Kapitel 1
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, Grams.« Unruhig tigere ich mit dem Handy am Ohr durch die kleine Nische, die das Wohnheim als Küche bezeichnet.
»Dir bleibt nichts anderes übrig. Diese fiese Grippe hat mich fest im Griff. Bis zum Wochenende bin ich nicht wieder fit.« Grandma hustet und unterstreicht damit ihre vorangegangenen Worte. Seufzend sinke ich auf einen der Stühle, die Maddie und ich beim letzten Flohmarkt ergattert haben.
»Ich bin gar nicht in die Materie eingearbeitet. Was ist, wenn mir jemand Fragen zum Anbau stellt? Oder zu den Besonderheiten der Beeren?« Meine Großmutter lacht, doch ich stimme nicht mit ein. Ganz im Gegenteil: Mir geht der Arsch richtig auf Grundeis.
»Du studierst Agrarwissenschaften, Ruby, und die Wacholderbeeren waren deine Idee. Falls dich jemand in ein Gespräch verwickelt, erklärst du, weshalb du es für einen guten Gedanken gehalten hast.« Zähneknirschend lehne ich mich auf dem Stuhl zurück. Vor drei Jahren habe ich Grandma vorgeschlagen, den sogenannten »Texas-Wacholder« auf unserer Ranch anzubauen. Es sollte eine Erweiterung zur Baumwolle sein und uns einen neuen Weg im Geschäftsleben ebnen. Um mir mehr Möglichkeiten zu bieten, die Farm zu vergrößern, sobald ich sie nach dem Studium übernommen habe. Nach Dads Tod hat Grandma den Laden allein mit unserem Vorarbeiter Billy und einigen Zeitarbeitern geschmissen. Da war es verständlich, alles beim Alten zu belassen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Aber jetzt ist es Zeit, in die Zukunft zu schauen. Neue Wege zu gehen und für mich zu ebnen. Dabei ist mir allerdings nie in den Sinn gekommen, mich jetzt schon mit der Vermarktung auseinandersetzen zu müssen! Noch läuft alles über Grandma und sie kennt sich hervorragend mit diesem Thema aus. Doch selbst ich muss zugeben, dass ihre Stimme am Telefon klingt, als hätte sie eine Packung Schleifpapier verschluckt.
»Hast du schon Pops Hausmittel ausprobiert? Das mit Zwiebeln, Zitrone und jeder Menge Honig?« Klinge ich so verzweifelt, wie ich mich fühle? Vermutlich ja, wenn ich Grandmas belustigtes Schmunzeln höre.
»Es hat alles nicht gewirkt. Ich verstehe, dass ich dich damit überrumple, aber ich würde nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre. Die Malones sind begeistert von unseren Früchten, sonst hätten sie nicht bei uns eingekauft. Da wäre es unhöflich, ihre Einladung abzusagen. Außerdem sind bei dieser Veranstaltung eine Menge Leute. Unter anderem potenzielle Kunden. Mach dir keine Sorgen, wie du auf andere wirkst. Mit deinem Charme wickelst du jeden dort mühelos um den Finger.«
Manchmal wünschte ich, Grams Zuversicht würde auf mich abfärben.
»Du schaffst das, Ruby. Ich lege mich jetzt wieder hin. Dieses Telefonat war anstrengender als gedacht. Wahrscheinlich versagt meine Stimme ohnehin jeden Moment. Mach’s gut, Süße.«
Ein schwerer Stein liegt mir im Magen, als ich ihre Verabschiedung erwidere und auflege. Frustriert stöhne ich auf und sinke mit dem Kopf voran auf die Tischplatte. Wie soll ich einen Haufen möglicher Kunden beeindrucken? Ja, die Wacholdersträucher waren meine Idee, das heißt aber noch lange nicht, dass ich mich intensiv genug damit befasst habe, um angemessene Unterhaltungen darüber zu führen! Für mich stand früh fest, die Farm meiner Eltern zu übernehmen. Sie ist ein Lebenswerk. Wurde von meinen Vorfahren aus dem Nichts aufgebaut und ist seitdem im Besitz der Familie. Ich wüsste nicht einmal in der wievielten Generation, so lange ist das schon her. Seit ich denken kann, haben meine Großeltern und meine Eltern hart dafür gearbeitet, dass alles läuft. Dann ist Mom gestorben und das erste Standbein brach weg. Ein paar Jahre später Grandpa und zuletzt Dad. Schließlich sind Grandma und ich allein gewesen, und ich habe sie immer dafür bewundert, trotz der vielen Schicksalsschläge die ganze Arbeit zu bewältigen. Natürlich hatte sie Unterstützung, aber den Großteil wuppt sie selbst. Deshalb will ich ihr etwas zurückgeben. Initiative zeigen und mich für neue Möglichkeiten einsetzen, die unsere Farm voranbringen. Nur halt nicht so spontan und früh wie jetzt durch das Bankett.
»Hey! Du bist ja noch gar nicht umgezogen!« Maddie steht mit in die Hüfte gestemmten Händen vor mir.
»Ich habe echt keine Lust auf die Party«, murmle ich und hebe den Kopf wieder an. Schlagartig weicht das wütende Funkeln aus ihren Augen und macht Platz für etwas anderes. Sorge.
»Du willst nicht feiern gehen? Bist du krank?« Sie legt mir die Hand auf die Stirn, aber ich weiß, dass ich kein Fieber habe. Allerdings wäre es eine gute Ausrede, um die Veranstaltung kommenden Freitag in New Orleans abzusagen. Ob ich mich via Telefon bei Grams angesteckt haben könnte?
»Nein, ich will nur nicht zu Dexter und Ryan«, entgegne ich, während ich mich ihrer laienhaften Untersuchung entziehe. Sofort kehrt der aufgebrachte Ausdruck in ihre Augen zurück. Sie hebt den Zeigefinger und beugt sich ein Stück herunter.
»Heute ist es egal, ob wir Lust auf Party haben oder nicht. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass Eliza freiwillig die Wohnung verlässt, um auszugehen, und wir werden dabei sein!« Noch während sie spricht, nagt das schlechte Gewissen an mir. Ich habe keine Sekunde an Eliza gedacht, sondern lediglich an mich selbst. Vorhin hat sie getextet, dass eine einstweilige Verfügung gegen ihren Ex-Freund Brandon erlassen wurde und er sich ihr deshalb nicht mehr nähern darf. Falls er es doch wagt, landet er bis zum Prozessbeginn wegen gefährlicher Körperverletzung im Knast. Ihre Mitbewohner Nate und Ethan haben vorgeschlagen, ihre neu erlangte Freiheit zu feiern und weil sie ihnen die gute Laune nicht verderben wollte, hat sie sich bereit erklärt, auf diese Party zu gehen. Gut, Dexter und Ryan wohnen in der Nachbarwohnung, aber es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.
»Du hast ja Recht.« Ich seufze und rapple mich auf. »Wir finden meine gute Laune sicherlich unterwegs.«
Maddie nickt zufrieden und scheucht mich in mein Schlafzimmer. Unsere Wohnung ist nicht groß, reicht für zwei Personen jedoch vollkommen aus. Der einzige Nachteil an meiner WG mit Maddie ist, dass wir zu viele Klamotten haben. Vor jeder Wand stehen zwei Kleiderständer. Wie Maddie es geschafft hat, bei sich noch einen Schminktisch unterzubringen, ist mir unerklärlich. Ich fand es schon schwierig, Platz für ein Schuhregal zu finden.
In Windeseile schlüpfe ich in zerschlissene Jeans, meine heiß geliebten braunen Cowboystiefel, die entsprechend abgenutzt sind und ein eng anliegendes, ebenfalls braunes Shirt. Jeansjacke dazu und fertig. Meine Hand zuckt in Richtung des Cowboyhutes, der neben der Tür an der Wand hängt. Damit wäre der Look perfekt, aber das wäre zu viel des Guten. Ich liebe den klassischen Country-Look zwar heiß und innig, erinnere mich jedoch daran, dass wir nicht in Texas, sondern in Louisiana sind. Nachdem ich meine langen, fast schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden habe, suche ich mein Handy und die Schlüssel und mache mich gemeinsam mit Maddie auf den Weg.
Unterwegs betrachte ich ihre Outfitwahl. Ihr blondes Haar ist leicht gelockt, ihre Haut von der Sonne gebräunt, und sie trägt ein weißes Kleid im Boho-Stil mit teuer aussehenden Stiefeln, die ihr bis übers Knie reichen. Rein äußerlich sind wir komplett gegenteilig. Glücklicherweise ticken wir ansonsten sehr ähnlich.
»Ich liebe Silveroaks!« Maddie breitet die Arme aus und dreht sich einmal im Kreis. Ihre euphorische Liebesbekundung an unsere Kleinstadt bringt mich zum Lachen und ihr einige belustigte Blicke von anderen Studierenden ein, die ebenfalls draußen unterwegs sind. Denn obwohl es bereits neun Uhr abends ist, sind die Straßen noch voller Leben. Einige Bewohner sitzen auf den Veranden ihrer Häuser und genießen die letzten Sonnenstrahlen. Andere, überwiegend Studierende, haben es sich auf den Grünflächen gemütlich gemacht, die überall in der Stadt zu finden sind. Sie lachen, hören Musik und trinken. Vielleicht haben sie vor, ebenfalls eine Party zu besuchen oder sie haben einfach so beschlossen, sich zu treffen, um die letzten warmen Abende auszunutzen.
»Hast du zu Hause schon getrunken?«, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Maddie wirft mir einen schuldbewussten Blick zu, hebt die Hand und hält Daumen und Zeigefinger ganz nah aneinander.
»Nur zwei, drei kleine Schnäpse«, verrät sie. Ich schmunzle. Im Gegensatz zu mir ist sie nicht so trinkfest und soweit ich weiß, hat sie heute auch noch nicht sonderlich viel gegessen. Es wird also nicht lange dauern, bis sie betrunken ist. Womöglich findet der Abend doch ein schnelleres Ende als bisher angenommen.
»Worüber hast du mit deiner Grandma gesprochen? Ich habe nicht viel verstanden, aber du klangst nicht gerade begeistert.« Wir biegen um die nächste Ecke und bereits am Anfang der Straße schallt uns laut Musik entgegen, dabei ist das Haus noch mindestens fünfhundert Meter entfernt. Wie gut, dass in diesem Teil der Stadt überwiegend Studierende wohnen.
»Ich muss am Wochenende auf eine Party von den Leuten, die unsere Wacholderbeeren für ihre Gin-Produktion gekauft haben«, erkläre ich zerknirscht. Schon jetzt läuft mir ein eisiger Schauer über den Rücken, wenn ich nur daran denke. Dabei fällt es mir normalerweise nicht schwer, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen. Ich weiß gar nicht, weshalb ich diesmal so große Probleme damit habe. Maddie nickt, allerdings bezweifle ich, dass sie versteht, wie ungern ich dorthin will. Für sie ist das Alltag. Ihr Dad produziert den besten Bourbon des Staates. Sie kennt solche Banketts und dessen Gepflogenheiten, weil sie damit aufgewachsen ist. Ich hingegen habe meine Kindheit zwischen Heuballen und auf Pferderücken verbracht. Vielleicht liegt es daran? Fühle ich mich dem nicht gewachsen, weil ich denke, dem Standard unserer Käufer nicht zu entsprechen?
