Leseprobe Finstergrab

Kapitel 1

Dortmund-Innenstadt, Präsidium Markgrafenstraße, Montag, 24.07., 9 Uhr

»Hey, hat hier jemand Interesse an Kaffee und Donuts?«, fragte Ivy und hob sowohl die Thermoskanne als auch den Karton, in dem sich das Gebäck befand, in die Höhe. Sie betrat das Büro der Kollegen der IT-Abteilung und blickte von einem zum anderen.

Adam Jahn, ein blonder Mittdreißiger mit ständig lächelnden Augen, sah auf und musterte sie überrascht. Sein brünetter Kollege, Carsten Wendt, sprang von seinem Stuhl auf und machte zwei schnelle Schritte auf sie zu, bevor ihm wohl auffiel, wie übertrieben seine Reaktion auf ihr Angebot war. Jahn fing ihren Blick auf und schüttelte den Kopf, wobei er sich sichtlich ein Grinsen verkniff.

»Etwa hungrig, Carsten?«, fragte er scheinheilig und verdrehte die Augen. »Schon wieder?« Er widmete sich seinem Bildschirm und schob lediglich seine Kaffeetasse in ihre Richtung. Sie verstand es als stumme Aufforderung, diese zu füllen.

Wendts Wangen röteten sich und er warf seinem Kollegen einen bitterbösen Blick zu. »Donuts gehen immer«, behauptete er und räusperte sich. »Und eine Pause kommt mir gelegen.«

So war Ivys Angebot jedoch nicht gedacht gewesen. Sie hatte tatsächlich Hintergedanken, und Kaffee und Gebäck waren immer gute Bestechungsmittel. Denn wenn man es genau nahm, verstieß ihr Anliegen gegen die Vorschriften. Also trat sie eilig tiefer in das mit Technik vollgestopfte Büro der IT-Spezialisten und stellte die Kanne auf einem freien Flecken Tisch ab. Wie auch in ihrem Büro schloss sich an die kurzen Seiten der zwei Einzeltische ein halbrunder Zusatztisch an, sodass man überzählige Akten gut zur Seite schieben konnte und es zumindest in der Theorie einen Platz gab, an dem man Informationen ausbreiten und damit Wissen teilen konnte. Offensichtlich arbeiteten die Kollegen an der Aufbereitung ihres letzten Falls, des Mordfalls Ludwig Westerhold, der bei einem Spaziergang mit seinem Hund niedergestochen worden war.

Wendt trat neben sie und deutete, da sie irritiert zu ihm hinübersah, auf den Stapel Papier in der Mitte des Arbeitsplatzes. »Wir haben die online gestellten Videos ausgewertet.« Er klappte den Ordner auf und blätterte ihn durch, immer noch so nah bei ihr, dass er bei jedem Ablegen der Seite ihren Arm streifte. »Hier. Drei der Videos zeigen Phillip Neuhäuser deutlich, wie er den Rentner angreift.«

»Und keiner hat eingegriffen. Wir sollten versuchen, die unterlassene Hilfeleistung zu verfolgen.« Sie nutzte das Auffüllen der Tasse des anderen Kollegen dazu, mehr Abstand zu Wendt aufzubauen.

»Erschreckend«, bestätigte Wendt und fischte nach seiner Tasse, die neben der Maus auf seiner Seite des Schreibtisches stand.

»Das Eingreifen wäre wünschenswert, aber man kann argumentieren, dass sich die Leute auch nicht selbst in Gefahr bringen müssen.«

»Man hätte den Notruf und die Polizei verständigen können, ohne in Gefahr zu geraten«, murmelte Ivy und entschied, dass sie das Gespräch besser auf den Grund ihres Besuches lenkte.

Sie schob Jahn die Box zu, damit er sich einen der gefüllten Donuts aussuchen konnte. »Karamell oder Nougat?«

Jahn warf einen Blick in die Box. Seine Brauen hoben sich und er schien den Braten zu riechen. »Aha. Und Sie hatten nichts Besseres zu tun, als in die Stadt zu fahren und Süßkram zu holen?«

Ivy grinste schief. »Das war kein Akt, schließlich habe ich noch die Monatskarte für die Öffis.« Die sie sich nur angeschafft hatte, weil sie mit ihrem angeknacksten Fuß, den sie sich beim Fall Lena Brahms zugezogen hatte, nicht Auto fahren konnte. »Aber ich hatte tatsächlich gehofft, einen Blick in die Vermisstendatei werfen zu können.«

»Aha.« Auch Jahn grinste. »War ja klar.« Er deutete auf den Kollegen. »Er langweilt sich ohnehin mit der Korrektur der Abschriften.«

»Ich dachte, das liefe automatisch.«

Wendt räusperte sich und beugte sich vor, um sich ebenfalls an dem Gebäck zu bedienen. »Leider macht die künstliche Intelligenz Fehler.«

»Tatsächlich?« Ivy füllte auch seine Tasse auf. »Tja, da ist etwas Ablenkung doch nett?« Sie sah unschuldig auf. »Zehn Minuten?« Sie war sich sicher, dass die Abfrage länger brauchen würde, aber einmal angefangen würde Wendt sie sicher nicht unterbrechen.

Er öffnete den Mund, schloss ihn aber schnell wieder. Er sah zur Seite und seine Wangenmuskulatur mahlte. »Worum geht es?«, fragte er vorsichtig. »So gern ich Ihnen helfen möchte, Sie sollten wissen, dass ich Ihnen keinen uneingeschränkten Zugang zu den Datenbanken geben darf.«

»Mich interessiert ein Abgleich zwischen vermissten weiblichen Personen und unidentifizierten Leichen der letzten Jahre.« Ivy steckte die Hände in die hinteren Hosentaschen und zuckte die Achseln. »Nichts, worauf der Zugang tatsächlich limitiert wäre. Ich komme nur nicht von meinem Computer auf die Daten.«

»Es sind unterschiedliche Server«, informierte Jahn sie schmatzend. Dies hatte sie bereits gewusst, nickte aber schlicht. »Damit bei einem Systemausfall die Daten gesichert sind.«

»Und um im Fall eines Hackerangriffs von außen keinen Zugang zu sensiblen Daten preiszugeben.« Wendt deutete mit der Kaffeetasse in seiner Hand auf seinen Platz. »Gibt es einen neuen Fall?«

Ivy umrundete den Tisch und setzte sich auf Wendts Stuhl. Er gehörte nicht zur üblichen Büroausstattung, die sich hundertfach in diesem Gebäude befand, sondern glich eher einem bequemen Sessel anstelle eines Büromöbels.

»Nein. Lediglich Interesse.«

Wendt beugte sich vor, um auf einem seiner beiden Bildschirme die Datenbank für Vermisste und auf dem anderen die Liste der unidentifizierten Leichen aufzurufen. »Welcher Zeitraum? Andere Anhaltspunkte? Suchen wir nach Brünetten oder Blondinen?«

»Vermutlich nach Ihrer Schwester«, sagte Jahn und beugte sich zur Seite, um zwischen den Bildschirmen hindurchzuspähen. »Das sollten Sie lassen.«

»Es gibt keine Übereinstimmungen.« Wendt wich ihrem Blick aus und schluckte sichtlich. »Und die Aufzeichnung der Vermisstenanzeige ist wohl nicht digitalisiert worden. Es gibt nur eine kurze Notiz.«

Ivys Körper entwickelte sein übliches Eigenleben, wie immer, wenn Rose Erwähnung fand. Er wurde starr und ihre Finger bohrten sich in die Tischplatte. In ihrer Brust dehnte sich eine Leere aus, wodurch es schwer wurde, Atem zu schöpfen. Sie kämpfte sich aus der Kakophonie ihrer wirbelnden Gefühle und schüttelte den Kopf. »Nein, ich suche nicht nach Informationen über Rose.« Sie räusperte sich, ohne den Kloß in ihrem Hals auch nur ein Stück zu verrücken. »Die Kollegen der Cold-Case-Abteilung werden sich schon regelmäßig mit ihrem Fall beschäftigen.«

Zumindest wurden ungelöste Fälle in regelmäßigen Abständen hervorgekramt und nach neuen Entwicklungen abgeklopft. Ivy erwartete jedoch nicht, dass dabei ohne neue Hinweise je etwas herumkam. Trotzdem hatte sie bereits mit dem Gedanken gespielt, bei den entsprechenden Kollegen mal nachzufragen, was ermittelt worden war, denn weder ihre Mutter noch Ivy selbst hatten je mehr in Erfahrung gebracht, als dass Rose in der Nacht das Haus verlassen haben und abgehauen sein musste, und ob es Hinweise gegeben hatte, was nach dieser Nacht mit ihr passiert war, war ihnen auch nicht gesagt worden.

