Leseprobe Flirting with Frost

Kapitel eins

Ich wache auf, weil ich mit dem Kopf gegen kaltes Fensterglas schlage. Langsam öffne ich die Augen und reibe mir mit den Fingern über den schmerzenden Punkt mittig auf meiner Stirn. Der Bus, in dem ich sitze, scheint ein Schlagloch erwischt zu haben.

Ich richte mich auf und lasse den Blick über die übrigen Fahrgäste schweifen. Es sind nicht mehr viele. Vielleicht zehn, mich eingerechnet. Der Großteil ist in New Orleans ausgestiegen. Obwohl die Sonne gerade erst aufgeht und den Himmel in ein hübsches Orange-Rot taucht, schläft niemand. Von meinem Platz im hinteren Teil des Busses kann ich die restlichen Mitfahrer gut beobachten. Einige schauen auf ihr Handy, andere lesen ein Buch, und die nächsten betrachten die an uns vorbeiziehende Landschaft. Weitläufige Moore erstrecken sich links und rechts der Fahrbahn, ebenso wie Sümpfe und Seen, die charakteristisch für die Bayous in Louisiana sind. Ich seufze und präge mir das Bild genau ein. Unberührte Natur kann so schön sein.

Der Bus wird langsamer, und ich werfe einen weiteren neugierigen Blick aus dem Fenster. Wir passieren das grüne Ortsschild, auf dem in großen weißen Buchstaben Silveroaks geschrieben steht.

Das ist es also: mein neues Zuhause. Auf den Straßen ist noch nicht viel los, was mich verwundert. Um halb sieben in der Früh wären in Boston die Ersten schon daran verzweifelt, den richtigen Kaffee für ihren Vorgesetzten zu besorgen. Hier laufen lediglich vereinzelte Jogger über die Bürgersteige und der ein oder andere kommt mit einer Tüte in der Hand aus einer Bäckerei. Sofort beginnt mein Magen zu knurren. Meine letzte Mahlzeit war in … New York? Somit ist Frühstück auf der Prioritätenliste gerade ganz nach oben gerutscht.

Um mich von dem Hunger abzulenken, konzentriere ich mich auf die alten Gebäude, die die Straßen säumen. Sie sind mindestens zwei oder drei Stockwerke hoch. Bestehen aus rotem Backstein oder einer weißen Holzvertäfelung. Manche Häuser haben sogar Säulen vor der Eingangstür! Was sie jedoch alle gemeinsam haben, sind die kunstvoll geschmiedeten Eisengitter der Balkone. Dahinter entdecke ich überall Pflanzen, die den gesamten Ort noch grüner machen, als er ohnehin schon ist. Dort, wo keine Häuser stehen, sind Bäume und spenden Schatten. Dieses kleine Fleckchen Erde strahlt so viel Ruhe und Harmonie aus, wie ich es bisher noch nicht erlebt habe. Ich bin jetzt schon vollkommen verliebt. Der Charme, den die Häuser versprühen, spricht mich viel mehr an, als das Moderne in Boston es je konnte.

Schließlich hält der Bus an einer kleinen Haltestelle vor dem Universitätsgelände. Ich schultere meine Tasche und verabschiede mich von unserem Fahrer, der damit beschäftigt ist, die Gepäckstücke der anderen aus dem dafür vorgesehenen Fach zu hieven. Sein Gesicht hat dabei eine ungesund rötliche Farbe angenommen.

Mit langen Schritten entferne ich mich von der Haltestelle und folge dem Weg, den wir gekommen sind. Silveroaks ist nicht groß, weshalb die Laufstrecken dementsprechend kurz sind. Schon nach einigen Minuten stehe ich vor der Bäckerei, die ich zuvor bereits gesehen habe: Polly’s Pastries. Durch die große Scheibe mit dem Schriftzug erkenne ich, dass nur vereinzelt Tische besetzt sind. Perfekt. Dann kann ich in Ruhe frühstücken.

Ein Glöckchen klingelt, als ich eintrete und übertönt das laute Knurren meines Magens. Mich empfängt direkt der Geruch von Kaffee und frischgebackenem Gebäck. Einfach himmlisch! Kleine runde Tische mit hübschen Blumenarrangements stehen vor den großen Fenstern und bieten eine großartige Möglichkeit, die Hauptstraße und eine malerische Seitengasse zu betrachten.

Meine Tasche fällt mit einem dumpfen Geräusch zu Boden, als ich auf einen der Hocker direkt an der Theke sinke. Es dauert keine drei Sekunden, bis eine blonde Frau vor mir auftaucht und mich freundlich anlächelt. Ihr Haar trägt sie in einem Dutt, und der Pony reicht ihr bis knapp über die Augenbrauen. Die Sommersprossen in ihrem Gesicht lassen sie jünger wirken, als sie vermutlich ist.