»Wie heißt die Brennerei noch mal?«
Ich zucke mit den Schultern. »Den genauen Namen weiß ich nicht, aber die Besitzer heißen Malone.«
»Nicht dein Ernst?« Maddie bleibt stehen, und ich tue es ihr gleich. Nur wenige Meter entfernt ist die Party in vollem Gange.
»Was denn? Kennst du die etwa?«
Sie nickt lachend. »Nicht nur ich. Du auch – nämlich ihren Sohn.«
Stirnrunzelnd neige ich den Kopf zur Seite. »Ihren Sohn?« Uns überholen einige Kommilitoninnen und Kommilitonen.
»Na, Dex«, erklärt sie langsam, doch der Groschen will nicht fallen.
»Dex’ Nachname ist Malone.« Mit großen Augen starre ich sie an. »Nicht wahr?« Mir klappt die Kinnlade herunter.
Maddie grinst. »Er ist der Erbe des Williams.«
Wir setzen unseren Weg fort, und ich schnappe mir Maddies Hand, um sie zwischen den Sportlern und Naturwissenschaftlern nicht zu verlieren. Inzwischen haben wir das Gebäude betreten und je näher wir dem dritten Stock kommen, desto dichter wird die Menge.
»Dann kennst du am Freitag immerhin schon eine Person.« Maddie wackelt vielsagend mit den Augenbrauen. Allerdings weiß ich nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll. Dexters und meine Beziehung ist … wie ein stilles Übereinkommen. Wir dulden uns, verbringen aber nicht zu viel Zeit miteinander. Zumindest ist das der Deal gewesen, den wir geschlossen haben, nachdem ich begonnen habe, an der Silveroaks Park zu studieren.
»Hallo!«
»Hey!«
»Na, wie geht’s?« Überall werden wir von anderen Studierenden begrüßt.
»Du auch hier? Mega! Wir müssen uns nachher unbedingt unterhalten!« Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis wir im Wohnzimmer ankommen und unsere Freunde entdecken. Sie haben die an die Wand geschobene Sitzgarnitur in Beschlag genommen. Eliza winkt, als sie uns sieht.
»Da seid ihr ja endlich! Ich dachte, ihr kommt vielleicht nicht.« Sie schiebt die Unterlippe vor und schmiegt sich näher an ihren Freund Connor, der beschützend den Arm um sie legt.
»Das würden wir uns doch nie entgehen lassen!« Maddie grinst und nimmt dankend das Bier entgegen, das Keith ihr reicht. Mir drückt er ebenfalls eins in die Hand, und ich proste ihm zu, bevor ich einen Schluck nehme.
»Wie fühlst du dich zwischen den vielen Menschen?« Mitfühlend sehe ich Eliza an. Es ist sicher nicht leicht für sie, hier zu sein. Aufgrund der vielen Gäste ist es leicht, den Überblick zu verlieren. Auch wenn Brandon sich ihr nicht nähern darf, ist es sicher nicht einfach, sich unbeschwert zwischen all den Leuten zu bewegen. So wie ich Eliza kenne und in den letzten Wochen erlebt habe, ist die Angst, er könne sich über die Anordnung hinwegsetzen und erneut hier auftauchen, ständig präsent.
»Etwas befremdlich«, entgegnet sie und zieht eine Grimasse. »Aber ich weiß, dass mir nichts passiert. Von daher ist es okay.« Ich nicke und falle auf den freien Platz neben Maddies Bruder Nate.
»Du siehst aus, als wäre dir eine riesige Laus über die Leber gelaufen. Das ist eine Party, Ruby. Da ist jeder gut drauf.« Er grinst mich an, woraufhin ich die Augen verdrehe.
»Ich muss am Wochenende für meine Grams als Vertreterin der Farm auf einer Veranstaltung einspringen, weil sie krank geworden ist.« Nate neigt den Kopf zur Seite. In seinen Augen blitzt Verständnis auf, während sich seine Lippen zu einem mitfühlenden Lächeln verziehen.
»Lass mich raten: Du könntest dir Besseres vorstellen?« Nickend trinke ich von meinem Bier.
»Sie unterschlägt ein wesentliches Detail.« Maddie beugt sich über Keith Schoß zu uns herüber. Warnend schüttle ich den Kopf, doch sie ignoriert die Anspielung wie immer geflissentlich. »Es geht um das Bankett, das Dex’ Eltern jedes Jahr für ihre Kunden und Lieferanten ausrichten.« Ich schürze die Lippen. Maddie und ich müssen dringend noch einmal ein Gespräch über subtile Hinweise führen.
»Ach, da brauchst du dir keine Gedanken machen.« Nate wedelt lässig mit der Hand, als könnte er meine Bedenken damit einfach beiseite wischen. »Da wird lediglich gegessen, getrunken und über Gott und die Welt geplaudert. In den seltensten Fällen geht es ums Geschäft. Mach einen guten Eindruck, und der Rest ergibt sich von allein.« Auch wenn ich es ungern zugebe, aber Nates Worte schmälern meine Sorge tatsächlich ein wenig. Über belangloses Zeug reden und nett lächeln halte ich einen Abend durch.
In diesem Moment stoßen Polly und Flynn zu uns, weshalb sich die Aufmerksamkeit zunächst auf die beiden Neuankömmlinge konzentriert. Ich lasse den Blick derweil über die anderen Gäste schweifen. Es sind überwiegend Sportler und ihre Begleitungen. Vereinzelt haben sich Leute aus den Naturwissenschaften, der Medizin oder Schauspielerei hierher verirrt, doch sie bilden eine deutliche Minderheit. Das ist eines der Dinge, die ich an Silveroaks liebe. Die Uni ist klein und bietet trotzdem ein breit gefächertes Angebot an Kursen, weshalb außerhalb der Vorlesungen die unterschiedlichsten Menschen aufeinandertreffen. Da ist es nicht ungewöhnlich, dass plötzlich ein Jurastudent mit einem angehenden Theologen feiert oder Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften zukünftige Mediziner im Bier-Pong schlagen.
»Hey, habt ihr Bock auf Truth or Dare extreme?« Ethan schaut auffordernd in die Runde. Wir nicken, woraufhin er in der Küche verschwindet, um die Shots vorzubereiten. Normalerweise fällt mir diese Aufgabe zu, heute gebe ich sie allerdings gern ab. Truth or Dare extreme ist ein Spiel, was sich in der Einführungswoche etabliert hat, und seitdem fester Bestandteil einer jeden Party ist. Im Prinzip ist es das normale Wahrheit oder Pflicht, jedoch mit dem kleinen Zusatz, dass ein Ekel-Shot getrunken werden muss, wenn sich jemand weigert, die Frage zu beantworten oder die Pflicht zu erfüllen.
»So, Leute, auf geht’s! Seht mal, wen ich unterwegs noch aufgegabelt habe.« Ethan stellt das Tablett mit den Shots auf dem Couchtisch ab, als ich den Blick hebe, um zu schauen, wen er mitgebracht hat. Den Frauenschwarm der Silveroaks Park, Footballgott, Gastgeber dieser Party und anscheinend der Sohn unserer Kunden: Dexter Malone.
Er lässt sich mir gegenüber auf einem Stuhl am anderen Ende des Couchtisches nieder. Unsere Blicke treffen sich, und ich schlage die Beine übereinander. Seine Lippen verziehen sich zu einem Grinsen. Mit der Hand fährt er über seinen unrasierten Kiefer. Automatisch folgen meine Augen der Bewegung. Dieser Drei-Tage-Bart steht ihm verboten gut. Trotzdem ziehe ich unbeeindruckt eine Augenbraue nach oben und lehne mich auf dem Sofa zurück, bevor ich meine Beine demonstrativ wieder öffne. Er soll bloß nicht denken, dass ich meine Libido in seiner Nähe nicht im Griff hätte.
»Wo hast du deine bessere Hälfte gelassen, Dex?« Connor sieht seinen Nachbarn neugierig an. Erst jetzt fällt mir auf, dass er ohne Bella gekommen ist. Normalerweise klebt die sportbegeisterte junge Frau dauerhaft an ihm. Wobei das eigentlich nicht der richtige Begriff ist, um sie zu beschreiben. Ihr geht es dabei vielmehr um die Sportler an sich und darum, möglichst viele ins Bett zu kriegen.
»Ganz schlechtes Thema«, wirft Ryan ein, der sich neben Dex auf der Sessellehne niedergelassen hat.
»Ärger im Paradies?«, fragt Nate interessiert. Ähnlich wie seine Schwester ist er gutem Klatsch und Tratsch nicht abgeneigt.
»Du hast ja keine Ahnung«, erwidert Ryan grinsend.
»Könnt ihr beiden nicht einfach mal die Schnauze halten?«, knurrt Dex und überrascht mich damit. Es ist kein Geheimnis, dass er und Bella eine On-off-Beziehung führen, wie sie im Buche steht. Bisher hatte ich allerdings immer den Eindruck, dass es lediglich eine lockere Sache ist, weil beide sich auch anderweitig umsehen. Aber sein Tonfall macht deutlich, dass ich mit meiner Vermutung anscheinend falschlag.
»Themenwechsel, bevor die Stimmung hier endgültig in den Keller sinkt.« Maddie wirft allen Beteiligten einen scharfen Blick zu. Trotz ihres angetrunkenen Zustandes weiß sie genau, wann sie eingreifen muss, um eine Situation zu entschärfen. »Weil es Elizas erster Abend außerhalb der Wohnung ist, darf sie anfangen«, bestimmt Maddie.
»Also gut.« Eliza reibt sich die Hände, während ihr Blick über die Mitspielenden schweift. »Ethan, Truth or Dare?«
»Ich bin heute mutig und wähle Wahrheit«, entgegnet er, ohne nachzudenken. Meine Freundin tippt sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn.
»Hattest du schon einmal einem Sextraum mit jemandem hier aus der Runde? Wenn ja, mit wem.« Ethan läuft hochrot an und beantwortet damit den ersten Teil der Frage. Seine Freunde grölen und auch meine Mundwinkel zucken. Es scheint ihm allerdings peinlich zu sein, den Namen preiszugeben, denn er greift schnell zu einem Shot und kippt ihn herunter. Nate kringelt sich neben mir vor Lachen.
»Das werde ich noch aus ihm herauskitzeln«, gluckst er.
»Ruby, Truth or Dare?« Ich überlege einen Moment und entscheide mich für Pflicht. Heute bin ich nicht in der Stimmung, meinen Freunden irgendwelche Wahrheiten zu offenbaren.
»Finde in neunzig Sekunden einen Sportler, der ein Shirt mit seinem Namen oder seiner Nummer trägt. Bring ihn dazu, das Oberteil mit dir zu tauschen.« Lachend stehe ich auf.