Wendt legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie kurz. »Das muss hart sein.«

Ivy zwang sich, tief durchzuatmen. »Rose war jung und daher naiv, als sie verschwand, aber sie wäre nicht fortgelaufen, ohne sich jemals zu melden. Wir standen uns nah und es gab keinerlei Hinweise, dass sie geplant hätte wegzugehen. Sie hatte nicht einmal ihren Ausweis dabei.« Erneut sog sie Luft in die Lunge. »Aber das ist hier absolut unbedeutend.« Sie zog einen Zettel aus ihrer Hosentasche und faltete ihn auf. »Sperber denkt, ich hätte nichts Besseres zu tun, als Botengänge für ihn zu erledigen.« Sie legte den Zettel ab und deutete auf die beiden Namen, die darauf standen.

»Nanu, ich dachte, Pagel sei Ihr Partner.« Wendt las die Namen. Er runzelte die Stirn, dann beugte er sich wieder vor, um einen der Namen einzugeben. Eine Vermisstenanzeige ploppte auf, in der Daten wie Größe, Haar- und Augenfarbe und besondere Merkmale wie Piercings oder Tattoos hinterlegt waren. »Hier haben wir Tabitha Herrmanns.«

»Pagel hat mir befohlen, mich nützlich zu machen.« Sie zuckte die Achseln. »Er hatte Mett mit einem unglaublichen Haufen Zwiebeln zum Frühstück und es stinkt in unserem Büro. Ich war ganz froh, rauszukommen.«

»Herrmanns?« Jahn stieß seinen Stuhl zurück, als er aufstand. »Sperber will Sie auflaufen lassen. Er gibt Ihnen alte Vermisstenfälle, um Sie dazu zu bringen, im Fall Ihrer Schwester herumzuschnüffeln. Er weiß genau, dass Sie damit in Teufels Küche kämen.« Er kam um den Tisch herum und deutete auf den rechten Bildschirm. »Sein erster Fall hier bei uns im Präsidium.«

»Er war in der Vermisstenabteilung?« Besagter Kollege war ein unsensibler, arroganter Klotz und sollte von Angehörigen ferngehalten werden. Außerdem nahm er Feinheiten nicht wahr und hatte kein Gespür für Menschen. Nun, ihr eigener Partner, Holger Pagel, war lediglich eine ältere Variante Niklas Sperbers, da war es kein Wunder, dass die beiden konspirierten und sie auf Geisterjagd schickten.

»Kurz.« Jahn schob Wendt zur Seite und rief den Abschlussbericht des Falls auf, der digitalisiert worden war. Sperbers Unterschrift zierte die halbe Seite. Die Wörter nicht aufgefunden und vermutlich durchgebrannt stachen fett geschrieben aus dem Text hervor.

»Sperber, diese Bazille, das ist doch emotionaler Missbrauch«, murmelte Wendt. Er ballte die Fäuste und fixierte den Bildschirm, auf dem die Daten über Frau Herrmanns noch angezeigt wurden. »Sieht Ihnen ähnlich. Lockiges Haar, helle Augen, sportliche Figur. Scrollen Sie mal runter, vielleicht ist ein Bild abgespeichert.«

Ivy presste die Lippen aufeinander. Es war nicht das erste Mal, dass man sie auflaufen ließ. Sperber war eben ein genauso großer Idiot wie Pagel und es hätte ihr eine Warnung sein sollen, dass Letzterer ihr förmlich befohlen hatte, dem anderen Kollegen behilflich zu sein. Sie scrollte zum Bild und betrachtete es sinnierend. Tatsächlich war eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihr und Tabitha zu erkennen, obwohl sich ihre Haarfarben völlig unterschieden, schließlich waren ihre feuerrot. Tabitha hatte ein schmales, fast spitz zu nennendes Gesicht, das unter ihrem dunkelbraunen Haar fast verschwand. Ihre hellgrünen Augen stachen wie funkelnde Edelsteine hervor und bannten den Blick. Sie war etwas Besonderes, wenn auch keine wirkliche Schönheit, da die Proportionen einfach nicht stimmten. Die Nase hatte breite Nasenflügel, aber einen sehr schmalen Steg, wodurch es aussah, als ständen die riesigen Augen einfach zu weit auseinander. Die dünnen Lippen waren farblos.

»Sie wurde nicht gefunden«, stellte Ivy ruhig fest. »In fast zehn Jahren gab es nicht eine Spur von ihr?«

»Nein.« Jahn lehnte sich an den Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Allerdings wurde sie nie gesucht. Zumindest nicht von uns.« Er deutete mit dem Kinn auf das Abbild der jungen Frau. »Sie hatte eine Freundin, die zur selben Zeit ebenfalls verschwand, und Sperber entschied, dass das Paar durchgebrannt sei.«

»Kann ich mir die Daten der Freundin auch ansehen?«

Wendt umrundete sie und rief eine weitere Datei auf. Fatma Karaman. Der zweite Name auf Sperbers Zettel.

Es gab ein ungeschriebenes Gesetz, dass man sich nicht in Fälle eines Kollegen einmischte, aber da Sperber und Pagel sie förmlich dazu gedrängt hatten, dass sie sich mit Tabitha und Fatma beschäftigte, konnten sich die beiden auch nicht beschweren, wenn sie sich in die Fälle der vermissten Frauen vertiefte. Und wenn sie sie eh auflaufen lassen wollten, erwarteten sie ja offenkundig, dass sie sich einmischte. Um den Ärger, den sie sich damit einhandelte, würde sie sich später sorgen.

»Okay. Ich gehe jetzt mal davon aus, dass eine romantische Beziehung bestanden hat. Ist das bewiesen?« Sie sah zu Jahn auf, der schließlich in den Fall eingeweiht zu sein schien. Er presste die Lippen aufeinander, als müsste er etwas zurückhalten.

»Nanu, Frau Karaman wurde nicht von ihrer Familie als vermisst gemeldet, sondern von ihrer Lehrerin.« Wendt tippte auf den Bildschirm. »Immerhin ist Sperber detailversessen. Ich hätte die Beziehung zwischen Meldendem und Vermisster wohl nicht in Klammern hinter den Namen gesetzt.«

Ivy erschauerte. Patrizia Albert war nicht nur die Lehrerin dieser beiden Mädchen gewesen, sondern auch die Klassenlehrerin ihrer Schwester Rose!

Sie wischte sich die plötzlich feuchten Handflächen an den Schenkeln ab. »Fachbereichsleitung des Städtischen Heisenberg-Gymnasiums?« Natürlich konnte sich dies in den vergangenen Jahren geändert haben.

»Keine Ahnung.« Jahn zuckte die Achseln. »Fragen Sie Sperber. Aber wenn Sie mich fragen, ignorieren Sie ihn lieber.«

»Ja«, murmelte Wendt. »Er hat offenbar angenommen, dass die Mädels ein Liebespaar waren und gemeinsam durchgebrannt sind.« Er schüttelte den Kopf. »Sehr sparsam gedacht.«

»Deswegen ist er Pagels Liebling. Immer den Aufwand anstatt der Wirkung im Blick haben, das ist ganz das Ding meines Kollegen.« Sie verdrehte die Augen und beugte sich dann vor. Sie wollte den Bericht lesen, so unspektakulär er auch sein mochte. Sie überflog die Worte und stockte. Um keinen Unsinn von sich zu geben, öffnete sie den Bericht zu Tabithas Fall. »Es liegen zwei Tage zwischen Fatmas und Tabithas Verschwinden.« Und wann hörte man schon von Paaren, die getrennt voneinander fortliefen, geschweige denn von schlichten Freundinnen, die geplant separat verschwanden?

Jahn beugte sich nun ebenfalls zum Bildschirm. Dazu musste er sich drehen und sich auf dem Stapel Akten zu seiner Linken abstützen. »Nanu.«

»Ups.« Wendt grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Da hat der Gute was übersehen, hm?«

Ivy runzelte die Stirn und schüttelte innerlich den Kopf. Wendt benahm sich heute echt merkwürdig. Noch merkwürdiger als sonst. »Ihnen geht es gut?«

Er verzog die Lippen nun zu einem schiefen Grinsen. »Hervorragend. Also sehen wir zwei uns die Fälle noch mal genauer an?«

Jahn stöhnte. »Ihr zwei also, ja?«, murmelte er.

Ivy sah zwischen den beiden hin und her. »Was habe ich verpasst?«

»Der Trottel …«, begann Jahn und deutete auf den Kollegen.

Dieser übertönte ihn augenblicklich: »… kann Sperber einfach nicht leiden.« Wendts Augen durchbohrten den Kollegen, und aus dem fröhlichen Gesicht wurde eine scharfe Warnung.

»Der Trottel wird sich keine falschen Hoffnungen machen?«, fragte Ivy streng. Sie hatte gleich geahnt, dass es keine gute Idee war, Carsten Wendt zum Dank für seine Unterstützung im Fall Lena Brahms zum Essen einzuladen. Er hatte es offensichtlich so aufgefasst, dass sie tieferes Interesse an ihm hatte.

Wendt brauchte einen weiteren Moment, bevor sich sein Blick auf sie richtete und er auf ihre Vermutung reagierte. »Ich mache mir keine falschen Hoffnungen«, behauptete er vorsichtig.

Sie glaubte ihm kein Wort. »Wendt, ich war deutlich.«

Er nickte. »Wir sind Kollegen, mehr nicht.« Sein Blick sprang zu Jahn und sein Gesicht rötete sich. »Aber wir harmonieren … bei der Arbeit.« Er biss sich auf die Lippe und blieb still.

