Prolog
Lukas, 6 Jahre alt
»Mama, Mama! Luki ist eine Prinzessin!«, ruft meine kleine Schwester Carolin ganz aufgeregt. Sie flitzt aus meinem Zimmer, um unsere Mutter zu holen. Ich lege den Controller der Playstation zur Seite und richte meine Krone, die mir meine Schwestern aufgesetzt haben. Wir verkleiden uns sehr oft. Caro hat immer so viel Freude daran, mit mir Prinzessin zu spielen, dass ich ihr diesen Wunsch nie abschlagen könnte.
»Wie sehe ich aus?«, frage ich meinen Kumpel Jan, der neben mir auf dem Teppichboden sitzt und immer noch auf die Autos im Fernsehen starrt. Endlich wendet er den Blick vom Bildschirm ab. Seine blauen Augen beginnen zu leuchten.
»Wie eine Prinzessin«, meint er und lacht hell auf. Ich mag es sehr, wenn er lacht. Dann würde ich ihn am liebsten umarmen.
»Na hoffentlich keine von diesen blöden Prinzessinnen, die immer nur pinke Sachen tragen und den ganzen Tag Lieder singen«, murre ich und schiebe beleidigt die Unterlippe vor. Meine Lippen schmecken nach Erdbeeren, weil Caro mir ihren Kinderlippenstift draufgeschmiert hat. Jans Lippen sind genauso rosa geschminkt. Ob er wohl auch nach Erdbeeren schmeckt?
»Nee. Du wirst eine tolle Prinzessin. Eine, die Fußball spielt und die größte Hot Wheels Sammlung hat, die ich je gesehen habe«, sagt er im Brustton der Überzeugung. Seine Wangen glühen, als er etwas näher an mich heranrückt. »Und …«, flüstert er mir zu, »wenn du so eine tolle Prinzessin bist, könnte ich dich später heiraten.«
Mein Herz beginnt plötzlich zu kräftiger zu pochen und meine Wangen färben sich ebenfalls rot.
»Wirklich? Du bist doch gerade selbst eine Prinzessin. Deine Lippen sind geschminkt.«
Jan nickt heftig und schenkt mir ein strahlendes Lächeln, was dieses warme Kribbeln in mir verursacht. Das geschieht immer, wenn wir zusammen sind. Immerhin ist Jan mein bester Freund.
»Du kannst Lukas nicht heiraten«, höre ich plötzlich die Stimme meiner Mutter von der Tür. Wie auf Kommando drehen wir uns zu ihr um. Jans Augen werden groß.
»Warum nicht?«, will er enttäuscht wissen. Meine Mutter kommt auf uns zu und kniet sich vor uns. Caro folgt ihr, lässt sich neben mich auf den Boden plumpsen und zerrt mir die Krone vom Kopf.
»Weil Lukas ein Junge ist. Und du auch, Jan«, erklärt Mama mit einem sanften Lächeln.
»Schade«, murmelt Jan und sieht mich traurig an. Sie streicht ihm durch seine blonden Locken.
»Ach, mach dir nichts draus. Ihr beide findet schon noch eure Prinzessinnen, wenn ihr erst mal älter seid. Und nun macht das Spiel aus, es gibt gleich Abendessen.«
Sie verlässt wieder mein Zimmer und lässt mich enttäuscht zurück.
Lukas, 12 Jahre alt
»Ei, ei, ei, was seh ich da, ein verliebtes Ehepaar. Noch ein Kuss, dann ist Schluss, weil die Braut nach Hause muss. Los, küsst euch!«, grölen einige der Jungs aus meiner Fußballmannschaft.
»Lukas und Jan, sitzen auf dem Baum. Knutschen rum, man glaubt es kaum!«
»Haltet die Klappe, ihr Wichser!«, rufe ich den Jungs zu. Jan sitzt zitternd auf der Bank neben mir, den Kühlakku fest auf sein Knie gepresst. Er ist beim Fußballspiel gestürzt und hat sich das Knie aufgeschlagen. Und weil er mein allerbester Freund ist, bin ich gleich zur Pausenaufsicht geeilt, um einen Kühlakku und ein Pflaster für ihn zu holen.
»Hör nicht auf die Idioten!« Ich lächele Jan aufmunternd an, damit er sich etwas besser fühlt. Mein Kumpel nickt.
»Jan ist eine Schwuchtel!«, ruft einer der größeren Jungs, der jetzt auf uns zugerannt kommt.
»Und Jan heult wie ein Mädchen«, neckt ihn ein anderer. Zu dritt bauen sie sich vor der Bank auf. Wütend springe ich auf, stelle mich vor meinen schluchzenden Freund.
»Verpisst euch, oder ich rufe den Lehrer!«, zische ich so bedrohlich wie möglich. Die Jungs sind viel älter als ich und sehen ziemlich gefährlich aus. Aber ich habe keine Angst vor ihnen. Schließlich dürfen sie Jan nicht einfach so ärgern.
»Oh, sieh an, der kleine Luki verteidigt sein Mädchen. Wie rührend. Dann ist Lukas also auch schwul!« Die drei brechen in schallendes Gelächter aus. Rot vor Wut balle ich die Fäuste.
