Kapitel 1
Heiligabend
Dicke Schneeflocken segelten auf die Windschutzscheibe des Buicks, den Kates Vater ihr zum Beginn ihres Studiums geschenkt hatte, erleichtert darüber, dass sie sich nun doch nicht für Paris, sondern für Yale entschieden hatte.
„Damit du immer nach Hause kannst, wenn dir danach ist.“
Das war typisch für ihren Vater und den Helden ihrer Kindheit. Alles würde er tun für seine „Prinzessin“, wie er sie nannte, für das Nesthäkchen der Familie.
Wie gut, dass er nicht ahnte, dass Kate Watson triftige Gründe hatte, ihre kleine Heimatstadt in den Hügeln von Vermont zu meiden und eigentlich in nächster Zeit nicht geplant hatte, zurückzukommen. Geheimnisse wahrten sich nämlich schlecht in dem 900-Seelen-Nest Dawsonhills, wo jeder jeden kannte.
Verdammt, was war das Dunkle da mitten auf der Straße? Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie es glatt für ein Rentier halten. Instinktiv stieg sie in die Eisen und erinnerte sich im selben Moment daran, wie ihr Vater ihr eingebläut hatte, dass das bei Eis und Schnee ein tödlicher Fehler sein konnte. Augenblicklich brach der Wagen nach links aus und kam ins Trudeln. Kate versuchte verzweifelt, gegenzulenken. Doch vergebens. Der Boden unter der Schneedecke war spiegelglatt.
„Scheiße!“
In Gedanken sah sie die Bäume auf sich zurasen, spürte die heftige Kollision, ihr eigenes Ende. Ungebremst schoss der Wagen auf die malerisch mit Schnee bedeckten, mächtigen Kiefern am Wegesrand zu. Sie hatte keine Chance. Ein dicker Stamm befand sich direkt in ihrer Richtung.
Sie schrie, schloss die Augen, betete.
Es gab einen starken Ruck, dann nichts mehr. Kate röchelte. Der Druck auf ihren Rippen ließ sie nach Luft schnappen. Sie öffnete vorsichtig die Lider und stellte fest, dass sie bäuchlings über dem Airbag hing. Wie ein Pfeil hatte die Motorhaube sich in den meterhohen Schnee gebohrt, höchsten einen halben Meter von dem dicken Stamm entfernt, auf den sie zugerast war.
Behutsam bewegte sie Beine, Arme, Kopf. Kein Blut, alles intakt. Vor Erleichterung schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie realisierte, was ihr gar nicht so bewusst gewesen war: Sie lebte trotz der Gewissensbisse, die sie seit Monaten quälten, verdammt gern.
Langsam, ganz langsam, beruhigte sich ihr pochender Herzschlag wieder.
Allerdings war die Lage, in der sie sich nun befand, alles andere als komfortabel. Sie steckte fest. Die beiden vorderen Türen waren beim besten Willen nicht zu öffnen. Schneemassen keilten sie ein. Sie musste über die Rückbank aussteigen. Mühsam zog sie sich an den Kopfstützen der Vordersitze nach oben und versuchte, sich durch die schmale Öffnung nach hinten zu zwängen.
Doch als sie mit einem Bein hinten und einem vorn war, geriet der Boden unter ihr ins Wanken. Mit Entsetzen bemerkte sie, wie sich das Heck des Autos zurückneigte und tief in den Schnee sackte. Sie hielt den Atem an, erwartete innerlich, dass noch etwas geschah.
Schließlich wagte sie sich vorsichtig nach hinten, doch es kam zu keiner weiteren Bewegung. Ihr Auto schien seine endgültige Parkposition erreicht zu haben. Sie atmete tief durch und scannte ihre Lage. Ernst, aber nicht verzweifelt.
Nun waren auch die hinteren Türen blockiert. Sie konnte versuchen, durch ein Fenster herauszuklettern. Allerdings war ihr auf der Straße seit mindestens einer Stunde kein weiteres Auto begegnet. Wenn sie draußen wartete, würde sie vor allem eines tun: bitterlich frieren. Sie entschied, es zuerst mit der Pannenhilfe zu probieren.
„Hier ist gerade die Hölle los. Man möchte meinen, die Leute hätte noch nie in ihrem Leben Schnee gesehen. Wenn Sie nicht in einer lebensbedrohlichen Lage stecken, werden Sie sich gedulden müssen“, erwiderte die Frau am anderen Ende der Leitung, nachdem Kate ihre Situation dargestellt hatte. „Ich hoffe, Sie waren so vernünftig, eine warme Decke mitzunehmen. Im Notfall rufen Sie nochmal an.“
Sie überlegte, ob sie ihre Eltern bitten sollte, sie abzuholen. Aber ihre Mutter war mitten in hektischen Weihnachtsvorbereitungen und seit einigen Wochen ohnehin nicht allzu gut auf ihre Tochter zu sprechen. Es würde der Atmosphäre beim Weihnachtsfest nicht helfen, wenn Kate nun alles durcheinanderbrachte. Die Weihnachtsparty im Hause Watson war eine ernste Angelegenheit, deren Vorbereitungen bereits nach den Sommerferien begannen. Sally Watson war eine Perfektionistin, der ihr Ruf als Gastgeberin heilig war.
Die Thermoskanne mit Tee war noch gut gefüllt und heiß. Kate hatte eine dicke Daunenjacke dabei und eine Decke auf der Rückbank. Momentan war es warm genug. Kritisch würde es erst werden, wenn zum Abend die Temperaturen sanken. Bis dahin aber sollte sich der Abschleppwagen zu ihr durchgekämpft haben.
Sie entschied, sich in Geduld zu üben, machte es sich bequem und zog ihre Unisachen heraus, die sie glücklicherweise auf dem Beifahrersitz verstaut hatte. Ebenso gut konnte sie die Zeit nutzen, um mit ihrem Essay voranzukommen. Während ihres Heimatbesuches würden die Sachen oft genug liegen bleiben.
Auch deshalb war sie fest entschlossen gewesen, den Überredungskünsten ihrer Mutter zu trotzen und dieses Jahr auf Weihnachten im Kreis der Familie zu verzichten. Abgesehen davon, dass es eine gewisse Person gab, der sie auf gar keinen Fall begegnen wollte, war ihr Studium gerade in einer heißen Phase.
Über die Feiertage sollten die Studenten aus Professor Kalsofskys Literaturklasse eine Abhandlung über das romantische Werk von Lord Byron verfassen. Das beste Essay hatte die Chance, in der führenden amerikanischen Literaturzeitschrift abgedruckt zu werden. Das war Ehre und Zukunftschance gleichermaßen. Die Strebsamen unter ihren Kommilitonen hatten ihre Familien bereits informiert, dass sie über Weihnachten nur bedingt ansprechbar sein würden. Auch Kate wollte sich diese Chance auf gar keinen Fall entgehen lassen. Vor allem, nachdem ihre Bewerbung in Yale erst nach einem zweiten, nervenaufreibenden Versuch erfolgreich gewesen war und sie somit bereits zu den Älteren in ihrem Semester zählte.
Daher hatte sie ebenfalls geplant, die Feiertage im Studentenwohnheim zu verbringen, auch wenn es ihr schwerfallen würde, auf die schönste Zeit des Jahres in ihrer Heimatstadt zu verzichten. Um Weihnachten herum spielte die beschauliche Kleinstadt Dawsonhills Jahr für Jahr verrückt. Die Bewohner überboten sich mit Dekorationen, Plätzchenwettbewerben und Veranstaltungen.
Außerdem war der Lichtergottesdienst um Mitternacht die wohl stimmungsvollste Art, den ersten Weihnachtstag einzuläuten. Dennoch war es für alle das Beste, wenn sie in diesem Jahr dem ganzen Trubel fernbliebe. Das hatte sie sich immerhin eingeredet. Doch dann hatte ihre Mutter volle Geschütze aufgefahren.
„Granny geht es nicht gut. Vielleicht wird es ihr letztes Weihnachtsfest sein. Willst du das wirklich verpassen?“
Das war das Einzige, was Kate in diesem Jahr umstimmen konnte. Ob es nun stimmte oder nicht, das letzte Fest mit ihrer geliebten Granny wollte sie auf keinen Fall versäumen. Das würde sie sich niemals verzeihen.
Doch wenn sie daran dachte, wem sie spätestens beim Weihnachtsgottesdienst über den Weg laufen würde, krampfte sich ihr Magen zusammen.
Drake. Gutaussehend, weltgewandt und unglaublich klug. Sie war so dankbar gewesen, als er ihr angeboten hatte, ihr mit den Bewerbungsunterlagen zu helfen. Immerhin hatte er einen der besten Abschlüsse seines Jahrgangs in Yale hingelegt. Leider hatte sie nicht bemerkt, dass seine Absichten ihr gegenüber bei Weitem das Freundschaftliche überschritten. Völlig ahnungslos war sie gewesen, als er sie in der kleinen Hütte oben in den Bergen plötzlich geküsst hatte. Niemand durfte jemals davon erfahren.
Sie war heilfroh über den räumlichen Abstand, den ihr Studienbeginn mit sich gebracht hatte. Denn er war ein Mann, der bekam, was er wollte. Und sie nahm an, dass das dummerweise immer noch sie war. Egal wie sehr sie ihm auswich.
Sie wünschte, sie hätte die Geistesgegenwart besessen, sich rechtzeitig einen neuen Freund zuzulegen, den sie als potenziellen Mr. Right an Weihnachten hätte mitbringen können. Damit hätte sie gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Niemand käme auf die Idee, dass das Verhältnis zwischen ihr und Drake anders sein könnte als freundschaftlich. Er würde einsehen, dass er sie nicht mehr umstimmen könnte, und ihre Mutter würde sich außerdem den Versuch sparen, sie wieder mit ihrem Jugendfreund Flynt zusammenzubringen.