Jahn lachte und Ivy wägte ihre Worte ab. Wie sollte sie Wendt klarmachen, dass ihr Interesse an ihm rein beruflich war? »Ich brauche Unterstützung aus der IT. Kein Fall kommt heutzutage noch ohne Auswertung der Medien aus und wir haben bereits festgestellt, dass ich keinen eigenen Zugriff auf die Datenbanken habe.«

»Schon klar«, murrte Wendt. »Adam ist hier der Trottel, nicht ich.« Er fuhr sich durch den Schopf und stieß den Atem aus. »Ich kenne meine Grenzen und Sie haben mir Ihre deutlich aufgezeigt. Das akzeptiere ich.«

Sie glaubte ihm nur, weil er bei seinem letzten Satz wagte, ihr in die Augen zu sehen.

»Ich bin professionell.«

»Also …« Jahn unterbrach die Spannung und lenkte Ivy von dem immer noch rotgesichtigen Kollegen ab. »Wenn Wendt ausfällt – ich habe auch nicht immer hinter einem Bildschirm gesessen.« Er zwinkerte und grinste. »Ich hätte nichts dagegen, auch mal aus dem Bunker herauszukommen, und mit Ihnen soll eine Ermittlung recht aufregend sein.«

Ivy schnaubte. »Vermutlich, weil ich nichts auf Pagels Mahnungen gebe, die Kosten der Ermittlung nicht unnötig in die Höhe zu treiben.«

»Oder weil man Sie nicht aus den Augen lassen kann, ohne dass Sie Stufen hinunterfallen oder Ihnen in einem Zweikampf die Waffe abhandenkommt.« Jahn hob in einer abwehrenden Geste die Hände. »Klatsch, ich weiß, aber mit Hand und Fuß, oder?«

Ivy kaute auf ihrer Zunge herum. Es brachte nichts, sich vor jedem der über zweitausend Kollegen in diesem Gebäude zu verteidigen, nachdem diese bereits mit irreführenden Geschichten über sie gefüttert worden waren.

Wendt räusperte sich. »Sie wollten sicherlich die unidentifizierten Leichen mit den Daten der beiden Frauen vergleichen.«

»Ja«, krächzte Ivy. Konnte sie die Vermutung so stehen lassen, dass sie ein Desaster war und früher oder später bei einer Ermittlung zu Tode kommen würde? Und schlimmer noch, auch der Partner beziehungsweise die Kollegen in Gefahr gerieten, verletzt oder getötet zu werden?

»Rutschen Sie zur Seite und ich schaue, ob ein digitaler Abgleich möglich ist.«

»Ist er nicht«, behauptete Jahn und ließ die Hände sinken. »Wenn es Sie beruhigt«, fuhr er betont gelassen fort und fasste sie abschätzend ins Auge, »ich glaube nicht alles, was man mir erzählt, und letztlich haben Sie den Fall trotz aller Widerstände gelöst. Sie hatten recht und keiner hat Ihnen glauben wollen, dass Pagels Verdächtiger unschuldig ist.« Er deutete auf die Bildschirme. »Wäre ein automatischer Abgleich möglich und positiv, wäre ein Alarm geschaltet worden.«

»Wenn die automatische Erkennung funktioniert.« Wendt drehte den Kopf, damit er sie ansehen konnte. »Das System ist neu und fehleranfällig. Es lohnt sich, die Listen abzugleichen.«

»Na dann, worauf warten wir?« Ivy zog ihren Notizblock aus der hinteren Hosentasche. Dementsprechend mitgenommen sah er aus. Ein kleiner Kuli befand sich in der Ringfassung und ließ sich ohne Probleme herausziehen. Eine freie Seite zu finden, war da schon schwieriger.

»Wo ist Ihre Mappe?«, fragte Wendt und zog die mittlere Schublade auf, um einen DIN-A4-Block hervorzuholen. Er schob ihn zu ihr herüber.

»Verschwunden.« Sie zuckte die Achseln. »Meine Notizen verschwinden gerne mal.«

Jahn pfiff. »Haben Sie jemanden in Verdacht?«

»Pagel«, offenbarte Ivy ihre Befürchtung. »Er ist ärgerlich, dass ich seine Theorie torpediert habe und auch noch richtiglag. Er denkt sich jeden Tag etwas Neues aus, was mich dazu bringen soll, den Dienst zu quittieren. Heute hat er ein Pfund Schweinemett mitgebracht und es genüsslich vor meinen Augen verspeist.«

»Sie ist Vegetarierin.« Wendt verzog den Mund. »Etwas Rücksicht wäre angebracht.«

Ivy schüttelte den Kopf und notierte sich derweil Datum und Fall-Nummern. »Nein, das stört mich gar nicht. Jeder kann essen, wonach ihm ist, und es ist mir lieber, er frisst Mett, als dass er sich andere Wege ausdenkt, mir das Leben schwer zu machen. Erkenntnisse vorenthalten zu bekommen, unvorbereitet in Befragungen zu gehen oder nicht beachtet zu werden, wenn ich meine Ansicht preisgebe, ist wesentlich unangenehmer und auch gefährlicher als etwas Gestank und Geschmatze auf leeren Magen.«

»Da haben Sie recht.« Wendt zog sich einen Stuhl heran, während Jahn zurück auf seine Seite des Schreibtisches ging.

»Wenn Sie mich fragen, vergeuden Sie Ihre Zeit mit dem Abgleich. Der Großteil aller Vermissten, die ermordet werden, sterben innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden. Nach zehn Jahren Dekomposition der Leichen wird es keine Hinweise geben, die zu einer Aufklärung der Todesfälle führen könnten.« Jahn biss in seinen Donut und deutete auf sie. »Trotzdem viel Erfolg.«

»Es geht nicht um die Aufklärung eines Todesfalls.« Ivy notierte sich Größe und Gewicht in einer eilig skizzierten Tabelle. »Welcher natürliche Tod findet schon statt, indem man sich freiwillig in ein Erdloch legt, das sich dann zufällig von selbst mit Erde zuschüttet? Oder während man mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen mit einem Strick um den Hals vom Baum springt?« Ivy kniff die Augen zusammen, da die Liste der unidentifizierten Leichen mit einem veralteten Programm erstellt worden war und sie nicht gewohnt war, Courier New in einer Schriftgröße von sechs zu lesen. »Kann man das hier ins gegenwärtige Jahrhundert formatieren?«

Wendt lachte und schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich kann es ausdrucken. Weiblich, zwischen einem Meter sechzig und einem Meter fünfundsiebzig und gestorben vor maximal zehn Jahren?«, schlug er als Auswahlkriterien vor.

Ivy blinzelte. Ihre Hand zitterte. Sollte sie zwölf Jahre verlangen? »Fünfzehn Jahre«, krächzte sie. »Und ich weiß, dass die Mädchen nicht gestorben sein können, bevor sie verschwunden sind.«

Wendt schnaubte. »Zum Glück.«

»Das sollten Sie lassen«, warnte Jahn erneut. »Sie begeben sich dabei in unsichere Gewässer, und da ist es gleich, ob Sie etwas finden oder nicht!«

»Ich weiß.« Sie klärte ihre Stimmbänder. »Pures Interesse an Statistik.«

»Sie wären bei uns gut aufgehoben«, murmelte Wendt, während er die Parameter einstellte. »So. Fünfzehn Jahre.« Er warf ihr einen Blick zu. »Wir könnten das Alter eingrenzen. Sie waren beide sechzehn, als sie verschwanden.«

Ivy dachte darüber nach, ob eine Altersbegrenzung Sinn ergab. »Wir würden damit die Möglichkeit ausschließen, dass die Opfer eine Zeitlang gefangen gehalten worden sein könnten. Nicht sehr wahrscheinlich, aber immerhin auch eine Option.«

Wendt starrte sie einen langen Augenblick an, zuckte dann die Achseln und klickte auf die rechte Maustaste. Ein Drucker begann zu rattern. Ivy scrollte durch die Vermisstenanzeige der Lehrerin. Sie hatte nicht viel Hilfreiches zu Protokoll geben können. Die Eltern waren unkooperativ gewesen und hatten letztlich darauf beharrt, dass Fatma fortgelaufen war. Auf die Frage, warum sie Fatma nicht als vermisst gemeldet hatten, war die Antwort »Wozu?« gewesen.

»Ich würde gerne die Karamans auf Vorstrafen und Vorfälle mit den Behörden prüfen.« Irgendwie war die Sorglosigkeit der Familie erschreckend. Die Tochter verschwand, bevor sie erwachsen war, und niemand fand dies irgendwie erwähnenswert. Da hatte sich Frau Albert ja sogar mehr um Fatma gesorgt, und Ivy hatte die Lehrerin nicht als übermäßig aufmerksam oder auch involviert in Erinnerung, sondern eher als Schülerschreck. Aber Ivy war auch nicht von Frau Albert unterrichtet worden.

»Sie denken, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugeht?« Wendt tippte auf der Tastatur herum und rief die Datenbank der Fallakten auf, wo er nach dem Namen Karaman suchte.