»Ich bin nicht schwul!«, brülle ich so laut, dass sich einige der anderen Kinder auf dem Schulhof zu uns umdrehen.
»Ach nein? Und warum hängst du dann wie eine Klette an dieser Schwuchtel?«, fragt der größere der Jungs, greift nach meinem Arm und zieht mich etwas näher zu sich heran. Panisch sehe ich mich zu Jan um, der mich aus großen, verweinten Augen anstarrt. Angst schnürt mir die Kehle zu. Der Typ lügt … Jan ist nicht schwul.
Der Griff um meinen Arm wird immer fester und schmerzt bereits, weil ich mich verzweifelt versuche, aus ihm zu befreien.
»Ich bin nicht schwul«, murmele ich. Ein beklemmendes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus, als ich die Worte ausspreche.
»Was? Ich höre dich nicht, Kleiner.«
»Ich. Bin. Nicht. Schwul!«, brülle ich laut, reiße mich mit aller Kraft los und renne, so schnell ich kann, davon, ohne mich noch einmal nach Jan umzusehen. Hinter mir höre ich seine Rufe und das laute Gelächter der Jungs. Mein Herz rast vor Panik. Wie vom Teufel gejagt flitze ich um die Sporthalle herum und presse mich schwer atmend gegen die kalte Hauswand. Ein Gedanke kreist immer wieder in meinem Kopf: Ich bin nicht schwul.
Lukas, 16 Jahre alt
»Sieh mal einer an. Da ist ja die Schwuchtel!«, grölt Kevin lautstark.
»Oooh Jaaaaan. Heute schon einen Schwanz gelutscht?«, ruft Tom und macht eine eindeutige Geste mit dem Mund. Gemeinsam mit meinen Freunden stehe ich an dem großen Baum hinter dem Schulgebäude, an dem Jan täglich vorbeigeht. Mein ehemaliger bester Freund stockt in der Bewegung, dann kommt er weiter auf uns zu. Sein Blick ist auf den Boden gerichtet und er versucht, uns zu ignorieren, was ihm jedoch nicht gelingt. Ich merke, wie sich sein Körper bei den Worten, die meine Freunde ihm zurufen, anspannt. Auch mein Inneres krampft sich zusammen, aber ich verdränge dieses Gefühl sogleich. Jan ist schwul und ich bin es nicht. Punkt.
»Na komm schon, Süßer. Willst du mir nicht zeigen, wie du es am liebsten hast? Von hinten? Oder liegst du dabei eher auf dem Rücken wie ein Mädchen?« Kevin packt Jan am Arm und zieht ihn ruckartig zu sich heran. Jan schreit erschrocken auf, was mir den Magen umdreht.
»Lass mich in Ruhe«, fleht er mit weit aufgerissenen Augen. »Ich muss nach Hause.«
»Will das kleine Baby etwa zu seiner Mama? Oder wartet dein Lover schon, damit du ihm den Schwanz lutschen kannst?« Tom lacht gehässig und packt Jans anderen Arm. Mein ehemaliger bester Freund hebt den Kopf und sieht mir fest in die Augen, als würde er hoffen, dass ich ihn gegen die Jungs verteidige. Für einen kurzen Moment liegt keine Angst in seinem Gesicht, sondern ein kleiner Funken Hoffnung. Doch warum sollte ich einer Schwuchtel helfen? Dann wäre ich bei meinen Freunden unten durch! Das kann ich nicht riskieren. Ich kann mich nicht auf seine Seite stellen, auch wenn er früher mal mein bester Freund gewesen ist. In diesem Moment habe ich genauso viel Angst wie Jan. Angst, etwas zu machen, was meinem Ruf und meiner Stellung bei den Jungs irgendwie schaden könnte.
»Hey Luke. Warum sagst du denn nichts?«, will Kevin verwirrt wissen. »Immerhin bist du es doch, den er angefasst hat. Da ist es dein gutes Recht, deiner Wut freien Lauf zu lassen. Wenn mir ein Kerl seine Zunge in den Hals gesteckt hätte, würde ich ganz sicher nicht so ruhig bleiben wie du.«
»Schwuchtel«, brumme ich, weil mir nichts Besseres einfällt, um meinen Freunden gerecht zu werden. Am liebsten würde ich dieser Situation den Rücken kehren. Vor allem, um Jan nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Einfach weglaufen und seinen hoffnungsvollen Blick ignorieren. Denn ich werde ihm nicht helfen können. Es ist zu spät.
»Das wars? Du enttäuschst mich, Mann.« Tom klingt wirklich ein wenig enttäuscht. Eigentlich haben sie recht, ich sollte wütend auf Jan sein. Ihn anschreien und vielleicht sogar schlagen. Als er mich letzte Woche in der großen Pause einfach so im Schulflur mit einem Kuss überrumpelt hat, war ich vor Schock wie gelähmt. Die einzig richtige Reaktion darauf war, ihn von mir zu stoßen und anzubrüllen. Natürlich ist diese Aktion nicht unbemerkt geblieben. Und als ich mich nach einem Moment wieder gefangen hatte, meine Gedanken sich geklärt hatten, war es zu spät, mein Verhalten irgendwie zu revidieren. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, doch die anderen Mitschüler entschieden bereits für mich. Sofort ergriffen meine Freunde Partei, beschimpften Jan und sorgten dafür, dass er Abstand zu mir hielt, sodass ich nicht mit ihm über diese Sache sprechen konnte. Vielleicht war es auch besser so, denn mich überkam schreckliche Panik, die anderen Jungs könnten sich genauso von mir abwenden, wie sie es nun von Jan taten.