»Nichts leichter als das.«
Ethan stellt den Timer auf seinem Handy, während ich mich durch die Gäste schlängle. Dabei begegne ich haufenweise Football- und Eishockeyspielern, doch ausgerechnet heute scheinen alle ausnahmsweise mal normale Kleidung zu tragen.
»Die Uhr tickt!«, ruft Ethan, und ich zeige ihm den Mittelfinger. Hier muss mindestens ein Kerl sein, der seine dämliche Rückennummer trägt! Ich bin keine schlechte Verliererin, aber diese Aufgabe ist zu leicht, um daran zu scheitern.
»Hey, Ruby!«
Ich drehe mich um und sehe, dass Dex aufgestanden ist. In einer fließenden Bewegung zieht er sich sein Shirt über den Kopf und wirft es mir zu. Verwirrt schaue ich erst ihn und dann den Stoff in meiner Hand an, auf dessen Rückseite in großen, weißen Buchstaben Malone steht.
»Schiebung«, protestiert Ethan lautstark.
Dex ignoriert seinen Einwand, wirft einen Blick auf Ethans Handy und richtet seine Augen anschließend auf mich. Die Herausforderung darin ist kaum zu übersehen. »Noch dreißig Sekunden.«
Ich erwidere seinen Blick ungerührt. Es ist ein stummes Kräftemessen. Ein kleiner Bruch unserer Vereinbarung, den wir uns von Zeit zu Zeit erlauben. Ein Moment, in dem wir uns zu lange anschauen. In den Außenstehende womöglich zu viel hineininterpretieren.
Ich knirsche mit den Zähnen. Einerseits will ich seine Hilfe nicht, andererseits würde ich sonst das Spiel verlieren. Also ziehe ich mein Oberteil aus und ignoriere die anerkennenden Pfiffe, die daraufhin ertönen. Stattdessen werfe ich Dexter mein Shirt zu und schlüpfe in seins, bevor Ethan verkündet, dass die Zeit abgelaufen sei.
»Das ist mir zu klein«, merkt Dex an und deutet auf mein braunes Oberteil. Ich zucke desinteressiert mit den Schultern und nehme meinen Platz neben Nate wieder ein.
»Polly, Truth or Dare?«, frage ich, um die Aufmerksamkeit zurück aufs Spiel zu lenken. Elizas und Maddies Blicke machen mich nervös. Ebenso wie Dex, der aussieht, als würde er mich gern zum Frühstück verspeisen. Da Bella nach wie vor nicht aufgetaucht ist, scheint seine Jagd für heute noch nicht beendet zu sein. Krampfhaft versuche ich zu ignorieren, wie gut sein Trikot duftet. Nach Karamell, einem Hauch Moschus und … ihm.
»Truth«, antwortet Polly und holt mich damit in die Realität zurück.
»Was ist deine größte Angst, von der niemand etwas weiß?« Sie schaut kurz zu ihrem Freund Flynn, bevor sie traurig lächelt.
»Das jemand mir sehr Nahestehendes stirbt und mir damit den Boden unter den Füßen wegreißt.« Für einen Moment gerät meine Welt ins Wanken. Dieses Gefühl wünsche ich niemandem. Maddie verzieht das Gesicht und wirft einen mitfühlenden Blick in meine Richtung. Nate stupst mich mit der Schulter an und legt mir seine Hand aufs Knie. Diese Berührung hat etwas Tröstliches und mein Herz zieht sich schmerzlich zusammen. Ich sehe Eliza, die mich traurig anlächelt und weiß, dass sie an ihren Vater denkt und an die Erlebnisse, die sie durch seinen Tod nicht mit ihm erlebt hat.
»Maddie, Truth or Dare?« Polly sieht unsere Freundin an, die sich für Pflicht entscheidet und daraufhin ihren Suchverlauf bei Instagram zeigen muss. Da ich den allerdings kenne, ist das für mich nicht sonderlich spannend. Meine Gedanken kreisen immer noch um Pollys Antwort.
»Dex, Truth or Dare?« Ryan sieht seinen Mitbewohner an. In seinen Augen glitzert dabei ein spitzbübisches Funkeln.
»Dare«, entgegnet er und lehnt sich vor. Weil ich immer noch sein Trikot trage, ist er oberkörperfrei. Ich schlucke und betrachte das Muskelspiel seiner Arme.
»Such dir eine Begleitung für die Veranstaltung deiner Eltern am Wochenende, um Bella zu zeigen, dass du nicht auf sie angewiesen bist.« Mein Magen schlägt einen Salto. Das wäre die perfekte Gelegenheit, um nicht allein dort aufzutauchen. Andererseits … will ich wirklich als Dex’ Begleitung zu seinen Eltern gehen?
Seine Wangenmuskeln zucken. »Wie lange habe ich dafür Zeit?«
»Wenn die Party vorbei ist, musst du jemanden vorweisen.« Er nickt und lehnt sich auf dem Sessel zurück. Wenn ich seinen Gesichtsausdruck richtig interpretiere, denkt er gerade darüber nach, Ryan von der Lehne zu schubsen.
»Nate, Truth or Dare?« Dex starrt uns an. Ein Schatten huscht über sein Gesicht. Er sieht mich an, aber irgendwie auch nicht. Ich runzle die Stirn und merke, dass er Nates Hand fixiert, die noch immer auf meinem Knie liegt. Dexters Blick verdunkelt sich. Aber nicht auf diese sexy Weise, von der ich in Büchern gelesen habe. Jetzt sieht er eher aus, als wäre er bereit, Nate um ein Körperteil zu erleichtern.
»Truth«, entgegnet Nate, ohne sich von ihm einschüchtern zu lassen.
»Schon mal einen Kerl geküsst?« Er versteift sich neben mir. Seine Hand rutscht von meinem Knie und aus den Augenwinkeln bemerke ich sein Schlucken. Nates Lachen ertönt, doch es klingt nicht so locker und unbefangen wie sonst.
»Klar, wer nicht?« Er lehnt sich zurück und platziert seinen Arm hinter mir auf der Sofalehne. Ich sehe zu Maddie, die ahnungslos mit den Schultern zuckt. Auch ihr ist der übertrieben gleichgültige Ton ihres Bruders nicht entgangen. »Ruby, Truth or Dare?«, fragt Nate schnell. Wahrscheinlich, um vom Thema abzulenken.
»Wieso fragst du mich? Ich war eben erst dran!«, protestiere ich.
»Ist mir egal«, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Truth or Dare?«
Ich seufze. »Dare.« Ein ungutes Gefühl breitet sich in meiner Magengegend aus, als die Campbell-Geschwister einen Blick tauschen. Maddie nickt kaum merklich. Augenblicklich weiß ich, was die beiden vorhaben.
»Wag es nicht«, knurre ich, doch Nate öffnet bereits den Mund.
»Begleite Dex am Wochenende zu dem Bankett.«
Maddie grinst zufrieden.
»Ich bringe dich um«, murmle ich leise in Nates Richtung.
»Das ist eine grandiose Idee!« Ryan klatscht vergnügt in die Hände und erntet denselben bösen Blick von mir, den ich zuvor Maddie und Nate zugeworfen habe. Dex hingegen bleibt auffällig ruhig. Ich spüre, wie er mich ansieht und rutsche unruhig auf meinem Platz hin und her.
»Beziehen sich die Aufgaben nicht auf den Zeitraum der Party?« In irgendeinem Regelwerk ist so was sicher vermerkt.
»Hat niemand behauptet«, flötet Maddie und zwinkert mir zu, bevor sie mich ansieht. »Also?«
»Ich habe nichts dagegen.«
Mein Kopf zuckt in Dex’ Richtung. Unsere Blicke treffen sich, und er hält mich gefangen. Mein Mund wird trocken. Meine Hände schwitzig und mein Herz schlägt schneller. Das meint er unmöglich ernst!
Maddie quietscht und klatscht sich mit ihrem Bruder ab. In mir herrscht helle Aufruhr.
Ich habe nichts dagegen. Der Satz spult sich immer wieder in meinem Kopf ab, während alle anderen gespannt auf meine Antwort warten. Eliza sieht mit gerunzelter Stirn zwischen uns hin und her. Nate nimmt den Arm hinter mir weg und rückt etwas ab, als hätte er die drohenden Vibes, die Dex aussendet, endlich gespürt.
»Du kannst immer noch den Shot trinken«, erinnert mich Eliza, die als Einzige zu merken scheint, wie zerrissen ich wegen dieser Entscheidung bin. Ich nicke, doch meine Hand bewegt sich nicht. Obwohl mein Kopf unablässig Signale sendet, nach diesem blöden Glas zu greifen.
»Da kein Nein kommt und Ruby nicht trinkt, interpretiere ich das als Zustimmung. Damit ist deine Aufgabe erfüllt, Dex.« Ryan erklärt die Runde für beendet und stellt Connor die nächste Auswahlfrage. Dabei wäre ich am Zug gewesen. Wie ferngesteuert stehe ich auf und merke, dass die Welt gar nicht stillsteht. Die Party um uns herum geht weiter, und alle sind bester Stimmung.
Mit schnellen Schritten verschwinde ich in der Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Dabei realisiere ich, dass die letzten Minuten tatsächlich stattgefunden haben. Jetzt kann ich keine Ausrede mehr erfinden, um am kommenden Freitag zu Hause zu bleiben. Dank Maddie und Nate ist diese Veranstaltung verpflichtend geworden. Denn in mir schlummert die böse Ahnung, dass die Folgen eines Fernbleibens und damit die Nichterfüllung der Aufgabe noch bitterer wären als der Abend selbst.
Kapitel 2
Ich bin schon während der Schulzeit gut in Biologie gewesen und da früh klar war, dass ich später die Farm der Familie übernehme, war es am naheliegendsten, Agrarwissenschaften zu studieren. Normalerweise finde ich meine Kurse auch extrem interessant, nur heute ziehen sie sich wie Kaugummi. Das liegt zum einen an meinem Kater und zum anderen an dem stark ausgeprägten Schlafmangel. Wir sind bei Dexter und Ryan völlig versackt und waren erst gegen vier Uhr zu Hause. So viel zu meiner Theorie, dass Maddie nicht lange durchhält.
»Du siehst echt beschissen aus. Hier, den brauchst du mehr als ich.« Myles Kensington schiebt mir grinsend seinen Kaffeebecher zu.
»Danke«, seufze ich und nehme einen Schluck.
»Lange Nacht gehabt?«, fragt er, während sein Blick nach vorn gleitet und er wenigstens so tut, als würde er unserem Professor zuhören.
»Sportlerparty«, erwidere ich und trinke einen weiteren Schluck Kaffee. Langsam habe ich das Gefühl, dass sich mein Körper aus seinem Tief befreit und wieder zum Leben erwacht.