»Ich denke, dass ich sehr besorgt wäre, würde mein minderjähriges Kind sang- und klanglos verschwinden.« Sie zuckte die Achseln und überflog die Einträge. »Zum Glück kein verbreiteter Name«, murmelte sie.

»Zwei Anzeigen wegen Körperverletzung und eine wegen häuslicher Gewalt.« Er fluchte leise. »Aufgegeben von Fatma Karaman und gegen ihren Vater gerichtet.«

Jahn pfiff. »Wirklich? Lass mich raten: Kurz bevor sie von niemandem mehr gesehen wurde? De Vine, Sie gehören in die Cold-Case-Abteilung!«

»In die mich offenbar jeder gerne abschieben würde. Aber ich ziehe es vor, akute Fälle zu lösen und nicht darauf zu warten, dass einer der Kollegen es verkackt.«

Jahn lachte. »Auch wieder wahr.«

Ihr Telefon klingelte und sie fischte es eilig aus ihrer Hosentasche. Sie nahm nach einem raschen Blick auf das Display ab. »Keine Sorge, ich bin an Sperbers Auftrag dran«, sagte sie, bevor Pagel zu Wort kam.

»Das kann warten«, grummelte Pagel. »Kälter wird der Fall auch nicht mehr. Kommen Sie in die Gerichtsmedizin, und zwar pronto.«

Ihr Puls schoss in die Höhe. Gemeinhin war ihr erster Anlaufpunkt bei einem neuen Fall der Fundort. Sie hoffte, dass die gestresste Gerichtsmedizinerin Stefanie Marx ihren unfreundlichen Vorgesetzten Liebermann nicht in wilder Raserei mit einem Skalpell filetiert hatte.

Pagel gab ihr die Fallnummer durch und legte auf, bevor sie fragen konnte, was sie erwarten würde, und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich wieder einmal von den Begebenheiten überraschen zu lassen. Sie sah auf und bemerkte, dass Wendt sie nicht aus den Augen gelassen hatte.

»Haben Sie noch weitere Aufträge für mich?«

Ivy steckte das Telefon ein, schüttelte den Kopf und stockte dann. Eigentlich gab es eine ganze Reihe von Dingen, die sie fordern wollte. »Könnte ich eine Liste der nicht identifizierten Leichen haben, wie wir sie gerade eingeengt haben?«

»Und eine über Karamans Verfehlungen.« Wendt nickte. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, schreiben Sie mich an.«

»Vorsicht, ich nehme Sie beim Wort.« Ivy suchte seinen Blick. »Und nutze Sie gnadenlos aus.«

Seine Mundwinkel hoben sich. »Nichts anderes erwarte ich.«

»Nicht die beste Einstellung.« Sie stand auf und deutete auf den immer noch ratternden Drucker. »Ich hole mir die Ausdrucke später ab. Das ist aber kein Grund für Überstunden, legen Sie mir das Papier einfach hier bereit, okay?«

Jahn prustete und vergrub sich augenblicklich tiefer in seine Arbeit. Wendt sah verärgert zu ihm hinüber, während er versprach, weder seinen Feierabend zu vergessen noch seine eigentlichen Aufgaben zu vernachlässigen.

»Danke.« Sie verließ das Büro und war bereits halb den Gang hinunter, als ihr etwas auffiel. Sie machte kehrt und musterte die Kollegen, bevor sie die beiden auf sich aufmerksam machte.

»Wie kommen Sie darauf, dass mich die Suche nach meiner Schwester hergeführt haben könnte?« Ihr kamen einige Möglichkeiten in den Sinn, wie die Kollegen auf die Idee gekommen waren. Zum einen hatte ihr freundlicher Kollege Pagel von ihrer Verbindung zu einem Verbrechen gewusst, schließlich hatte er dies bereits auf der SoKo-Sitzung im Fall Brahms herumposaunt. Die damals anwesenden Kollegen könnten dies dann weitergetragen haben. Aber wie hatte Pagel davon erfahren? Zufall, oder hatte jemand in ihrer Vergangenheit herumgewühlt?

Wendt befeuchtete sich die Lippen und schaute hilfesuchend zu Jahn hinüber.

»Auch wieder nur Klatsch, oder gab es nicht nur einen Tracking-Auftrag, sondern auch eine Durchleuchtung meiner Person?« Ärger ließ ihr Blut in den Adern pulsieren und sie ballte die Fäuste, dabei konnte alles ganz harmlos sein. Dann wiederum war Klatsch alles andere als harmlos, wenn er ihren Ruf schädigen konnte.

Wendt räusperte sich. »Ich habe Ihr Diensttelefon getrackt, das ist nicht illegal.«

»Und in meinen Privatangelegenheiten herumgewühlt, richtig?«, mutmaßte sie angefressen. »Kommt Ihnen so ein Auftrag nicht fragwürdig vor?« Bisher hatte sie Pagels Wissen um das vermeintliche Fortlaufen ihrer Schwester nicht gewundert. De Vine war kein üblicher Name in Deutschland und blieb wohl hängen, wenn er irgendwo fiel, und es war auch keine Seltenheit, dass man in seiner Karriere als Kommissar unterschiedliche Einheiten durchlief. Sie selbst hatte in Münster viel mit häuslicher Gewalt zu tun gehabt und war so auch in Kontakt mit Ermittlungen zu Todesfällen gekommen, wodurch ihr Wechsel nach Dortmund und in die Mordkommission möglich geworden war.

»Das geht auf meine Kappe«, gab Jahn zu. Er stieß sich mit seinem Stuhl von der Tischplatte ab, sodass er sich nicht mehr hinter den Monitoren verbarg und sie ihn sehen konnte. »Ich habe Sie überprüft. Und ja, es wirkt fragwürdig, aber … es hieß, dass …«

»Ich höre. Ich liebe kreative Ausreden.« Sie drehte die Hand, um ihn zum Weiterreden aufzufordern. »Es hieß, dass …«

»… Ihre Versetzung einen unangenehmen Hintergrund hatte.« Jahn hob die Hände. »Man will wissen, mit wem man zusammenarbeitet. Zumal Sie tatsächlich viele Forderungen stellen, die, sagen wir, fragwürdig sind.« Er deutete zu Wendt. »Und Carsten frisst Ihnen aus der Hand. Da sollte man zumindest einmal prüfen, mit wem man es zu tun hat.«

»Es ist nichts fragwürdig daran, dass ich hier bin. Ich hatte den Auftrag, mich nach Tabitha Herrmanns und Fatma Karaman zu erkundigen. Ich agiere nicht auf eigene Faust.« Zumindest nicht völlig.

Jahns Brauen hoben sich.

»Warten wir ab, was die Ermittlungen ergeben«, schlug Wendt vor. »Vielleicht ist sie hier an was dran.«

Ivy ignorierte seinen Einwurf und fixierte weiterhin Jahn. »Sie sind der Auffassung, dass ich der Diskrepanz bezüglich des gemeinsamen Verschwindens nicht nachgehen sollte? Haben Tabitha und Fatma im Fall ihres unfreiwilligen Abhandenkommens nicht verdient, dass sich jemand um ihr Verbleiben sorgt?«

Jahn atmete tief durch. »Das ist Aufgabe der Cold-Case-Abteilung.«

Damit lag er unglücklicherweise richtig. Sie biss sich auf die Lippe.

»Sperber weiß das. Er will, dass Sie sich einmischen, und darüber sollten Sie sich Gedanken machen, bevor Sie hier weitermachen.« Jahn hob die Hände mit den Handflächen zur Decke. »Meine Meinung. Bestimmt finden Sie dringendere Dinge als einen zehn Jahre alten Fall, an den Sie arbeiten können.«

»Vermutlich«, murmelte Ivy.

»Und ansonsten: Lassen Sie sich wenigstens nicht dabei erwischen, wie Sie der Cold-Case-Abteilung ans Bein pissen. Sie brauchen eine bessere Begründung, als dass Sperber Sie geschickt hat, um Informationen zu Frau Herrmanns und Frau Karaman zu sammeln. Eine mögliche Verbindung zu einem aktuellen Fall zum Beispiel. Amtshilfe für das Jugendamt, wenn es weitere gefährdete Kinder in der Familie Karaman geben sollte, die Sie unter die Lupe nehmen wollen. Irgendetwas, was berechtigtes Interesse begründet.« Er zuckte die Achseln. »Nur ein freundschaftlicher Rat.«

Kapitel 2

Dortmund-Innenstadt, Bünnerhelfstraße, Gerichtsmedizin, Montag, 24.07., 10 Uhr

Ivy hob zur Begrüßung des Wachmanns die Hand. »Hallo, Fabian. Mein Kollege Kommissar Pagel hat mich heranbeordert. Er ist vermutlich bei Doktor Liebermann.«

Fabian nickte und betätigte den Türsummer. »Sie sollen sich beeilen, Ivy.«

Sie nickte und beschleunigte ihre Schritte, um zum Fahrstuhl zu gelangen. Eigentlich war dies eine Sackgasse, da der Zutritt in die Gerichtsmedizin beschränkt war und sie einen Schlüssel brauchte, um im Aufzug den Knopf für die entsprechende Abteilung freizuschalten. Sie sah über die Schulter zurück und bemerkte, dass der Wachmann telefonierte, während er ihr nachsah. Nun hob er die Hand und deutete auf das Treppenhaus.