»Lukas … ich dachte, wir wären Freunde«, murmelt Jan mit bebender Stimme. Seine blauen Augen füllen sich mit Tränen, während er versucht, gegen den festen Griff der Jungs anzukämpfen.
Ich balle die Fäuste. Mein Kiefer mahlt. »Du spinnst ja. Als ob ich mit jemandem wie dir befreundet sein könnte!«
»Richtig so«, pflichtete mir Kevin bei. »Zeig’s ihm. Er hat es verdient, zu spüren, wie wütend du bist. Du willst doch nicht als Gespött der ganzen Schule dastehen, Luke. Jemand, der von einem Kerl geküsst wurde! Das kannst du nicht auf dir sitzen lassen.«
Nein, das will ich ganz sicher nicht. Vor allem, weil sich diese Gerüchte nicht nur auf die Schule beschränken würden. Mein Vater würde mich auslachen oder Schlimmeres. Das konnte ich nicht zulassen. Der Druck, den meine Freunde deshalb täglich auf mich ausüben, ist kaum zu ertragen. Ich will nicht als schwul abgestempelt werden, weil ich es doch gar nicht bin. Außerdem wäre ich sicher der Nächste, den sie fertigmachen werden.
»Lukas, bitte. Sag ihnen, dass sie mich loslassen sollen. Es tut mir leid«, fleht Jan. Die Angst in seiner Stimme schnürt mir die Kehle zu. Ich kann es nicht ertragen, ihn heulen zu sehen.
»Halt die Klappe!«, schreie ich ihn an, doch er hört nicht auf. Sein Schluchzen wird lauter.
»Lukas, ich … ich …«
Ich halte den Atem an. Alles in mir sträubt sich gegen diese unwirkliche Situation. Wie konnte es nur so weit kommen? Dass ich mich einmal zwischen meinem besten Freund aus Kinderzeiten und der ganzen Welt entscheiden muss, ist unfair.
»Ich … liebe dich!«
Diese Worte geben mir den Rest, lassen den Knoten der Wut in mir platzen. Wie von Sinnen hole ich aus und ramme Jan die Faust in den Magen. Er keucht auf, weil ihm kurz die Luft wegbleibt. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er mich an, völlig fassungslos darüber, was ich getan habe. Ich sehe auf meine Faust und kann selbst für einen Moment nicht glauben, Jan tatsächlich geschlagen zu haben. Bisher habe ich mich noch nie geprügelt. Aber bekanntlich gibt es für alles ein erstes Mal.
»Gut so. Zeig ihm, wo er sich seine Liebe hinstecken kann«, spornt mich Kevin an. Wütend hole ich erneut aus. Dieses Mal landet meine Faust in Jans hübschem Gesicht. Sofort platzt seine Lippe auf. Blut tritt aus der Wunde und rinnt über sein Kinn. Immer mehr Tränen lösen sich aus seinen blauen Augen.
»Bitte nicht, Lukas«, wimmert er vor Schmerzen, doch seine Stimme treibt mich weiter zur Weißglut. Ich will nicht, dass er mit mir redet. Will seine Gefühle nicht. Will nicht mehr an ihn denken, mich an ihn erinnern. Er ist eine Schwuchtel! Ich will mit ihm nichts zu schaffen haben!
»Halt die Klappe!« Erneut schlage ich ihm mit voller Wucht in den Magen. Meine Freunde lassen ihn los, sodass sich Jan auf dem Boden zu meinen Füßen zusammenkrümmt. Er stöhnt vor Schmerz. Mein Herzschlag rast, Adrenalin jagt durch meine Adern. Jan hebt den Kopf und sieht mich schon wieder an.
»Lukas …«
»Halt endlich deine verdammte Klappe!« Ich trete ihm in die Seite. Immer und immer wieder. »Ich hasse dich!« Ich trete ihn so lange, bis sein Wimmern und Weinen immer lauter wird. Plötzlich packt mich Kevin am Arm.
»Hey Mann. Das reicht. Er rührt sich nicht mehr«, sagt er mit Panik in der Stimme. »Lass uns von hier verschwinden, bevor uns noch jemand sieht.«
Ich starre weiterhin auf Jan, der sich am Boden vor Schmerzen windet, während meine Freunde mich hinter sich herziehen. Das hat er nun davon, sich in mich zu verlieben!
Kapitel 1
Zwei Jahre später
-Lukas-
»Hey Luke. Wie war dein Wochenende? Wärst du mal mit auf die Party gekommen. Wir waren alle krass drauf, Mann.« Johann grinst mich breit an und wackelt vielsagend mit den Augenbrauen. Genervt verdrehe ich die Augen.