»Guten Morgen! Willkommen im Polly’s Pastries. Ich bin Polly, was darf es sein?« Ihre blauen Augen funkeln vergnügt, während ich einen kurzen Blick auf die kreidebeschriebene Tafel hinter ihr werfe. Dabei steht meine Bestellung schon längst fest.

»Kaffee bitte«, erwidere ich ebenfalls lächelnd. »Groß und schwarz. Und was riecht hier so verdammt verführerisch?«

Polly lacht, während sie die beeindruckende Kaffeemaschine in meiner unmittelbaren Nähe zum Leben erweckt. »Das sind die Bagels, die gerade aus dem Ofen kommen. Möchtest du einen?«

Ich nicke begeistert, und mein Magen stimmt durch lautes Knurren ebenfalls zu. O Mann, ich muss dringend etwas essen.

»Ich habe dich hier noch nie gesehen. Bist du neu in der Stadt?« Die junge Frau mustert mich interessiert, als sie mir eine dampfende Tasse hinstellt. Sofort nehme ich einen Schluck und seufze verzückt auf. Das schmeckt so viel besser als dieses wässrige Gesöff am Busbahnhof, was die Mitarbeiter als Kaffee bezeichnet haben.

»Ich fange morgen mein Studium an der Silveroaks Park an«, erkläre ich. »Aber ich bin eben erst angekommen.«

Polly wirft mir einen mitfühlenden Blick zu. Fünfundzwanzig Stunden habe ich in diesem Bus gesessen, der mich hierher gebracht hat.

In ein neues Leben.

In Sicherheit.

Fünfundzwanzig Stunden, die mir sicherlich anzusehen sind. Wie gut, dass hier kein Spiegel in der Nähe ist, der mir das beweist.

»Es freut mich, dich in Silveroaks willkommen zu heißen …« Fragend sieht Polly mich an, während ich mir innerlich mit der Hand gegen die Stirn klatsche. Stimmt, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.

»Eliza«, entgegne ich und lächle entschuldigend. Polly erwidert es direkt. Es ist schön, dass die erste Person, auf die ich hier treffe, direkt so sympathisch ist. »Wieso hast du die Einführungswoche verpasst? Da freuen sich viele Studierende am meisten drauf.«

Sie schiebt einen Teller mit dem größten Bagel, den ich jemals gesehen habe, über den Tresen. Er ist mit Frischkäse bestrichen und mit Rucola, Gurken und Tomaten belegt und sieht einfach unglaublich aus, weshalb ich keine Sekunde länger warte und sofort herzhaft hineinbeiße.

»Ich habe meine Mom in New York besucht«, erkläre ich, nachdem mein Mund wieder leer ist. »Deshalb habe ich es erst jetzt geschafft.« Bei der Erinnerung an die letzten sieben Tage lächle ich. Es war erholsam, mich nach langer Zeit mal wieder nur auf mich zu konzentrieren. Dinge zu tun, die ich machen wollte, ohne vorher jemanden um Erlaubnis zu bitten. Mich von Mom umsorgen zu lassen, wie sie es früher oft getan hat, als wir noch zusammen gelebt haben. Dieses Gefühl der Geborgenheit habe ich in den letzten Monaten, vielleicht sogar in den vergangenen Jahren vermisst. Und weil ich weiß, dass ich Mom eine Weile nicht sehen werde, waren unsere gemeinsamen Tage in New York umso schöner.

Mein Gegenüber verzieht die Lippen zu einem Grinsen. »Ich habe mir schon gedacht, dass du von weiter wegkommst.« Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen. Steht mir das etwa auf der Stirn geschrieben?

»Dir fehlt unser charmanter Südstaatenakzent.« Ich will gerade erwidern, dass ich ihren Akzent eher verwirrend als hinreißend finde, als die Tür der Bäckerei aufgestoßen wird, und vier junge Männer mit riesigen Sporttaschen eintreten.

»Polly-Baby! Wir brauchen Kaffee to go.« Ich ziehe die Augenbrauen in die Höhe.

Der Kleinste von allen hat das Wort an die sympathische Bäckerin gerichtet, die kurz eine Grimasse in meine Richtung schneidet und sich dann ihren neuen Kunden zuwendet.

»Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass du mich nicht Baby nennen sollst, Baby

Neugierig beobachte ich, wie sie sich über den Tresen lehnt und den vorlauten Typen küsst. Ich grinse in meinen Kaffee, während Polly die gewünschte Bestellung zubereitet.