Ivy bog ab und hastete die Stufen hinab. Auch die gläserne Zugangstür war versperrt, also klopfte sie deutlich dagegen. Eine sinnlose Aktion, da der Gang auf der anderen Seite völlig leer war. Sie zog ihr Telefon hervor und wählte die Nummer ihres Kollegen. Er nahm nicht ab. Frustriert biss sie die Zähne zusammen und versuchte es bei der einen Person, die ihre Anrufe immer gern entgegennahm. »Hey, Steffi.«

»Puh! Ich dachte schon, ich müsste beide allein ertragen!« Sie kicherte. »Wo steckst du?«

»Im Treppenhaus. Demnach keine zehn Schritte von deinem Büro entfernt.« Die wenigen gewechselten Worte genügten, damit die Schwere der Wut auf den Kollegen, der sie immer wieder vor verschlossenen Türen versauern ließ, verebbte. »Lässt du mich rein?«

»Klar.« Steffi erschien auf dem Gang, das Handy noch ans Ohr gepresst und mit der freien Hand winkend.

»Gut, dich zu sehen.«

»Dito!« Sie kicherte wieder. Ihre kleine Gestalt wackelte vor Belustigung und ihre Schritte gerieten etwas aus der geraden Bahn. »Warum bekommst du eigentlich immer die besonders grausamen Fälle ab?«

»Schicksal. Was erwartet mich?« Ivy wollte nicht wieder unvorbereitet auf die Leiche eines Mädchens stoßen, das mit einem Beil fast zerlegt worden war.

»Da sind wir uns nicht einig.« Steffi klemmte, an der Tür angelangt, ihr Telefon zwischen Schulter und Wange fest und holte den dicken Schlüsselbund aus ihrem Kittel. Sie wählte sorgfältig aus dem Haufen unterschiedlicher Schlüssel den richtigen aus, indem sie sie nacheinander über den mittigen Ring schob, und steckte den auserwählten dann ins Schloss. »Liebermann hält es für …«

»Einen Selbstmord?«, unterbrach Ivy sie, was die Gerichtsmedizinerin wieder kichern ließ.

»Das wäre interessant, aber doch eher unwahrscheinlich.« Steffi schob die Tür mit vollem Körpereinsatz auf.

»Was ist deine Vermutung?« Ivy umarmte sie und trat dann an ihr vorbei in den Flur.

»Tja, etwas Scharfes, das keine offensichtlichen Rückschlüsse auf die Art der Klinge zulässt. Vielleicht ein Samuraischwert?«

Ivy entwich ein bellendes Lachen. »Wie bitte?« Der Mord an Lena Brahms war mit einer ungewöhnlichen Waffe ausgeführt worden und die Verletzungen waren nicht so leicht aus dem Kopf zu bekommen. Was sie jetzt nicht brauchte, war ein weiterer Mordfall mit scheußlichen Wunden.

Steffi zuckte die Achseln. »Es wäre ein falsch geführtes und auch sehr stumpfes Schwert gewesen, aber die Aussicht war doch nett, oder?« Sie feixte, wurde dann aber wieder ernst. »Ich habe solche Wundränder noch nie gesehen, und wenn ich Liebermann richtig verstehe, er auch nicht.«

»Herrlich. Als hätte die letzte Suche nach dem passenden Mordwerkzeug nicht für genug Aufregung gesorgt.«

Steffi stieß sie mit der Schulter an. »Wir hatten Spaß.«

»Du hattest Spaß. Ich hatte Mitleid mit dem armen Schwein!« In das sie diverse Schneiden hineingejagt hatten, um eine Waffe zu finden, die ein ähnliches Wundmuster ergab wie jenes an Lena Brahms.

»Ich lehne mich mal aus dem Fenster und behaupte: Es war keine Axt.« Sie kicherte und klammerte sich an Ivys Arm.

»Wäre auch zu einfach.« Sie kamen an Steffis Büro vorbei, und kaum hatten sie dieses hinter sich gelassen, hörte man auch schon Liebermanns aufgebrachte Stimme.

»Schon wieder.« Steffi verdrehte die Augen.

»Antworten!«, verlangte Pagel giftig. »Wie stehe ich da, wenn sich wieder keine Tatwaffe zuordnen lässt?«

»Vielleicht wie der Dämlack, der du bist? Es ist nicht mein Job, deine Tatwaffe zu finden!«

Steffi schob die Schwingtür auf und gab damit den Blick auf das Duo preis, das über eine Bahre und den darauf liegenden Körper gebeugt miteinander stritt. »Das Anbölken hat nun ein Ende!«, befahl sie knapp. »Ich werde noch kirre hier!«

Ivy blieb neben dem Kollegen stehen und ignorierte ihn. Auf dem kalten Metalltisch etwa einen Schritt entfernt lag eine Frau. Sie war sicherlich in den späten Zwanzigern, obwohl sich um ihre Augen Krähenfüße rankten und sie damit älter wirkte. Da der Körper nicht abgedeckt war, ließ sich auf den ersten Blick sagen, dass die letzten Jahre nicht gut zu ihr gewesen waren. Die Haut spannte sich über ihre Hüftknochen und auch ihre Rippen waren deutlich zu zählen. Immerhin war es dieses Mal kein halbes Kind. Ivy atmete dennoch durch. Narben, blaue Flecken und Schnitte bedeckten den Leichnam. Einige der Narben waren bereits verheilt und nur noch helle Striche auf fahler Haut. Andere wiesen rötliche Wundränder auf und waren damit neueren Datums. Die Arme und Beine standen ab, als wären sie aus den Gelenken gerissen worden, und zumindest der rechte Unterarm war gebrochen. Ein Stück des Knochens schaute hervor. Die schrecklichste Wunde war jedoch jene am oberen Teil des Körpers. Der Hals war fast vollständig vom Torso abgetrennt. Ivy zwang sich, die Wunde genau anzusehen. Sie umrundete Pagel, der sie nicht aus den grimmigen Augen ließ, und beugte sich dann über den Leichnam. Ihr dunkles Haar war unter ihren Körper gesteckt, daher ließ sich die Länge nicht genau bestimmen. Sie hatte hohe Wangenknochen und eine gerade Nase, die einen leichten Schwung nach oben aufwies. Gemeinhin hätte man sie als schön beschrieben, da ihre Gesichtszüge selbst im Tode noch gleichmäßig waren, ihre Wimpern dick und ungewöhnlich lang waren und die Lippen mit einer ungewöhnlichen Fülle lockten. Die hohe Stirn gab ihr einen Rest von Kindchenschema, da sich Augen, Nase und Mund zusammendrängten.

»Warum trägt hier heute eigentlich niemand Schutzkleidung?«, fragte sie abgelenkt. Sie hätte einiges für eine Schutzmaske gegeben, da der Verwesungsgeruch atemberaubend war und ihr direkt auf den Magen schlug. Sie schluckte die Galle hinunter und mahnte sich, sich nichts anmerken zu lassen.

Steffi reichte ihr ein Pöttchen. »Hilft gegen den Gestank, und die Herren diskutieren zu angeregt, als dass sie sich von der Stimme der Vernunft hätten leiten lassen.« Sie hängte Ivy einen Einmalganzkörperanzug über den angewinkelten Ellenbogen. »Anziehen.«

Ivy schmierte sich etwas von der scharf riechenden Creme unter die Nase und stieg dann in den Anzug. Sie bekam noch eine Maske und Handschuhe, dann bedeutete Steffi ihr mit einer winkenden Geste, um den Tisch herumzukommen. Am Kopfende blieb sie stehen und hob den Kopf der Frau an. Die Augen waren milchig trüb und starrten ins Nichts. Natürlich war es nicht dies, was Steffi ihr zeigen wollte, also lenkte Ivy ihren Blick auf den Wundrand.

»Siehst du?«

»Fransig.« Sie beugte sich vor. Die Haut wirkte wie zerrissen und nicht wie zerschnitten, und trotzdem war das Muskelgewebe ebenso durchtrennt wie die Speise- und Luftröhre. Selbst die Wirbelsäule war mit einem leicht aufwärts führenden Schnitt fast zur Gänze durchtrennt. Steffi schob eine riesige Lupe zwischen Ivy und den Leichnam und es wurde sehr deutlich, was die Gerichtsmedizinerin meinte, als sie die Möglichkeit einer stumpfen Schneide angesprochen hatte.

»Wir werden jetzt nicht Schweinen die Köpfe absäbeln, oder?« Sie seufzte und runzelte die Stirn. »Fehlt da was?« Sie deutete auf den Wirbelknochen. »Sieht aus, als wäre da etwas abgesplittert.«

Steffis Kopf drängte ihren beiseite. »Potzblitz, sie hat recht.«

»Mumpitz!« Liebermann schob Steffi grob zur Seite und setzte sich dann seine Brille auf die gerötete Nase.