»Was bitte schön ist so toll daran, sich irgendeinen Scheiß reinzupfeifen, von dem dir am nächsten Tag die Birne dröhnt? Darauf verzichte ich gern.«
»Du Spaßbremse. Das nächste Mal kommst du mit, ja? Wirst es auch nicht bereuen.«
»Vielleicht.« Gedankenverloren schaue ich aus dem Fenster. Samstag war der Todestag meiner Mutter. Da wäre ich ganz sicher auf keine Party gegangen, um mich mit einem Haufen Idioten volllaufen zu lassen. Es ist jetzt zwei Jahre her, seitdem sie im Krankenhausbett, angeschlossen an unzählige Geräte, gestorben ist. Ich erinnere mich an ihren Anblick, als wäre es gestern gewesen. Immer wieder steigt die Wut in mir hoch, wenn ich an ihren Tod denke. Die Wut über diesen betrunkenen Autofahrer, der sie an der Kreuzung nicht gesehen hat, als sie mit dem Fahrrad Brötchen für das Frühstück holen wollte. Er hat sie so heftig gerammt, dass meine Mutter mehrere Meter über die Straße geflogen ist, ehe sie mit dem Kopf gegen die Bordsteinkante schlug. Obwohl die Rettungssanitäter sofort zur Stelle gewesen waren, ist sie nur wenige Stunden später nach einer langen Notoperation im Krankenhaus gestorben.
Meine Freunde kennen die Geschichte, aber es war nicht ihre Mutter, sodass für sie bald schon alles beim Alten war. Für mich blieb an diesem Tag die Welt stehen. Immer noch denke ich oft an sie und vermisse sie gerade an ihrem Todestag schmerzlich. Dieser Tag war Samstag … Wie hätte ich mit meinen Freunden Party machen sollen? Unvorstellbar!
Damals ist meine Schwester Annika noch im Kindergarten gewesen. Sie hat nicht verstanden, warum Mama nicht mehr wiederkommt, um ihr eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Jede Nacht hat sie furchtbar geweint und nach ihr gerufen, dass es mir das Herz zerrissen hat. Ihr Tod traf mich doppelt so hart, weil ich für meine kleinen Geschwister nun der starke, große Bruder sein musste, obwohl ich mich am liebsten nur noch in meinem Zimmer verkrochen hätte, um zu heulen. Meine Mutter war immer der Mensch, der mich ohne Worte verstanden hat. Sie hat gewusst, wer ich wirklich bin. Für sie musste ich mich nie verstellen, konnte der Lukas sein, der ich war und nicht der, den die Leute haben wollten. Meine Schwestern sehen in mir ihren Beschützer, den starken Jungen, der sie niemals enttäuschen würde. Mein Vater betrachtet mich als seinen Nachfolger bei der Polizei, setzt Erwartungen in mich, die ich kaum erfüllen kann. Doch für meine Mutter war ich einfach nur der kleine Junge, der früher in ihr Bett gekrochen ist, weil er Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte. Der manchmal Trost suchte, obwohl er nicht wusste, warum. Der nie irgendwelche Fragen zu seinen Gefühlen beantworten musste, die er nicht erklären konnte. Alles, was in mir vorging und von dem ich selbst nicht wusste, wohin ich es einordnen sollte, hatte sie bemerkt und mir ohne Worte zu verstehen gegeben, dass alles gut war.
Und dieser besondere Mensch war fort. Einfach aus unserem Leben gerissen durch einen Typen, der nach einer durchzechten Nacht ins Auto gestiegen ist, statt sich ein Taxi zu rufen. Wäre dieser Kerl nicht gefahren, dann wäre meine Mutter noch hier und ich könnte mit ihr über all das reden, was mir momentan auf dem Herzen lastet. Diese ganzen seltsamen Empfindungen, die ich überhaupt nicht einordnen kann. Ich fühle mich, als wäre mir meine eigene Haut zu eng. Ich bin nicht mehr der Lukas, der ich noch vor zwei Jahren war. Als hätte sich irgendetwas tief in mir verändert, ohne dass ich es hätte verhindern können.
Nach ihrer Beerdigung habe ich das Trinken geschmissen. Genauso wie ich aufgehört habe, mich mit jedem zu prügeln, der mich nur blöd angeschaut hat. Meine Freunde würden nicht verstehen, was gerade in mir los ist, auch wenn ich es ihnen erklären würde. Sie sehen in mir den harten Kerl, eine Art Anführer, der immer weiß, wo es langgeht. Dabei bin ich alles andere als das in letzter Zeit.
»Aber du kommst doch zu Sarahs Party, oder?«, lässt mein Kumpel nicht locker und reißt mich aus meinen trüben Gedanken. Ich drehe mich wieder zu ihm um.
»Sarahs Party?«, frage ich irritiert. Sarah war bei uns im Jahrgang, bevor sie nach den Sommerferien das Jahr wiederholen musste. Ich glaube, ich hatte schon mal was mit ihr vor ein paar Jahren. Sie ist Franziskas beste Freundin gewesen, denn die Mädels hingen ständig zusammen, als Sarah noch in unserem Jahrgang war. Jetzt hat sich Franzi jedoch eine neue beste Freundin angelacht. Ich sehe zu ihr rüber, wie sie über etwas kichert, was ihr Julian zuflüstert. In Deutsch sitzen die beiden in der Reihe vor mir. Mir wird jedes Mal ganz flau im Magen, sobald ich ihn sehe. Ich kann diese kleine Schwuchtel einfach nicht leiden. Schon als er vor knapp zwei Wochen nach dem Umzug hierher den Klassenraum betreten hat, wusste ich, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Erst konnte ich meine Abscheu nicht richtig zuordnen, bis ich ihn an einem Wochenende mit einem Kerl in der Stadt gesehen habe. Wie sie sich in aller Öffentlichkeit aneinandergeschmiegt haben … Einfach widerlich! Das Bild geht mir bis heute nicht aus dem Kopf, obwohl ich es nur zu gern verdrängen will.
