausgezeichnet. Wahrscheinlich war sein Gegenüber bloß irgendein Spinner, der in der Zeitung von ihm gelesen hatte und jetzt seine Zeit mit irgendwelchen wilden Verschwörungstheorien verschwenden würde.
»Sie machen es aber spannend«, sagte er gelangweilt, während sein Blick zu der Armbanduhr an seinem Handgelenk wanderte. Erst dreißig Sekunden.
»Sie sind nicht zufällig ausgewählt worden. Ich habe Ihren Hintergrund checken lassen. Auf den ersten Blick findet man eine tadellose, weiße Weste. Innerhalb weniger Jahre von der Sitte zum Hauptkommissar mit einer der besten Aufklärungsquoten. Mörder, Vergewaltiger, Schlägertypen. Niemand war vor Ihnen sicher. Vor fünf Jahren finden sich die ersten Anzeichen, dass Ihr Leben außer Kontrolle gerät. Angefangen mit kleinen Aussetzern: Unpünktlichkeit bei der Arbeit, ein paarmal haben Sie sich bei Verhören im Ton vergriffen und schließlich sogar durch schlampige Arbeit Beweismittel verunreinigt. Vermutlich war das zu der Zeit, als die Depression Ihrer Frau schlimmer wurde, nicht wahr?«
Weilands Körper verkrampfte sich. Der Schmerz, der nur kurz geschlafen hatte, riss sein geiferndes Maul auf und biss zu. Bohrte die Zähne tief in seine Seele, um ihn weiter auszuhöhlen. Er hatte versucht den Schmerz mit Tabletten zu betäuben, war von ihm davongerannt, hatte meditiert, sogar gebetet, aber es half alles nichts. Der Schmerz war jetzt ein Teil von ihm. Er war wie ein inoperables Krebsgeschwür, das sich durch seine Zellen fraß.
»Sie arbeiteten immer unkonzentrierter, bis man Sie schließlich nur noch auf Cold Cases angesetzt hat«, fuhr Noah fort. »Dann, vor knapp einem Jahr, der traurige Höhepunkt: der Suizid Ihrer Frau. Mein Beileid, übrigens. Monatelang hört man nichts mehr von Ihnen. Sie sind fast wie untergetaucht, unsichtbar, obwohl Sie jeden Morgen wie gewohnt zur Arbeit gehen. Nur ermitteln Sie dort nicht mehr, Sie fristen Ihr Dasein. Bis Sie letzten Winter überraschend zu einer Ermittlung hinzugezogen werden. Beim Versuch, das Leben eines Kindes zu retten, setzen Sie sich über sämtliche Anweisungen und Sicherheitsvorschriften hinweg.«
»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht«, Weiland räusperte sich. Sein Mund war staubtrocken. Ihm gefiel die Richtung des Gespräches nicht. Noah war anscheinend doch kein Irrer. Sondern ein Profi, der sein Leben seziert hatte.
»Ich wollte sichergehen, dass wir dieses Mal den richtigen Kandidaten wählen. Vor Ihnen gab es andere, die versagt haben. Aber Sie sind bereit, sich für die Wahrheit über Grenzen hinwegzusetzen.«
»Tja, ich muss Sie leider enttäuschen, Noah. Ihre nette Recherche über mein Leben ist nicht mehr auf dem neuesten Stand. Ich bin kein Polizist mehr. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Das macht Sie gerade so perfekt. Sie haben fast alles verloren. Alles, was Sie wollen, ist wieder ermitteln zu dürfen. Das liegt Ihnen im Blut. Sie sind wie ein Jäger, dem man sein Revier weggenommen hat. Der Inhalt dieses Pakets könnte Ihr Joker werden. Ihre Chance, wieder ganz vorn mitzuspielen …«, sagte Noah. »Sie sind ein freier Mann, Weiland. Wenn Sie mir nicht trauen, können Sie jederzeit zur Tür hinausspazieren und Ihr Leben weiterleben. Keine besonders berauschende Aussicht, finden Sie nicht? Ihr Chef ist nicht gerade gut auf Sie zu sprechen, wie man hört. Wenn jemand so viel Herzblut in den Job gesteckt hat wie Sie, muss das ein Schlag ins Gesicht sein.«
Weiland starrte auf das Geschenk. Die Luftfeuchtigkeit bog die Ecken sanft nach oben.
Es würde nicht schaden, einmal hineinzusehen.
Einen einzigen Blick zu riskieren.
Er ignorierte das sanfte Kribbeln in seinem Nacken, die böse Vorahnung, und zog das Paket zu sich heran.