»Hier.« Ivy zeigte auf den kleinen Riss am halb verdeckten Knochen.

Liebermann sah grimmig auf. »Das muss passiert sein, als Frau Marx an der Leiche herumgedoktert hat.«

Ivy blinzelte heftig. »Es ist absolut auszuschließen, dass diese Verletzung zum ursprünglichen Verletzungsbild gehört?«

»Ja, absolut«, behauptete der Gerichtsmediziner resolut. »Das wäre mir selbstverständlich nicht entgangen.«

»Aha.«

»Was soll das jetzt heißen?« Liebermann schob die Lupe aus dem Weg. »Es ist nicht mein Job, der Polizei die Tatwaffe frei Haus zu liefern!«

Ivy nickte, um ihn zu beruhigen. Es wirkte nicht, also stimmte sie ihm zu. »Wir sind für das Auffinden der Tatwaffe verantwortlich.«

Liebermann schnaufte. »Verdammt richtig!«

»Und die Gerichtsmedizin unterstützt uns dabei, indem sie fachkundige Einschätzungen dazu liefert, welche Tatwaffen potenziell infrage kommen.«

Pagel gackerte, während Liebermann rot anlief.

»Und das machen wir gern.« Steffi griff wieder nach dem Kopf und klappte ihn zurück. »Wir sprachen bereits über die Mikroläsionen an den Wundrändern. Jedes Gewebe bis hinunter zu den Knochen weist diese Risse oder Brüche auf, die ich keiner Waffe zuordnen kann.«

»Herrlich«, murmelte Ivy für sich. »Die Todesursache ließ sich aber bestimmen?« Sie deutete fahrig auf den Körper. »Immerhin wurden Atemröhre und diverse Blutgefäße verletzt. Ich nehme an, sie ist erstickt, bevor sie verbluten konnte.« Und das an ihrem eigenen Blut. Was für eine schaurige Art zu sterben und auch ein deutliches Indiz, dass sie sich ihr Schicksal nicht selbst ausgesucht hatte. »Als Mordwaffe kommt was infrage? Wurden weitere Indizien an ihr gefunden? Fremd-DNA, Fasern, irgendwas?«

»Wir haben sie so bekommen.« Liebermann deutete auf den Leichnam.

Ivy schüttelte den Kopf, weil sie nicht verstand, was er meinte. »Nackt und gewaschen?«

»Ja.« Er zuckte die Achseln. »Sie ging zuerst nach Münster.«

»Aha. Warum?« Es kam durchaus zu Zuständigkeitsproblemen, wenn ein Leichnam an falscher Stelle aufgefunden wurde. Aber in der Regel behielt die zuerst zuständige Stelle die Ermittlungshoheit. »Wurde sie am Rande unserer Zuständigkeit gefunden?«

»Nee.« Liebermann stützte sich auf dem Metalltisch ab. »In Eving.«

»Da fällt mir ein, dass wir uns dort noch umschauen sollten.« Pagel rieb sich die Stirn. »Hoffen wir, dass wir dort auch Antworten bekommen und keine Ausreden.« Er schob Ivy vor sich her.

»Moment! Wie kam es zur Verwechslung der Zuständigkeit? Eving ist nun wirklich kein Grenzgebiet!«

»Keine Ahnung«, schnarrte Liebermann. »Fragen Sie doch Ihren einzigen fähigen Kollegen. Und jetzt raus hier, ich habe zu tun! Mädchen, decken Sie die Leiche ab und in die Kühlung mit ihr.«

Ivy fing Steffis Blick auf. Es lag Verdruss darin.

»Es lohnt sich immer, weitere Abstriche zu machen. Die Forensik sollte zumindest …«

»Sie ist sauber«, unterbrach Pagel sie. »Die Beweise sind in Münster gesichert worden, darüber hinaus wird eh nichts zu finden sein.« Er griff nach ihrem Arm. »Jetzt hören Sie auf mit den Fisimatenten und kommen Sie endlich.«

Steffi formulierte stumme Worte: »Ich kümmere mich darum.«

Ivy nickte, befreite ihren Ellenbogen aus den Fingern des Kollegen und zog die Schutzkleidung aus. »Ohne Begleitung kommen wir hier nicht raus, oder?«

Pagel verdrehte die Augen. »Müssen Sie immer Krawall machen?« Er drehte sich um. »Wenn wir verschwinden sollen, wirst du uns rauslassen müssen.«

»Mädchen«, brüllte Liebermann und deutete auf Steffi.

»Frau Kollegin oder Doktor Marx wäre die passende Anrede.« Ivy musterte den Gerichtsmediziner. »Und es wäre überaus freundlich von Ihnen, Frau Doktor Marx, wenn Sie Ihre Arbeit für uns unterbrechen würden, um uns den Aufzug zu rufen.« Und mit ihnen hinaufzufahren.

Liebermann schnaubte. »Sie sind ein Aas, Frau Kommissarin de Vine.« Er deutete erneut auf Steffi. »Raus mit denen, Frau Kollegin, aber dalli!«

Ivy warf einen letzten Blick auf die Leidtragende ihres neuen Falls. Sie war schon zu dünn und viel zu bleich, selbst für einen ausgebluteten Körper. Etwas war hier sonderbar. Vielleicht, dass sie soeben noch bei den Kollegen der IT nach vermissten jungen Frauen gesucht hatte, die dieser Leiche durchaus ähnlich sahen? Eine Gänsehaut breitete sich auf ihr aus.

»Wurde sie geröntgt?«, fragte sie Steffi auf dem Weg durch den Flur.

»Nein.« Die Rechtsmedizinerin hob die Brauen. »Doktor Liebermann wartet auf Anweisungen. Abgesehen von einer optischen Begutachtung ist noch nichts geschehen.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Ich habe mir die Wundränder genauer angesehen und dabei natürlich eine Pinzette benutzt, um die Hautlappen vom Knochen zu heben. Ich habe jedoch den Riss nicht gesehen, da war ich wohl unaufmerksam.« Sie warf einen Blick zu Pagel und lehnte sich zu Ivy. »Da ging das Theater hier gerade los.«

Ivy nickte verstehend. Sie arbeitete auch lieber in Ruhe, damit sie Fehler ausschließen konnte, und Pagel konnte schon laut und unangenehm werden.

»Das heißt, dass die Forensik sie seit dem Auffinden nicht noch einmal gesehen hat.«

»Sie ist gewaschen«, grätschte Pagel dazwischen. »Mädchen, Sie müssen lernen, das Wichtige im Auge zu behalten. Da wird nichts an ihr sein, was uns weiterhelfen wird!« Er betrat den Fahrstuhl, kaum dass die Türen desselben genügend Platz für ihn ließen. Er drehte sich um und betrachtete sie mit verengten Augen und Ressentiment in der verkniffenen Miene. »Denken Sie endlich mal an die Kosten!«

»Und was ist so ein Leben wert, Kommissar Pagel? Wie viel darf die Aufklärung eines bestialischen Mordes so kosten?«

Steffi prustete, versteckte ihre Belustigung aber gleich wieder, indem sie eilig ihren Schlüssel in das Schloss steckte und ihn drehte. Die Türen glitten zu. Ivy weigerte sich, den Blickkontakt mit ihrem Kollegen zu brechen, was der vermutlich als klein beigeben interpretieren würde. Der Aufzug hielt im Erdgeschoss und damit war der Starrwettbewerb beendet. Pagel stampfte los und stieß Steffi nur deswegen nicht aus dem Weg, weil sie sich zur gleichen Zeit drehte und damit genügend Platz machte, dass er zwischen ihnen hindurchpasste.

»Folgen Sie mir!«, bellte er, als er halb durch die Halle war, ohne sich zu ihr umzudrehen.

»Na, dann viel Vergnügen.« Steffi schüttelte ansatzweise den Kopf und flüsterte: »Ruf an!«

Ivy nickte und eilte ihrem Kollegen nach.

Ivy fuhr hinter Pagels VW her und durchquerte dabei die halbe Stadt. Sie hätten durchaus eines der Autos am Kommissariat stehen lassen können, aber sie hatte nicht vorgeschlagen, zusammen zu fahren, da sie befürchtete, den Mund nicht halten zu können und Pagel weiter zur Weißglut zu treiben. Oder andersherum. Sie wollte nicht erklären müssen, warum sie ihn mit dem Sicherheitsgurt erdrosselt hatte. Sie grinste, Steffi vor Augen, als diese ihr ähnliche Gedanken bezüglich ihres Vorgesetzten anvertraut hatte.

Es war zwar eine verlockende Aussicht, aber keine echte Option. Besser sie lenkte ihre Gedanken auf etwas Produktives, und es gab genügend Rätsel zu lösen. Niemand hatte den Namen der Getöteten erwähnt, daher ging sie davon aus, dass sie unidentifiziert war. Auch die Münsteraner Kollegen waren nicht namentlich genannt worden, aber grundsätzlich sollte es nicht zu viele falsch abgelieferte Leichname geben. Also befahl sie dem Sprachassistenten ihres Smartphones, ihre alte Dezernatsnummer zu wählen. Zwar hatte sie nicht an Mordfällen gearbeitet, sondern in der Abteilung für Sexualdelikte, aber in Münster arbeiteten einzelne Bereiche gerne zusammen und unterstützen einander zum Wohl der Allgemeinheit. Wehmut breitete sich in ihr aus. Es war eine schöne Zeit gewesen. Ruhig. Arbeitsintensiv, aber eben kollegial.