»Meine Mitbewohnerin hat zu viel getrunken und bis ich sie im Bett hatte und sichergestellt hatte, dass sie nicht an ihrem Erbrochenen erstickt, war es fünf.« Ich massiere mir die Schläfen und versuche zeitgleich etwas von dem Buchstaben- und Zahlensalat auf dem Whiteboard zu verstehen. »Um acht hatte ich meine erste Vorlesung.«
Myles’ Grinsen geht von einem Ohr zum anderen. Er nickt wissend und gönnt sich ebenfalls etwas von seinem Kaffee. Genau wie ich stammt er aus Texas und wird die Ranch seiner Familie übernehmen. Am Wochenende ist er häufig dort, um auszuhelfen. Die Silveroaks Park ist das nächstgelegene College und damit war seine Entscheidung, hier zu studieren, schnell getroffen. Wir sind aus demselben texanischen Holz geschnitzt und haben uns vom ersten Tag an perfekt verstanden.
»Hast du etwas von dem kapiert, was er da erzählt?«, wispere ich und lache, als Myles mir seinen leeren Notizzettel zeigt.
»Ich rate Ihnen, den Stoff von heute zu Hause intensiv zu wiederholen. Er dient als Grundlage für die weiteren Inhalte, die wir in den kommenden Wochen behandeln.« Unser Dozent sieht alle eingehend an, bleibt an Myles und mir jedoch hängen. »Das empfehle ich besonders den beiden Tratschtanten aus der letzten Reihe.«
Wie auf Knopfdruck drehen sich alle Studierenden aus den fünf Reihen vor uns um, um zu sehen, wen er meint. Myles wird direkt rot und senkt den Blick, aber mich stört die plötzliche Aufmerksamkeit nicht. Mir ist wenig peinlich. Ich weiß, dass ich den heutigen Unterrichtsstoff bis zur nächsten Vorlesung nachhole und irgendwie verstehe. Zur Not mithilfe von YouTube.
»Dann sehen wir uns beim nächsten Mal. Genießen Sie die restlichen Herbsttage.« Damit ist die Veranstaltung beendet und mein Unitag ebenfalls. Ich packe meine Unterlagen zusammen und verlasse gemeinsam mit Myles den kleinen Hörsaal.
»Ich ersehne nichts mehr als mein Bett und eine gute Serie«, seufze ich.
»Du hast es gut. Ich muss noch zwei Stunden Mister Anderson zuhören, wie wichtig BWL in der Landwirtschaft ist.« Er zieht eine Grimasse, die mich zum Lachen bringt.
»Ruby! Hallo!« Ich bleibe stehen und entdecke Maddie und Eliza wild winkend am anderen Ende des Ganges.
»Das war’s dann wohl mit Netflix und Chill«, murmle ich und verabschiede mich von Myles. Er grinst und reiht sich in den Strom Studierende ein, während ich auf meine Freundinnen zugehe.
»Was macht ihr denn hier? Ich dachte, du hast andere Pläne.« Fragend sehe ich Maddie an. Zumindest hat sie heute Morgen davon gesprochen.
»Die haben sich geändert«, zwitschert sie und hakt sich bei mir unter.
»Wir entführen dich«, ergänzt Eliza gut gelaunt.
»Verratet ihr mir wohin?« Misstrauisch folge ich den beiden zum Parkplatz, wo Maddies Mini bereits auf uns wartet.
»Da du eine Verabredung für das Bankett hast, besorgen wir dir das passende Outfit!« Maddie strahlt und auch Eliza sieht begeistert aus.
»Ja, danke dafür.« Meine Stimme trieft vor Ironie. Weil sie gestern kaum noch zurechnungsfähig war, bin ich nicht dazu gekommen, sie für dieses Komplott mit ihrem Bruder anzuschnauzen. Aber ich habe es keinesfalls vergessen. Nate wird sich deswegen auch noch etwas anhören.
»Gern geschehen! Und jetzt gehen wir shoppen!« Durch einen Knopfdruck öffnet Maddie ihren Wagen, doch ich mache keine Anstalten einzusteigen.
»Ich finde bestimmt etwas Passendes in meinem Kleiderschrank. Oder in deinem. Wir müssen dafür nicht einkaufen.« Mein Portemonnaie lässt ohnehin nicht zu, dass ich Geld für ein teures Kleid ausgebe. Die Aussicht auf einen Nachmittag auf dem Sofa ist da deutlich verlockender als ein Trip nach Covington. Maddie schüttelt bestimmend den Kopf.
»Ich kenne deine Garderobe. Die besteht überwiegend aus Jeans und Cowboystiefeln. Wir fahren shoppen, keine Widerrede.« Weil ich weiß, dass Widerstand zwecklos ist, sinke ich seufzend auf den Rücksitz. Vielleicht finde ich ein Schnäppchen, das mir gefällt und wenn nicht, habe ich immer noch die Möglichkeit auf meine eigenen Sachen zurückzugreifen.
Bevor wir Richtung Covington aufbrechen, halten wir kurz bei Polly’s Pastries, um Kaffee zu holen. Das ist Maddies Art, sich bei mir zu entschuldigen. Ich weiß, dass Nate die treibende Kraft in dieser Sache war. Nachdem ich den ersten Schluck meines Pumpkin Spice Latte genommen habe, ist die Aktion schon fast vergessen.
»Polly hat erzählt, dass es einen neuen supersüßen Secondhandladen in Covington geben soll. Ein echter Geheimtipp für Designerstücke aus zweiter Hand!« Maddie klingt ganz aufgeregt. »Da schauen wir definitiv vorbei!«
Eliza nickt und auch mir gefällt die Vorstellung, dort etwas herumzustöbern. Durch das zusätzliche Koffein ist meine Müdigkeit beinahe verschwunden. Vielleicht wird dieser Nachmittag doch nicht so anstrengend, wie zuerst angenommen.
Die Fahrt in die nächstgrößere Stadt dauert etwa eine halbe Stunde und dank Maddies Handy finden wir den Laden unserer Wahl auf Anhieb. Das Dreams of Vintage zieht sich über zwei Ebenen und bietet so viel Kleidung, Taschen und Schuhe, dass selbst Maddie einen Moment die Worte fehlen. Glücklicherweise ist neben der Treppe eine Tafel angebracht, die zur Orientierung dient.
Im Erdgeschoss sind Taschen, Schuhe, Schmuck, andere Accessoires und die Männerabteilung, während im oberen Stockwerk ausschließlich Damenmode ist. Also steigen wir die Stufen nach oben und werden von einem Meer aus Farben begrüßt.
»Hallo Ladys! Womit kann ich euch etwas Gutes tun?« Ein junger Mann kommt auf uns zu. Er trägt Anzughose und Sakko im Oversized-Look. Seine Ohren sind mit Piercings übersäht, und ein goldener Ring funkelt in seinem linken Nasenflügel. Allein durch sein Äußeres und sein entspanntes, zuvorkommendes Auftreten ist er mir direkt sympathisch.
»Ich suche ein Kleid für eine Art Geschäftsessen. Es sollte selbstbewusst wirken, aber nicht zu aufreizend sein.«
»Schlicht und elegant, trotzdem auffällig genug, um nicht in der Masse unterzugehen«, ergänzt Maddie und erntet dafür einen bösen Blick.
»Say no more. Dreh dich mal.« Der Verkäufer macht eine auffordernde Handbewegung, woraufhin ich langsam um meine eigene Achse rotiere. Währenddessen legt er seine Finger ans Kinn und beobachtet mich genau.
»Großartige Haare, fantastischer Teint, traumhafte Beine und göttliche Kurven. Süße, wir finden dein perfektes Kleid auf jeden Fall! Ich bin übrigens Marcus.«
»Ruby«, antworte ich eilig, bevor er sich meine Hand schnappt und mich mit sich zieht. Hilfesuchend werfe ich einen Blick über die Schulter zu meinen Freundinnen, die jetzt aus ihrer Starre erwachen und sich beeilen, uns zu folgen. Marcus legt ein enorm schnelles Tempo vor und das auf Schuhen, mit denen ich schon nach drei Metern gestolpert wäre. Schnurstracks gehen wir durch die Reihen mit den Kleidern. Dabei hält er immer wieder an, zieht eins vom Ständer, betrachtet es mit zur Seite geneigtem Kopf und schmeißt es sich dann entweder über den Arm oder hängt es zurück. Innerhalb kürzester Zeit sind sieben Kleider in der engeren Wahl, von denen ich nicht eins ausgesucht habe.
»Leider sind die Umkleiden hier oben alle besetzt, aber die von den Männern sind meistens frei.« Marcus rauscht ins Erdgeschoss, und ich habe erneut Probleme mit ihm Schritt zu halten. Er hängt die Kleider in die Kabine und grinst mich an.
»Wenn du etwas brauchst, schrei einfach.« Und genauso plötzlich, wie er aufgetaucht ist, ist er auch wieder verschwunden.
»Ich glaube, ich hatte grad eine Halluzination.« Eliza sinkt auf einen der Ledersessel vor der Kabine.
»Was für ein Typ«, murmelt Maddie und fällt auf den zweiten Sessel. Beide schauen mich erwartungsvoll an. »Dann zeig mal, was er dir da rausgesucht hat.«
Ich betrachte die verschiedenen Kleider auf den Bügeln. Schwarz, Rot, zweimal Grün, Blau, Lila und ein Gelbes haben ihren Weg in meine Kabine gefunden. Letzteres ist mir viel zu grell, weshalb ich das von vorneherein beiseite hänge und mit einem der Grünen beginne. Es ist mir etwas zu lang, aber mit passenden Schuhen sollte es gehen. Der Stoff wird im Nacken von zwei Goldkettchen zusammengehalten und fällt ansonsten in leichten Plisseefalten zu Boden. Ich schiebe den Vorhang beiseite und präsentiere es meinen Freundinnen.
»Sehr hübsch«, kommentiert Eliza. Sie lächelt zwar und reckt den Daumen nach oben, doch die Begeisterung erreicht ihre Augen nicht.
»Das bist nicht du«, meint Maddie, weshalb ich direkt in das zweite grüne Kleid schlüpfe. Oben liegt es eng an meinem Körper an. Der Rock ist ausgestellt und geht bis zu den Knien. Auch diesmal bekomme ich ein »Nein« von beiden und muss mir eingestehen, dass ich es ebenfalls nicht mag. Das Blaue ist wieder bodenlang und hat Ärmel, was mir gut gefällt. Immerhin haben wir Oktober, da kühlt es abends merklich ab. Vorn ist es schlicht und hochgeschlossen, trumpft aber mit einem tief ausgeschnittenen Rücken auf.
»Das sieht gut aus.« Eliza setzt sich aufrechter hin, und Maddie nickt zustimmend, während sie den Daumen nach oben streckt.
»Finde ich auch! Das kommt definitiv in die engere Auswahl«, beschließe ich, nachdem ich gesehen habe, dass der Preis unterhalb meines Limits liegt. »Oder ist es zu overdressed für den Anlass?«
Maddie schüttelt den Kopf. »Die Herren tragen Smoking und ihre Ehefrauen elegante Kostüme oder Kleider. Zumindest haben das meine Eltern mal erwähnt. Damit wirst du dich wunderbar einfügen.« Sie lächelt mir ermutigend zu. Zufrieden gehe ich zurück in die Kabine und ziehe das lilafarbene Kleid an. Es schmiegt sich wie eine zweite Haut an meinen Körper und reicht bis knapp übers Knie. Der Ausschnitt ist sehr offenherzig. Ich müsste meine Brüste mit Tape fixieren, damit es vernünftig aussieht.
