Leseprobe Ewiger Verrat

Part I

1

Joe fühlte sich schrecklich. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, wie er auf dem Rücksitz eines aufgemotzten BMW saß, der tief über dem Boden hing. Die Felgen drehten sich und die Musik wummerte, als die drei Kids der chinesischen Gang

aus Flushing mit ihm im Dunkel der Nacht über die leere Verrazzano-Brücke fuhren. Weit über ihm, wie die Kuppel einer Kathedrale, stützten die Bögen der Brücke den dunklen Himmel. Die Kabel waren mit Sternen besetzt. Er wachte auf dem Parkplatz eines Diners irgendwo im Nirgendwo auf. Der Sommerhimmel strahlte nun bläulich, die Sterne waren blass, die pinke Morgendämmerung gerade noch am Horizont zu erkennen.

„Guten Morgen, Sonnenschein.“ Der Fahrer, Cash, grinste ihn im Rückspiegel an. Die anderen beiden Kids – die sich als Blackie, vorne, und Feather, auf der Rückbank neben Joe, vorstellten – fingen an zu lachen. Sie alle trugen schwarze oder rote Tanktops, Baggy Jeans, Nikes, goldene Ketten und einen Haufen Tattoos. Außerdem hatten sie alle den gleichen Haarschnitt: oben etwas länger, die Seiten kurz geschoren. Außer Cash, der komplett kurz rasierte Haare hatte. Joe war blass und unrasiert, seine Haare ungekämmt. Er trug ein schlichtes, schwarzes T-Shirt, alte Jeans und schwarze Converse High-Tops. Er war ein Dutzend oder mehr Jahre älter als sie. Doch heute fühlte es sich eher an wie eintausend. Er hatte ein blaues Auge, das noch immer schmerzte und frisch getrocknetes Blut an seinen Handknöcheln, einiges davon sein eigenes.

„Boxenstopp, Boss“, sagte Feather. „Willst du aufstehen und den Typen treffen? Oder weiterschnarchen?“

„Du bist lauter als die Anlage“, sagte Blackie. „Wenn wir nicht deine Hilfe bräuchten, hätten wir dich schon längst erstickt.“

Joe ignorierte sie und konzentrierte sich stattdessen auf das Knacken in seinem Nacken, wenn er gähnte.

„Wir holen uns was zu essen, wenn wir schon hier sind“, sagte Cash und schaltete den Motor ab. „Möchtest du etwas frühstücken?“

Joe nickte. „Vier Aspirin.“

Feather lachte. „Immerhin hast du Appetit. Willst du etwas zu trinken dazu?“

„Ja“, sagte Joe. „Eine Flasche Vomex.“

Die Jungs lachten, während Joe aus dem Auto stieg und sich langsam auffaltete, als hätte man ihn vor dem Versand schlecht verpackt. Er streckte sich und sah sich um.

„Wo sind wir überhaupt?“, fragte er und trottete ihnen hinterher. Cash sprach über seine Schulter.

„Irgendwo in Süd-Jersey“, sagte er. „Weit weg von Zuhause.“ Zuhause war Queens, New York. Sie waren auf dem Weg nach Cumberland County, New Jersey, um einen Mann umzubringen.

 

Die drei jüngeren Männer – Cash, Feather und Blackie – arbeiteten für einen chinesischen Verbrecherboss namens Onkel Chen. Joe arbeitete als Türsteher in einem Club, der seinem Freund aus Kindheitstagen gehörte: Gio Caprisi, welcher das Geschäft seines Vaters übernommen hatte – ein Mafiaboss. Bevor er Türsteher wurde, war Joe Elitesoldat, ein Black Ops „Specialist“ – seine Spezialität war es, Leute zu töten – und er war sehr gut darin, bis ein kleines Opiumproblem, welches er in Afghanistan entwickelte, zu einer nicht allzu ehrenhaften Entlassung aus dem Militär und dementsprechend zur Anstellung bei Gio führte. Es war Gios Idee, Joe zum Sheriff zu machen.

Er war natürlich kein richtiger Sheriff. Als jedoch herauskam, dass Terroristen planten, ein Virus zu verbreiten, das tödlich genug war, ein Yankee-Stadion-großes Stück der Bevölkerung auszulöschen, entschlossen sich Gio, Onkel Chen und all die anderen Bosse von New York – die CEOs der Unterwelt – teils unter Druck von der Regierung, teils als Patrioten und New Yorker, sich zusammenzuschließen und jeden einzelnen Terroristen unter ihnen auszurotten. Sie hatten Joe nicht nur für seine einzigartigen Fähigkeiten rekrutiert, sondern ihn auch autorisiert, sich im Zuge seiner Arbeit frei in ihren Territorien zu bewegen und ihm Hilfe und Unterstützung zugesichert. In der normalen Welt rief man bei Problemen die Polizei. In dieser Welt rief man Joe.