Es wurde abgenommen, als sie den Gang eingelegt hatte, um anzufahren. Sie erkannte die gehetzte Stimme direkt.

»Grieber, Kriminalpolizei Münster, halten Sie sich kurz.«

Ivy musste lachen. »Sorry, Ralf, störe ich?«

»Wenn das nicht das flügge gewordene Küken ist.« Er seufzte. »Moment.« Dann verstand sie die undeutlichen Worte nicht mehr. Offenbar waren sie nicht an sie gerichtet.

Sie entließ ebenfalls einen angespannten Atemstoß.

»So, ich bin ganz für dich da, Schätzchen.« Grieber klang nun deutlich gelassener.

»Ach, lass das!«, murrte sie. »Geringschätzung kann ich jetzt nicht gebrauchen. Schon gar nicht von dir!«

»Oje! Aber ich habe dich gleich gewarnt. Dortmund ist ein Drecksloch.« Diese Diskussion hatten sie vor ihrer Versetzung aufs Wunschpräsidium nebst heimatlichem Setting oft geführt, deswegen – und weil ihr der neue Fall bereits unter den Nägeln brannte –, ließ sie das Thema fallen.

»Ich dachte, dass wir uns mal treffen könnten«, begann sie vorsichtig. Sie wollte nicht rüberkommen, als riefe sie ihn nur an, damit er ihr Informationen beschaffte, auch wenn dies genau genommen der Fall war.

»Aha. Und das hat nichts mit der unglaublichen Dummheit deiner Behörde zu tun?« Grieber schnaubte. »Komm schon.«

Ivy seufzte. »Ich denke, da lassen sich zwei Dinge sehr schön verbinden.«

Er lachte und mahnte sie dann: »Vorsicht, ich nehme dich beim Wort.«

»Fein. Sprechen wir also über die Reise der Unbekannten, die nun bei uns in der Gerichtsmedizin liegt.« Sie stand an der nächsten Ampel und trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Was musste sie herausfinden? Welche Informationen waren bei diesem Fall die bedeutenden und führten sie auf die richtige Fährte? »Wie zum Teufel ist sie bei euch gelandet?«

»Da frag mal deine Kollegen und nicht mich.« Grieber lachte leise. »Hör zu, soweit ich es mitbekommen habe, ging der Fall nicht einmal ins Kommissariat. Doktor Wüller hat direkt den Retourenschein ausgefüllt.«

Das passte nicht. »Ich dachte, ihr habt die Beweise gesichert.« Zumindest ging Pagel ja davon aus. »Die Leiche kam gewaschen bei uns an und ohne zusätzliche Beweismittelträger, also nackt.«

»Schätzchen, ich erzähle dir nur, was ich gehört habe. Ich kann dir Wüllers Durchwahl geben, aber er könnte schlecht gelaunt sein und dir eure Inkompetenz um die Ohren hauen.«

»Zu Recht«, murrte Ivy. Da sie während der Fahrt nicht schreiben konnte, bat sie den ehemaligen Kollegen, die Nummer des Münsteraner Gerichtsmediziners per Nachricht zu schicken. »Kannst du nachhorchen, in welchem Zustand sie ankam und ob eventuell doch noch irgendwas bei euch liegen geblieben ist? Irgendwie ist die ganze Sache merkwürdig.«

»Mach ich. Ivy? Du schuldest mir einen Kaffee!«

Ivy grinste. »Mehr als das. Danke, Ralf.«

Er legte auf und Ivy konzentrierte sich auf den Verkehr. Es war nicht die beste Zeit, um einmal quer durch Dortmund zu fahren, auch wenn es schon spät in der Nacht sein musste, um die Evinger Straße angenehm entlangcruisen zu können. Die nächste Ampel stoppte sie, und Pagel, der noch über die umspringende Ampel gefahren war, brauste davon. Ivy biss die Zähne zusammen. Sie wusste nicht, wo der Fundort war, Pagel hatte sie lediglich angewiesen, ihm zu folgen. Dass er sie nun abhängte, zeigte, dass er nicht vorhatte, seine Sticheleien abzustellen.

Eving war kein kleiner Ortsteil. Er bestach auch nicht durch Architektur oder landschaftliche Schönheit. Dafür besaß er Geschichte. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war hier an gleich zwei Standorten Kohle abgebaut worden. Einer der Fördertürme stand als Erinnerung nun im Zentrum Evings, ansonsten gab es Dutzende Bergbau-Siedlungen mit urigen kleinen Häusern und abwechslungsreichen Kleingartenanlagen neben angegrauten Bauten aus allen Epochen. Insgesamt ließ sich Eving damit als typischer Ex-Bergbau-Standort beschreiben, wie es ihn im Ruhrpott häufig gab – oder eben häufig mit einem Wort: schäbbig.

Die Renovierungsversuche der großen Vermieterketten machten aus den Häuschen keine Villen, auch wenn die Mietpreise da etwas anderes behaupteten. Die überdimensionalen Balkone wirkten monströs an den frisch gefärbten Fassaden und selbst die kreativen Versuche, mit hübscher Bemalung die Tristesse der Häuserzeilen aufzubrechen, waren fehlgeschlagen.

Ivy reckte den Hals, aber Pagels Wagen war definitiv keiner derjenigen, die sich vor ihr befanden. War er auf Höhe Immermannstraße abgebogen?

Sie fluchte leise und suchte nach einem Parkplatz. Sie wollte nicht unnötig in die falsche Richtung fahren, während sie Pagel zu kontaktieren versuchte. Außerdem erwartete sie nicht, dass er während der Fahrt abnahm. Immerhin war das Telefonieren während der Fahrt nicht erlaubt, da gab es auch für Polizisten keine Ausnahme. Allerdings umging man dies mit einer Freisprechanlage geschickt. Sie versuchte es zunächst auf seinem Diensthandy. Es tutete, dann unterbrach sich der Anruf von selbst, da eben nicht abgenommen wurde. Ivy tippte sich mit der Ecke ihres Telefons an die Stirn und schloss die Augen. Was sollte sie tun?

Sie wählte die Nummer der Forensischen Informatik, Wendts Aussage im Ohr, dass jedes Diensthandy getrackt wurde.

»Ich habe Ihnen die Ausdrucke in die Ablage gelegt«, sagte er abwesend. »Aber ich nehme mal an, dass Sie Dringenderes auf dem Herzen haben?«

Sie stieß den Atem aus und lehnte den Kopf an. »Ja. Und ich akzeptiere nicht, dass Sie mir nicht helfen können.«

»Oje«, murmelte er. »Jetzt machen Sie mir Angst.«

»Wo hält sich Kommissar Pagel zurzeit auf?« Sie hielt den Atem an und feuerte ihn an, ihr die richtige Antwort zu geben, sprich den Standort des Kollegen.

»Woher soll ich das … ah. Kommissarin de Vine, ich kann Pagel nicht ohne offizielle Anweisung ausspionieren.«

»Hat auch keiner verlangt.« Sie schnaubte. »Er hat mich auf der Fahrt zum Fundort unserer neuen Leiche im Verkehr abgehängt und hatte nicht die Güte, anschließend auf mich zu warten. Er geht weder ans Telefon, noch hat er mir das Ziel mitgeteilt. Ich habe keine Ahnung, wohin ich fahren soll, und eigentlich keine Lust, ganz Eving abzugrasen, in der Hoffnung, auf ihn oder den Fundort zu stoßen.«

»Dann nehmen wir doch die Alternative.« Wendt blieb einen Moment still. Er musste nicht erklären, was er meinte, da Ivy annahm, dass er die vorliegenden Dokumente sichten wollte und damit den Fundort des Leichnams herausfinden konnte, ohne Pagel orten zu müssen. Sicherlich dauerte die Durchsicht der Anordnungen und Berichte länger, aber im Endeffekt bekam sie ihre Antwort. Sie nannte ihm die Fall-Nummer und schloss erneut die Augen. Seit dem Brahms-Fall schlief sie schlecht. Der Täter hatte Ivy entwaffnet und ihr Leben bedroht. Die interne Untersuchung war noch nicht abgeschlossen und sie machte sich Sorgen, wie ihr Alleingang bewertet werden würde. Würde sie zum Innendienst gezwungen werden? Degradiert? Versetzt?

Musste sie einsehen, dass sie voreilig und unverantwortlich gehandelt hatte, als sie der dunklen Gestalt durch den verregneten Wald bei Syburg gefolgt war – ohne Verstärkung? Ohne zumindest der Verstärkung in Gestalt von Niklas Sperber, ihrer zweiten Nemesis neben Pagel, ihren genauen Standort durchgeben zu können?

Vermutlich.

