Leseprobe Fataler Wahn

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Sie schreckte hoch. Was sie geweckt hatte, wusste sie nicht. Da sie in der Dunkelheit nichts erkennen konnte, knipste sie das Licht an. Sie sah sich um. In ihrem kleinen, schäbigen Zimmer wirkte alles normal – die Stehlampe neben ihrem Bett, die Kommode an der Wand, die schlammgrüne Couch. Nichts deutete darauf hin, dass jemand in ihre Wohnung eingedrungen war. Und dennoch stieg Angst in ihr auf. Sie lauschte. Das einzige Geräusch, das sie vernahm, war das Hämmern ihres Herzschlags.

Leise, darauf bedacht keine unnötigen Geräusche zu machen, stand sie auf und ging zum Fenster. Es war Wochen her, dass sie zuletzt ihre Wohnung verlassen hatte. Wenn sie es tat, dann nur um Lebensmittel einzukaufen und davon viele, damit sie erst einmal nicht mehr nach draußen musste. Die meisten Dinge bestellte sie online. Das Risiko, ihm zu begegnen, war einfach zu hoch.

Sie schob die schwarzen Vorhänge beiseite. Aber nur ein winziges Stück, gerade weit genug, um einen Blick nach draußen zu erhaschen. Büsnau lag im Tiefschlaf. Keine Menschenseele war zu sehen. Sie war hierhergezogen, in der Hoffnung, ihren Frieden zu finden. Am äußersten Rand von Stuttgart, weit genug weg von ihm, aber nicht zu weit, um ab und an nach ihren Eltern sehen zu können.

Sie erkannte den Zaun, der das Gartengrundstück umgab. Ein paar parkende Autos. Die Straße. Nichts deutete darauf hin, dass sie jemand beobachtete. Doch da war dieses Gefühl. Sie konnte es selbst nicht erklären. Stand dort jemand neben dem dunklen Kastenwagen? Sie versuchte, etwas zu erkennen, aber der matte Schein der Straßenlaterne reichte nicht aus. Das Risiko, auf ihren Balkon hinauszugehen, würde sie auf keinen Fall eingehen. Er ist nicht hier, versuchte sie sich zu beruhigen. Erst eine Woche zuvor hatte sie geglaubt, er stünde direkt vor ihrer Wohnung. Doch als sie endlich den Mut aufgebracht hatte, die Tür einen Spalt zu öffnen, hatte sie nur ein leeres Treppenhaus gesehen.

Sie wandte sich vom Fenster ab. Ehe sie wieder ins Bett ging, musste sie den Rest der Wohnung überprüfen. Obwohl sie in dieser Nacht sowieso keinen Schlaf mehr finden würde. Sie schlief sehr schlecht, seit sie hier lebte. Oder besser gesagt, seit sie wusste, wie er wirklich war. Sie hatte inständig gehofft, der Umzug würde ihr helfen.

Ich finde dich überall, hallte seine Stimme durch ihren Kopf. Du kannst dich nicht vor mir verstecken! Dabei hatte er anfangs so nett gewirkt. Verständnisvoll. Fürsorglich. Aber der Schein hatte getrogen. Er war ein Psychopath. Sein einziges Ziel war es, sie physisch und psychisch fertig zu machen. Und es war ihm gelungen. Stück für Stück. Jeden Tag ein wenig mehr. Als sie die Wahrheit erkannt hatte, war es bereits zu spät gewesen. Es war ihm gelungen, sie systematisch aus ihrem Umfeld zu isolieren. Erst aus ihrem Freundeskreis, dann aus der Familie und zuletzt noch aus ihrem Beruf. Er machte sie abhängig. In jeder Hinsicht. Sie erinnerte sich noch wie heute an den Tag, als sie keine andere Möglichkeit als Suizid oder Flucht mehr gesehen hatte, um der Hölle zu entkommen. Wie er sie wieder einmal verprügelt hatte, weil sie einen Fehler begangen hatte. Wie sie nackt und in ihrem eigenen Blut auf dem Boden des Badezimmers gekauert hatte. Er über ihr. Wie er sie angebrüllt und beschimpft hatte.

Sie schloss die Augen und sofort flammten die Erinnerungen wieder auf. Es war ein regnerischer, trüber Abend gewesen, als sie einen Entschluss gefasst hatte. Sie hatte all ihre Habseligkeiten in einen kleinen Koffer gepackt und war abgehauen. Nur möglichst weit weg von ihm, war ihr einziger Gedanke gewesen. Zuerst hatte sie überlegt, nach Hamburg oder Berlin zu flüchten, aber der Gedanke an ihre Eltern hatte sie davon abgehalten. Sie konnte die beiden nicht allein lassen. Ihre Eltern waren ihre größte Schwachstelle. Er kannte die beiden nicht persönlich, aber er wusste, dass es sie gab und dass sie ihr viel bedeuteten. Möglicherweise hatte er sie bereits aufgesucht, um ihren Aufenthaltsort zu erfahren. Er wusste, wie man Menschen zum Reden brachte. Ganz ohne Gewalt. Um ihre Eltern nicht in Gefahr zu bringen, hatte sie beschlossen, ihre neue Adresse geheim zu halten. Er durfte sie nicht finden. Niemals. Sie wusste nicht, ob es eine gute Entscheidung gewesen war, hierherzukommen, wo er doch auf das Immobilienportal gestoßen war. Er konnte nicht wissen, ob und welche Wohnung sie gemietet hatte. Aber die Auswahl war begrenzt.