Das Adrenalin, das sich nach dem Unfall in ihrem Körper gebildet und sie unempfindlich gegenüber der Kälte gemacht hatte, schien aufzuhören zu wirken. Plötzlich merkte sie, wie sehr sie fror. Draußen waren die Temperaturen deutlich unter dem Gefrierpunkt. Ihre Atemluft hatte dafür gesorgt, dass die Fensterscheiben beinahe komplett beschlagen waren. Sie trank einen Becher Tee, hüllte sich in ihre warme Jacke, setzte Mütze und Schal auf und wickelte die Decke um ihre Beine. Dann verbot sie sich jeden weiteren Gedanken an Drake und widmete sich Lord Byron. Arbeit war schon immer eine ihrer Strategien gewesen, um mit unwillkommenen Gefühlen umzugehen.
Je mehr sie sich auf die Sprache des Dichters konzentrierte, desto weniger spürte sie die Kälte. Zu ihrer Freude flossen ihr die Worte nur so aus den Fingern. Eine Wartezeit, in der man ablenkungsfrei an etwas arbeiten konnte, war irgendwie auch ein Geschenk.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon mit dem Notizbuch auf den Knien dasaß, als es an der Scheibe klopfte.
„Hallo? Ist jemand hier drin?“
Der Schreck ließ sie derart zusammenzucken, dass sich die Hälfte ihrer Aufzeichnungen im Fußraum ausbreitete und sie nur mit Mühe ihren Laptop daran hindern konnte, den Notizen zu folgen. Tief versunken in ihrer Arbeit hatte sie weder die Geräusche eines Autos noch Schritte wahrgenommen.
„Hallo?“, fragte es erneut, gefolgt von einem energischen Klopfen gegen das Fenster. Dann verdunkelte sich das Auto, weil sich jemand vorbeugte und versuchte, in den Innenraum zu spähen.
In Ermangelung eines Lappens wischte sie die beschlagene Scheibe mit ihrem Schal frei und blickte direkt in ein Paar hellblauer Augen unter einer grauen Wollmütze.
„Alles in Ordnung mit Ihnen?“
Kate nickte und öffnete das Fenster.
„Sind Sie verletzt?“ Der Fremde blickte sie prüfend an. Mit dem Piercing in der Braue und der Tätowierung, die sich bis zu seinem rechten Ohr hochzog, sah er aus, als würde er zu einer Rockergang gehören.
„Nein, ich habe mich bloß etwas erschreckt.“ Sie beugte sich vor und klaubte ihre Notizen hastig wieder zusammen.
„Ist das hier Ihre übliche Arbeitsumgebung?“
Sie lachte zaghaft. „Nicht unbedingt. Ich bin einem Tier ausgewichen und nun stecke ich hier fest und warte auf die Pannenhilfe. Die haben allerdings gesagt, dass es dauern wird.“
Er runzelte die Stirn und sie entdeckte eine gezackte Narbe über seiner linken Augenbraue, die ihm ein verwegenes Aussehen verlieh.
„Bei dem Wetter? Sie könnten erfrieren.“
„Sie sagten, dass ich im Notfall nochmal anrufen soll“, erwiderte sie mit dem merkwürdigen Gefühl, die Leute von der Pannenhilfe verteidigen zu müssen.
Der Rocker betrachtete den Wagen und zog unschlüssig seine Mütze zurück.
„Hat ordentlich geschneit. Wollen Sie hier warten, oder soll ich Sie mit in die nächste Stadt nehmen? Da hätten Sie es wärmer.“
Zögernd musterte Kate den Fremden. Er sah nicht eben vertrauenserweckend aus, doch inzwischen fror sie ganz erbärmlich. Außerdem war unklar, wann die Pannenhilfe endlich aufschlagen würde, wenn sie es denn überhaupt hier hinausschaffte.
Kate nickte. „Vielen Dank. Das wäre toll.“
„Wieso bloß habe ich das Gefühl, gerade eine Prüfung bestanden zu haben.“ Ein Grinsen erhellte sein Gesicht, das ihn überraschend attraktiv aussehen ließ.
Dann hielt er ihr die Hand hin und half ihr, durch die Scheibe hinauszuklettern. Kaum hatte sie es endlich geschafft, versank sie bis zu den Knien in einer Schneewehe. Er lachte schallend.
Verwundert bemerkte sie, dass er hoch über ihr aufragte. Sie selbst war keine Riesin, aber er wirkte, als wäre er mindestens zwei Meter zwanzig. Er streckte ihr beide Hände hin und zog sie zu sich hinüber. Obwohl er keine Handschuhe trug, waren seine Finger warm und fühlten sich erstaunlich kräftig an. Als sie neben ihm zum Stehen kam, hatte sich der Größenunterschied auf ein normales Maß relativiert, auch wenn er immer noch mindestens einsneunzig zu sein schien.
„Ich habe nicht gemerkt, dass es hier einen Graben gab.“ Sie lachte verlegen.
„Der hat Sie wahrscheinlich vor größerem Schaden gerettet.“
Er deutete auf die Kiefer. Ihr schauderte bei dem Gedanken an den Moment, als sie auf den mächtigen Baum zugerast war. Sie war sich sicher gewesen, nun ihr eigenes, schmerzhaftes Ende zu erleben. Durch den vielen Schnee hatte sie das ausgetrocknete Flussbett gar nicht sehen können, dass ihr Auto letztlich gestoppt hatte.
"Ich bin Kate." Sie streckte ihm die Hand hin. "Kate Watson."
"Jordan. LeClerc."
Ihr entging nicht das leichte Zögern vorher und sie fragte sich, ob er ihr seinen wahren Namen genannt hatte. Doch was für einen Grund konnte er schon haben, sie anzulügen.
Mittlerweile hatte der Schneefall sich gelegt. Ein einzelner zarter Sonnenstrahl streckte die Nase durch die Wolke, brachte die weiße Pracht zum Glitzern und verwandelte die Hügel von Vermont in eine verwunschene Schneelandschaft.
Behaglich lehnte Kate sich in ihrem Sitz zurück und dachte daran, mit wie wenig man im Leben schon zufrieden sein konnte. Sich aufzuwärmen, wenn man durchgefroren war, gehörte definitiv dazu. Nun fehlte nur noch ein warmer Kakao, wie es ihn im Haus des Nachbarsjungen immer gegeben hatte. Flynt und sie waren als Kinder unzertrennlich gewesen. Sie hatten sich sogar geschworen, zu heiraten, wenn sie groß waren.
Flynt. Sie seufzte.
Nun war er wieder da, der Knoten in ihrem Magen. Ein paar selige Minuten hatte sie nicht an ihren Jugendfreund, an seine Eltern und ihre eigenen Schuldgefühle gedacht. Wenn man bedachte, dass sie damals bei ihnen ein und ausgegangen war, dass die Benjamins so etwas wie ihre zweite Familie gewesen waren, wog das, was geschehen war, doppelt schwer.
„Schau nicht so kritisch. Ich bin kein Frauenmörder, der in den Hügeln hier Ausschau nach Verkehrsopfern hält, um ihnen in einer einsamen Berghütte den Garaus zu machen.“
Jordan entblößte zwei Reihen strahlend weißer Zähne.
Kate zwang sich, ebenfalls zu lächeln. „Es hat nichts mit dir zu tun. Es ist … mein Leben ist grad ziemlich kompliziert.“
„Verstehe.“ Er beugte sich vor, um sich auf seinem Navi die Strecke anzeigen zu lassen, die er fahren wollte. „Als Nächstes kommt Fayston. Soll ich dich da herauslassen?“
„Moment mal, fährst du etwa nach Dawsonhills?“, fragte sie überrascht, als der Bildschirm vor ihr einen Augenblick lang das Ziel einblendete.
Er warf ihr einen Seitenblick zu und runzelte die Stirn. Ihr Retter schien nicht unbedingt amüsiert über ihr Neugierde. „Kann schon sein.“
„So ein Zufall! Da muss ich auch hin.“ Wenn sie jetzt tatsächlich eine Mitfahrgelegenheit gefunden hatte, würde ihrer Mutter die Verspätung kaum auffallen.
Ein unergründlicher Gesichtsausdruck huschte über Jordans Gesicht. „Ich weiß eigentlich gar nicht, ob ich da wirklich hinwill“, erwiderte er ausweichend, als könnte er Kate nicht schnell genug wieder loswerden.
„Ach komm schon. Ich bin still und störe dich nicht in deinen brütenden Gedanken.“ Kate setzte ein charmantes Lächeln auf. „Du kannst mich doch nicht erst retten und dann wie eine räudige Katze an der nächsten Straßenecke absetzen.“
Er schnaubte. „Ich wollte dich nicht an einer Straßenecke, sondern an einem gemütlichen, warmen Diner absetzen, das ist schon ein Unterschied!“
„Allerdings kann man ja nicht wissen, ob die an einem Tag wie heute aufhaben, bis der Abschleppwagen kommt. Es ist Heiligabend. Und dann ist unklar, ob ich weiterfahren könnte oder ob mein Auto kaputt ist. Stell dir vor, ich strande vor dem Diner und muss die Nacht in der Kälte verbringen! Ich könnte jämmerlich erfrieren. Kannst du das mit deinem Gewissen verantworten?“
„Wenn ich nicht angehalten hätte, wäre das auch dein Problem!“
„Aber du hast angehalten. Also bist du ein netter Mensch, der eine Frau in Nöten nicht an der Straßenecke absetzt.“
„Ich glaube nicht, dass du so sehr in Nöten bist. Irgendjemand könnte dich sicherlich in dem Diner aufgabeln, bevor es schließt, oder?“
Kate seufzte. „Du hast ja recht. Aber hast du schon einmal eine Standpauke von meiner Mutter bekommen? Sie ist Pünktlichkeitsfanatikerin und wird ziemlich sauer sein, wenn ich zu ihrer Weihnachtsparty zu spät komme. Komm schon, gib dir einen Ruck!“
Er hob abwehrend die Arme. „Ja, ja, in Ordnung. Aber tu mir einen Gefallen und quatsch mir keine Kante an den Kopf, während wir fahren.“
Wie gut, dass sie Jordan überredet hatte, ihr Gepäck aus dem Kofferraum mitzunehmen, dachte Kate, als sie nun ein wenig entspannter die Fahrt genoss. Immerhin wäre sie jetzt halbwegs pünktlich zu Hause.