Kapitel 2
Das Papier knisterte sanft, als Weiland das Klebeband löste und das Geschenkpapier auseinanderfaltete. Ein Schuhkarton einer gängigen Fitnessmarke in Herrengröße 44. Er nahm den Deckel ab und spürte, wie sein Herz sich schmerzhaft in seiner Brust verkrampfte.
»Was soll das?«, fragte er. Der bittere Geschmack seiner eigenen Magensäure lag plötzlich auf seiner Zunge. »Ist das ein schlechter Scherz?«
»Sieht das für Sie etwa nach einem Scherz aus?«, fragte Noah.
In zwanzig Jahren als Ermittler hatte Weiland lernen müssen, dass es unterschiedliche Abstufungen der Angst gab. Je größer die Angst, desto dunkler fühlte sie sich an, als falle man in einen Brunnen, der so tief war, dass man das Licht am Ende nur noch erahnen konnte. Ganz oben, am Anfang des Brunnens, wo es noch vereinzelte Lichtstrahlen gab, fanden sich die Dinge, die Weiland schon zu oft gesehen hatte, um sich wirklich noch davor fürchten zu können. Dazu gehörten grün glänzende Fliegen, die einen wabernden Teppich an einem Fensterrahmen bildeten. Blutstropfen, die eine Kellertreppe hinabführten. Er wusste, was ihn erwartete. Hatte Zeit, sich zu wappnen.
Auf dem Grund des Brunnens, in tiefster Schwärze, hingegen traf die Angst ihn vollkommen unvorbereitet. Dort unten lagen die Dinge, die auf den ersten Blick harmlos erschienen und ihr Grauen erst beim näheren Hinsehen offenbarten. Bilder, die sich für immer in seine Netzhaut einbrannten wie der einzelne Babyschuh im Gras neben dem zusammengestauchten Autowrack. Gegen diese Art von Angst konnte man sich nicht wappnen.
Weiland starrte auf den Inhalt des Pakets und fragte sich, ob dieser Anblick sich auch zu einem seiner dunkelsten Albträume gesellte, die er bei seiner Arbeit an Tatorten gesammelt hatte wie Briefmarken. Der Karton war von innen mit weißem Seidenpapier ausgeschlagen. Darin gebettet lag ein Zopf. Dunkelblondes Haar. Etwa schulterlang. Ein grünes Haargummi hielt die kunstvoll ineinandergeflochtenen Haare zusammen. Unwillkürlich musste Weiland sich vorstellen, wie einem Mädchen der Kopf gewaltsam nach hinten gerissen wurde und ein Reißen ertönte, als eine Schere die Haare mit einem einzigen Schnitt abtrennte.
»Das Paket wurde vor etwa einer Woche abgelegt. Kein Absender. Kein Anschreiben. Nichts«, sagte Weilands Gegenüber.
»Wenn Sie ein Verbrechen vermuten, dann sollten Sie damit zur Polizei gehen. Nicht zu mir.«
»Wir vermuten kein Verbrechen. Wir wissen, das eins stattgefunden hat. Aber wir fürchten, dass die Polizei dieser Spur nicht mit der nötigen Sorgfalt nachgehen wird. Sagt Ihnen der Name Franziska Dahl etwas?«
Die feinen Härchen auf Weilands Armen richteten sich auf.
»Natürlich. Jeder Polizist in Berlin kennt Franziska Dahl.«
»Seit fünf Jahren warten ihre Eltern auf Antworten. Können Sie sich das vorstellen? Fünf Jahre Ungewissheit? Fünf Jahre, in denen man nicht weiß, ob man hoffen soll, dass die eigene Tochter irgendwo in einem Kellerverlies gequält wird oder sie längst tot ist und ihre Knochen irgendwo in der Erde verscharrt liegen?« Noahs Augen glänzten unter dem fahlen Licht der Deckenlampe.
»Sie kannten das Mädchen?«, fragte Weiland.
»Bin ich so leicht zu durchschauen?«
»Es geht Ihnen nahe. Näher, als es einem Profi gehen sollte, der auf Dauer nicht seinen Verstand verlieren will.«
»Franziska ist mein Patenkind. Ich kenne sie, seit sie zwei Tage alt ist. Deshalb kann ich in dem Fall auch nicht weitermachen. Der Gedanke daran, was man ihr angetan hat, zerfrisst mich.« Noah starrte einige Sekunden lang wie weggetreten in sein halb leeres Glas. »Franzis Vater Stefan und ich, wir haben uns beim Journalistikstudium in Hamburg kennengelernt. Erst waren wir nur Mitbewohner. Irgendwann wie Brüder. Der Zufall hat uns beide Jahre später nach Berlin verschlagen. Hier hat Stefan dann Mara auf einer Silvesterparty kennengelernt. Franziska ist das Ergebnis.«
Wie er es sagte, klang es wie eine einfache Matheformel. Zwei Menschen, die das Schicksal zusammengeführt hatte und deren Summe ein neues Leben ergab.