Sie warf einen Blick in das Bad, anschließend in die Küche und in den Flur. Doch da war nichts. Vermutlich hatte ihr Unterbewusstsein ihr wieder mal einen Streich gespielt.

Sie ging zurück ins Schlafzimmer, das gleichzeitig als Wohnzimmer diente, und setzte sich wieder auf die Bettkante. Ihr Puls beruhigte sich. Sie überlegte, eine weitere Schlaftablette zu nehmen, die seit Wochen ihr ständiger Begleiter war. Bereits vor dem Zubettgehen hatte sie ein halbe genommen, aber es änderte nichts an dem Adrenalinschub, der bei jedem Geräusch durch ihren Körper schoss. Sie sah auf ihren Wecker, der neben dem Bett stand. Halb vier. Eigentlich viel zu spät zum Schlafen. Aber auch zu früh, um aufzustehen. Dank des Schlafmittels war sie völlig gerädert. Es knarzte. Das kurze Gefühl der Erleichterung war sofort verflogen. Ihr Puls beschleunigte sich wieder. War jemand draußen auf dem Flur? Aber das war unmöglich. Sie hatte nachgesehen. Ein weiteres Knarzen. Das passierte nicht wirklich, oder? Da ist niemand, redete sie sich ein, während die Angst ihr die Kehle zuschnürte. Ihr Blick war fest auf die Tür gerichtet. Er konnte hier nicht hereingekommen sein, oder etwa doch?

Sie hatte die Wohnungstür zweifach abgeschlossen und ein eingeschlagenes Fenster hätte sie gehört. Diesmal klang das Geräusch viel näher. Er stand vor ihrer Zimmertür. Jeder Muskel in ihr erstarrte. Sie war nicht fähig, aufzuspringen, zum Handy zu greifen und die Polizei zu holen. In ihrem Kopf wurde es ganz leise. Sie hörte nur noch ihren rasselnden Atem.

Nichts geschah. Weder wurde die Tür geöffnet, noch hörte sie ein weiteres Geräusch. Es war totenstill. Nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit auf die Tür gestarrt hatte, gehorchten ihre Beine wieder. Sie stand auf. Mit zittrigen Fingern berührte sie die Türklinke. Sie hielt den Atem an. Würde sie in der nächsten Sekunde in sein höhnisch grinsendes Gesicht sehen?

Mit einer Handbewegung riss sie die Tür auf und blickte in einen leeren Flur. Sie atmete tief aus und ging zurück zur Kommode. Was war bloß los mit ihr? Sah sie Gespenster? Sie musste eine Schlaftablette nehmen, sonst überstand sie die Nacht nicht.

Plötzlich spürte sie einen kalten Windhauch, der ihren Nacken streifte. Ein Knarzen. Eine Bewegung, die sie aus den Augenwinkeln heraus wahrnahm. Und dann wusste sie es. Es war keine Einbildung gewesen. Sie war nicht verrückt. Ihr Puls beschleunigte sich auf hundertachtzig. Er stand direkt hinter ihr.

„Hallo, meine Taube. Hast du mich vermisst?“

-2-

„Entschuldigen Sie bitte.“

Der junge Mann, auf den ersten Blick asiatischer Herkunft und mindestens zwei Köpfe größer als sie, drehte sich zu ihr. Er hatte eine schlanke, schmale Figur sowie pechschwarze Haare, die seine hohe Stirn beinahe vollständig verdeckten.

„Ich bin auf der Suche nach Kriminalhauptkommissar Martin Keller. Wissen Sie zufällig, wo ich ihn finde?“

Er lächelte sie an. „Sind Sie Julia Beck?“

„Genau.“ Sie lächelte ebenfalls.

„Dann arbeiten wir zukünftig zusammen. Mein Name ist Li Cheung Kwok-Wing.“

„Oh, okay. Freut mich, Herr Ching Kwo …“

Er lachte angesichts ihres kläglichen Versuchs, seinen Namen zu wiederholen. „Einfach Li.“

„Danke.“ Ihr neuer Kollege war ihr auf Anhieb sympathisch und sie war froh, sich vorerst nur den wesentlich einfacheren Vornamen merken zu müssen.

„Ich war gerade eh auf dem Weg zu Keller“, erklärte er und rückte seine Brille zurecht. „Komm mit.“

Julia schätzte Li auf Anfang dreißig und hatte Mühe, den großen Schritten ihres neuen Kollegen zu folgen. Den Abschluss der Polizeihochschule hatte sie in der Tasche und es war ihr erster Tag als Kriminalkommissarin. Sie war gespannt, wenn auch etwas nervös, auf das, was sie erwartete. Ihr direkter Vorgesetzter Martin Keller war ihr im Vorfeld als schwieriger Zeitgenosse beschrieben worden. Noch wusste sie nichts Näheres über ihn, hoffte aber, dass er genauso offen und freundlich wie Li war.