»Abgelehnt. Du siehst aus wie jemand, der es unbedingt nötig hat, flachgelegt zu werden.« Maddie schüttelt den Kopf, und ich spüre, wie meine Mundwinkel zucken.
»So drastisch hätte ich es jetzt nicht ausgedrückt, aber es ist sehr gewagt für eine geschäftliche Veranstaltung.« Eliza ist weitaus diplomatischer, und ich sehe ein, dass es für einen Clubbesuch geeigneter ist.
»Wir gehen noch mal nach oben und schauen, ob uns noch was anderes anlacht«, ruft Maddie, als ich den Vorhang schon wieder zugezogen habe.
»Okay, ich ziehe währenddessen das Letzte an!« Es dauert einen Augenblick, bis ich mich aus dem lilafarbenen Stoff geschält habe und schließlich vorsichtig in das schwarze Kleid steige. Die Ärmel reichen mir bis zu den Handgelenken. Es schmiegt sich eng an meine Kurven, lässt allerdings an geeigneten Stellen genug Luft, um nicht zu aufreizend zu wirken. Der Saum endet knapp oberhalb meines Knies. Der runde Ausschnitt deutet mein Dekolleté an, verhindert jedoch tiefere Einblicke. Ich sehe die schwarzen Cowboystiefel an, die ich heute ohnehin getragen habe. Sofort schlüpfe ich hinein. Lediglich ein schmaler Streifen nackter Haut um meine Knie ist zu sehen. Ein Blick in den Spiegel reicht, um zu wissen, dass ich mein Kleid gefunden habe.
Ich trete aus der Kabine. Maddie und Eliza sind noch nicht wieder da. Also betrachte ich mich ausgiebig in dem bodentiefen Spiegel. Meine Haare fasse ich kurzzeitig zu einem Pferdeschwanz zusammen, der mir locker über die Schulter fällt. Aus den Augenwinkeln bemerke ich etwas Dunkles an einem der Kleiderständer und entdecke bei genauerem Hinsehen einen Cowboyhut.
»Wie passend«, murmle ich leise, bevor ich ihn abnehme und aufsetze. Er passt perfekt. Es ist vielleicht nicht das eleganteste Outfit und damit würde ich sicherlich aus der Menge hervorstechen, aber ich fühle mich wohler als in jedem anderen Kleid, das ich heute anhatte. Dieses hier schreit meinen Namen.
»Pippa, du weißt, dass wir viel Geld besitzen, oder? Da müssen wir nicht in einem Secondhandladen einkaufen.«
Ich halte inne. Diese Stimme kenne ich.
»Das ist nicht irgendein Secondhandladen. Das ist der Geheimtipp in Covington. Hier finden wir ein gutes Hemd für dich.« Die antwortende Frau klingt beleidigt. Ihr scheint es nicht zu gefallen, dass ihr Gesprächspartner ihren Geschmack infrage stellt. Ich wirble auf dem Absatz herum und stolpere dabei fast über meine eigenen Füße. In letzter Sekunde finde ich mein Gleichgewicht wieder und bin froh, nicht hingefallen zu sein. Mit offenem Mund starre ich Dexter an, der mich wiederum mit großen Augen ansieht.
»Was machst du hier?«
»Ich?«
»Na, wonach siehts denn aus?« Für einen Außenstehenden muss es wie eine inszenierte Unterhaltung aussehen. Jedes einzelne Wort kommt uns unisono über die Lippen. Meine Brust hebt und senkt sich schnell. Dexters Augen zucken von meinem Gesicht zu meinem Ausschnitt. Ich schnipse mit den Fingern und funkle ihn warnend an. Warum kauft er ausgerechnet hier ein? Wie er es eben treffend zusammengefasst hat – seine Familie ist stinkreich.
»Das ist ein sehr hübsches Kleid.« Seine Begleitung nickt anerkennend und knufft ihm in die Schulter. »Ich habe doch gesagt, die haben schöne Sachen.«
»Kleider sind nicht so mein Stil, Pippa«, entgegnet er trocken, löst den Blick dabei allerdings nicht von mir. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus, als er mich langsam von oben bis unten mustert.
»Ist das für Freitag?« Ich nicke, weil mich meine Stimme im Stich lässt. Männer machen mich normalerweise nicht sprachlos, aber Dexter lässt mich allein dadurch, dass er mich ansieht, jedes jemals gelernte Wort vergessen. Aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie Pippa penetrant am Ärmel seines T-Shirts zupft. Es ist eine derart kindliche Geste, die mich dazu bringt, sie genauer in Augenschein zu nehmen. Sie ist wesentlich jünger als wir. Spontan würde ich sie auf dreizehn schätzen. Vielleicht vierzehn. Ihre Gesichtszüge ähneln denen von Dex. Sie hat dasselbe dunkelblonde Haar und die gleichen matschgrünen Augen.
Sie hört nicht auf, bis er ihr seine Aufmerksamkeit schenkt. Zurück bleibt nur ein Kribbeln, das sich von meinem Bauch aus durch den ganzen Körper ausbreitet. Überrascht atme ich aus. Seit wann reagiere ich denn so heftig auf seine Anwesenheit?
»Gehst du mit ihr zu Moms und Dads Essen?« Dex bejaht ihre Frage, woraufhin sie erst mich und anschließend ihn nachdenklich ansieht. Sie tippt sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn und legt den Kopf zur Seite.
»Wenn sie dieses Kleid trägt, brauchst du ein schwarzes Hemd.« Ohne auf seine Antwort zu warten, verschwindet sie zwischen den Kleiderständern. Dex kratzt sich verlegen am Kopf.
»Das ist meine Schwester«, erklärt er und lässt seinen Blick suchend durch den Raum gleiten. Erst als er sie entdeckt, sacken seine Schultern nach unten.
»Sie scheint ein gutes Gespür für Mode zu haben.« Er nickt lächelnd.
»Ja, in dieser Hinsicht ist sie sehr begabt.« Mein Herz platzt beinahe vor Rührung, wenn ich ihn so über seine Schwester sprechen höre. Auf Partys lässt er meistens den Footballstar raushängen, was viele Studentinnen beeindruckt. Aber mich nicht. Mir gefällt der Blick hinter seine toughe Fassade. Unruhig trete ich von einem Fuß auf den anderen. Jetzt, wo wir allein sind, kann ich endlich etwas richtigstellen, was gestern nicht mehr möglich war.
»Du weißt, dass wir da nicht zusammen hinmüssen, oder? Immerhin war das nur die Aufgabe eines dämlichen Trinkspiels.«
Dex wendet den Blick von Pippa ab und sieht stattdessen mich an. Seine Stirn liegt in Falten, während er langsam auf mich zukommt.
»Spielschulden sind Ehrenschulden«, erwidert er und schaut mich dabei ernst an. Ich lege den Kopf in den Nacken, um seinen Blick zu erwidern. Mit knapp ein Meter neunzig überragt er mich eindeutig.
»Schon, aber ich will dich zu nichts zwingen. Immerhin sind die Gastgeber deine Eltern.« Seine Hand legt sich an meinen unteren Rücken, womit er mich zu sich zieht. Ich schlucke und erwische mich bei dem Wunsch, dass er um meinetwillen mitkommt und nicht, um eine Aufgabe zu erfüllen. Er schiebt mir den Hut in den Nacken. Seine Lippen streifen mein Ohr.
»Was, wenn ich es will?« Sein leises, raues Flüstern jagt mir einen Schauer über den Rücken. Der Stoff des Kleides ist so dünn, dass ich das Gefühl habe, seine Hand läge direkt auf meiner nackten Haut und brennt sich darin ein.
»Dann frage ich mich, wieso das so ist«, raune ich und ziehe den Kopf zurück. Wir sehen uns an. Sein warmer Atem trifft mein Gesicht und sein nach Karamell duftendes Parfum hüllt mich ein, wie gestern, als ich sein Shirt auf der Party getragen habe. Dieser Augenblick zwischen Kleiderständern und Regalen voll funkelndem Designerschmuck hätte noch eine Ewigkeit andauern können. Der Gedanke daran erschreckt mich und trotzdem unternehme ich nichts, um den Moment zu beenden.
»Wir haben noch ein Kleid!« Maddies Stimme zerreißt die aufgeladene Stille und lässt uns auseinanderfahren.
»Ich hole dich Freitag um fünf ab.« Dex wirkt genauso verwirrt, wie ich mich fühle. Ich antworte mit einem schnellen Nicken, bevor er sich umdreht und dorthin verschwindet, wo seine Schwester ist. Mein Herz galoppiert in meiner Brust, weshalb ich mich mit geschlossenen Augen gegen den Spiegel lehne und das kühle Glas in meinem Rücken genieße. Seine Worte hallen noch immer in meinen Ohren wider, und seine Hände haben unsichtbare Abdrücke auf meiner Haut hinterlassen. Ich fasse mir auf den Brustkorb und atme tief ein und aus.
»Vergiss das Kleid. Du siehst klasse aus!« Ich öffne die Augen und schaue direkt in Maddies und Elizas begeisterte Gesichter.
»Ja, mir gefällt es auch. Das nehme ich.« Obwohl es über meinem Budget liegt, wie ich zähneknirschend feststelle.
»Super! Dann gehen wir jetzt was essen. Ich sterbe vor Hunger!« Maddie legt sich die Hände auf den Bauch und tut so, als würde sie gleich ohnmächtig werden. Ich beeile mich also damit, wieder in meine Alltagskleidung zu schlüpfen und schlendere zur Kasse, während die Mädels draußen warten. Marcus packt mir das Kleid in eine knallpinke Papiertüte, schüttelt allerdings mit dem Kopf, als ich meine Karte zücke.
»Ein hinreißend gut aussehender Kerl hat das schon bezahlt. Er hat ein schwarzes Hemd gekauft und gemeint, dass er die Rechnung für das schwarze Kleid und den Cowboyhut ebenfalls übernimmt.« Ich sehe erst ihn, dann die Tüte und schließlich die geschlossene Ladentür an. Der emanzipierte Teil in mir ärgert sich enorm über diese Aktion, aber meine innere Romantikerin schmilzt dahin.
»Ich hoffe, du hast dir seine Nummer geklärt, Süße. Denn dieser Typ ist Boyfriend Material. Wenn nicht, dann mache ich ihn ausfindig, um ihn zu heiraten.« Marcus lacht, während ich mit gemischten Gefühlen das Dreams of Vintage verlasse. Immer noch grübelnd stoße ich zu meinen Freundinnen, die über mögliche Restaurants diskutieren. Dabei bemerken sie meine ambivalente Stimmung glücklicherweise nicht. Ich trotte hinter ihnen her, ohne mich an dem Gespräch zu beteiligen.