Er drehte das Radio lauter, in dem Weihnachtsklassiker rauf und runter liefen. Als „Merry Christmas“ von einer dieser unzähligen Boybands gespielt wurde, brummte er und stellte das Radio wieder aus. Kate konnte ihn verstehen. Sie wunderte sich auch, wieso Jahr für Jahr immer dieselben Songs gespielt wurden.
Allmählich färbte der Horizont sich rosa-violett und verwandelte die Landschaft in eine übertrieben kitschige Postkartenidylle. Sie betrachtete ihn von der Seite und fragte sich, was er wohl allein in Dawsonhills wollte. Ihre Heimatstadt war ziemlich klein. Wenn er ebenfalls dort aufgewachsen wäre, müsste sie ihn kennen. Sie war sich aber sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. Auch wenn ihr sein Gesicht mit den hellen Augen und dem energischen Kinn beim näheren Betrachten irgendwie bekannt vorkam.
„Was willst du denn in Dawsonhills?“, erkundigte sie sich schließlich, als das Schweigen zwischen ihnen ihrer Ansicht nach lange genug gedauert hatte.
Er warf ihr einen wütenden Blick zu.
„Schon gut, schon gut, ich habe verstanden. Keine Fragen stellen, nicht reden.“ Demonstrativ zog Kate ihr Buch aus der Tasche.
„Ich habe gehört, dass es ein nettes Fleckchen Erde sein soll“, brummte er, offenbar in dem Versuch, weniger unhöflich zu sein.
„Wo wirst du denn wohnen?“
„Gar nicht neugierig, oder was?“
„Entschuldige, dass ich frage!“ Im Grunde genommen war Kate dieser Typ mit dem protzigen SUV, der auch einem Zuhälter oder Drogenboss hätte gehören können, herzlich egal. Hauptsache, sie kam heute noch zuhause an.
„Ich brauchte Abstand von allem und habe einen Ort gesucht, an dem ich mich fernab von meinem Alltag über die Weihnachtstage ausruhen kann“, sagte er schließlich etwas freundlicher.
Kate nickte. Städter kamen häufiger mal in die Hügel von Vermont, um Ruhe und Frieden von der täglichen Hektik zu finden. Deshalb waren die wenigen Pensionen in ihrem Ort über die Weihnachtstage immer voll ausgebucht. Dafür durften die Einheimischen dann die merkwürdigen Attitüden der New Yorker bestaunen, die hier im Winterwunderland die Zeit zwischen den Jahren verbrachten.
„Ich nehme an, du wirst bei Mrs. Gibbs einkehren?“
Er warf einen Blick zu ihr hinüber. „Mrs. Gibbs?“, fragte er verwundert und überholte einen alten Pick-up, der mit Schrittgeschwindigkeit vor ihnen entlangfuhr.
Vermutlich auf Sommerreifen, dachte Kate.
„Sie hat die beste Pension in der Stadt. Oder hast du eine der Hütten in den Hügeln oben gemietet?“
Er lachte auf. „Nein. Ich wollte mich erst einmal umsehen und dann entscheiden, ob ich bleiben oder meinen Roadtrip fortsetzen möchte.“
Kate sah ihn mit großen Augen an. „Das ist nicht dein Ernst!“ Sie kicherte.
„Wieso?“
„Die paar Unterkünfte in der Stadt sind über die Weihnachtstage auf Jahre hinaus ausgebucht. Ich glaube nicht, dass du spontan auch nur einen Stall mit einer Krippe finden wirst!“
Er pfiff leise durch die Zähne. „Ich hätte nicht gedacht, dass die Gegend hier derart beliebt ist.“
„Dann weißt du wohl noch nicht, wie das perfekte Weihnachten hier in Vermont aussieht. Du kannst es auch Winter Wonderland nennen. Überall gibt es Pferdeschlitten. In den Straßen wetteifern die Häuser darum, wer die aufwändigste und schönste Dekoration aufgefahren hat. Weihnachtsmärkte und Basare locken mit ihren Leckereien. Wer einmal das Fest hier verbracht hat, der möchte nie wieder irgendwo anders feiern.“
„Du klingst wie eine lebendige Werbebroschüre.“ Er lachte. „Folglich gibt es also nichts, was dich davon abhalten könnte, dein Weihnachtsfest hier zu verbringen. Außer einem kleinen Schneeunfall natürlich.“
Da hatte er recht. Unter normalen Umständen hätte sie nichts davon abhalten können.
„Du wirst lachen“, entgegnete sie, „genau in diesem Jahr hatte ich tatsächlich andere Pläne. Es hätte mein erstes Weihnachten in Yale sein sollen. Und ich war sehr traurig, dass mir auf diese Art und Weise die Weihnachtsstimmung entgehen würde.“
Interessiert blickte er sie an. „Was hat deine Meinung geändert?“
„Das ist eine lange Geschichte“, antwortete Kate ausweichend. „Wo kommst du denn eigentlich her?“, erkundigte sie sich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
Er winkte ab und seine Miene verschloss sich. „Süße“, sagte er mit einer Herablassung, die Kates Adrenalinspiegel auf ein gefährliches Maß ansteigen ließ, „ich bin gar nicht so heiß auf Small Talk. Wenn du darüber nicht reden möchtest, ist das kein Problem.“
Bewusst konzentriert richtete er den Blick auf die Straße und stellte das Radio wieder an. Ihre Unterhaltung sah er offenbar als beendet an. Kate schüttelte innerlich den Kopf, wandte sich ihren Notizen zu und beschloss, ihn jetzt ebenso zu ignorieren wie er sie. Im Grunde genommen war es egal, ob er freundlich oder nicht war, wenn er wusste, wie man das Auto sicher durch den Schnee steuerte.
Plötzlich gab ihr Handy einen aufdringlichen Ton von sich, mit dem es freudig ankündigte, dass eine Nachricht eingetroffen war. Kate schaute auf das Display und erbleichte.
Habe zufällig gehört, dass du Weihnachten doch kommst. Freue mich darauf, dich zu sehen. Wir müssen dringend reden. Allein. Ich bin mir sicher, dass wir einen Weg finden werden. D.
Verdammt, wie hatte Drake erfahren, dass sie nach Dawsonhills kam? Mühsam bekämpfte sie die Panik, die in ihr aufstieg. Sie hatte ihm bereits vor zwei Wochen geschrieben, dass sie in Yale bliebe und dass es ihr nichts ausmachte, die Feiertage dort zu verbringen.
Das konnten nur ihre Eltern gewesen sein. Dabei hatte sie inständig gehofft, dass sie die Benjamins in diesem Jahr nicht zu ihrer Party eingeladen hatten. Sie stellte sich vor, wie sie ihm vor den Augen aller begegnete und spürte, wie ihr beim Gedanken daran der Schweiß ausbrach. Drake konnte unberechenbar sein.
Kapitel 2
Kreidebleich sah sie aus, als hätte sie eine katastrophale Nachricht erhalten. Ihre ohnehin schon helle, fast weiße Haut hatte einen fahlen Schimmer angenommen. Aber Jordan würde den Teufel tun und sich erkundigen, was los war. Nein. Diese Frau ging ihn rein gar nichts an.
Wenn die Straße nicht so verdammt einsam gewesen wäre, wenn er hätte sicher sein können, dass in absehbarer Zeit andere Autos vorbeikämen, hätte er nicht einmal angehalten. Nichts drängte ihn, den Samariter zu spielen. Er wusste längst, dass er kein guter Mensch war. Er war jemand, der alle, die ihm zu nahekamen, von sich wegstieß, konnte weder ein verlässlicher Partner noch ein wahrer Freund sein. Das würden seine Jungs früh genug entdecken und sich von ihm abwenden. Für ihn lohnte es sich karmamäßig längst nicht mehr, den Gutmenschen zu mimen. Einen Tod auf dem Gewissen haben, wollte er aber auch nicht. Das war der einzige Grund, aus dem er angehalten hatte.
Mittlerweile fand er, dass das ein schwerer Fehler gewesen war. Er wollte in Ruhe seine Nachforschungen anstellen und ärgerte sich, dass er sich hatte breitschlagen lassen, sie sogar noch weiter mitzunehmen. Andererseits, wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass er einer Frau Pannenhilfe gab, die ausgerechnet aus Dawsonhills kam?
Er konnte sich genau erinnern, wie er diesen Namen das erste Mal gelesen hatte. „Dawsonhills, Vermont.“ Er hatte ihn wieder und wieder gesagt, in der Hoffnung, dass es irgendeine Erinnerung in ihm auslösen würde.
Barry Brunswick, sein Manager, der so etwas wie ein Vaterersatz für ihn war, war letzten Endes der Grund gewesen, dass Jordan diese Reise unternahm. Denn er hatte ihm geraten, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, als Jordan das erste Mal mit Schlafproblemen und Auftrittspanik zu kämpfen begann.
„Glaub mir, Junge, das Business ist beinhart. Wenn du auch nur das Fitzelchen eines persönlichen Problems hast, musst du das lösen. Habe schon so viele vor die Hunde gehen sehen. Bezahl einen Detektiv, damit er für dich herausfindet, wer deine Eltern sind und warum sie dich nicht haben wollten. Anschließend am besten noch einen Psychologen. Nur so kannst du deinen Frieden finden, wirklich.“
Erst fluchte Jordan ihn einen Pseudopsychologen. Dann aber besann er sich und engagierte tatsächlich einen sündhaft teuren Detektiv.