Ihr neuer Kollege war mittlerweile vor einer Glastür stehen geblieben und klopfte.

„Was?“, brummte eine raue Männerstimme.

Julia betrat hinter Li das große, geräumige Büro, in dem ein Mann Anfang bis Mitte vierzig saß. Er hatte eine kräftige Statur, braune, kurz geschnittene Haare, Schnurrbart und einen grimmigen Gesichtsausdruck.

„Chef, ich möchte Ihnen die neue Kollegin Julia Beck vorstellen.“

„Hallo, schön Sie kennenzulernen.“ Julia ging zu dem Schreibtisch und strecke Martin Keller die Hand entgegen.

Keller machte jedoch keinerlei Anstalten, auch nur aufzustehen. Stattdessen musterte er sie von Kopf bis Fuß. „Für Praktikanten sind die Kollegen zuständig.“ Er wandte sich wieder den Unterlagen zu.

Na, das war ja eine freundliche Begrüßung, dachte Julia und entschied, das Missverständnis direkt aus der Welt zu räumen. „Keine Praktikantin, sondern Ihr neues Teammitglied, Kriminalkommissarin Julia Beck.“

Keller hob den Blick und gab einen Seufzer von sich. „Stellen wir jetzt schon Schulmädchen ein, oder was?“

Julia war im ersten Moment zu perplex, um zu antworten. Auch wenn sie mit ihren dreiundzwanzig Jahren definitiv die Jüngste in der Runde war, gab ihm das nicht das Recht, sie so zu behandeln. Sie presste die Zähne zusammen.

Li grinste entschuldigend und ging zum Schreibtisch. „Chef, das kam gerade rein.“ Er reichte Keller eine Notiz. „In Büsnau wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sieht nach einem Mord aus. Die Kollegen sind schon vor Ort.“

Die Aufregung kribbelte in Julias Gliedern. Ihr erster Tag am Kommissariat und direkt ein Leichenfund. Vielleicht konnte sie ihren griesgrämigen Vorgesetzten doch noch von ihren Fähigkeiten überzeugen. Dieser stand auf und warf ihr im Vorbeigehen einen vernichtenden Blick zu. „Frauen wie Sie kenne ich zur Genüge“, grummelte Keller.

„Was soll das denn bedeuten?“ Sie starrte ihn mit offenem Mund an.

Keller antwortete nicht.

„Ist der immer so?“ Sie drehte sich zu ihrem Kollegen.

Ehe Li antworten konnte, donnerte Kellers Stimme durch den Flur. „Wing-Wing, heut noch!“

„Man gewöhnt sich dran“, erklärte ihr Li und folgte seinem Vorgesetzten mit zügigen Schritten.

Julia nahm einen tiefen Atemzug. „Was ist mit mir?“, rief sie Keller hinterher.

„Kaffee. Schwarz, ohne Zucker.“

Das soll doch wohl ein Scherz sein, dachte Julia. Na warte, so leicht wirst du mich nicht los.

Keller startete gerade den Motor seines schwarzen Mercedes AMG, als die Beifahrertür geöffnet wurde und Julia neben ihm Platz nahm.

„Welchen Part von Kaffee haben Sie nicht verstanden?“ Er funkelte sie an.

„Ich bin nicht hier, um Kaffee zu kochen, und ich bin auch nicht Ihre Praktikantin“, sagte Julia mit fester Stimme, auch wenn sie sich bei weitem nicht so selbstbewusst fühlte, wie sie sich gab.

„Ich muss Ihnen wohl mal klar machen, wie das hier läuft.“ Er drehte sich zu ihr. „Ich, Anweisungen geben.“ Er deutete mit dem Zeigefinger auf sich. „Sie …“ Er zeigte auf Julia. „… Anweisungen ausführen. Und wenn ich sage, Kaffee kochen, dann tun Sie das gefälligst auch!“

„Sie kriegen Ihren Kaffee, wenn wir zurückkommen. Bis dahin hat mir der Kriminalrat aufgetragen, Ihnen über die Schulter zu gucken, und das ist schwierig, wenn Sie nicht da sind.“ Sie spürte Kellers finsteren Seitenblick, während sie nach vorne sah und abwartete, ob er losfuhr oder sie endgültig rauswarf.

„Nervensäge.“

Die Erwiderung ‚Kotzbrocken‘ lag ihr auf der Zunge, verkniff sie sich aber. Er stellte die Soundanlage so laut, dass ihr fast das Trommelfeld platzte, während er mit quietschenden Reifen den Parkplatz verließ. Das kann ja heiter werden!

Einige Zeit später erreichten sie den Eisenauer Weg, der sie zum Ortsrand von Büsnau führte. Julia kannte die Gegend. Sie hatte als Kind mit ihren Eltern oft Ausflüge im angrenzenden Spitalwald, zum Bärenschlössle oder zu einer der vielen Seen gemacht. Die Erinnerung an ihre Mutter versetzte ihr sofort einen Stich. Ihre letzten Tage. Ihre letzten Stunden.