»Wann ist diese Party?«, frage ich Johann, um zu verhindern, dass er mich noch weiter nervt. Solange ich Interesse heuchle, bleibe ich weitestgehend von seiner Fragerei verschont.
»Ich glaube in zwei Wochen? Ich kann sie aber gern noch mal fragen, wenn du willst.«
»Lass stecken. Ich frage Sarah selbst. Sicher wird sie sich noch an unsere heiße Nummer erinnern.«
Mein Kumpel grinst mich an. »Als du es ihr im Materialraum besorgen wolltest? Ich glaube, das weiß nicht nur Sarah, sondern der ganze Jahrgang«, entgegnet er und hält sich die Hand vor den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken.
Ganz so ist es nicht gewesen. Wir haben nur rumgeknutscht. Okay, vielleicht hatte ich meine Hand unter ihrem Shirt, aber mehr ist da wirklich nicht gelaufen. Zumindest nicht in der Pause. Jetzt muss ich bei der Erinnerung daran, was nach der Schule passiert ist, ebenfalls grinsen.
»Lukas, Sie scheinen ja mächtig Spaß bei der Lektüre zu haben. Wollen Sie uns an Ihren Gedanken teilhaben lassen und den nächsten Absatz aus Werther interpretieren? Ich bin gespannt, was Sie uns zu Werthers erster Begegnung mit Lotte zu sagen haben«, kommt es plötzlich von Herrn Schuster. Erschrocken zucke ich zusammen. Na großartig, ich habe absolut keine Ahnung, wo wir gerade sind. Und schon gar nicht, was dieser Werther mit seiner Lotte macht. Hastig blättere ich in dem Buch vor mir.
»Ich vermute, er wollte sie ficken?«, sage ich das Erstbeste, was mir zum Thema einfällt und was der Rest der Klasse wohl auch von mir erwartet. Meine Mitschüler brechen natürlich in schallendes Gelächter aus, während Herr Schuster die Stirn in Falten legt. Er schüttelt missbilligend den Kopf.
»Knapp daneben. Werther hat romantischere Gefühle für diese Frau, die weit über das körperliche Verlangen hinausgehen. Was man von Ihnen anscheinend nicht erwarten kann, wenn ich ihre Aussage höre. Diese Stelle interpretieren Sie mir bis morgen auf mindestens fünf Seiten als Hausaufgabe. Und zwar alle. Jetzt schlagen Sie Seite 75 auf, wir überspringen diesen Abschnitt und widmen uns der Naturbeschreibung. Franziska, können Sie uns die Passage vorlesen?«
***
»Was für ein anstrengender Tag. Wir haben wieder einen toten Stricher gefunden«, brummt mein Vater, während er sich den Kartoffelbrei reinschaufelt. Seine Worte haben schon lange ihre Wirkung auf mich verloren. Als ich noch klein gewesen bin, hatte ich immer ein wenig Angst, wenn er von seiner Arbeit bei der Polizei erzählt hat. Meine Mutter hat sich stets darüber beschwert, dass Mordfälle nicht zum Abendessen gehören würden, doch er hat sich nie wirklich daran gehalten. Jetzt lassen mich seine Erzählungen überwiegend kalt, weil mich die Polizeiarbeit nicht sonderlich interessiert. Wenn mein Vater das wüsste, wäre er sicherlich enttäuscht. Bestimmt erzählt er deshalb immer so viel, um mich irgendwie für seinen Job zu begeistern.
»Die Kinder sollen wissen, in welcher Gesellschaft sie aufwachsen. Vor Kriminalität darf man nicht die Augen verschließen«, hatte er immer wieder betont, wenn meine Mutter mit ihm geschimpft hatte.
»Was ist ein Stricher?«, fragt Annika kauend. Ihre blauen Kinderaugen leuchten neugierig.
»Man spricht nicht mit vollem Mund«, ermahne ich meine kleine Schwester. Beleidigt schiebt sie die Unterlippe vor und schluckt den Bissen Gulasch hinunter.
»Eine männliche Hure«, erklärt Carolin nüchtern. »Luki, möchtest du noch mehr von dem Salat?«
»Und was ist eine Hure?«, will Annika erneut wissen. Ich verdrehe die Augen.
»Dafür bist du noch zu jung«, sage ich entschieden und halte Caro meinen leeren Teller hin, damit sie mir etwas von dem Kartoffelbrei drauf tun kann.