Vor zwei Tagen hatte der doch noch Erfolg gehabt und eine Kopie der Geburtsurkunde ergattert, die aus unerfindlichen Gründen nie auffindbar gewesen war. Da stand es endlich schwarz auf weiß. Neugeborenes unbekannter Herkunft, gefunden in Dawsonhills, und nun war er eben hier. Im beschaulichen Vermont und nicht auf Barrys Weihnachtsparty. Jordan hatte keine Familie, die er über die Feiertage hätte treffen können. Die einzigen beiden Pflegegeschwister, mit denen er noch Kontakt hatte, wohnten mittlerweile in Vancouver.
Ein wenig neidvoll betrachtete er das Mädchen, das auf seinem Beifahrersitz saß, die Nase bockig in ihre Uniunterlagen gesteckt. Sie besaß eine Familie, für die sie eine Fahrt von einigen Stunden auf sich nahm. Wenn er ehrlich war, erfüllte ihn das mit Neid. Früher hatte er sich nach so etwas gesehnt. Nach Nestwärme, Geschenken und Zimtgeruch in der Luft.
Kate schien zu bemerken, dass er über sie nachdachte, und warf ihm einen prüfenden Blick zu. Sie war nicht die Art von Mädchen, von der er sich normalerweise angezogen fühlte. Sie wirkte für ihn viel zu ernsthaft, beinahe ein bisschen verklemmt. Dennoch war sie auf eine eigene Art hübsch mit den kastanienbraunen, kurzen Locken, den großen, grünen Augen und der leicht nach oben geneigten Stupsnase. Allerdings genau der Typ braves Mädchen, von dem er konsequent die Finger ließ, weil sie ihm immer nur Ärger brachten.
Trotzdem fragte er sich, was in ihr vorging. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte sie im Schnee ausgeharrt, um auf einen Abschleppwagen zu warten. Aber eine Kurznachricht auf ihrem Handy brachte sie aus der Fassung.
„Erzähl doch mal: Wovon braucht jemand wie du denn Abstand?“
Er verdrehte die Augen und schwieg.
„Jetzt tu doch nicht so geheimnisvoll.“ Kate blinzelte ihn von der Seite an. Frauen waren manchmal aber auch zu neugierig.
„Ganz ehrlich, Süße, ich habe in letzter Zeit viel gearbeitet und dringend das Bedürfnis, mit mir und meinen Gedanken allein zu sein. Ich freue mich einfach auf ein wenig Ruhe.“
Sie sah ihn an. Prüfend. Der Blick aus den grünen Augen schien direkt in sein Herz zu dringen. „Was wirst du denn machen, falls du keine Unterkunft in der Stadt findet? Fährst du dann direkt wieder zurück nach … wo kommst du eigentlich her?“
„Du kannst es nicht lassen, oder?“ Er setzte ein selbstgefälliges Grinsen auf. „Fast könnte man denken, du wärest daran interessiert, meinen Adoniskörper in dein Bett zu bekommen!“
Damit hatte er sie. Sie lief puterrot an, wusste offenkundig nicht, wo sie hinsehen sollte, und öffnete den Mund zweimal, ohne dass ein Laut ihn verließ.
Er lachte schallend.
„Aus New York. Sorry, Süße, den konnte ich mir nicht verkneifen!“
Ihr Atem klang wie ein Luftballon, aus dem man die Luft herausließ. „Toll“, entgegnete sie sarkastisch und legte den Kopf schief. „Da wir das geklärt haben, habe ich das perfekte Angebot für dein selbstbewusstes Ego!“ Herausfordernd funkelte sie ihn an.
Er hob eine Augenbraue.
„Weihnachten in Dawsonhills. Freie Kost und Logis. Ein grandioser Truthahn mit allem Drum und Dran. Und die passende flüssige Verpflegung.“
„Wo ist der Haken?“
Sie knetete ihre Hände, dann blickte sie ihn an und schien all ihren Mut zusammenzunehmen. Sie war echt niedlich, wenn sie ihn so mit leicht nach unten geneigtem Kopf ansah. Er ertappte sich dabei, dass er eine der schimmernden Locken zwischen seine Finger nehmen wollte, um zu prüfen, ob sie sich genauso seidig anfühlten, wie sie aussahen.
„Ich stelle dich meiner Familie als meinen Freund vor.“
Vor Schreck übersah er den Lieferwagen, der ihnen in einer engen Kurve entgegenkam, so dass er eine scharfe Bremsung hinlegen musste.
„Bist du irre?“, fragte er fassungslos. Da würde sich ein Rentier besser als Weihnachtsdate eignen. „Wieso zum Teufel sollte ich das tun?“ Das hatte man davon, wenn man sich völlig unüberlegt zum Retter einer Jungfrau in Nöten aufschwang.
Kate blickte gekränkt zur Seite. „Ich dachte, da du scheinbar keine Pläne für Weihnachten hast …“ Schmollend schob sie die Unterlippe vor.
Großartig. Sogar seine Zufallsbekanntschaft hielt ihn für einen in sozialer Hinsicht unterentwickelten Loser, einen Mann ohne Freunde und ohne Familie. Was hatte Ally doch zu ihm gesagt, als sie ihn verlassen hatte? Jordan LeClerc interessiere ohnehin nichts außer Jordan LeClerc?
„Ich habe Pläne. Die gehen dich bloß nichts an. Außerdem wüsste ich nicht, dass wir uns bereits so nahegekommen wären“, knurrte er.
Dieses Mädchen konnte ihn wirklich aufregen. Er bemerkte, dass seine Hände derart stark das Lenkrad umklammerten, dass die Fingerknöchel weiß hervorstachen.
„Entschuldige“, erwiderte Kate, wirkte aber alles andere als zerknirscht. Dann senkte sie den Kopf, sah ihn mit ihren dichten Wimpern von der Seite an und seufzte. „Ist ja schon wahnsinnig nett, dass du mich fährst, da kann ich dich ja nicht auch noch um so etwas bitten.“
Beinahe hätte er ihr das abgekauft. Doch er sah, wie ihre Augäpfel für eine Millisekunde nach oben wanderten. Eine unbewusste Geste, die er oft beobachtet hatte. Wenn diese Bewegung kam, wusste er, dass er als Nächstes angelogen werden würde.
Kate legte ihm schmeichelnd die Hand auf den Arm. „Es ist bloß so, dass Granny unbedingt meinen Freund kennenlernen wollte, und nun wissen wir nicht, ob sie das nächste Weihnachtsfest noch miterleben wird.“ Sie presste theatralisch die Lippen zusammen. „Aber meine aktuelle Beziehung ist leider … nun ja, kompliziert. Ich konnte ihn nicht überreden, mitzukommen.“
Dann klimperte sie ihn mit großen treuen Augen von der Seite an, als wäre sie ein Corgi, der um die Tischabfälle bettelt. Doch Kate hatte Pech. Jordan konnte es nicht ausstehen, wenn Leute Spielchen mit ihm spielten.
„Das ist nicht mein Ding und vor allem nicht die Art, wie ich Weihnachten verbringen möchte. Tut mir leid, Kate.“
Sie nickte stumm, dann lehnte sie den Kopf an die Fensterscheibe. Verloren schaute sie über die weißschimmernden Berge, als erwarte sie in Dawsonhills ein schlimmes Schicksal. Aber von dem dramatischen Blick würde er sich nicht beeindrucken lassen.
Still fuhren sie weiter. Leise untermalt vom unvermeidlichen „White Christmas“. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Möglicherweise überlegte Kate immer noch, wie sie Jordan zu ihrem merkwürdigen Spiel überreden konnte.
Er dagegen fragte sich, ob vor vierundzwanzig Jahren der Schnee ebenfalls beinahe einen halben Meter hoch auf den Bäumen gelegen hatte. Man konnte kaum glauben, dass die schmalen Äste in der Lage waren, eine derartige Schneemasse auszuhalten.
Auf einmal erschrak er und bremste instinktiv ab. Die Straße vor ihm schien mitten durch eine Scheune zu führen. Verwundert betrachtete er das seltsame Bauwerk und erkannte, dass es sich um eine überdachte Brücke handelte. Allerdings bezweifelte er, dass sie in der Lage war, das Gewicht seines Autos zu tragen. Er fluchte über die Nutzlosigkeit des Navis. So etwas mussten die Macher des Programms doch auch berücksichtigen.
„Keine Sorge“, kam es leise von rechts. „Da bin ich bestimmt hundertmal drübergefahren. Sie ist viel stabiler, als sie aussieht. Man muss lediglich aufpassen, dass einem niemand entgegenkommt.“
Kurz erwog er, trotzdem umzukehren. Dann entschied er, sich seinem Schicksal zu überlassen. Wenn sie meinte, über eine morsche Brücke fahren zu müssen, wäre jedenfalls nicht er schuld an ihrem Tod.
Im Schritttempo fuhr er weiter. Er erwartete schon, die betagten Holzbalken krachen zu hören, sah sich mitsamt seinem Auto in die eisigen Fluten unter ihnen stürzen, doch sie kamen unbeschadet hinüber. Was mochte die Erbauer der Brücke wohl dazu bewogen haben, ein ganzes Fachwerkhaus darüber zu setzen?
„Man sagt, dass auf diese Art Pferde weniger gescheut haben, wenn sie über das tosende Wasser laufen sollten“, erklärte Kate, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte.
„Ach so“, kommentierte er lahm, dann verfielen beiden wieder in Schweigen.
Im Radio erklangen die ersten Takte von ihrem unseligen Coversong „Merry Christmas“, dem peinlichsten Lied, das er je aufgenommen hatte. Wenn er sich selbst im kitschigen Weihnachtssweater auf dem Video sah, bekam er regelmäßig Brechanfälle. Eilig schaltete er weiter und war erleichtert, dass Kate so sehr in Gedanken versunken war, dass sie das gar nicht zu registrieren schien.
Der Abendhimmel hatte die letzte Helligkeit geschluckt und die schneebedeckten Straßen wurden nur noch durch die Scheinwerfer seines Wagens erhellt. Beinahe waren sie am Ziel, da glaubte er plötzlich, Spuren im Schnee zu sehen. Spuren einer frischgebackenen Mutter, die sich mühsam den Hügel hinunterschleppte, um mit letzter Kraft ein wimmerndes menschliches Bündel auf irgendeiner Treppe abzulegen. War sie danach sofort verschwunden? Oder hatte sie gewagt, zu klingeln, um sicherzugehen, dass das Baby nicht an der Kälte starb? Hatte sie aus einem Versteck heraus beobachtet, wie jemand die Tür öffnete und das Neugeborene mit ins Warme nahm?