Wendt riss sie aus ihren düsteren Gedanken. »Da haben wir es! Kirchderner Wald. Ich schicke Ihnen die Koordinaten.«

»Danke.« Sie zögerte. Ihr war durchaus bewusst, dass sie ihn mit ihren Anfragen überhäufte und er vermutlich mit anderen Dingen beschäftigt war. »Gibt es irgendwelche Informationen über diesen Fall?«

Wendt brummte. »Aufgefunden von Bauarbeitern am Freitagmorgen. Kommissar Bierwisch als Erster vor Ort. Unklarer Sachverhalt.«

Ivy runzelte die Nase und öffnete die Augen.

»Anfrage auf Amtshilfe durch Rechtsmedizin zur Klärung der Todesursache.«

»Ich bin verwirrt«, unterbrach sie ihn.

»Keine genaueren Angaben im Bericht der Streife. Ich kann also nicht sagen, was unklar war.«

Ivy schmunzelte. »Okay. Aber Bierwisch wird genauer gewesen sein.« Zumindest hatte sie bisher keinen Bericht dieses Kollegen gelesen, der nicht exakt und deutlich gewesen wäre.

Wendt gab wieder ein Brummen von sich. »Vorläufiger Bericht. Tja, hier steht tatsächlich nur unklarer Sachverhalt

Ivy runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Merkwürdig. Schicken Sie mir bitte die Unterlagen.«

»Papier oder elektronisch?«

Sie pustete unentschlossen. »Elektronisch. Ich schaue mal, ob ich Kommissar Bierwisch erwische. Es ist absolut untypisch für ihn, einen Wischiwaschi-Bericht abzugeben.«

»Dann auf seinem Privathandy, und ich hoffe, dass Sie die Nummer haben und mich nicht danach fragen werden.« Er klang tatsächlich besorgt.

»Warum?« Natürlich hatte sie von Kommissar Bierwisch lediglich die Dienstnummern. »Ich rufe ihn auch später an, wenn er Nachtschicht hat.«

»Das ist der Punkt. Kommissar Bierwisch ist krankgeschrieben. Offenbar … ah, hier. Arbeitsunfall an Fundstelle. Möglich, dass er in die Baugrube stürzte, während er den Fundort besichtigte.«

Ivy pfiff. »Gut zu wissen. Danke, Wendt. Ich schaue mal, was mir der Fundort sagen kann, bevor ich Kommissar Bierwisch im Krankenbett aufschrecke.«

»Gute Idee.« Er lachte. »Grüßen Sie ihn von uns.«

Ivy stockte. Da sie den verunglückten Kollegen nur anrufen wollte, wenn der Fundort keine Hinweise lieferte, musste sie seine Worte, sie solle Bierwisch von ihm grüßen, so auffassen, dass der Kollege aus der IT fest davon ausging, dass sie bei der Baugrube keine bedeutenden Hinweise finden würde. »Sie gehen davon aus, dass der Fundort bedeutungslos ist?« Das kam nun wirklich nicht oft vor.

»Unklarer Sachverhalt bedeutet für mich, dass die Indizien widersprüchlich sind. Demnach halte ich es für möglich, dass Sie nicht mehr finden werden als vorliegt.«

»Irgendwer sollte die Spurensicherung vorwarnen, dass ich den Fundort besuche.« Sie kicherte. »Vermutlich stürzen die sich ebenfalls in die Grube.«

»Tatsächlich würde es mich nicht wundern, wenn Ihre Nummer von den Kollegen geblockt wird.« Man hörte ihm seine Belustigung an. »Kann ich noch etwas für Sie tun?«

»Derzeit nicht. Danke!« Sie legte auf und skizzierte innerlich bereits die Strecke, die sie zum Kirchderner Wald zurücklegen musste. Ihr Telefon piepste und sie checkte die Nachrichten. Wendt hatte ihr die genauen Koordinaten in einem Link geschickt, den sie nun öffnete. Sie stöhnte, denn zum Fundort führte kein öffentlicher Weg, was wohl bedeutete, dass ihr ein Fußweg bevorstand. Zwar mussten, wenn es eine Baustelle war, auch Geräte dorthin gebracht werden, aber sie hatte nicht vor, ihr Auto auf unebenen Schleichwegen zu schrotten. Immerhin regnete es nicht. Sie drückte ihren Kopf gegen die Scheibe der Fahrertür, um in den Himmel zu schauen, denn obwohl es trocken war, zeigte sich die Sonne bisher nicht. Es wäre möglich, dass die Wolken demnächst ihre Last entluden und die letzten Beweise davonspülten. Sie legte den Gang ein und ordnete sich in den Verkehr ein. Es war ein Weg von weiteren fünfzehn Minuten, bis sie bei der U-Bahn-Haltestelle Schulte Rödding abbog und ihren Smart in einer Sackgasse in einer kleinen Wendeschleife abstellte. Sie befand sich damit am Rande des kleinen Industriegebiets und direkt am Waldrand. Neben Pagels Auto stand noch ein Baustellenfahrzeug mit abblätterndem Aufdruck der Firma Struck Hoch- & Tiefbau. Zwar stand auch das Wort Inhaber unter der Firmenbezeichnung, aber dessen Name war nicht mehr zu lesen. Ivy stieg aus und sah sich um. Sie befand sich in einem Industriegebiet, und in denen herrschte von Natur aus wenig Verkehr. Die Straße war von parkenden Autos gesäumt, und abgesehen von Vogelgezwitscher und dem Rauschen des Laubes war nichts zu hören. Der Wind zerrte an Ivys Haar und peitschte es ihr ins Gesicht. Eine Ahnung von Unheil stieg in ihr auf und bereitete ihr eine Gänsehaut. Sicherlich würde es bald aus Kübeln gießen.

Sie rieb sich kräftig über die Arme, bevor sie die Tür zuschlug und den Kofferraum öffnete. Dort nahm sie ihren Regenumhang, Einmalhandschuhe und Beweissicherungstüten aus ihrer Notfalltasche und steckte sie in ihre Hosentaschen. Grundsätzlich war die Spurensicherung für die Sicherung und Aufnahme der Beweise zuständig, aber es war immer gut, vorbereitet zu sein. Sollte sie also etwas finden, war es immer noch besser, den Originalfundort zu verändern, als die möglichen Beweise vom Regen fortwaschen zu lassen.

Sie verschloss ihren Wagen und schaute sich erneut um. Obwohl die Hauptstraße nur wenige hundert Meter entfernt lag, fühlte sie sich, als befände sie sich mitten im Nirgendwo. Abgeschieden von der Welt. Allein. Und dabei hatte sie den Forst noch nicht einmal betreten. Mit ihrem Handy in der Hand, die Geo-Tracking-App geöffnet und die Koordinaten eingegeben, machte sie sich auf den Weg. Ein Schauer lief über ihren Rücken, als sie den Waldrand erreichte. Sie stockte und atmete tief durch. Damit ließ sich jedoch weder ihr Puls beruhigen noch das Gefühl vertreiben, nicht sicher zu sein. Sie sah sich um, aber ihre Umgebung hatte sich nicht plötzlich in einen reinen Laubwald verwandelt, der von den Flutlichtern des Kasinos zu Hohensyburg angestrahlt wurde.

Sie schluckte. Lena Brahms’ Mörder befand sich zwar nicht im Gefängnis, aber hinter den verschlossenen Türen einer Heilanstalt. Der würde sicherlich nicht hinter einem der Stämme hervorspringen und sie angreifen. Weder mit einem Samuraischwert noch mit einem Messer, einem Ast oder Ivys eigener Schusswaffe. Aber auch die laute verbale Versicherung, dass alles gut war, half Ivy nicht dabei, halbwegs gelassen den Weg zu betreten. Ein Bauzaun, der leicht offen stand, versperrte den Durchgang, ein Schild zierte ihn. Es gab kund, dass das Betreten des Forstes nicht erlaubt war.

Schweiß brach ihr aus und ließ sie zittern. Der Wind rüttelte an den Ästen der Bäume, an denen sie vorbeikam, und schreckte sie immer wieder auf. Ihr Blick flog jedes Mal panisch über das sie umgebende Unterholz, und sie meinte eine Gestalt auszumachen. Nach einem Blinzeln war von dieser jedoch nichts mehr zu sehen.

Sie lief schneller, stolperte einige Male fast über eine Unebenheit im Boden und erreichte endlich eine Lichtung. Ihr Handy piepste. Ivy zuckte zusammen und ließ das Telefon fallen. Schnell kniete sie nieder, um es aufzuklauben, und sah sich dabei eilig um. Sie musste sich beruhigen, bevor sie auf ihren Kollegen traf. Dem entging sicher nicht, dass sie völlig neben der Spur war und atmete, als hätte sie einen Marathon hinter sich gebracht.

Pagel war jedoch nicht zu sehen. Lediglich ein Bagger stand mit auf dem Boden abgestellter Schaufel auf der gegenüberliegenden Seite einer Baugrube. Rot-weißes Absperrband flatterte rund um das Loch. Ivy umfasste ihr Telefon und richtete sich langsam auf. Soweit es sich von ihrem Standort aus sagen ließ, endete der Waldweg tatsächlich auf dieser Lichtung und an diesem frischen Loch.