Dex verhält sich merkwürdig. Normalerweise reden wir auf Partys nur das Nötigste. Meistens ist er ohnehin mit anderen Frauen beschäftigt und scheint meine Anwesenheit gar nicht zu bemerken. Es ist unsere unausgesprochene Vereinbarung, die wir am Anfang des Semesters getroffen haben, als wir wieder voreinander standen. Nach einer Nacht, die mich bis heute in meinen Träumen verfolgt. Seine plötzliche hundertachtzig Grad Drehung irritiert mich, und ich hoffe, dass ich noch vor dem Abendessen am Freitag herausfinde, was sich dahinter verbirgt.
Kapitel 3
Am Freitag habe ich nur eine Vorlesung, weshalb mir ausreichend Zeit bleibt, um meine Notizen über den Wacholder für den heutigen Abend noch einmal durchzuschauen und mit Grandma zu telefonieren. Entgegen meiner Hoffnung einer spontanen Wunderheilung klingt sie weiterhin sehr schwach und verschnupft.
»Warst du deswegen schon bei einem Arzt? In deinem Alter solltest du diese Grippe nicht auf die leichte Schulter nehmen.« Sie hört sich nicht gut an. Wir unterhalten uns jetzt seit etwa zehn Minuten und Grandma klingt, als wäre sie drei Meilen gejoggt. Diese Grippe scheint doch sehr ernst zu sein. Erst letztens habe ich gelesen, dass daran dieses Jahr sogar schon einige Menschen verstorben sind.
Grandma ist die einzige Person meiner Familie, die mir noch geblieben ist. Deshalb liegt mir ihre Gesundheit besonders am Herzen. Ich will noch viele Jahre mit ihr verbringen. Seite an Seite auf der Farm arbeiten. Sie soll mit meinen Kindern spielen, falls ich jemals welche bekomme und ihnen beim Aufwachsen zusehen. So, wie sie es bei mir getan hat.
Grandma schnaubt. »In meinem Alter? Willst du damit etwa sagen, dass ich alt bin?«
Ich schmunzle, während ich mein Gesicht abpudere. Wenn sie noch genug Kraft hat, um auf meinen Kommentar bezüglich ihres Alters einzugehen, scheint es ihr nicht so schlecht zu gehen, wie befürchtet.
»Nein, natürlich nicht. Trotzdem ist es nicht verboten, dich untersuchen zu lassen«, erkläre ich sanft. Sie ist die sturste Person, die ich kenne. Seit ich denken kann, ist sie nur zum Arzt gegangen, wenn Dad sie dazu gezwungen hat. Da er nicht mehr da ist, fällt mir diese Aufgabe zu.
»Grandma …«
»Ist ja gut. Billy hat mich gestern gefahren. Ich habe Medikamente bekommen und sollte bald wieder fit sein.« Erleichtert atme ich aus und mache mir in Gedanken eine Notiz, ihren Vorarbeiter Billy demnächst anzurufen und mich bei ihm zu bedanken. Jetzt, da ich fast vier Stunden von zu Hause entfernt lebe, ist es schwerer geworden, Einfluss auf Grandma zu verüben. Deshalb beruhigt es mich, dass wenigstens eine Person auf der Farm ein Auge auf sie hat.
»Ich muss auflegen. Meine Lieblingsquizsendung fängt gleich an. Viel Spaß heute Abend. Du schaffst das!« Ich ziehe eine Grimasse, auch wenn Grandma das nicht sieht, und verabschiede mich von ihr. Mit flatterndem Magen schminke ich mich weiter und flechte mein langes, dunkles Haar zu einem Zopf, der mir seitlich über die rechte Schulter fällt. Anschließend vertiefe ich mich noch einmal in die Notizen aus den letzten Tagen, falls mir jemand Fragen bezüglich der Farm und dem Anbau des Texas-Wacholders stellt.
Es ist kurz vor fünf, als ich mir den roten Mantel überziehe, den ich mir von Maddie geborgt habe und den Cowboyhut aufsetze. Gerade als ich einen letzten Blick in den Spiegel werfe, geht die Wohnungstür auf und besagte Mitbewohnerin kommt herein.
»Wow. Du siehst hammermäßig gut aus! Denkst du, ihr schafft es nach New Orleans, ohne dass Dex über dich herfällt?« Ich drücke meinen Hut fester auf den Kopf und sehe an mir herunter.
»Warum sollte er? Ich meine … im Prinzip sehe ich aus wie immer. Nur etwas schicker.« Irritiert schaue ich meine Freundin an.
»Ja schon, aber deine Klamotten betonen deine Rundungen sonst nicht so.« Sie wackelt mit den Augenbrauen, woraufhin ich mir mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe klopfe.
»Du spinnst doch. Mein Kleiderschrank ist voll mit knallengen Jeans.« Maddie lacht und tritt einen Schritt näher an mich heran.
»Rede dir das gern weiter ein. Mir sind diese Spannungen zwischen euch aufgefallen. Ich bin heute lediglich höflich genug, dich nicht darauf anzusprechen.«
»Wie gütig von dir«, entgegne ich sarkastisch. Trotzdem flüstert eine leise Stimme in meinem Hinterkopf, dass der Tag kommen musste. Der Tag, an dem es auffällt, dass Dex und mich mehr verbindet als einige Runden Truth or Dare extrem, die wir gemeinsam auf Partys gespielt haben.
Nervös knete ich meine Hände und betrachte die Uhr an der Wand. Je näher der Zeiger Richtung zwölf rückt und damit die volle Stunde ankündigt, desto unruhiger werde ich.
»Werden deine Eltern auch da sein?«, frage ich, um mich von der Tatsache abzulenken, dass es gleich kein Zurück mehr gibt. Ich schiebe eine Hand in die Manteltasche und stelle beruhigt fest, dass mein Spickzettel wirklich da ist, wo ich ihn vor ein paar Minuten hingetan habe. Sehr gut. Dann kann ich während der Fahrt noch einmal einen Blick darauf werfen.
»Nein, sie sind seit einigen Jahren nicht mehr eingeladen.«
»Warum das?« Seite an Seite schlendern wir die Treppe nach unten. Maddie zuckt mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Dad ein bisschen eifersüchtig auf die Malones war, weil ihre Destillerie immer erfolgreicher geworden ist. Dann hat er irgendwann einen unnötigen Streit angezettelt und schon waren die gemeinsamen Geschäftsessen vorbei.« Mit gerunzelter Stirn sehe ich meine beste Freundin an. Soweit ich weiß, produziert Maddies Dad Bourbon, während die Malones sich auf Whiskey und Gin spezialisiert haben. Ich kenne mich zwar nicht gut genug aus, allerdings bezweifle ich, dass ihre Firmen damit in direkter Konkurrenz stehen.
»Keiner von uns hat das verstanden. Vielleicht hat es Dad gestört, dass die Malones plötzlich so viel Aufmerksamkeit bekommen haben. Ich weiß es nicht.« Sie wirft die Hände in die Luft und schüttelt den Kopf. Meine Mundwinkel zucken.
»Ja, es ist schon schwierig, den männlichen Verstand zu analysieren und daraus schlau zu werden«, erwidere ich grinsend.
»Da sagst du was«, pflichtet Maddie mir bei. Inzwischen stehen wir vor dem Eingang des Wohnheims. Ein tief schnurrender Motor kommt in Hörweite und verstummt schließlich neben uns. Er gehört zu einem schwarzen, teuer aussehenden SUV, dessen Fahrertür aufschwingt und Dex ausspuckt.
»Kommst du? Wir sind spät dran!«
»Das liegt nicht an mir«, murmle ich und umarme Maddie kurz. Sie drückt mir ein Abschiedsküsschen auf die Wange und grinst.
»Viel Spaß! Tu nichts, was ich nicht auch tun würde!«
Schnell steige ich ein und schließe die Tür, bevor sie auf die Idee kommt, noch weitere zweideutige Dinge von sich zu geben. Manchmal sieht sie nicht, was andere Leute in Verlegenheit bringt und überschreitet mit großen Schritten die Grenzen ihrer Freunde.
Dex wirft mir einen Zettel in den Schoß, den ich aufhebe und verständnislos anstarre.
»Gib die Adresse mal ins Navi ein.« Er startet den Wagen, während ich das integrierte Navi suche. Nachdem ich erfolgreich den Radiosender verstellt, das automatische Schiebedach geöffnet und geschlossen habe, beginnt mein Sitz auf einmal zu vibrieren. Ein Navi habe ich jedoch nicht gefunden. Frustriert werfe ich die Arme in die Luft und sehe zu Dex, dessen Mundwinkel verräterisch zucken.
»Was ist so lustig?«, frage ich angesäuert.
»Du«, erwidert er und hat mit zwei Handgriffen die Massagefunktion meines Sitzes deaktiviert und das Navigationssystem geöffnet. »Hast du schon mal in einem modernen Auto gesessen?«
»Ich kann Traktoren und normale Autos bedienen, die von innen nicht wie ein verdammtes Cockpit aussehen!«
»Also ich kann mir nicht vorstellen, dass du ein Cockpit irgendwann mal von innen gesehen hast.« Seine Zweifel sind unüberhörbar und reißen an meiner Willenskraft. Es ist kein Geheimnis, dass ich vom Land komme und meine Familie hart gearbeitet hat, um das zu erreichen, was wir heute besitzen. Ist meine Aussage für ihn deshalb so abwegig? Weil er sich nicht vorstellen kann, dass ich jemals ein Flugzeug von innen gesehen habe, geschweige denn ein Cockpit? Vielleicht habe ich mit meiner damaligen Schulklasse einen Ausflug zum Beaumont Municiple Airport gemacht, um mir alles anzusehen. Ich kralle meine Fingernägel in die Handballen und zähle bis zehn, bevor ich meine Finger wieder lockere und mir mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel massiere. Er behandelt mich jetzt schon von oben herab. Vielleicht ist ihm das nicht bewusst, vielleicht macht er es absichtlich. Egal, welcher Grund dahintersteckt, in mir wirft es nur eine Frage auf: Wie sollen wir diesen Abend überstehen, ohne dass ich ihn umbringe?
Nachdem ich mich beruhigt habe, tippe ich die Adresse auf dem Display ein. »Wieso weißt du nicht, wo deine Eltern diese Party schmeißen?«, frage ich, doch eine höfliche Frauenstimme quatscht mir dazwischen.
»Sie erreichen das Ziel in einer Stunde und drei Minuten.«
»Ich weiß es schon. Das heißt aber nicht, dass ich die Strecke dahin auswendig kenne.« Er klingt ruhig, doch ich höre den scharfen Unterton seiner Worte deutlich heraus. Ihm gefällt es also auch nicht, wenn ich ihm Dinge unterstelle, die nicht stimmen. Um einer Diskussion aus dem Weg zu gehen, sinke ich tiefer in den Sitz und lenke den Blick aus dem Fenster. Eine Stunde. Das halte ich aus, auch wenn mir seine Präsenz schon jetzt allzu bewusst ist. Sein nach Karamell duftendes Parfum wabert durch den Innenraum und verführt mich dazu, mich weiter nach links zu lehnen, um einen tieferen Zug davon zu nehmen.
»Wieso bist du überhaupt eingeladen?« Seine Stimme reißt mich aus meinen ungewollten Fantasien. Ertappt lehne ich mich zurück. Hitze schießt mir in die Wangen, und ich hoffe inständig, nicht wie eine reife Tomate auszusehen.