Wie sehr wünschte er sich, zu erfahren, was geschehen war. Wieso hatte seine Mutter ihn nicht haben wollen oder können? Wieso hatte sie es nicht einmal geschafft, ihn zur Adoption freizugeben? Er stellte sich vor, wie sie das Kind in der Kälte ganz allein zur Welt hatte bringen müssen. Ob sie überhaupt noch lebte?
Je näher er dem Ort kam, an dem seine Mutter gewesen sein musste, desto mehr spürte er so etwas wie eine Verbindung in die Vergangenheit. Dies erfüllte ihn mit Freude und Furcht gleichermaßen. Bislang wusste er nicht, ob er es aushalten würde, all das zu sehen, die verschütteten Gefühle hervorzuholen, die Angst, die Sehnsucht und natürlich die Wut. Er fürchtete die Tiefen seiner Seele und die alles zerstörende Traurigkeit. Noch immer hatte er keine Ahnung, ob er es überhaupt wagen konnte, sich all dem auszusetzen.
Sie erreichten die Kuppel des Hügels. Als sie der Straße nach links folgten, erstreckte sich unten im Tal ein wahres Weihnachtswunderland. Die Hauptstraße der kleinen Stadt erstrahlte in Millionen von Lichtern.
„Wow!“, sagte er überwältigt. „Das sieht ja aus, als würde der Weihnachtsmann persönlich hier wohnen.“
„Nicht wahr?“ Kate lächelte zaghaft. „Dawsonhills ist ein ganz besonderer Ort.“
Am Straßenrand wiesen hellerleuchtete, lebensgroße Figuren den Besucher ins Zentrum der Stadt. Ein Weihnachtsmann mit Kutsche, Engel, ein Schneemännerquartett, überdimensional große Geschenke, ein Nussknacker. Die warm eingehüllten Passanten trugen farbenfrohe Pakete und glitzernde Tüten. Ein Straßenverkäufer bot heiße Maronen an. In einem in tausend Lichtern funkelndem Pavillon spielte eine kleine Blaskapelle Weihnachtslieder.
Doch am meisten erstrahlte die Kirche. Der Baum vor ihr war gigantisch, mit prunkvollen roten Schleifen dekoriert und in Lichterketten gehüllt.
„Das ist die St. Bartholomeus Church. Unsere berühmte Kirche.“
„Wieso berühmt?“ Sie sah aus wie eine hübsche, alte Kirche, von der es sicher hunderte im ganzen Land gab.
„Hast du noch nie vom Weihnachtswunder in Dawsonhills gehört?“
„Nein“, entgegnete er gedehnt.
„Wirklich nicht? Was vor einem Vierteljahrhundert hier geschehen ist, war so bewegend, dass es sogar in Europa in den Zeitungen gestanden hat.“ Mit glänzenden Augen und sichtlichem Stolz sah sie ihn an.
„Nein.“ Er zuckte die Achsel. Es interessierte ihn auch nicht.
„Hier müssen wir rauf.“ Kate deutete auf ein Schild auf dem „Redwood House“ zu lesen war.
Schweigend bog Jordan die Auffahrt hinauf. Seit sie den Ort erreicht hatten, stand er auf eine merkwürdige Art unter Strom, als erwartete er jederzeit, dass irgendwo eine Frau mittleren Alters hervorspringen und ihn ihren verloren geglaubten Sohn nennen würde. Oder dass die Stadt in irgendeiner Weise eine Erinnerung in ihm hervorrufen würde, die einen Hinweis auf seine Herkunft barg.
Beides war natürlich totaler Nonsens. Als er den Ort das letzte Mal gesehen hatte, war er wenige Tage alt gewesen. Im Grunde genommen konnte er nicht einmal mit Sicherheit sagen, dass er wirklich in Dawsonhills zur Welt gekommen war. Außerdem hatte die Frau, die ihn bei Eis und Kälte ausgesetzt hatte, wohl zumindest billigend seinen Tod in Kauf genommen. Insofern würde sie sich wohl kaum über sein Erscheinen freuen. Eigentlich wusste er gar nicht, was er hier tat und warum er diese Reise überhaupt unternahm. Außer vielleicht, um Antworten zu finden. Darüber wieso die Dinge waren, wie sie waren. Warum er selbst war, wie er war.
Glücklicherweise besaß sein Wagen Allradantrieb, denn die schmale Straße war nicht geräumt und die festgefahrene Schneedecke an einigen Stellen bereits vereist. Kaum hatten sie die kurze Steigung passiert, erstreckte sich vor ihnen ein hell erleuchtetes Herrenhaus. Die Fenster in allen drei Stockwerken waren mit riesigen roten Schleifen dekoriert. Um die Säulen der Veranda waren Lichterketten gewunden. Das Zentrum der kreisrunden Einfahrt zierte eine sicher vier Meter hohe, geschmückte Tanne, während die parkenden Autos darauf schließen ließen, dass es sich heute um keine kleine Party handeln würde.
„Wow, das ist dein Zuhause? Nicht schlecht.“ Kate hatte zwar auf ihn den Eindruck einer wohl behüteten jungen Dame gemacht, dieses Haus wirkte aber, als wären ihre Eltern schwerreich.
Kate lächelte verlegen. „Redwood House ist schon lange im Familienbesitz. Möchtest du es dir mal von innen ansehen? Mein Angebot gilt und wenn dir der Truthahn nicht gefällt, finden wir etwas anderes zu essen.“
Für einen Moment zögerte er. Sie besaß eine gewisse eigensinnige Niedlichkeit und es hätte ihn durchaus interessiert, zu erfahren, wie sie wohl ihre Dankbarkeit ausdrückte. Doch er schüttelte erneut den Kopf.
„Tut mir leid, so was ist wirklich nicht mein Ding.“
Er öffnete den Kofferraum und stellte ihr Gepäck auf den festgefahrenen Schnee. Schließlich standen sie voreinander. Kate streckte ihm die Hand hin.
„Tja, dann herzlichen Dank fürs Mitnehmen“, sagte sie. „Vielleicht laufen wir uns ja beim Weihnachtsgottesdienst über den Weg.“
„Ja, vielleicht. Aber ich denke, dass ich weiterfahre. Ich habe bereits gesehen, was ich sehen wollte.“
Kapitel 3
Kaum war sie die Eingangstreppe hinaufgestiegen, wendete er und brauste durch das Tor. Fast konnte man meinen, dass er auf der Flucht war. Leises Bedauern stieg in ihr auf. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Erst schien es, als würde er ihren Vorschlag in Erwägung ziehen. Dann lehnte er plötzlich ab.
Vermutlich hielt er sie für total gestört. Das konnte sie ihm kaum verübeln. Wer war schon so verzweifelt, einen Wildfremden überreden zu wollen, an Weihnachten den Freund zu spielen.
Sie holte einmal tief Luft und klingelte. Eilige Schritte klapperten hinter der Tür. Schwungvoll riss ihre Schwester Val die imposanten Flügel auf.
„Kate! Wie schön dich zu sehen“, juchzte sie mit ihrer rauchigen Stimme und zog sie an sich. Kates Nase wurde für einen Moment an ihren Busen gedrückt, denn ihre älteste Schwester war einen guten Kopf größer als sie. Mit ihren silbernen Plateaustiefeln waren es locker anderthalb.
„Das kann ich mir vorstellen“, entgegnete Kate grinsend und betrachte staunend Vals ungewohntes Outfit. Sie trug ein Paillettenkleid, das in allen Farben des Regenbogens schimmerte und einer Dragqueen alle Ehre gemacht hätte. „Auf die Art verteilt sich Moms Unmut immerhin auf zwei ihrer Töchter.“
„Ach, Kitty-Kat, das tue ich doch bloß für dich!“ Val lachte dröhnend, legte Kate einen Arm um die Schulter und zog sie mit hinein.
„Du siehst auf jeden Fall unglaublich aus!“, erwiderte Kate anerkennend. Wenn man bedachte, dass man ihre Schwester in der Regel in fließenden, grauen Gewändern antraf, die ihre Körperform im Wesentlichen verhüllten, war das hier eine erstaunliche Wandlung und sie fragte sich, wer oder was diese hervorgebracht hatte. Sonst fand sich die Farbe in Vals Leben ausschließlich auf ihren abstrakten Gemälden wieder.
„Mein Agent meinte, wenn ich mehr Erfolg als Künstlerin wolle, müsste ich so langsam beginnen, wie eine auszusehen. Et voilà: mein erster Versuch!“
„Dein Agent scheint ein ziemlich kluger Kerl zu sein“, erwiderte Kate, während sie sich aus ihrem Mantel schälte, und überlegte, was es wohl mit Vals vielsagendem Lächeln auf sich hatte.
„Die anderen sind in der großen Halle. Möchtest du dich erst umziehen oder bist du schon bereit für die Höhle der Löwen?“
Kate inspizierte ihre weiße Schluppenbluse, entschied, dass sie unter der Zeit im Auto nicht allzu sehr gelitten hatte, und zuckte mit den Schultern. „Geht so, denke ich, auch wenn es nicht so spektakulär ist wie dein Kleid.“
„Wie war die Fahrt?“, erkundigte sich Val, während sie Kate mit zur Halle hinüberzog, in der bereits ein großer Teil ihrer Familie versammelt war.
Ihre Brüder Mick und George, ihre Schwester Jessie, und natürlich Kates Nichten und Neffen. Alle hielten Punschgläser in den Händen und unterhielten sich angeregt, während die Kinder eine überdimensionale, glitzernde Schneeflocke zu einem Ball umfunktioniert hatten, dem sie in wildem Zickzack durch den Raum folgten.