Joe hatte den Job erledigt, den sie ihm gaben. Das Ergebnis waren vier tote Terroristen und zwei tote Verbrecher. Doch Onkel Chens Neffe Derek, ein talentierter junger Autodieb, wurde ebenfalls in der Hitze des Gefechts getötet, als er und Joe auf einer illegalen Waffenmesse ein paar Hinterwäldlern aus dem Süden – „Rednecks“, wie man sie hier in New York nannte – über den Weg liefen. Zuerst gab Onkel Chen Joe die Schuld. Dann stellte sich heraus, dass die Kugel, die Derek umgebracht hatte, aus der Waffe von einem der Rednecks stammte, ein Rechtsextremer namens Jonesy Grables. Doch aufgrund mangelnder Augenzeugen und dem generellen Chaos, das sich am Tatort abspielte, konnte sein Anwalt das Urteil auf fahrlässige Tötung begrenzen und ihn auf Kaution rausholen. Jonesy verschwand daraufhin. Jetzt hatte ihn jedoch eine von Onkel Chens Quellen lokalisiert und er hat seine Männer losgeschickt, um die offene Rechnung zu begleichen. Joe hat sich zögerlich angeschlossen.

Für Gio, die anderen Bosse, die Behörden und die ganze herrlich ignorante zivile Bevölkerung der Stadt war das Leben in New York wieder beim Alten, jetzt, wo die Terroristen ausgeschaltet waren. Nicht aber für Joe.

Nicht, dass er es nicht versucht hätte. Er ging nach Hause zu dem Apartment seiner Großmutter, wo sie ihn großgezogen hatte, nachdem seine Eltern, beide kriminell, jung gestorben waren, und nahm seine Arbeit als Türsteher im Club Rendezvous wieder auf. Doch als Joe erneut eine Waffe in die Hand nahm, kamen auch seine Albträume, Flashbacks und Panikattacken zusammen mit dem Verlangen nach Alkohol und Dope, um sie zu kontrollieren, zurück. Und sobald dieser böse Geist erst einmal aus der Flasche war, wurde er ihn nicht ohne Weiteres wieder los.

2

Die Probleme fingen an, als er zurück im Club war. Ein Türsteher zu sein, erfordert Stärke, Geschick und schnelle Reflexe, doch vor allem erfordert es Geduld. Betrunkene zu beruhigen, Grapscher zu beseitigen und Kämpfe zu schlichten – all das, ohne die zahlende Kundschaft zu verängstigen –, hat genau so viel, wenn nicht sogar mehr, mit einer ruhigen Stimme und lockerem Auftreten zu tun wie mit Fäusten. Doch jetzt war Joe empfindlich. Verkatert bei der Arbeit, weil er die Nacht zuvor zu lange gefeiert hatte oder schon angetrunken, bevor der Club öffnete, weil er zu früh angefangen hatte. Er verlor schnell die Fassung bei Arschlöchern oder, noch schlimmer, verhielt sich selbst ab und zu wie ein Arschloch. Er hatte ein großes Maul und verschärfte Situationen, anstatt sie zu schlichten. Genau so entstand auch der Streit mit dem Gangster Rap-Mogul, ungefähr eine Woche, nachdem Joe zurück bei der Arbeit war und der Goldesel Nummer eins des Moguls, ein kleiner weißer Rapper, in den Club kam.

Yelena Noylaskya war eine erfahrene Tresorknackerin, Einbrecherin, Arschtreterin und, den tätowierten kriminellen Symbolen, die ihren Körper zierten und die sie sich in Russland verdient hatte, nach anzunehmen, eiskalter Killer. Sie und Joe lernten sich bei ihrem letzten Job kennen; arbeiteten und kämpften und zu guter Letzt schliefen Seite an Seite. Als Joe Yelena das letzte Mal sah, war sie verwundet. Eine Kugel der Terroristen hatte ihren Arm gestreift, als sie ihn tötete, um Joe Deckung zu geben, während der geradewegs auf ein heranrasendes Auto zurannte und durch die Windschutzscheibe schoss. Er verfolgte sein Ziel – der Terrorist Adrian Kaan – durch das Gebäude bis aufs Dach, wo er ihn mit einer einzigen Kugel zwischen den Augen zurückließ. Kaans Frau und Partnerin Heather war geflohen. Yelena war ebenfalls verschwunden, irgendwo in den russischen Gegenden von Brooklyn, und mit ihr die Tasche voller Geld.