»Bin ich nicht, sondern meine Grandma. Aber die liegt mit einer Grippe flach und hat mich als Vertretung geschickt.« Sofort ist das nervöse Flattern wieder da, das meinen Magen so in Wallung bringt, dass ich Sorge habe, er könnte sich jeden Moment umstülpen.
»Also ist sie eine Lieferantin der Destillerie?«
Ich nicke. »Deine Eltern stellen doch seit neustem Gin her. Die Wacholderbeeren dafür kommen von unserer Farm. Ich hatte die Idee während der High School, konnte Grandma überzeugen und die erste Ernte haben wir letztes Jahr im Herbst an euch verkauft.« Ein kleines Lächeln umspielt meine Lippen. Ich freue mich, dass wir uns dadurch ein neues Standbein aufbauen konnten. Durch die erfolgreiche Abnahme konnte Grams neue Pflanzen sähen, damit wir noch mehr Beeren zum Verkauf anbieten können.
»Wieso veranstalten deine Eltern dieses Bankett?«
Dex wirft mir einen kurzen Blick zu.
»Sie haben es zum ersten Mal ausgetragen, als ihre Firma noch recht klein war. Es ist eine Wertschätzung für ihre Zulieferer, denn ohne sie würde es unseren Whiskey und den Gin nicht geben. Mit diesem Essen wollen Mom und Dad zusätzlich Danke sagen. Irgendwann sind sie dazu übergegangen, auch Geschäftspartner und große Kunden einzuladen. Und so hat es sich etabliert und zu einer Tradition entwickelt.«
»Das ist eine schöne Geste«, erwidere ich leise und spüre, wie das nervöse Flattern langsam abebbt. Vielleicht wird dieser Abend doch nicht so furchtbar, wie ich ihn mir die letzten Tage ausgemalt habe. Dex’ Eltern klingen nett und wenn die Gäste überwiegend aus ihren Lieferanten bestehen, komme ich mit viel Glück um geschäftliche Gespräche herum. Falls ich in eines verwickelt werde, fällt es mir sicher leichter, mit jemandem zu sprechen, von dem ich weiß, dass er genauso ist wie ich. Eine Person vom Land, die froh über die Chance ist, längerfristig mit einem großen Unternehmen zusammenarbeiten zu dürfen.
Die nächsten Meilen legen wir schweigend zurück. Dex biegt auf die Interstate ab und gibt Gas. Das Radio dudelt munter vor sich hin und spielt einen Countrysong nach dem anderen.
»Ich hätte dich nicht für einen Fan dieser Musikrichtung gehalten«, gestehe ich schließlich und sehe zu ihm rüber. Ein Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Mit der einen Hand hält er das Lenkrad, die andere liegt auf dem Schaltknüppel und ist meinem Knie so nah, dass er es berühren könnte, wenn er seine Finger nur leicht nach rechts schiebt.
»Ich bin auch kein Fan. Aber dein Outfit hat mich dazu verleitet, es einzuschalten, und ich dachte, du hörst es gern.«
Meine Lippen formen sich zu einem überraschten O. Dex wirkt nicht wie jemand, der sich derart viele Gedanken um seine Mitmenschen macht.
»Das ist … sehr aufmerksam«, stottere ich und lenke meinen Blick auf die vorbeiziehende Landschaft. Während wir über die Autobahn fliegen, antworte ich Eliza, die mir viel Spaß wünscht und Fotos von der Veranstaltungslocation fordert. Allerdings lässt mich ein Teil von Dex’ Aussage nicht los. Ich muss immer wieder darüber nachdenken und überwinde mich nach einigen Minuten schließlich dazu, ihn einfach zu fragen.
»Bin ich zu underdressed für das Essen? Maddie meinte, dass alle sich superschick anziehen und irgendwie … keine Ahnung. Ich habe das Gefühl, meine Outfitwahl ist nicht passend.« Unsicher beiße ich mir auf die Unterlippe. Dex wechselt auf die rechte Fahrbahn und geht vom Gas. Bei dem Blick, den er mir anschließend zuwirft, wird mir warm. Regelrecht heiß. Auch wenn ich nur einen kurzen Blick auf seine matschgrünen Augen erhascht habe, kommen sie mir dunkler vor. Eher moosgrün. Als würde er sich Dinge ausmalen, die er gern mit mir anstellen würde, wenn ich dieses Kleid nicht anhätte. Es erinnert mich an den Ausdruck auf der Party vor wenigen Tagen. Schon da hatte ich das Gefühl, er würde mich am liebsten mit Haut und Haaren verschlingen und auch jetzt werde ich diesen Gedanken nicht los.
»Du siehst perfekt aus.« Mein Herz setzt einen Schlag aus. Womöglich bilde ich mir die unausgesprochenen Worte nur ein.
Du siehst perfekt aus, aber ich hätte nichts dagegen, dir dieses Kleid auszuziehen.
»Ich garantiere dir: Niemand wird die Augen von dir lassen können.«
Die Hitze meiner Wangen breitet sich über meinen Hals aus. »Das wäre ja furchtbar. Ich wollte den Abend so unentdeckt wie möglich hinter mich bringen.«
Dex lacht und bringt mein Herz damit zum Schmelzen. Ich habe ihn schon oft lachen hören, aber diesmal ist es anders. Spontaner. Unüberlegter. Echter.
»Wieso hast du zugesagt, wenn es für dich so eine Qual ist, dorthin zu gehen?«
»Weil ich Grandma nicht vor den Kopf stoßen wollte«, murmle ich.
»Ich verstehe. Die Familie zu enttäuschen ist das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann.« Dex’ Kiefermuskulatur zuckt, als würde er die Zähne fest aufeinanderbeißen und damit knirschen. Ich merke, dass er das Thema nicht weiter vertiefen will, allerdings lässt mich der Gedanke nicht los, dass die Malones vielleicht doch nicht so perfekt sind, wie ich bisher angenommen habe.
Erneut legt sich Stille über uns. Ich nutze die Gelegenheit, um meinen Spickzettel hervorzuziehen und die Notizen noch einmal durchzugehen. Leise vor mich hinmurmelnd lese ich Punkt für Punkt und habe, als ich fertig bin, das sichere Gefühl, auf jede Frage eine Antwort zu wissen.
»Was ist das?« In Dex’ Stimme schwingt unverhohlene Neugier mit. Wir biegen von der Interstate ab. Jetzt sind es nur noch wenige Minuten, bis wir ankommen. Mein Puls beschleunigt sich.
»Notizen. Für den Fall, dass ich etwas vergesse.« Ein Schweißfilm legt sich über meine Handinnenflächen, weshalb ich das Papier fester umklammere, damit es mir nicht entgleitet.
»Nicht dein Ernst? Du willst echt den Zettel rausholen, wenn du während eines Gesprächs nicht weiter weißt?« Dex’ Grinsen ist unüberhörbar.
»Es ist eine Vorsichtsmaßnahme, okay? Damit fühle ich mich sicherer. Der Anbau des Wacholders war meine Idee, ja. Aber hauptsächlich kümmert sich Grams darum. Was passiert, wenn mir jemand Fragen darüber stellt und ich keine Antwort weiß? Wie unprofessionell wäre das denn?« Plötzlich spüre ich seine Hand auf meinem Knie. Überrascht schaue ich nach unten und stelle fest, dass ich mir diese Berührung nicht nur einbilde. Sie liegt wirklich da, und sein Daumen malt beruhigende Kreise auf meiner Haut.
»Mach dir keinen Stress. Heute wird kaum über Geschäftliches gesprochen und wenn doch, dann sagst du einfach, dass deine Grandma die eigentliche Spezialistin ist und du sie nur vertrittst, weil sie krank ist. Ganz simpel.« Wir stehen an einer roten Ampel. Sein Lächeln ist entwaffnend und in Kombination mit seiner Berührung verfallen sämtliche Synapsen in meinem Kopf in helle Aufruhr. »Und falls du gar nicht aus der Sache rauskommst, komme ich vorbei und rette dich.« Er zwinkert mir zu. Sofort wird mein Mund staubtrocken, und ich muss mich räuspern, um zu antworten.
»Wieso bist du so … zuvorkommend?« Er zieht seine Hand weg, woraufhin mich ein Frösteln durchzuckt.
»Weil ich das Gefühl habe, dass du auf der Party letztens Nein sagen wolltest, Ryan dir aber nicht die Gelegenheit dazu gelassen hat.« Ich schmunzle und bleibe ihm die Antwort schuldig. Dex hat eine überraschend gute Beobachtungsgabe. Wir biegen in eine Straße ab, die nichts mit den lauten und funkelnden Gassen des belebten New Orleans zu tun hat. Vereinzelte Straßenlaternen spenden spärliches Licht. Stirnrunzelnd vergleiche ich die Zieladresse des Navis mit der auf dem Zettel, den er mir zu Beginn der Fahrt gegeben hat.
»Bist du sicher, dass wir richtig sind? Sieht nicht so aus, als würde hier demnächst ein Hotel oder Ähnliches auftauchen.« Skeptisch sehe ich mich um, doch Dex nickt entschlossen.
»Die Veranstaltung findet in einer Scheune statt, die meine Eltern gemietet haben. Sie liegt etwas abgelegen, aber wir müssten jeden Moment da sein.« Ich blicke aus dem Fenster in der Hoffnung, dass Dex nicht dabei ist, mich irgendwo hin zu verschleppen und umzubringen. O Mann. Maddies True Crime Konsum färbt allmählich auf mich ab.
»Es gibt da noch eine Sache, die ich mit dir besprechen wollte.« Dex lenkt den Wagen auf einen Parkplatz, wo schon jede Menge anderer Autos stehen. In der Ferne glitzern Lichter in der Dunkelheit.
»Das klingt nicht gut«, entgegne ich und versuche, so viel Leichtigkeit wie möglich in meine Stimme zu legen. Er stellt den Motor aus und fährt sich mit der Hand durch sein dunkelblondes Haar. Plötzlich ist er derjenige, der nervös aussieht, woraufhin auch ich unruhiger werde.
»Dex? Was ist los?«
»Meine Eltern erwarten, dass ich heute mit Bella auftauche. Es kann gut sein, dass die Situation eskaliert, wenn sie bemerken, dass es nicht der Fall ist.«
Wie versteinert sitze ich auf dem Beifahrersitz und schaue ihn aus großen Augen an.
»Das ist ein Witz, oder? Sag mir bitte, dass das ein Scherz ist, um mir die Anspannung zu nehmen.« Mein Herz pocht heftig in meiner Brust. Ist ihm bewusst, in was für eine unangenehme Situation er mich da manövriert? Er schmeißt mich und seine Eltern ins kalte Wasser und aktuell habe ich das Gefühl, nicht mehr an die Oberfläche zu kommen, sondern zu ertrinken.