„Mom hat schon befürchtet, dass du den Schnee vorschieben würdest, um dich nicht auf den Weg hierher zu machen, ist das zu glauben? Als könntest du nicht mit glatten Straßen umgehen. Dabei sind wir Watson-Mädchen doch quasi bereits als Babys auf Schnee gefahren!“
Bevor Kate etwas darauf erwidern konnte, eilte ihre Mutter auf sie zu. Sally Watson war eine lebhafte, kleine, brünette Frau, die in der Regel das Herz auf dem richtigen Fleck hatte. Das einzige Problem mit ihr war die Tatsache, dass ihr die Meinung und der Stand der Familie in der Gemeinde so wichtig waren, dass sie gelegentlich die Prioritäten aus den Augen verlor. So auch bei Kate.
Anstatt ihrer jüngsten Tochter zu helfen, ihren eigenen Weg zu finden, hatte sie sie beinahe in die Beziehung mit Flynt, dem Sohn ihrer Busenfreundin Greta, gedrängt. Vor lauter Sorge um die öffentliche Meinung hatte sie nicht gemerkt, was sich tatsächlich unter der Oberfläche abspielte. Kate hatte sich oft überlegt, sich ihrer Mutter anzuvertrauen, doch es aus Angst vor deren Reaktion nicht gewagt.
„Wo warst du denn so lange? Wir haben schon befürchtet, dass du einen Unfall gehabt hast!“ Vorwurfsvoll starrten die dunklen Augen ihrer Mutter sie an. Auch auf ihren Wangen hatte sich eine leichte Hitze gebildet, die von der Aufregung als Gastgeberin oder dem etwas zu hochlodernden Kaminfeuer stammen konnte.
„Tut mir leid, ich …“, stammelte Kate, wurde jedoch von ihrem Vater unterbrochen, der sie herzhaft an sich zog.
„Kate, Kleines, endlich bist du wieder da! Gib es ruhig zu, du konntest es nicht erwarten, nach Hause zu kommen.“
An seinem leicht schleppenden Tonfall konnte sie erkennen, dass er bereits seit einer Weile dem Weihnachtspunsch zugesprochen hatte. Walter Watson war ein ausgesprochener Genießer, der keine Gelegenheit ausließ, sich gutem Essen und exquisiten Getränken zu widmen, was man seiner Figur auch deutlich ansah. Ohnehin nur mittelgroß hatte er sich einen kugelrunden Bauch angefressen, der ihm das Aussehen eines alternden Teddybären gab.
„Hi, Dad, du hast recht, es ist schön, wieder hier zu sein“, sagte Kate lächelnd, als sie sich aus seiner Umarmung befreit hatte. „Aber du glaubst nicht, was passiert ist …“
„Kitty-Kat!“, rief da ihr Bruder Mick, der mehr und mehr zu einer XL-Version ihres Vaters wurde. Sogar sein Haaransatz begann, dem seines Erzeugers zu gleichen. „Frohe Weihnachten!“
Mit breitem Lächeln reichte er ihr ein Glas warmen Punschs und prostete ihr zu. Mittlerweile hatten sich auch die anderen um sie herum versammelt. Kate gab es auf, von ihrem Unfall zu erzählen, denn sie hatte keine Lust, dass dieser Vorfall in der gesamten Sippschaft diskutiert wurde. So war ihre Familie eben. Groß, laut und herzlich.
Im Gegensatz zu Kate waren ihre Geschwister hier in der Gegend geblieben, George und Mick hatten inzwischen eine eigene Familie und hier in der Nähe jeweils ein Haus. Mick leitete einen großen Supermarkt in Hartford, George handelte mit Oldtimern, Jessie war Erzieherin im örtlichen Kindergarten. Val versuchte sich mit mittlerem Erfolg als freie Künstlerin.
„Wow, die Halle sieht fantastisch aus. So prachtvoll hast du an Weihnachten noch nie dekoriert, Mom!“ Ihre Mutter hatte sich in Sachen Dekoration mal wieder selbst übertroffen. In diesem Jahr war die Eingangshalle zu einer gigantischen Schneelandschaft geworden.
„Das liegt an Elijah und Anton“, gab diese zu. „Die beiden waren so begeistert mit dabei, dass es noch mehr Spaß gemacht hat als sonst.“
Kate sah zu den Zwillingen ihres Bruders Mick hinüber, die eine der tortengroßen Schneeflocken mittlerweile in wunderbarem Einvernehmen mit ihrer vierjährigen Nichte Norma in ihre Einzelteile zerlegt hatten, und lächelte.
„Hast du Hunger, Liebes? Auf dem Herd köchelt Marias Bohnensuppe vor sich hin, falls du vor der Party noch etwas essen möchtest.“
Die Party. Ja genau, an die hatte sie auch gerade gedacht. Wer wohl alles dabei sein würde? Wieder verkrampfte sich Kates Magen.
„Nein danke, ich bin nicht hungrig“, sagte sie, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dem Knoten in ihrem Bauch Nahrung hinzuzufügen, obwohl sie seit einem halben Donut heute Morgen nichts mehr gegessen hatte. „Und außerdem …“
„Flynt wird auch da sein“, unterbrach ihre Mutter strahlend und sah Kate erwartungsvoll an.
Kate rutschte das Herz in die Hose. Sie hasste nichts mehr, als ihre Mutter zu enttäuschen, die immer geglaubt hatte, ihren zukünftigen Schwiegersohn bereits zu kennen, aber die Sache mit Flynt war endgültig Geschichte.
Flynt, der zu Schulzeiten ihr allerbester Freund gewesen war, bei dessen Familie sie damals ein und ausgegangen war. Flynt, der erste Junge, den sie je geküsst hatte. Alle hatten sie für das perfekte Paar gehalten. Leider hatten sie sich darin geirrt. Gerade Flynt, der immer noch an ihr zu hängen schien, durfte nicht erfahren, was tatsächlich passiert war und wieso es für sie beide niemals einen Weg zurückgab. Das war sie ihm schuldig.
Kates Stimme war rau, als sie antwortete: „Ist ja toll.“
Ihre Mutter schien ihr Unbehagen nicht zu bemerken. „Greta hat mir verraten, dass er keine Freundin hat. Noch gibt es also eine realistische Chance für euch beide. Ich würde mich ja so freuen. Wir haben immer davon geträumt, wie es wäre, wenn wir einmal ein gemeinsames Enkelkind hätten.“
Greta Benjamin war Flynts Mutter. Vermutlich hatten Mom und sie bereits Pläne für ihre beiden Schätzchen geschmiedet, als diese sich noch im Laufstall um eine Rassel gestritten hatten.
Dieses Gespräch schnürte Kate derart die Kehle zu, dass sie das Gefühl hatte, augenblicklich hinauszumüssen. Mit zittrigen Fingern riss sie sich den dünnen Schal vom Hals, in der Hoffnung, dann besser atmen zu können.
„Was ist denn los?“ Ihre Schwester Jessie war plötzlich neben ihr aufgetaucht und legte den Arm um sie. „Du bist ja leichenblass.“
Jessie war definitiv die mit dem größten Einfühlungsvermögen von allen und hatte schon immer genau gewusst, wie Kate sich fühlte. Wenn Drake heute tatsächlich noch auftauchte – und damit rechnete sie mittlerweile – musste sie bei Jessie besonders aufpassen, dass sie sich nicht verriet.
„Nichts, alles in Ordnung“, antwortete Kate hastig. „Ich bin ein bisschen zu früh aufgestanden. Vielleicht sollte ich mich hinlegen. Außerdem hatte ich vorhin …“
In dem Moment klingelte es an der Tür. „Oh, das werden sicherlich die Benjamins sein“, rief ihre Mutter und eilte zur Tür.
Kates Hände wurden eiskalt und sie sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Sie beschloss, dass es dringend an der Zeit war, Maria, ihrer langjährigen Haushälterin, in der Küche einen Besuch abzustatten. Der Vorteil war außerdem, dass dies einer der Räume war, die von der Eingangstür am weitesten weg lagen.
Da rief plötzlich jemand ihren Namen.
„Kate? Ich glaube, der Besuch hier ist für dich!“, erklang die Stimme ihrer Mutter.
Wer konnte das jetzt sein und wieso bat Kates Mutter den Gast nicht einfach hinein? Kate konnte nicht erkennen, wer es war, denn sie und ihre Schwestern versperrten ihr den Blick. Sie tuschelten und blickten Kate neugierig an. Dann trat ihre Mutter ein Schritt zur Seite und gab den Blick frei auf … Jordan?
„Kate, Baby!“, rief er aufgekratzt. „Ich glaube, du hast vergessen, deiner Familie von meinem Besuch zu erzählen!“
Kate blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an. Jordan machte drei große Schritte auf sie zu, zog sie an sich und gab ihr einen festen Kuss auf den Mund. Sie sog seinen männlich herben Geruch ein und bekam überraschend weiche Knie. Sprachlos sah sie ihn an.
„Ich würde an deiner Stelle jetzt irgendetwas tun. Zum Beispiel aufgekratzt kichern, sonst glaubt dir niemand die Scharade“, flüsterte er ihr ins Ohr. Die Luft seines Atems streifte ihren Hals und ließ sie erschauern.
In Kates Kopf drehte sich alles. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Was hatte seinen plötzlichen Sinneswandel bewirkt? Warum war er jetzt doch da, nachdem er sich so vehement dagegen gesträubt hatte?
Hilflos versuchte sie ein Kichern und merkte selbst, dass es in ihren Ohren leicht hysterisch klang.
„Tja, Jordan, soweit bin ich gar nicht gekommen. Wir waren grad mitten in der Begrüßung.“
Sie lachte aufgesetzt und betete darum, dass aus der Sauce in ihrem Schädel irgendetwas Sinnvolles werden möge. Noch immer konnte sie nichts weiter tun, als ihn wie vom Donner gerührt anzuschauen. Ungefähr das, was der Rest der Anwesenden auch gerade tat.