Das Zuschlagen der Autotür riss sie aus ihren Gedanken. Keller marschierte wortlos zu dem weißen Mehrfamilienhaus, vor dem bereits mehrere Streifenwagen parkten. Julia folgte ihm in die Dachgeschosswohnung im zweiten Stock. Sie band ihre schulterlangen, dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und schlüpfte in einen weißen Einwegoverall, der für die Ermittler am Tatort obligatorisch war. Dann betrat sie das Zimmer.

Auf dem Bett lag die Leiche einer jungen Frau. Sie musste Mitte zwanzig sein und hatte eine etwas füllige Figur. Julia trat vorsichtig einen Schritt näher, um sich die Frau genauer anzusehen. Sie war vollkommen nackt und lag auf dem Rücken. Der Kopf war eigenartig zur Seite gekrümmt. Die Augen quollen hervor, das Gesicht wies eine bläulich-rote Färbung auf und war von roten Punkten übersät. Der Hals war geschwollen und stark gerötet. Oberkörper und Beine zeigten mehrere Verletzungen. Es war nicht das erste Mal, dass Julia eine Leiche zu Gesicht bekam, aber sonst lagen diese im Institut der Gerichtsmedizin und befanden sich daher in einem vorzeigbaren Zustand. Anhand der Verfassung der Leiche, vermutete Julia, dass die junge Frau bereits einige Tage tot war. Allein der Geruch löste bei ihr einen Würgereiz aus, den sie gerade noch so unterdrücken konnte. Sie wollte ihrem neuen Vorgesetzten keinen Grund liefern, sie zukünftig wirklich im Kommissariat sitzen zu lassen. Mal abgesehen von der Genugtuung, die ihm das verschaffen würde.

„Todeszeitpunkt?“ Keller, der sie seit ihrer Abfahrt ignoriert hatte, drehte eine Runde ums Bett.

„Vielleicht drei, höchstens vier Tage. Ich tippe auf Freitag.“ Der Arzt, ein Mann Mitte fünfzig mit Vollbart, erhob sich und wandte sich Keller zu. Die Leute Spurensicherung, in weiße Faseranzüge gehüllt, waren bereits eingetroffen, sammelten Indizien und schossen Fotos.

„Todesursache?“

„Vermutlich erstickt. Der Täter muss sie gewürgt haben. Die roten Flächen am Hals sind Würgemale, dazu passen auch die Petechien im Gesicht.“

Die punktförmigen roten Stellen im Gesicht stachen Julia ins Auge, während sie noch überlegt hatte, wie der Fachbegriff dafür war.

„Vergewaltigung?“

„Kann ich noch nicht sagen. Muss die Obduktion klären.“

„In Ordnung. Schaffen Sie die Leiche in die Gerichtsmedizin!“ Keller wandte sich einem nebenstehenden Beamten zu, der sich augenblicklich in Bewegung setzte. „Also gut. Was wissen wir?“

Im ersten Moment dachte Julia, er hätte mit ihr gesprochen. Doch tatsächlich galt die Frage Li, der hinter ihr aufgetaucht war.

„Bei der Leiche handelt es sich um Irina Heff, achtundzwanzig Jahre alt.“ Li warf einen Blick auf seine Notizen. „Laut Angaben der Vermieter eine Etage tiefer lebte sie allein und sehr zurückgezogen. Die Nachbarin von gegenüber hat sich mit den Vermietern in Verbindung gesetzt, nachdem sich ein unerträglicher Geruch im Treppenhaus ausgebreitet hatte. Der Geruch ging ganz klar von Frau Heffs Wohnung aus. Sie haben gemeinsam die Polizei gerufen, die sie so vorgefunden hat.“

„Ist das alles?“

Julia fragte sich, ob ihr Vorgesetzter jemals diesen pampigen Ton, den er offenbar gegenüber jedem anschlug, wechselte. Ihr ging das mächtig gegen den Strich.

„Keiner im Haus kannte sie näher. Einige der Nachbarn wussten noch nicht einmal, dass sie hier wohnte. Offensichtlich ist sie erst vor einigen Wochen hierhergezogen und hat mit niemandem mehr als ein Wort gewechselt.“

„Eine Eigenbrötlerin also“, sagte Keller.

Und das perfekte Mordopfer, ergänzte Julia gedanklich. Niemanden, den es interessiert, niemanden, dem es auffällt. Außerdem eine Leiche, die erst Tage später gefunden wird.

„Die Nachbarin von gegenüber gab an, Frau Heff habe oft nervös und angespannt gewirkt. Wenn sie mit ihr ein Gespräch beginnen wollte, habe sie nur große Augen gemacht und sich sofort in ihre Wohnung verzogen“, sagte Li.