»Er hat sich einen Schuss gesetzt. Eine Nachbarin hat den Kerl hinterm Haus bei den Mülltonnen gefunden«, erzählt mein Vater weiter, ohne auf Annikas Frage einzugehen. »Schon der zweite Tote diesen Monat.«
»Köln ist eben ein gefährliches Pflaster«, meint Carolin achselzuckend. Anscheinend lässt sie die Story ebenfalls kalt. Wir haben davon einfach schon zu viele gehört.
Mein Vater zuckt mit den Schultern. »Da kann man froh sein, wenn man noch so anständige Kinder wie euch hat. Das Gulasch ist übrigens wirklich lecker heute, Lukas.«
Ich bekomme nicht oft ein Lob von ihm zu hören, weil er wegen der Arbeit viel zu selten zu Hause ist. Besonders schlimm war es nach Mutters Tod. Allein mit meinen zwei jüngeren Schwestern war ich zu Beginn absolut überfordert gewesen, was den Haushalt und die Schule anging. Mittlerweile bin ich jedoch ein ganz passabler Koch.
»Danke«, brumme ich verlegen.
»Ich habe auch geholfen«, entgegnet Caro sofort.
»Sicher. Du hast die Kartoffeln geschält.«
»Na und. Ohne mich wärst du gar nicht so schnell fertig geworden«, protestiert sie. Ich grinse Caro an. Sie hat zwei linke Hände, was das Kochen angeht. Trotzdem hilft sie mir jedes Mal in der Küche, auch wenn es nur mit dem Abwasch ist.
»Hört auf zu streiten, Kinder«, mahnt unser Vater. »Legst du mir noch etwas von dem Gulasch nach, Caro?«
Nach dem Abendessen verziehe ich mich in mein Zimmer an den Laptop, um ein wenig im Internet nach dem toten Stricher zu forschen, den mein Vater erwähnt hat. Es ist nicht so, dass mich seine Arbeit fasziniert, trotzdem lässt mich die Sache gerade nicht los. Ich bin neugierig geworden. Als ich noch in der Grundschule war, hat er mich einmal zur Polizei mitgenommen. Dort gab es Kekse und heiße Schokolade, daran kann ich mich genau erinnern.
»Wenn du mal groß bist, wirst du sicher auch ein guter Polizist«, hatte mein Vater zu mir gesagt, während er mich seinen Kollegen vorstellte. Damals bin ich ganz versessen darauf gewesen, Polizist zu werden. Doch jetzt … Jetzt will ich lieber Lehrer werden, so wie meine Mutter.
Ich starte den Laptop und gebe einige Stichworte in die Suchmaske ein. Natürlich erhalte ich einen Haufen von Informationen, die ich am liebsten nie gesehen hätte. Bilder von Männern in aufreizender Kleidung sprengen das Internet. So blonde, weibische Kerle wie Jan oder Julian … Mich schüttelt es schon bei dem Gedanken, einem anderen Mann näher zu kommen als mit einem kameradschaftlichen Handschlag. Bevor ich noch länger die Bilder anstarren muss, schließe ich den Browser und klappe den Laptop wieder zu. Dann erhebe ich mich vom Stuhl und verlasse mein Zimmer.
»Ich gehe noch eine Weile raus«, rufe ich durch den Flur. Ich brauche frische Luft und Ablenkung, um die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben.
»Sei vorsichtig, Junge. Und stell nichts Blödes an«, ruft mein Vater aus dem Wohnzimmer.
»Und schwängere keins deiner Mädchen«, entgegnet Caro, die ihren Kopf aus der Küchentür gesteckt hat. Sie kichert über ihren eigenen Scherz.
»Keine Sorge, ich bringe schon kein Baby mit nach Hause«, entgegne ich mit frechem Grinsen und verlasse das Haus. Draußen ist es ziemlich frisch geworden, sodass ich die Hände tief in den Taschen meiner Jeans vergrabe und meinen Kopf zwischen die Schultern ziehe. Der Herbst ist hereingebrochen und ehe man sich versieht, steht schon Weihnachten vor der Tür.
Trotz der frischen Luft klären sich meine Gedanken nicht. Die Bilder tanzen noch zu deutlich vor meinem inneren Auge. Zu oft muss ich in letzter Zeit an Jan denken. Weil mich ein gewisser Blondschopf in der Schule täglich an meinen Kumpel aus Kindertagen erinnert. Was Jan wohl jetzt macht? Ob er immer noch so aussieht, wie ich ihn in Erinnerung habe? Vielleicht hat Jan mich ja vergessen und bereits eine glückliche Beziehung mit einem anderen Mann?