„Ist sie nicht wunderbar?“, verkündete Jordan lauthals. „Baby, ich weiß, wie sehr du dich freust, mich zu sehen. Aber reiß dich ein wenig zusammen, sonst denkt deine Familie noch, dass ich dich durch meine bloße Anwesenheit um den Verstand bringe.“
Er lachte, als wäre das ein großartiger Scherz gewesen. Die anderen lachten höflich mit. Kate errötete und wusste immer noch nicht, was sie sagen sollte.
Amüsiert zuckte Jordan mit den Achseln und trat auf Kates Mutter zu.
„Mrs. … Äh …“. Hilfesuchend sah er sich zu Kate um. Kurz war er aus dem Konzept gebracht, dann räusperte er sich fing er sich wieder. „Ich freue mich so, dass ich das Weihnachtsfest mit Ihnen verbringen darf. Kate hat mir schon viel von ihrer Familie erzählt.“ Er kniff Kate neckisch in den Hintern. Sie quiekte empört und bemerkte, wie Val und Jessie ihre Köpfe zusammensteckten.
„Kate, mein Schatz, wie kommt es denn, dass du vergessen hast, uns so etwas Wichtiges mitzuteilen?“ Ihre Mutter wandte sich mit zusammengepressten Lippen an Kate. Am Funkeln in ihren Augen erkannte Kate, dass sie fuchsteufelswild war.
Großonkel Denver lachte schallend.
„Nun ja, ich wollte euch überraschen“, stammelte sie und sah hilfesuchend zu Jordan.
„Überraschen“, brachte ihre Mutter hervor.
„Überraschen?“, fragte ihr Vater.
„Überraschen.“ Val amüsierte sich königlich.
„Ich bin Jordan.“ Jordan hielt ihrem Vater die Hand hin.
Der ließ seinen Blick kritisch über den vermeintlichen Freund seiner Tochter wandern. An der flügelartigen Tätowierung, die sich den Nacken hinaufwand, blieb er stirnrunzelnd hängen. Er kniff die Lippen zusammen.
„Hm“, machte er.
„Dad!“, zischte Jessie.
„Watson. Walter Watson.“, sagte Kates Vater reserviert und schüttelte sparsam Jordans Hand.
„Freut mich, Sie kennenzulernen, Sir, Kate hat schon so viel von Ihnen erzählt!“
Kate rollte die Augen.
„Wirklich?“, fragte ihr Vater misstrauisch. „Was denn?“
„Hey Jordan, ich bin Mick.“ Kates Bruder legte ihm den Arm um die Schulter. „Lass dich von dem alten Griesgram nicht aus dem Konzept bringen. Er meint es nicht so. Aber Kate ist hier das Nesthäkchen – du weißt schon!“
„So ist das eben mit Vätern von schönen Töchtern!“, entgegnete Jordan schulterzuckend.
Kates Mutter öffnete empört den Mund.
„Das hat mir mal ein Freund erzählt, der ein echt wilder Bursche war“, fügte Jordan hastig hinzu.
Damit rettete er die Situation nicht annähernd, dachte Kate.
„Du möchtest Jordan bestimmt jetzt euer Zimmer zeigen. Ihr hattet ja eine lange Anreise“, sagte Jessie.
Kate wusste es zu schätzen, wie ihre Geschwister sich für sie ins Zeug legten, doch so wurde alles nur noch komplizierter.
„Euer Zimmer?“ Kates Vater sah aus, als wollte er auf Jordan losgehen.
„Dad, ich bin volljährig!“
„Das stimmt!“ Jordan zwinkerte Kate zu. Ihr ging auf, was das implizierte und sie wurde wieder knallrot im Gesicht.
„Ich glaube, der arme Jordan braucht jetzt dringend einen Willkommensdrink! Komm, Kumpel, du musst bestimmt erst mal verdauen, in was für eine Familie du hier herein geraten bist!“ Freundschaftlich legte Mick Jordan den Arm um die Schultern.
„Fantastische Idee“, bestätigte Jordan. „Dann kannst du mir auch gern die bezaubernde Lady neben dir vorstellen. Deine Frau?“
Das Ganze kann nur in einer totalen Katastrophe enden, dachte Kate.
Mick hob amüsiert die Mundwinkel. „Gott bewahre!“
„Das wäre wirklich die Hölle auf Erden.“ Val lachte. „Nicht wahr, Bruderherz?“
„Sag mal, wie lange seid ihr denn schon zusammen? Mir scheint es, dass ihr voll überschäumender Gefühle nicht so viel Zeit hattet, euch zu unterhalten.“ Mick grinste anzüglich. „Weißt du wenigstens, wie dein neuer Freund mit Nachnamen heißt?“
Am liebsten hätte Kate ihrem Bruder jetzt eine Ohrfeige gegeben, weil das, was er da andeutet, absolut nicht wahr war.
„LeClerc“, entgegnete sie stattdessen. „Jordan LeClerc heißt er und er lebt in …“, sie überlegte kurz, was sein Kennzeichen gewesen war, „New York. Ganz in der Nähe vom Central Park.“ Sie sagte das alles langsam, damit Jordan eine Chance hatte, es sich zu merken. Central Park war auch der einzige Ort in New York, der ihr einfiel.
„Ecke 16. und 90.“, ergänzte Jordan, bevor jemand Kate fragen konnte.
„Hast du nicht letzte Woche gesagt, dass du schon ewig nicht in New York warst und das unbedingt in den nächsten Ferien nachholen musst?“ Val legte den Kopf schief.
„Das stimmt! Ich versuche sie die ganze Zeit zu überreden, mich besuchen zu kommen. Aber sie ist ja eine absolute Streberin und möchte auf keinen Fall ihr Studium vernachlässigen, nicht wahr, Baby?“ Jordan grinste herausfordernd.
„Komm, jetzt trinken wir erst mal einen und dann kannst du uns die romantische Geschichte erzählen, wie ihr euch kennengelernt habt.“ Mick und George nahmen ihn in die Mitte und schoben ihn hinüber zu dem Zimmer, das früher die Bezeichnung „Herrenzimmer“ hatte und in dem sich heute immer noch die Bar befand.
Kate sah ihnen verzweifelt nach. Auf keinen Fall wollte sie Jordan mit ihren Brüdern allein lassen. Das konnte nur daneben gehen. Sie hatten überhaupt nichts abgesprochen. Doch da ihre Mutter ihre Arme wie einen Schraubstock um ihre Schultern gelegt hatte, hatte sie keine Wahl.
„Wir müssen uns unterhalten“, knurrte diese ihr zu, und bugsierte sie unter den amüsierten Blicken der anderen Gäste in die Küche.
Hier war schon alles für das Festessen vorbereitet. Auf der Anrichte und dem Tisch in der Mitte stapelten sich, momentan noch abgedeckt, Schalen und Platten mit Salaten, Beilagen und mindestens drei verschiedenen Sorten Pudding, die darauf warteten, im Esszimmer serviert zu werden.
„Wieso zum Teufel hast du mir nichts gesagt?“ Erbost starrte ihre Mutter sie an. „Und wieso hast du mich angelogen? Du hast behauptet, dass Flynt sich irrt und es keinen anderen gibt.“
Kate seufzte und wünschte sich zurück in ihr spartanisches Zimmer im Studentenwohnheim. Hätte sie bloß ihrem Instinkt vertraut und dieses Weihnachtsfest ausfallen lassen.
Als sie die mit Buttercreme verzierten Cookies in Form eines Weihnachtssterns bemerkte, meldete sich der Hunger in ihr. Maria, ihre Haushälterin, arbeitete schon seit einer wahren Ewigkeit für die Familie. Soweit Kate wusste, war sie schon immer da gewesen. Jedenfalls war sie mindestens so lange bei ihnen, wie es Kate gab. Ihre köstlichen Weihnachtsplätzchen hatten bislang jeden Heiligabend begleitet. Sie streckte die Hand aus und ergriff einen der Sterne. Sie wollte gerade hineinbeißen, als ihre Mutter ihr empört den Keks aus den Fingern riss.
„Hörst du mir überhaupt zu? Was ist los mit dir? Du kannst doch keine Plätzchen essen, wenn wir über so etwas Wichtiges reden!“
Kate verdrehte die Augen. „Vorhin hast du mich gefragt, ob ich Hunger habe. Nun habe ich Hunger. Wo ist bitte das Problem?“
Ihre Mutter stützte die Hände in die Hüften und funkelte sie wütend an. „Das Problem ist, dass du mich bei unseren Freunden lächerlich machst.“
„Wieso denn das?“ Kate schnappte sich einen anderen Keks.
„Wieso?“ Die Stimme ihrer Mutter überschlug sich. „Ich lade die Benjamins ein und verrate Greta, dass du doch noch Single bist. Dass an dem Gerücht, dass du einen anderen kennengelernt haben sollst, nichts dran ist. Und sie erzählt mir, dass Flynt offenbar nie begriffen hat, was schiefgelaufen ist und dass er immer noch in dich verliebt ist. Niemand hat verstanden, wieso du so plötzlich Schluss gemacht hast, Kate. Aber lass dir eines sagen: Auf der anderen Seite ist das Gras auch nicht grüner und so einen wie Flynt findest du kein zweites Mal.“
Kate schlug frustriert mit der Hand auf den Küchentisch. Die Etagere mit den Plätzchen kam dabei gefährlich ins Wanken, hielt sich aber gerade noch oben.
„Mama, bitte! Ich bin keine alte Jungfer, die auf dem Jahrmarkt dem Erstbesten angeboten werden muss. Ich kann mir selbst einen Freund suchen.“
Plötzlich fiel ihr auf, was sie sagte, und sie korrigierte sich. „Ich habe einen festen Freund. Ich will Flynt nicht mehr. Kannst du das endlich akzeptieren? Vielleicht muss ich es mir auf die Stirn tätowieren oder mir T-Shirts damit drucken. Ich bin ein eigenständiger Mensch und nicht dazu da, deine Träume zu leben.“
Mit offenem Mund starrte ihre Mutter sie an. Vermutlich war es das erste Mal, dass Kate in einem solchen Tonfall mit ihr sprach. Bestürzt bemerkte Kate, dass das Kinn ihrer Mutter zitterte. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und rannte aus der Küche.