»Ich kann Ihnen nicht helfen, Noah. Es tut mir leid, was Sie alle damals durchgemacht haben und noch immer durchmachen. Aber Sie sollten damit offiziell zur Polizei gehen.«
Weilands Gegenüber redete unbeirrt weiter, so als hätte er die Einwände gar nicht gehört.
»Das Paket wurde vor Franziskas Elternhaus abgestellt. Stefan und Mara leben immer noch dort. Eine wunderschöne, historische Villa. Aber drinnen fühlt man sich wie in einem riesigen Sarg. Alles ist unverändert. Franziskas Zimmer sieht noch ganz genauso aus wie damals. Sie bringen es einfach nicht über sich, irgendwo neu anzufangen. Mara kam eines Nachmittags nach Hause, und da stand das Geschenk mitten auf der Treppe. Genauso verpackt wie jetzt. Als sie den Inhalt gesehen hat, ist sie völlig zusammengebrochen …«
»Hören Sie, ich will Ihnen wirklich nicht zu nahe treten. Aber das hier könnte auch bloß ein grausamer Scherz von jemandem sein, der so mickrig ist, dass er seinen Selbstwert aus dem Leid anderer zieht.«
»Daran haben wir auch gedacht, natürlich. Der Kopf malt sich jede schreckliche Option in den grellsten Farben aus. Was, wenn es nur ein Scherz ist? Wenn im Internet jetzt ein Video davon existiert, wie Mara das Geschenk öffnet und sich irgendwelche Vollidioten an ihrem Schmerz aufgeilen?« Noah leckte sich die aufgesprungenen Lippen. »Unser erster Impuls war es, das Paket wegzuwerfen. Aber dann dachten wir: Was, wenn es wahr ist?«
Noah beugte sich nach vorn, sodass ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt waren. »Um die Wahrheit herauszufinden, haben wir die Haare anonym mit einer Vergleichsprobe an ein Labor geschickt. Man sagte uns gleich, dass die DNA-Analyse ohne Haarwurzel schwierig bis unmöglich sei. Aber wir hatten Glück. Der Täter hat beim Schneiden so fest gezogen, dass er einige der Haare mit Wurzel herausgerissen hat.«
Weilands bohrende Kopfschmerzen ließen schlagartig nach. Die neue Spur wirkte wie eine Wunderpille.
»Genug für einen DNA-Abgleich?«, fragte er. Obwohl er die nächsten Worte erahnte, trafen sie ihn unvermittelt wie ein eiskalter Regenschauer.
»99,98 Prozent Übereinstimmung. Sie ist es.«
»Zum Teufel.« Weiland fragte sich, ob das gute oder schlechte Nachrichten waren. Es war nicht weiter ungewöhnlich, dass Mörder Souvenirs zur Erinnerung an ihre Taten behielten. Ungewöhnlich dagegen war, dass sie die kostbaren Erinnerungsstücke freiwillig abgaben. War es eine Botschaft? Eine Warnung an die Familie? Bevor er länger darüber nachgrübeln konnte, zog Noah mit zitternden Händen eine Fotografie aus seiner Brusttasche. Ein wackliges Bild, augenscheinlich aufgenommen in einem Café, wie es sie an jeder zweiten Straßenecke in Berlin gab. Im Hintergrund wucherten tiefgrüne Pflanzen mit handtellergroßen Blättern zwischen einer Auswahl von Kaffeebohnen aus aller Welt und exotisch klingenden Teesorten in deckenhohen Regalen. Wuchtige Ohrensessel mit weinroten Kissen umrahmten die Tische. Eine Gruppe Mädchen lächelte in die Kamera. Das Gesicht in der Mitte erkannte Weiland sofort wieder.
»Das hier ist das letzte Foto, das Franziska lebend zeigt. Es wurde wenige Tage vor ihrer Entführung aufgenommen. Fällt Ihnen etwas daran auf?«, fragte Noah.
Die Erkenntnis traf Weiland wie ein Schlag in die Magengrube.