 

Joe kannte Yelenas Adresse nicht. Er war sich nicht einmal sicher, wie man ihren Nachnamen buchstabierte. Doch da es kaum ein Gesetz gab, das sie noch nicht gebrochen hatte, lebte sie nach einem spezifischen Code und zehn Tage nach der Schießerei, Joe und seine Großmutter Gladys saßen gerade zusammen, um Jeopardy! zu schauen, wie sie es fünf Abende die Woche tat, klingelte es an der Tür.

„Wer ist das?“, fragte Gladys und schaute auf ihre Armbanduhr. Zehn vor Jeopardy!.

„Woher soll ich das wissen?“ Joe stand in der langen, schmalen Küche und wusch Geschirr ab. „Bestimmt eins von deinen Mädels.“

Mit einem Seufzen erhob sie sich aus ihrem Fernsehsessel und ging in das kleine Foyer, um durch den Spion zu gucken. „Sieht eher nach einem von deinen aus“, rief sie zu ihm und als Joe aus der Küche kam, stand Yelena neben ihr. Sie war chic und sah gesund aus in ihren dunkelblauen Jeans und der Bluse, die die Umrisse ihrer Tattoos durchschimmern ließ. Sie hatte ihren Pony etwas gekürzt und sah generell gut aus, als ob sie genug Schlaf und Wasser bekommen hatte. Sogar der Verband um ihren Oberarm, wo die Kugel durch ihr Fleisch geschnitten hatte, war frisch und weiß und irgendwie chic wie ein Armband.

„Hallo, Yelena.“ Joe lächelte. „Kennst du schon meine Großmutter Gladys?“

„Freut mich“, sagte Yelena in ihrem leichten russischen Akzent und küsste Gladys auf die Wange, „die wichtigste Frau in Joes Leben kennenzulernen.“ Sie holte eine Flasche Wodka und eine Dose Kaviar aus ihrer Handtasche und gab sie Gladys. „Das ist für Sie.“

„Ha! Danke, Kleines“, sagte sie. „Ich hole uns etwas Eis.“

„Und das ist für dich, Joe.“ Yelena übergab ihm einen dicken Briefumschlag.

„Danke“, erwiderte Joe. „Aber eigentlich ist das auch für dich“, sagte er zu Gladys, gab ihr den Umschlag und nahm ihr gleichzeitig die Flasche aus der Hand. „Ich gehe und hole das Eis.“ Er ging in die Küche und Yelena folgte ihm.

„Bring gleich eine Limonade mit, Joey, wenn du schon in die Küche gehst“, rief Gladys und setzte sich, um das Geld in dem Umschlag zu zählen.

Yelena sprach leise, während Joe Gläser und Eis herausholte. „Der Großteil des Geldes war nichts wert. Koreanisches Falschgeld. Nach Ausgaben blieben noch fünfzehntausend für jeden; dich, Juno und mich.“

Joe goss den Wodka über das Eis in den Gläsern. „Za zdorovie“, sagte er und sie stießen an und tranken.

„Du trinkst also noch, Joe?“, fragte sie.

Joe füllte nach. „Ich dachte, du wolltest, dass ich mit dir trinke wie die russischen Männer, die du hattest.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Klar, aber die sind fast alle tot.“ Sie streichelte seinen Unterarm, folgte einer dicken Vene. „Und das?“, fragte sie.

„Es geht los“, rief Gladys aus dem anderen Zimmer. „Wo ist meine Limonade?“

Joe lächelte und tätschelte ihre Hand. „Siehst du? Ich habe schon eine Großmutter.“ Er nahm die Limonade und ein weiteres Glas mit Eis und ging zurück ins Wohnzimmer, während Yelena ihm mit dem Wodka folgte.

„Nur bis über das Eis, Kleines“, wies Gladys Yelena an, als sie den Wodka eingoss, „ich fülle den Rest mit Limonade auf.“ Der Umschlag war mittlerweile verschwunden. Gladys’ Augen klebten am Bildschirm und das vertraute Lied aus dem Intro spielte.

„Komm, lass uns in mein Zimmer gehen“, sagte Joe und nahm Yelena an der Hand. „Während Jeopardy! darf nicht geredet werden.“

Eine Stunde später, als sie nackt nebeneinanderlagen, die Klimaanlage auf höchster Stufe, um ihren Schweiß zu trocknen, schaute Joe auf seine Uhr und setzte sich auf.

„Ich muss zur Arbeit“, sagte er.

„Du hast einen Job?“, fragte Yelena. „Ich komme mit.“

Joe lächelte. „Nicht diese Art von Job. Aber klar, komm mit, wenn du willst.“

Sie duschten zügig und zogen sich an. Dann nahm er sie mit in den Club Rendezvous.