Wie vom Donner gerührt blieb Kate stehen.
„Scheiße“, fluchte sie. „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“
Nur mit eiserner Selbstbeherrschung widerstand Kate dem Impuls, in der Küche alles kurz und klein zu schlagen. Vor allem, weil es Maria gegenüber nicht fair gewesen wäre, die so viel Arbeit damit gehabt hatte.
Wie auf Kommando betrat diese die Küche. Sie trug ein silbernes Tablett in der Hand, auf dem sich noch die Reste der Kanapees befanden, die die Zeit bis zum Abendessen überbrücken sollten. Als sie Kate sah, erhellte ein Strahlen ihr Gesicht. Sie stellte das Tablett ab und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
„Kate! Da bist du ja endlich!“ Sie gab ihr ein paar herzliche Wangenküsse. Dann schob sie Kate von sich weg und betrachtete sie von oben bis unten. „Lass dich erst mal ansehen. Isst du denn auch genug? Können die Menschen an dieser Universität kochen?“ Dann runzelte sie die Stirn. „Was ist denn los?“
Kate ließ den Kopf sinken. „Eben habe ich meine Mutter zum Weinen gebracht.“
„Hey, Chica, so schlimm kann es doch nicht sein!“, sagte Maria so warmherzig, dass sich Tränen in Kates Augen sammelten. „Was ist denn passiert? Du bist doch gerade erst nach Hause gekommen!“
„Und ich hätte niemals herkommen sollen. Ich habe es ja gewusst.“
„Wieso denn nicht?“ Maria legte den Arm um Kate und drückte sie an sich. Der vertraute Geruch nach Vanille und Zimt umgab sie. Maria war schon immer so etwas wie eine zweite Mutter für Kate gewesen. Sie hatte stets ein Stück Schokolade und ein Pflaster da, wenn Kate mal wieder beim Klettern von einem Baum gefallen oder sich beim Schnitzen in die Hand geschnitten hatte. Maria war eine ebenso große Konstante in ihrem Leben wie ihre Eltern selbst.
„Ich kann nicht drüber reden!“
„Wenn ich über etwas nicht reden kann, dann spreche ich darüber mit Gott. Der hört mir immer zu, auch wenn etwas wirklich schlimm ist.“ Maria sah sie ernst an. „Ich habe keine Ahnung, was los ist. Aber lass dir gesagt sein, dass es für alles eine Lösung gibt. Ich habe einmal den Fehler gemacht, das zu vergessen. Das war der größte Fehler meines Lebens. Mach du nicht auch so einen.“
„Was hast du mit Mom gemacht?“ Mit gerunzelter Stirn und fest in die Hüften gestützten Fingern stand Jessie plötzlich in der Küchentür.
„Wieso?“, fragte Kate abwehrend.
„Sie ist heulend nach oben gegangen. Dad ist hinterher und die anderen fragen sich, was wohl passiert ist.“
„Möchtet ihr vielleicht ein Glas Orangenpunsch?“ Maria stellte ihnen die Gläser hin, die sie bereits eingegossen hatte.
„Danke“, sagte Kate knapp.
Jessie ließ ihr Getränk unberührt stehen. „Und?“, fragte sie.
„Wir hatten einen Streit.“ Kate nahm einen großen Schluck und genoss die Wärme, die es in ihrem Magen erzeugte. Dann probierte sie eines der Zimtplätzchen.
„Die sind mal wieder unübertroffen, Maria!“, sagte sie zu ihr, in der Hoffnung, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.
„Danke!“ Maria strahlte. „Du musst auch unbedingt die Polvorones probieren!“ Sie öffnete einen Schrank und holte eine Dose hervor, in der sich wunderbar duftende Plätzchen befanden.
„Polvorones!“, juchzte Kate, deren Magen sich nun immer stärker meldete. „Ich habe mich schon gefragt, ob du die in diesem Jahr vergessen hast!“ Sie liebte es, wenn Maria die süßen Leckereien aus ihrer mexikanischen Heimat machte.
„Wie könnte ich, Chica! Ich weiß doch, wie gern du sie hast.“
Kate wollte sich gerade den zweiten Keks schnappen, als sich eine Hand um ihren Arm krallte. Sie hielt in der Bewegung inne und drehte sich zu ihrer Schwester um.
„Du bist echt unmöglich!“, schimpfte Jessie. „Erst bringst du Mom zum Weinen und dann stopfst du dich mit Plätzchen voll, als wäre nichts gewesen.“
„Wenn du keine Ahnung hast, worum es ging, solltest du dich vielleicht raushalten!“, entgegnete Kate eisig.
„Mädchen, es ist Weihnachten, lasst die Streitereien. Weihnachten sollte das Fest der Liebe und der Familie sein!“ Maria legte ihre Arme um die beiden.
Jessie ignorierte den Einwand. „Ich weiß nicht, was mit dir los ist. Du bist total merkwürdig, seit du nach Yale gegangen bist.“
„Das ist nicht wahr. Ihr wollt bloß nicht akzeptieren, dass ich ein anderes Leben führe. Mein eigenes.“
Jessie schnaubte. „Dad hat dir ein Auto geschenkt. Doch du warst das letzte Mal an Thanksgiving hier. Weißt du, wie sehr die beiden sich grämen?“
„Hast du schon mal in Erwägung gezogen, dass ich mich fernhalte, weil ich nicht ständig über Flynt stolpern will? Und was macht Mom als Erstes? Lädt ihn mit ganzer Familie ein und verkündet ihm, ich wäre Single.“
Mittlerweile befand sich Maria in einem Zustand hektischer Betriebsamkeit. Den nahm sie immer ein, wenn ihr etwas gegen den Strich ging. Sie spülte Gläser ab, die sie durchaus auch in die Spülmaschine hätte räumen können.
„Vielleicht hättest du ihr von deinem Freund erzählen sollen“, meinte Jessie.
„Ja, vielleicht. Aber vielleicht sollte Mom aufhören, mich zu verschachern wie eine Braut auf einem Basar. Ich kann mir selbst einen Freund suchen.“
„Du hast einen neuen Freund? Das hast du ja noch gar nicht erzählt.“ Maria sah sie neugierig an.
„Und was für einen“, warf Jessie ein. „Wo hast du ihn denn kennengelernt? Ich hoffe nicht, dass er sein Geld damit verdient, Schutzgeld zu erpressen. Ich habe den komischen Koffer gesehen, den er dabeihat. Ist da ein Gewehr drin?“
„So ein Quatsch!“ Kate lachte. „Jordan ist ein ganz normaler Typ mit einem normalen Job. Höchstens vielleicht mit einem ungewöhnlichen Klamottengeschmack.“
„Was macht er denn genau? In einem normalen Büro wird er mit den Tätowierungen wohl nicht arbeiten. Was ist das eigentlich für ein Ding an seinem Hals? Ein Vogel oder ein Tribal? Das konnte ich nicht so richtig erkennen.“
„Keine Ahnung“, entgegnete Kate und wünschte sich augenblicklich, dass sie erst nachdenken und dann reden würde.
„Willst du mir erzählen, dass dieser testosterongeschwängerte Kerl dein Freund ist, du ihn aber noch nie nackt gesehen hast?“ Mit offenem Mund starrte Jessie sie an.
Kate entschied, dass der Moment für eine Verzweiflungstat gekommen war. Sie beugte sich vor, als wollte sie ein weiteres Plätzchen nehmen, und goss sich dabei den Orangenpunsch über die weiße Seidenbluse. Manchmal war es Zeit, ein Opfer zu bringen.
„Oh nein!“, tat sie entsetzt. „Wie konnte mir das bloß passieren?“
Sie schnappte sich eine Serviette und wischte hektisch auf dem Fleck herum. Dabei wurde alles nur noch schlimmer. Maria und ihre Schwester kamen hinzu und versuchten ebenfalls, das größte Unheil abzuwenden. Aber die weiße Seidenbluse war nun zur Hälfte rot.
„Du musst das sofort ausziehen. Dann müssen wir Salz drauf tun, sonst ist deine Bluse ruiniert“, bemerkte Maria, die auf dem Gebiet eine wahre Expertin war.
„Vermutlich hast du recht. Ich wollte mich sowieso umziehen. Ich gehe auf mein Zimmer.“
Mit diesen Worten eilte Kate aus der Küche. Zu ihrer Erleichterung war ihre Mutter nirgends zu sehen und sie musste sich nicht auch noch bei ihr rechtfertigen. Sie ging hinüber zur Bar und hörte, wie Jordan etwas sagte, als sie den Raum betrat.
„Wie siehst du denn aus? Hast du versucht, einen Truthahn zu köpfen?“, frotzelte George. Die Anwesenden lachten.
Kate verkniff sich demonstrativ eine Antwort. „Jordan, wie wäre es, wenn wir uns umziehen gehen? Nach dem Abendessen gehen wir ja noch alle gemeinsam in die Kirche.“ Dabei warf sie ihm einen vielsagenden Blick zu.
Gemächlich ließ er seine Augen durch den Raum schweifen, als müsste er überlegen, ob er ihrem Wunsch wirklich nachgeben sollte. Dann grinste er und stand auf.
„Natürlich, Baby. Wahrscheinlich brauchst du Hilfe. Da komme ich doch gerne mit.“
Er nickte den anderen zu und ging zu Kate hinüber.
„Spiel bloß nicht immer den Pantoffelhelden“, rief Mick ihm nach. „Und mach das nicht vor unseren Frauen, Jordan! Sonst werden die noch total aufmüpfig!“
Jordan lachte. „Ich verrate euch später, wie man eine Frau dazu bekommt, dass sie einem aus der Hand frisst.“
Er zwinkerte, legte Kate besitzergreifend den Arm um die Schulter, nicht ohne ausreichend Abstand zu der roten Brühe zu halten, und schob sie aus dem Raum.