»Ihre Haare«, stieß er aus. »Raspelkurz.«
»Auf den Suchplakaten damals waren zwei Fotos von ihr abgebildet. Eines mit langen und das andere mit raspelkurzen Haaren. Eigenartigerweise erinnern sich die meisten nur an das Foto mit den langen, dunkelblonden Haaren. Aber Franziska hat sie kurz vor ihrem Verschwinden abrasiert. Der Täter könnte sie aus dem Müll gefischt haben. Aber es gibt noch eine zweite Möglichkeit.« Noah beugte sich noch weiter nach vorn, sodass niemand anderes im Raum ihn mehr hören konnte. »Ein menschliches Haar wächst nur etwa einen Zentimeter pro Monat. Das würde bedeuten, dass Franziska nach ihrer Entführung noch etwa zwanzig Monate in den Händen eines Psychopathen gelebt hat. Mindestens bis sie sechzehn wurde. Sie können sich denken, was er danach mit ihr getan hat.« Als Weiland Noah jetzt ansah, glänzten Tränen in seinen Augen. »Wahrscheinlich wurde sie ihm zu alt. Er konnte nicht länger so tun, als wäre sie ein unschuldiges Kind. Deshalb hat er sie entsorgt wie ein uninteressant gewordenes Spielzeug.«
»Die Überlebenschancen eines Kindes oder Teenagers nach einer Entführung …«, setzte Weiland an.
»Ich weiß! Ich habe jede einzelne der Studien gelesen. Die meisten sagen, dass drei von vier Kindern und Jugendlichen innerhalb der ersten drei Stunden sterben, nicht wahr? Da haben die Eltern ihr Verschwinden oft noch nicht einmal bemerkt. Die Polizei lächelt nur müde, wenn man zu diesem Zeitpunkt versucht, eine Vermisstenmeldung aufzugeben. Aber erzählen Sie das einer Mutter oder einem Vater, die nach ihrem Kind suchen. Da zählen diese beschissenen Statistiken nicht.«
»Es tut mir leid, Noah. Ich kann mir vorstellen, wie sehr die Fragen Sie quälen. Haben Sie an dem Paket vielleicht sonst irgendwelche Spuren finden können? Fingerabdrücke oder weitere DNA?«
»Nichts. Er ist ein Vollprofi. Ich zermartere mir das Gehirn. Es treibt mich fast in den Wahnsinn. Warum hat er das gemacht? Warum quält er die Familie so? Hat er vielleicht das nächste Mädchen im Visier und möchte die Familie so verhöhnen? Sie und ich, wir wissen beide, dass jemand, der so brutal und effizient vorgeht, es nicht bei einem Verbrechen belässt. Wer weiß, wie viele Mädchen ihm in den vergangenen fünf Jahren noch zum Opfer gefallen sind. Wie viele noch kommen werden.«
Weiland lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er brauchte Abstand. Noah strahlte jetzt eine Wut und einen Schmerz aus, der wie eine Virusinfektion auf seine Umgebung übergriff.
»Sie brauchen die Polizei, Noah.«
»Die können nichts tun, und das wissen Sie auch. Sonst hätten Sie Franziskas Mörder längst zur Strecke gebracht. Ich musste Mara versprechen, dass das hier unter uns bleibt. Ich würde ja selbst nach ihr suchen, aber ich kann nicht. Ich steigere mich rein, schlafe und esse nicht mehr, bis nichts mehr geht. Ich habe selbst Familie.«
»Die Polizei hat ganz andere Möglichkeiten als Sie oder ich. Im forensischen Labor finden sich vielleicht Spuren, die …«
»Wussten Sie, dass damals ein Teil der Beweismittel aus der Asservatenkammer verschwunden ist?!«, unterbrach Noah ihn. »Zufall, nicht wahr? Angeblich war es nur irgendein Praktikant, der sie nicht wieder an den richtigen Platz gestellt hat. Angeblich wurden sie dann aus Versehen entsorgt. Darunter waren einige Notizbücher von Franziska. Können Sie sich den Schmerz der Familie vorstellen? Ihre Wut darüber, dass mit den Andenken ihrer Tochter so umgegangen wird?!«
Weiland antwortete nicht, aber das brauchte er auch nicht. Noah redete sich so in Rage, dass die Augäpfel aus seinem Schädel hervortraten.
»Stellen Sie sich doch mal vor, Sie lösen den Fall, an dem der Rest der Berliner Polizei sich schon vor Jahren die Zähne ausgebissen hat. Die Öffentlichkeit wird vergessen, dass Sie Zeugen bedroht haben. Ihr Chef wird gar nicht anders können, als Sie wieder ermitteln zu lassen.«
»Das ist kein Spiel oder Wettbewerb, Noah. Es geht vielleicht um Menschenleben.«
»Das sehe ich ganz genauso. Und deshalb wollen wir jemanden, für den dieser Fall nicht nur einer von vielen ist. Jemand, der nicht aufgibt, bis Franziska in Frieden ruhen kann. Jemanden wie Sie. Bitte. Sehen Sie sich wenigstens einmal die Spuren an. Wenn Sie es nicht für sich selbst tun wollen, dann denken Sie an die Mädchen, die noch irgendwo da draußen sind. Die Mädchen, die das Monster noch töten wird, wenn ihn nicht endlich jemand aufhält.«