Dex schüttelt den Kopf. »Leider nicht.«
Schlagartig wird mir übel. Ich spüre, wie sich mein Magen umdreht und mir die Galle hochsteigt. So schnell ich kann, stürze ich aus dem Auto. Die kühle Abendluft hilft, macht die Situation allerdings nicht besser. Eine ganze Weile tigere ich vor dem SUV auf und ab. Aus den Augenwinkeln bemerke ich, dass Dex mich schweigend beobachtet. Er ist inzwischen ebenfalls ausgestiegen und lehnt mit verschränkten Armen an der Motorhaube.
»Verrätst du mir, was in deinem Köpfchen vorgeht?«, fragt er irgendwann. Ich bleibe stehen, werfe ihm einen vernichtenden Blick zu und schnaube.
»Das willst du nicht wissen. Glaub mir.« Er stößt sich vom Wagen ab und kommt langsam auf mich zugeschlendert. Seine Hände hat er dabei in den Taschen seiner Hose vergraben, und ich komme nicht umhin, zu bemerken, wie verflucht gut er in dem schwarzen Hemd und dem farblich passenden dunklen Anzug aussieht. Aber sein hervorragendes Aussehen hilft nicht, meinen Ärger verpuffen zu lassen. Es mindert das Gefühl höchstens ein bisschen.
»Was ist los, Ruby?« Seine Stimme ist sanft, doch in meinem Inneren herrscht derartiges Chaos, das ich nicht erkenne, ob er es gut mit mir meint oder das Problem tatsächlich nicht versteht.
»So war das nicht abgemacht!« Ich werfe die Hände in die Luft und beginne erneut vor ihm auf und ab zu laufen.
»Genau genommen haben wir gar nichts ausgemacht«, ruft er mir in Erinnerung. Innerlich verfluche ich mich, weil er recht hat. Abgesehen davon, dass er mich heute um fünf abholen wollte, haben wir keine weiteren Details besprochen.
»Ich dachte, wir gehen gemeinsam zu diesem Essen, genehmigen uns ein paar Drinks, haben Spaß und fahren wieder nach Hause. Ich bin schon nervös genug wegen des kompletten Abends. Ist dir vielleicht mal eine Sekunde in den Sinn gekommen, wie unangenehm es für mich ist, in dieser Situation vor deine Eltern zu treten? Wenn die jemand vollkommen anderen erwarten?« Ich bleibe stehen und balle die Hände zu Fäusten. »Weißt du, was dem Ganzen noch die Krone aufsetzen würde? Ein Eifersuchtsdrama. Ist Bella auch hier?« Dex hat immerhin den Anstand ertappt auszusehen.
»Das wird ja immer besser«, murmle ich. Ich kenne Bella noch nicht lang, aber gut genug, um zu wissen, dass sie zur Furie wird, wenn etwas nicht nach ihrem Willen läuft. Kaum auszudenken, was passiert, wenn sie bemerkt, dass Dex und ich gemeinsam auftauchen. Da sie nicht auf der Party gewesen ist, kann sie unmöglich davon wissen.
»Ihre Eltern arbeiten eng mit meinen zusammen. Wir kennen uns schon ewig«, erklärt er vorsichtig. Heiße Wut brodelt in mir. Sie sitzt wie ein Knoten in meinem Bauch und breitet sich im kompletten Körper aus. Dabei richtet sie sich hauptsächlich gegen mich. In Gedanken spiele ich den Abend von der Party noch einmal ab. Ryan hat gesagt, Dex solle sich eine Begleitung suchen, um Bella zu beweisen, dass er nicht auf sie angewiesen ist. Allerdings habe ich gedacht, die Aussage würde sich darauf beziehen, dass er sie schlicht und ergreifend nicht fragt, ob sie mitkommt. Niemals hätte ich gedacht, sie wäre sowieso hier. Weil sie eingeladen ist. Mit. Ihren. Eltern. Die wahrscheinlich ebenfalls davon ausgehen, dass sie an Dex’ Seite erscheint.
»Wieso hast du das nicht früher gesagt? Zum Beispiel, als wir uns im Dreams of Vintage getroffen haben. Oder spätestens dann, als du mitbekommen hast, wie nervös ich wegen heute Abend bin!« In den Augen von seinen Eltern bin ich jetzt die Böse. Diejenige, die sich zwischen ihren Sohn und seine perfekte Freundin drängt. O Gott. Der Abend wird eine Vollkatastrophe!
»Es tut mir leid. Immerhin besteht noch die Möglichkeit, dass sie begeistert von dir sind.«
Ich schnaube. »Immerhin besteht die Möglichkeit«, äffe ich nach und schüttle fassungslos den Kopf. »Weißt du was? Ich rufe mir ein Uber und fahre wieder nach Hause. Das war eine dämliche Idee!«
Ohne ihn eines weiteres Blickes zu würdigen, stapfe ich zum Wagen, um meine Handtasche zu holen. Diese Rückfahrt wird mich zwar ein kleines Vermögen kosten, aber alles ist besser, als den Abend hier zu verbringen und mich mit Bella und seinen Eltern auseinanderzusetzen. Nachdem ich die Tür lauter als nötig zugeschlagen habe, drehe ich mich um und stehe Dex plötzlich direkt gegenüber. Er stützt seine Arme rechts und links am Auto ab, sodass ich dazwischen gefangen bin. Mein Herz gerät ins Stolpern. Ich verfluche mich dafür, wie sehr mir seine Nähe gefällt, obwohl ich wütend bin. Am liebsten würde ich ihn wegstoßen. Ihm eine verpassen, damit er merkt, wie scheiße sein Verhalten ist und trotzdem bleibe ich stehen. Schlucke und erlaube mir, tief einzuatmen, um von seinem Karamellduft zu zehren.
»Du kannst nicht zurück nach Silveroaks fahren.«
Mit hochgezogener Augenbraue sehe ich ihn an. »Ich kann und ich werde«, erwidere ich schnippisch.
»Ruby.« Sein Blick sucht meinen und als er ihn gefunden hat, hält er ihn fest. Seine matschgrünen Augen fixieren mich und verhindern, dass ich mich ihm entziehe. »Das wäre komplett unsinnig.«
Ich schlucke. Befeuchte meine Lippen mit der Zunge und beobachte fasziniert, dass er der Bewegung folgt. »Nenn mir den Grund, weshalb du nicht mit Bella hergekommen bist. Vielleicht überlege ich es mir dann noch mal.«
Er beißt die Zähne so fest aufeinander, dass ich das Knirschen höre. »Das ist kompliziert.«
Genervt verdrehe ich die Augen. »Eine lahmere Ausrede hast du nicht auf Lager?«
»Ich könnte dir sagen, dass es dich schlicht und ergreifend nichts angeht.«
»Dann kannst du mich mal«, knurre ich und ducke mich unter seinem Arm durch. Wenn er denkt, er kann mich dadurch am Fahren hindern, hat er sich geschnitten.
»Hab ich bereits, schon vergessen?« Ich bleibe abrupt stehen. Meine Brust hebt und senkt sich heftig, als ich zu ihm herumwirbele und aushole, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Doch noch bevor meine Hand seine Wange erreicht, fängt er sie ab. Sein Körper drängt sich gegen meinen, bis ich mit dem Rücken gegen die Beifahrertür stoße.
»Du bist ein Arschloch. Wir haben gemeinsam beschlossen, nicht mehr darüber zu reden.« Dex lacht, wobei seine Lippen mein Ohr streifen. Ich erzittere und versuche, es zu unterdrücken. Er soll nicht merken, wie stark mein Körper auf seine Nähe reagiert. Doch ich scheitere kläglich, wie der sich lockernde Griff um mein Handgelenk beweist. Dennoch geht meine Haut in Flammen auf, dort wo er mich berührt.
»Das stimmt und trotzdem sind wir beide gemeinsam hier.« Ich schweige, weil ich mich nicht auf sein Spielchen einlassen will. Doch von Sekunde zu Sekunde wird es schwieriger. Seine grünen Augen verpassen mir ein Schwindelgefühl. Als würde ich in einem Karussell sitzen, das nicht aufhört, sich zu drehen. Sein Duft vernebelt meine Sinne. Mit seinen Lippen fährt er an meiner Ohrmuschel entlang.
»Sag mir den wahren Grund, und ich bleibe.«
Sein frischer, nach Minze riechender Atem schlägt mir entgegen. Er seufzt und gibt zu meiner Überraschung tatsächlich nach.
»Reicht es, wenn ich dir verrate, dass deine Anwesenheit wichtig ist? Bella soll sehen, dass ich nicht auf sie angewiesen und durchaus in der Lage bin, mich mit anderen zu amüsieren.«
Perplex blinzle ich einige Male.
»Das demonstrierst du ihr auf jeder Party, wenn ihr mal wieder nicht zusammen seid.« Diese Logik verstehe ich nicht.
»Schon, ja. Heute ist es was anderes. Diesmal sind wir nicht am College. Wir sind zu Hause. Auf vertrautem Terrain. Unser Auftritt hat hier eine stärkere Wirkung. Es ist eine bedeutsamere Aussage.«
Ich nehme mir die Zeit, um den Ausdruck in seinem Gesicht genau zu analysieren, und komme zu dem Schluss, dass er die Wahrheit sagt. Er will ihr eins auswischen. Warum auch immer. Ich kenne Bella und weiß, dass sie sicher nicht ganz unschuldig daran ist, dass Dex zu solchen Mitteln greift.
»Alles klar, dann wollen wir mal.« Eine Reihe von Emotionen spielen sich in seinen Augen ab und zurück bleibt ein riesengroßes Fragezeichen.
»Das war alles? Du hast diesen Aufstand gemacht, nur damit ich dir das erzähle?«
Ich nicke grinsend. »Jep.« Mir ist Ehrlichkeit wichtig. Wenn er von Anfang an mit offenen Karten gespielt hätte, wäre uns diese Diskussion erspart geblieben, und ich wäre diesen Abend mit einer anderen Einstellung angegangen.
Kopfschüttelnd weicht er einige Schritte von mir zurück und gibt mir damit meinen persönlichen Freiraum wieder. Plötzlich fröstle ich. Dadurch, dass wir lange nah beieinandergestanden haben, habe ich mich an die starke Ausstrahlung seiner Körperwärme gewöhnt. Unauffällig knöpfe ich den Mantel zu und umfasse meine Handtasche fester. Dex bietet mir seinen Arm an, den ich, ohne zu zögern ergreife und mich bei ihm unterhake.
»Bereit?« Seine tiefe Stimme verursacht mir eine Gänsehaut.
»So bereit ich eben sein kann.« Dex lacht und beugt sich zu mir herunter, während wir den Weg zur Scheune entlang schlendern.
»Es ist nicht die Höhle des Löwen, sondern nur ein Abendessen.« Er schmunzelt amüsiert, mir hingegen ist nicht nach Lachen zumute.
»Ja, mit deinen Eltern, deiner On-off-Freundin, die mir wahrscheinlich die Augen auskratzen wird und jeder Menge fremder Leute, die mir Fragen über den Texas-Wacholder stellen.« Sofort kehrt die Übelkeit zurück.
»Keine Sorge. Du bist ja nicht allein.« Und mit diesem Versprechen stürzen wir uns ins Getümmel.