Julia rieb sich die Stirn. „Vielleicht wurde sie verfolgt. Oder hat sich vor jemandem versteckt.“

„Oder sie war einfach ein ängstlicher Typ.“ Keller maß ihrer Vermutung wie erwartet keinerlei Beachtung bei. „Und zertrampeln Sie nicht alle Hinweise! Sie sehen doch, dass die Spurensicherung hier noch zugange ist. Haben Sie auf der Polizeischule denn gar nichts gelernt?“

Tief durchatmen, ermahnte sich Julia und verfolgte Keller, der selbst, ohne nach rechts oder links zu gucken, durch den Tatort pflügte. Mit sturer Miene stieß er gegen einen Forensiker, der sich gerade noch an der Wand festhalten konnte, ohne über die Leiche zu fallen. Julia verdrehte die Augen. Würde die Zusammenarbeit so funktionieren?

-3-

Luisa Rehm parkte ihren blauen Mini Cooper an der Gnesener Straße. Ein eisiger Wind schlug ihr entgegen, als sie die Wagentür öffnete. Sie schlang ihren dicken Wollschal enger um sich und setzte die Mütze auf. Dick eingepackt lief sie die wendelförmige Stahltreppe hinab und überquerte den großen Innenhof, der zum Haus Clemens von Galen gehörte. Zu ihrer Linken befand sich die Bildungs- und Begegnungsstätte mit dem passenden Namen ‚Treffpunkt‘, die allerlei Freizeitmöglichkeiten für Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung anbot und in der Luisa einen Teil ihrer Ausbildung absolviert hatte. Sie war gelernte Heilerziehungspflegerin und betreute Menschen verschiedenster Altersgruppen bei der Bewältigung und Unterstützung ihres Alltags. Bereits während ihres freiwilligen sozialen Jahres hatte es ihr die Betreuung angetan und sie war überglücklich, in unmittelbarer Umgebung ihrer Wohnung eine Stelle gefunden zu haben.

Luisa steuerte auf das rot-weiß gekachelte Hochhaus auf der anderen Seite zu, in der sich auch die Wohngruppen befanden, in denen sie arbeitete. Es war ein ungemütlicher, kalter Februarabend und sie war froh, ihre Nachtschicht in einem gemütlichen, beheizten Büro verbringen zu können.

Sie drückte auf den Aufzugknopf, als ihr Handy vibrierte.

Lass niemanden entkommen! Liebe dich.

Luisa konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Die Nachricht stammte von Jens, ihrem Freund, den sie erst wenige Monate zuvor in einer Dating-App kennengelernt hatte. Sie hatte Jens von Tobias erzählt, einem jungen Mann mit Downsyndrom, der ihre Nachtschicht hin und wieder zu einem abenteuerlichen Erlebnis machte. Er pflegte die Angewohnheit, mitten in der Nacht durchs Treppenhaus zu schleichen. Warum genau er das tat, war allerdings unklar. Ihr Smartphone piepte erneut und der Chat zeigte ein großes, rot loderndes Herz an. Sie schickte Jens einen Kusssmiley zurück und steckte das Mobiltelefon weg.

Trotz der kurzen Zeit, die sie zusammen waren, schmiedete Jens bereits Umzugs- und Heiratspläne, was Luisa ein wenig zu schnell ging. Sie liebte Jens. Ein Blick in seine stahlgrauen Augen genügte und sie hatte ein Kribbeln im Bauch. Er war fürsorglich, hilfsbereit und in seiner Nähe fühlte sie sich wohl und geborgen. Dennoch hatte sie manchmal das Gefühl, erdrückt zu werden.

„Hey, Luisa“, begrüßte ihre Kollegin Sheela sie, was zugleich eine Wiederholung durch zwei Bewohner nach sich zog.

„Hi, Sheela. Hallo, Tobias, hallo, Klaus. Geht’s euch gut?“

„Jetzt, wo du da bist, sofort“, nuschelte Tobias und hielt ihr die flache Hand entgegen.

„Oh, wie lieb von dir.“ Sie schlug ein. Tobias war ein eingefleischter Macho, der sich für den größten Frauenheld auf dem Planeten hielt, was in Bezug auf die meisten Bewohnerinnen auch zutraf. Luisa erhielt mindestens zwei bis dreimal pro Schicht Komplimente von ihm, gefolgt von einer Einladung zum Abendessen. Luisa lehnte zwar jedes Mal ab, was ihn aber nicht davon abhielt, sie von seinen Qualitäten als Liebhaber überzeugen zu wollen.

„Fangen wir an?“ Sheela wies auf die Unterlagen.

Luisa nickte und dirigierte Tobias und Klaus unter lautstarkem Protest aus dem Büro, damit sie und ihre Kollegin den Schichtwechsel durchführen konnten. Luisa nahm sich einen Stuhl und rückte zu Sheela an den kleinen Plastiktisch heran, wo ihre Kollegin bereits den Medikamenten- und Tagesplan bereitgelegt hatte. Sheela unterrichtete sie knapp über die wichtigsten Vorkommnisse des Tages, während sie ein Gähnen unterdrückte.