Warum zur Hölle muss Julian Jan nur so ähnlich sehen und ausgerechnet schwul sein? Will mich das Universum irgendwie verarschen? Erst habe ich gedacht, der Kerl wäre ganz okay. Ein bisschen zu weibisch, aber wenigstens ein Kerl. Doch als ich ihn dann vor ein paar Tagen in den Armen eines anderen Mannes gesehen habe und er auch gar nicht abgestritten hat, auf Männer zu stehen, konnte ich nicht mehr neutral mit ihm umgehen. Ich hasse Schwule! Sie sind einfach widerlich. Genau wie Jan damals richtig abartig gewesen ist. Dass ich, als sein bester Freund, nicht bemerkt habe, welche perversen Neigungen er hatte, schockte mich zutiefst. Zum Glück habe ich mich sofort von ihm losgesagt, als ich von seiner Homosexualität erfahren habe. Wer weiß, was passiert wäre, wenn wir weiterhin Freunde geblieben wären. Die anderen Jungs hätten mich vermutlich genauso gemieden und verspottet wie Jan. Und das wollte ich damals nicht – heute erst recht nicht! Genau deshalb darf ich mich mit einem Typen wie Julian nicht anfreunden. Immerhin habe ich bei den Jungs das Sagen, sie schauen zu mir auf. Ich muss mein Image wahren. Trotzdem überkommt mich jedes Mal Reue, wenn ich an meinen früheren Freund denke, weil ich ihm damals so wehgetan habe … Ich hätte mich nicht von Jan küssen lassen dürfen. Wenn ich ehrlich bin, denke ich immer noch an diesen kurzen Kuss zurück. An seine weichen Lippen und die schüchterne Art, wie er mich angesehen hat, bevor er diesen Schritt wagte. Es ist verrückt, dass all die Frauen, mit denen ich nach diesem Vorfall zusammen gewesen bin, diese Erinnerung nicht auslöschen konnten.
Schnell schüttele ich den Kopf, um diese seltsamen Gedanken zu vertreiben. Julian ist schuld, dass ich immer öfter an Jan und die Geschichte von damals erinnert werde. Schon wieder überkommt mich eine Wut, die ich nicht erklären kann. Gereizt trete ich gegen einen Laternenpfahl. Ich brauche etwas, um mich abzureagieren, damit ich meinen Kopf freibekomme.
Kurzerhand ziehe ich mein iPhone aus der Hosentasche und tippe eine Nachricht an Felix. Als ich den Spielplatz nahe dem Park erreiche, ist es bereits dämmrig. Kinder sind keine mehr hier, der Platz wirkt verlassen. Sand knirscht unter meinen Füßen, als ich zur Schaukel gehe und mich dort niederlasse. Gedankenverloren starre ich in den Boden an, grabe die Spitzen meiner alten Chucks hinein und sehe dabei zu, wie der Sand in feinen Körnern zu Boden rieselt, sobald ich meine Füße ein Stück anhebe. Keine Ahnung, was in letzter Zeit mit mir los ist. Wäre meine Mutter noch am Leben, hätte ich mit ihr reden können. Sicher hätte sie gleich gewusst, was mit mir nicht stimmt. So war sie immer. Ich musste nicht einmal den Mund aufmachen, schon nahm sie mich tröstend in den Arm, wenn ich ein Problem hatte. Immer hat sie gesehen, was einem ihrer Kinder gefehlt hat, bevor man es selbst wusste. Mit meinem Vater kann ich über meinen wirren Gemütszustand nicht reden. Er ist nicht so feinfühlig, wie Mama es gewesen ist. Er versteht mich nicht. Und Carolin? Wie könnte mir meine sechzehnjährige Schwester schon helfen, wenn ich es selbst nicht kann? Immerhin weiß ich nicht wirklich, was mit mir los ist.
Zwei Gestalten nähern sich mir, wie ich aus dem Augenwinkel erkennen kann. Ich hebe den Kopf.
»Na endlich, wurde auch Zeit, Mann«, brumme ich missmutig. Felix reicht mir eine Dose Cola, für sich selbst hat er Bier mitgebracht.
»Ich habe mich beeilt, aber Tanja wollte unbedingt mit und sie musste sich noch die Haare machen.« Felix verdreht die Augen und lässt sich ins Gras neben der Schaukel sinken.
Seine Schwester streckt meinem Kumpel frech die Zunge heraus. Sie ist zwar noch siebzehn, aber manchmal kommt es mir vor, als wäre Felix ihr jüngerer Bruder. Wenn sie nicht gerade herumalbert, wirkt sie viel reifer und erwachsener. Vielleicht mag ich sie deshalb so gern.
Ich schaue kurz zu Tanja, die mir ein verführerisches Lächeln schenkt. Sie sieht wie immer klasse aus. Ihr Make-up ist perfekt, die Jeans und der Pullover sitzen wie eine zweite Haut an ihrem schlanken Körper. Aber die Haare – nun, ich kann keinen Unterschied zu heute Mittag in der Schule feststellen.
»Hey Süße«, grüße ich sie. Sofort kommt sie auf mich zu und gibt mir einen langen Begrüßungskuss. Dann setzt sie sich auf die freie Schaukel neben mir. Tanja und ich sind nicht zusammen. Wir waren es mal vor ein paar Monaten, aber ich habe schnell gemerkt, dass es zwischen uns nicht richtig passt. Ich fürchte, ich bin einfach nicht der Beziehungstyp, den sich Frauen wünschen. Diese Sachen mit den Blumen und den romantischen Dates habe ich irgendwie nicht drauf. Wirklich schade für Tanja, denn mit ihr hätte ich mir das alles durchaus vorstellen können. Zumindest habe ich ernsthaft darüber nachgedacht, bevor es doch nicht geklappt hat. Jetzt sind wir Freunde, die gelegentlich miteinander Sex haben. Tanja stört es nicht, dass ich neben ihr auch noch mit anderen Frauen rummache, immerhin hält sie es genauso. Also nicht mit Frauen, sondern mit unverbindlichem Sex. Von außen betrachtet würden sie die Leute sicher als Schlampe abstempeln, aber das sehe ich nicht so. Tanja ist klasse – und wenn sie unverbindlichen Sex mit Männern will, dann ist es ganz allein ihre Sache. Ich wäre der letzte Mensch, der sie deshalb verurteilen würde, wenn sie sich nicht sofort für eine Beziehung entscheidet. Immerhin mache ich es genauso und mich nennt auch keiner Schlampe. Das ist der Vorteil, ein Mann zu sein.