Luisa betrachtete sie. Ihre Kollegin sah blass aus und hatte violette Ringe unter den Augen. Sie wusste, dass Sheela neben dem Beruf noch drei Kinder hatte, denen ihre verbleibende freie Zeit gehörte. Mit Füße hochlegen nach Feierabend war bei ihr nichts, wie sie erst neulich erzählt hatte. Dann hieß es, die Kleinen bespaßen, kochen und schlafen. Luisa beneidete sie nicht um diese Aufgabe, obwohl sie sich später auch Kinder wünschte. Sie wusste, dass Jens dem Thema aufgeschlossen gegenüberstand, aber da sie erst ein Jahr zuvor ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, musste die Kinderplanung erst einmal hintenanstehen.

„Alles klar soweit?“ Sheela musterte sie amüsiert.

„Klar, wieso?“

„Nichts.“ Sheela winkte ab und suchte ihre Sachen zusammen.

Luisa war das Grinsen auf dem Gesicht ihrer Kollegin nicht entgangen. „Was ist?“

„Dein neuer Freund tut dir gut.“ Sheela drehte sich zu ihr. „Du lächelst viel öfter und deine Augen leuchten.“

„Ach, quatsch.“ Luisa errötete und strich sich durch die schulterlangen, kastanienbraunen Haare.

„Schätzchen, du bist total verknallt.“

„Psst. Sonst wird Tobias noch eifersüchtig.“ Sie warf einen Blick zur Tür.

„Ich glaube, das würde ihn nicht davon abhalten, dir Komplimente zu machen.“ Sie öffnete die Bürotür, wo Tobias auf der Stelle hüpfte.

Sheela wies ihn gereizt zurecht. Sie konnte es überhaupt nicht leiden, wenn er herumzappelte, was diesen aber nicht beeindruckte.

„So, Tobias.“ Luisa stand auf. „Wie wärs, wenn du dich jetzt bettfertig machst?“

Zwei Stunden später war es ruhig geworden. Wie immer hatte Tobias die letzte Stunde damit verbracht, Faxen zu machen, einer Mitbewohnerin die Zahnbürste zu klauen und lauthals Liebeslieder in falscher Tonlage zu singen. Erst als Luisa ihm mit einem nutellafreien Frühstück drohte, hörte er auf und kroch unter seine Bettdecke. Nicht, dass sie ihm das ernsthaft antun würde. Tobias raubte ihr manchmal den letzten Nerv, aber im Gegensatz zu Sheela wurde sie nicht laut oder verhängte Strafen, weil sie das nicht in Ordnung fand. Dennoch war sie in der Lage, sich durchzusetzen. Sie mochte die Bewohner und freute sich immer wieder, wenn sie von diesen als ihre absolute Lieblingsbetreuerin bezeichnet wurde.

Luisa ging die Änderungen für kommende Woche durch, als ihr Mobiltelefon vibrierte. Sie sah, dass sie bereits mehrere Nachrichten von Jens erhalten hatte. Es waren allesamt Liebesbekundungen. Sie fand es süß, aber manchmal war es einfach zu viel des Guten. Sie schickte ihm ein Herz und entschuldigte sich, dass sie hier noch einiges zu tun habe.

Sie war gerade dabei, einige Änderungen in den PC zu übernehmen, als sie auf dem Gang Schritte hörte. Sie seufzte. Der Blick auf die Uhr zeigte kurz nach elf. Das hieß, Tobias begann seine nächtliche Runde deutlich früher als sonst. Luisa betrat den langgestreckten Flur, an dessen Seiten mehrere Räume abzweigten. Tobias Zimmer am Ende des Gangs verschwand in der Dunkelheit.

„Tobias?“ Sie lauschte. Bis auf ein Schnarchen, das aus dem Nebenzimmer drang, war nichts zu hören. Sie drehte eine Runde durch das offene Esszimmer, das nur schwach vom Licht des Büros beleuchtet wurde. Sie erkannte die Eckbank, den Tisch und die Pflanzen auf dem Fenstersims. Nirgends war jemand zu sehen. Hatte sie sich geirrt? Luisa warf noch einen letzten Blick in den Gang, ehe sie sich wieder ihrem Büro zuwandte. Sie hatte gerade wieder die Arbeit aufgenommen, als sie meinte, erneut etwas gehört zu haben. Spielte ihr einer der Bewohner einen Streich? Ihr Puls beschleunigte sich. Sie trat zurück in den Flur.

„Tobias? Bist du das?“ Tiefe Schwärze empfing sie. Sie knipste das Licht an, beinahe hoffend Tobias zu sehen. Doch der Flur war leer. Sie drehte sich um. Kam das Geräusch aus dem Treppenhaus? Aber es war ausgeschlossen, dass Tobias oder sonst jemand unbemerkt am Büro vorbeigelaufen war. Die Eingangstür unten war abgeschlossen, sodass niemand Fremdes das Gebäude betreten konnte. Außer Sheela hatte wieder einmal vergessen, abzuschließen.

Das Treppenhaus lag ebenfalls im Dunkeln. Die Glastür, die den Aufenthaltsraum vom Treppenhaus trennte, war zu und da sich die Tür nur langsam schloss, konnte hier niemand durchgehuscht sein. Ihre Beine schlotterten.

Sie schaltete das Radio ein, um sich ein wenig abzulenken. Sie war kein ängstlicher Mensch und hatte sich nie im Dunkeln gefürchtet. Aber heute fand sie es unheimlich. Ein kalter Luftzug durchfuhr ihre Haare. Blitzschnell drehte sie sich um. Die Tür zum Treppenhaus fiel ins Schloss. Das gibt’s doch nicht! Sie rannte ins Esszimmer. „Wer ist da?“

Ein spitzer Schrei entfuhr ihrer Kehle, als sie jemand von hinten packte.

-4-

Das Kaninchen wand sich unter meinen Händen und schlug mit seinen Hinterläufen und Vorderpfoten wie verrückt um sich. Es zerkratzte meine Unterarme, aber ich ließ nicht los. Das Kaninchen hatte keine Chance – ich presste meine Hände fest um seinen Hals. Es wand sich immer wilder und seine Augen quollen ihm fast aus dem Kopf.

Ich drückte meine Hände noch tiefer in das weiße Fell und plötzlich wurden die Bewegungen langsamer. Immer langsamer. Dann zuckte es nur noch. Und irgendwann bewegte sich Twix gar nicht mehr. Twix, was für ein blöder Name für ein Kaninchen. Den Namen hatte sich mein Mitschüler Leon ausgedacht, als seine Eltern es ihm ein Jahr zuvor geschenkt hatten. Ich ließ das Kaninchen los und starrte auf meine Hände. Und dann wieder auf Twix.

Mein Herz schlug so heftig, dass ich kaum Luft bekam.

„Happy birthday to you, happy birthday, lieber Leon, happy birthday to you!“, hörte ich sie von drinnen singen. Sie klatschten.

Ich starrte immer noch auf Twix und streichelte das weiche Fell. Er fühlte sich ganz warm an. Ich sah hinüber zu den anderen, die Leon gratulierten. Leon feierte heute seinen sechsten Geburtstag und hatte die ganze Klasse zu einer Gartenparty eingeladen.

Sogar mich.

-5-

„Du hast mich zu Tode erschreckt!“ Luisa hielt sich die Hand an die Brust und wartete, dass sich ihr Puls wieder normalisierte. „Was machst du hier?“ Sie blickte ihren Freund Jens mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

„Ich hatte Sehnsucht nach dir.“ Er grinste schief.

Luisas schnaufte. „Jens, ich finde es ja schön, wenn wir uns treffen, aber ich habe dir doch gesagt, dass ich keine Besuche auf Arbeit möchte. Wenn dich jemand erwischt, bekomme ich riesigen Ärger!“ Sie versuchte, ihrer Stimme Strenge zu verleihen, was ihr angesichts Jens intensivem Blick schwerfiel. „Wie kommst du überhaupt hier rein?“

„Unten war offen.“

Sheela. Sie musste zukünftig selbst daran denken, die Haustür abzuschließen.

„Ich habs einfach nicht mehr ohne dich ausgehalten“, fuhr Jens fort und trat näher an sie heran.

Erst jetzt bemerkte Luisa, dass er etwas hinter seinem Rücken hielt und traute ihren Augen nicht, als dieser einen riesigen Strauß roter Rosen hervorzog.

„Die sind für dich.“ Er lächelte.

„Oh, wow, danke.“ Rote Rosen liebte sie mehr als alles andere und Jens wusste das. Sie lächelte ebenfalls und legte den Bund auf die Anrichte neben dem Schreibtisch. Auch wenn Jens damit ihrem Ärger einen Dämpfer verpasst hatte, war es nach wie vor nicht okay. Luisa öffnete gerade den Mund, um zu widersprechen, als Jens sie an sich zog und küsste.

„Luisa, für mich war die lange Zeit, in der wir uns nicht gesehen haben, echt hart.“ Er sah sie mit seinen stahlgrauen Augen eindringlich an. Jens hatte eine große, schmächtige Figur, eine hohe Stirn und dunkelblonde, raspelkurze Haare. Sein Blick hatte etwas Hypnotisierendes.

„Lange Zeit?“ Sie konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. „Wir haben uns vorgestern erst gesehen.“

„Ich finde das lange.“ Er zog sie dicht an sich und strich ihr übers Gesicht. „Ich liebe alles an dir“, flüsterte er. „Deine kastanienfarbenen Haare, die wunderschönen nussbraunen Augen und die süßen Grübchen, wenn du lächelst. Ich mag deine sanfte Stimme ebenso wie deinen bezaubernden Körper, dein Tattoo und einfach alles an dir.“

O mein Gott, wollte er ihr einen Heiratsantrag machen?