Felix zündet sich eine Zigarette an. »Auch einen Zug?«
Ich nicke und nehme die Kippe entgegen.
»Seit wann rauchst du?«, will Tanja wissen. Ich nehme einen Zug.
»Wenn ich einen besonders stressigen Tag hatte«, brumme ich, gebe Felix die Zigarette zurück, die er sich sogleich zwischen die Lippen schiebt. Seine Bierdose liegt bereits neben ihm im Gras, während ich meine Cola noch nicht einmal geöffnet habe. Irgendwie habe ich keinen Durst mehr.
»Und heute wars stressig?«, bohrt sie weiter nach. »Soll ich vielleicht dafür sorgen, dass du dich ein bisschen entspannst, mein Großer?« Sie erhebt sich und tritt hinter mich. Ihre Finger tasten über meine Schultern, streicheln mich. Ich spüre ihre spitzen Fingernägel durch den Pullover. Doch das gewohnte Gefühl, dieses freudige Schaudern, das ihre Berührungen sonst immer begleitet, bleibt heute aus.
»Ja«, antwortet Felix auf ihre Frage hin, weil ich nicht wirklich reagiere. »Der Schuster hat uns heute in Deutsch blöd angemacht.«
Eigentlich hat er nur mich angefahren, aber nett von Felix, mir so seine Solidarität zu zeigen. Er ist echt ein guter Freund. Ob er es wohl immer noch sein wird, auch wenn ich … erschrocken reiße ich die Augen auf und zucke zurück, sodass Tanja mich nicht mehr massieren kann. Was wollte ich gerade denken?
»Und dann hat diese Schwuchtel uns auch noch ausgelacht.« Felix ballt die Faust.
»Julian ist echt ätzend …«, sage ich, kann jedoch nicht verhindern, dass mein Puls sich bei diesen Worten beschleunigt. Irgendwas stimmt wirklich nicht mit mir. Dieser Kerl geht mir mit seiner Art so die Nerven, dass ich gar nicht anders kann, als ihm irgendeinen blöden Spruch reinzudrücken.
»Ach Jungs, ihr seid echt homophob«, entgegnet Tanja kopfschüttelnd und setzt sich wieder auf die Schaukel.
»Warum? Julian ist nun mal ein Schwanzlutscher, er bestreitet es ja nicht einmal. Wenn ich ihn nur ansehe, wird mir total schlecht. Hoffentlich ist er nicht ansteckend. Letzte Woche hat er mir beim Sport sehr offensichtlich auf den Arsch geglotzt«, beschwert sich Felix.
»Als ob dir jemand auf den Arsch glotzen würde. Das machen ja nicht mal Frauen«, necke ich ihn, versuche dadurch dieses seltsame Unwohlsein in mir zu überdecken. Was ist plötzlich los mit mir? Warum wird mir so anders, wenn wir über Julian reden? Nicht mal in meiner Freizeit habe ich Ruhe vor ihm.
»Hey!«, empört sich mein Kumpel.
»Du bist ganz schön dämlich«, sagt Tanja. »Homosexualität ist nicht ansteckend. Entweder du bist es, oder eben nicht.« Sie zuckt mit den Schultern und stößt sich vom Boden ab, um der Schaukel Schwung zu geben.
»Wo hast du das denn nun schon wieder her?«, will mein Kumpel wissen.
»Google«, meint Tanja knapp. »Außerdem benehmt ihr euch immer so, als wären alle Schwulen der Staatsfeind Nr. 1, während ihr euch heimlich Lesbenpornos reinzieht.« Sie lacht auf. Felix springt auf die Beine.
»Das stimmt doch gar nicht, oder, Luke?«
Ich nicke.
»Natürlich nicht.« Seine Schwester verdreht die Augen. »Aber als ich auf deiner Geburtstagsparty im Sommer mit Claudia rumgeknutscht habe, konntest du gar nicht die Augen von uns lassen, Bruderherz.«
»Aber … das war doch nur, weil du meine kleine Schwester bist. Ich wollte sie von dir zurückziehen.«
»Reichlich spät.« Tanja grinst triumphierend.
Ich erhebe mich von meiner Schaukel. Das Gespräch der beiden geht mir auf die Nerven, außerdem bekomme ich Kopfschmerzen von diesem Thema. Wieso muss heute jeder über Schwule sprechen? Erst mein Vater beim Abendessen, jetzt Felix und Tanja …
»Ich hau ab, Leute. Wir sehen uns morgen in der Schule.«
»Jetzt warte mal. Wieso gehst du denn schon?«, ruft mir Felix hinterher, doch ich ignoriere ihn, schiebe meine Hände tief in die Hosentaschen und verlasse den Spielplatz.