„Alles klar.“ Sie schob ihn weg. „Jetzt trägst du ein bisschen dick auf, meinst du nicht?“

„Finde ich nicht.“ Seine Stimme klang ernst. „Du bist etwas Besonderes und du sollst wissen, was du mir bedeutest.“

Sie atmete tief aus. „Hör mal, ich liebe dich auch, aber ich habe dir klar zu verstehen gegeben, dass ich keine Besuche auf der Arbeit wünsche. Du kannst mir schreiben, mich aber bitte nicht mit Nachrichten bombardieren und mir auch ein wenig Zeit zum Antworten geben, okay?“

„Okay.“ Er senkte den Blick. „Sehen wir uns morgen?“

„Mal schauen. Ich muss mich nach der Schicht erst mal hinlegen und Schlaf nachholen, danach melde ich mich.“

„Luisa?“

Die wimmernde Stimme aus einem der Zimmer ließ sie herumfahren. „Ich muss jetzt weiter machen. Wir sehen uns.“

„Ich liebe dich“, rief ihr Jens hinterher, während er mit hängenden Schultern in Richtung Ausgang trottete. Sie ließ es unkommentiert und machte sich auf den Weg zu Tobias Zimmer, dessen Stimme sie sofort erkannt hatte. Sie war beinahe dankbar für die Unterbrechung, sonst hätte sie womöglich noch mit Jens debattieren müssen. Es ging einfach nicht, dass er ohne Ankündigung hier auftauchte. Sie hatte mehr als genug zu tun. Ihr gefielen die schmeichelnden Komplimente und die nette Geste mit den Blumen, aber es war einfach zu viel. Sie wollte mitentscheiden, wann sie sich trafen, und er musste respektieren, dass ihr die Trennung von Arbeit und Privatem wichtig war. Ihr Smartphone vibrierte. Sie warf einen kurzen Blick darauf. Die Nachricht stammte wie erwartet von Jens, der ihr mitteilte, dass es ihm leidtäte und er sie liebte. Seufzend steckte sie das Mobiltelefon wieder weg und betrat Tobias Zimmer.

Der Schein einer kleinen Nachttischlampe beleuchtete den großen Raum. Tobias Bett befand sich auf der rechten Seite gegenüber von einem großen Wandschrank. Die Tapete war mit zahllosen Plakaten von Rockstars geschmückt, die Luisa allesamt nicht kannte. Die einzige Ausnahme bildete ein großer Zeitungsausschnitt, in dem Tobias frech in die Kamera grinste.

Sie setzte sich zu ihm an die Bettkante und betrachtete ihn. Sein Blick war auf seinen hellblauen Schlafanzug gerichtet.

„Was ist los, Großer? Kannst du nicht schlafen?“

Tobias schüttelte den Kopf. „Ich hab von Monstern geträumt, die mich fressen wollen.“ Er sah sie mit großen Augen an, die Luisa eher an ein kleines Kind als an einen erwachsenen Mann erinnerten. „Riesenspinnen. Und sie waren überall.“

Luisa wusste, dass Tobias von jeher eine Spinnenphobie hatte. Auch wenn sie es ernst nahm, musste sie jedes Mal ein Grinsen unterdrücken, wenn ein eingebildeter Macho wie Tobias schreiend aus seinem Bett stürmte, weil sich irgendwo in seinem Zimmer eine winzige Spinne versteckt hatte.

„So ein großer, starker Kerl wie du wird sich doch nicht von ein paar Spinnen Angst einjagen lassen, oder?“

„Das stimmt. Ich bin ganz schön stark.“ Tobias schmunzelte.

„Na siehst du. Und starke Männer brauchen ihren Schlaf. Also mach die Augen zu und ich verbanne die Spinnen mit einem Schnips aus deinen Träumen.“ Luisa schnipste einmal laut mit den Fingern, bevor sie Tobias einmal zuzwinkerte und sich erhob.

„Was ist das?“ Tobias machte große Augen. Ihr Pullover war ein wenig nach oben gerutscht und offenbarte eine kleine, gelbe Stelle darunter.

„Ein Schmetterling.“ Sie lächelte.

„Wie cool. Wofür steht der?“

„Für ein Gefühl von Freiheit.“

„Echt?“ Tobias Augen leuchteten.

„Ja. Mich haben die kleinen Tiere schon als Kind immer begeistert, weißt du. Wenn ich in einer Situation war, die mir unangenehm war, dann habe ich mir vorgestellt, dass ich wie ein Schmetterling einfach auf und davon fliege kann. Als ich dann alt genug war, habe ich mir einen Zitronenfalter tätowieren lassen, weil ich finde, die haben eine besonders hübsche Farbe.“

„Finde ich auch.“ Tobias grinste übers ganze Gesicht.

„Jetzt weiterschlafen?“

„Na gut.“ Er ließ sich wieder in sein Kissen fallen und schloss augenblicklich die Augen.

Luisa verließ das Zimmer. Für sie waren ihre persönlichen Freiräume von hoher Bedeutung, das hatte sie Jens bereits bei ihrem ersten Treffen gesagt. Er hatte genickt und sich verständnisvoll gezeigt. Doch je länger sie zusammen waren, desto stärken wurden ihre Zweifel, dass Jens es genauso sah. In dieser Sekunde vibrierte ihr Smartphone. Sie brauchte gar nicht erst draufzugucken, um zu wissen, von wem die Nachricht stammte. Vielleicht sollte sie ihre Beziehungssituation nochmal überdenken.