Immer mehr Studierende betreten die Bäckerei, allerdings sind die längst nicht so laut wie die Gruppe um Pollys Freund. Die Vier lachen, scherzen, und ich komme nicht drum herum, festzustellen, wie attraktiv sie sind. Drei von ihnen sind mindestens eins, fünfundachtzig groß und breit gebaut. Definitiv Sportler. Sie haben kantige Gesichtszüge und kein Gramm Fett am Körper. Das können nicht einmal die lässig sitzenden Trainingsanzüge verstecken.

Plötzlich hebt einer von ihnen den Kopf und sieht mich direkt an. Seine besonderen Augen brennen sich dabei förmlich in mein Innerstes. Sie sind nicht richtig blau, aber aufgrund der Entfernung kann ich nicht erkennen, mit welcher Farbe sie zusätzlich gemischt sind.

Für einen Moment gerät mein Herz ins Stolpern, um dann in doppelter Geschwindigkeit weiterzuschlagen. Was zur Hölle soll das, lieber Körper? Ich bin nicht hier, um Männer kennenzulernen. Das steht auf meiner Prioritätenliste weit unten.

Trotzdem werden meine Wangen rot, was nicht nur an dem intensiven Blick des Fremden liegt. Beim Starren erwischt zu werden, ist peinlich. Aber genauso schnell, wie dieser Moment begonnen hat, ist er auch schon wieder vorbei. Nach wenigen Sekunden, die sich für mich wie die Ewigkeit anfühlen, bricht er den Blickkontakt ab und verlässt mit seinen laut diskutierenden Freunden die Bäckerei.

Schlagartig wird es ruhiger. Ich schüttle kurz den Kopf, um wieder klar denken zu können und mich erneut meinem Frühstück zuzuwenden.

»Entschuldige, Flynn und seine Mitbewohner brauchen besondere Aufmerksamkeit.«

Lachend lehne ich mich auf den Tresen. »Das habe ich bemerkt. Die Vier nehmen eindeutig viel Raum ein, wenn sie auftauchen.«

Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich darüber nach, sie nach dem Typen mit den blauen Augen zu fragen, verwerfe die Idee jedoch wieder. Ich bin nach Silveroaks gekommen, um einen Neuanfang zu schaffen. Um wieder mit mir selbst ins Reine zu kommen. Ich will herausfinden, wer ich ohne einen Partner bin, der seine Bedürfnisse in den Vordergrund stellt und mich damit zurückdrängt. Ein neues Leben beginnen, was ich mir sicher nicht direkt durch eine Liebelei mit einem Mann versaue.

»Sag mal, kennst du ein Hotel oder Bed & Breakfast hier in der Nähe? Ich brauche ein paar Stunden Schlaf.« Polly sieht aus, als könnte sie gar nicht glauben, wonach ich sie frage. Ich schlucke den restlichen Bagel hinunter und setze zu einer Erklärung an.

»Hier zu studieren, war eine sehr spontane Entscheidung.« Dabei ist das die Untertreibung des Jahres. Es ist die impulsivste Aktion, die ich jemals gestartet habe. In meiner Reisetasche befinden sich lediglich meine Schlittschuhe, die nötigste Kleidung, wichtige persönliche Bilder, ein Jahresvorrat von meinen liebsten Kokospralinen und so viel Bargeld, wie ich in Boston und New York pro Tag abheben konnte. Was ungefähr 8000 Dollar sind. »Ich habe letzte Woche nach freien Zimmern geguckt, bin aber nicht fündig geworden. Meine Hoffnung ist, dass ich am College jemanden treffe, der noch Mitbewohner sucht oder bereit ist, eine neue WG zu gründen.« Polly kratzt sich nachdenklich am Kinn.

»Die Straße runter ist Bobs B&B. Aber Flynns Zimmer ist auch frei geworden, und soweit ich weiß, wurde es noch nicht vermietet.«

Ich schnaube. »In der testosterongeladenen WG von eben? Nein, danke.«

»Glaub mir …« Sie lacht und geht langsam rückwärts. »Du wirst auf dieses Angebot zurückkommen. Bobs B&B ist … speziell.« Im Leben werde ich nicht mit diesen Typen zusammenwohnen. Ich habe in den vergangenen Jahren gemeinsam mit einem Mann gelebt. Mit einem Sportler. Daher weiß ich, auf was ich mich einlassen würde. Stattdessen will ich mich lieber auf mich konzentrieren. Ein paar nette Mädels finden, mit denen ich in eine süße Wohnung ziehen kann. Ruhige WG-Abende veranstalten, statt übertragene Spiele einer Sportart anzusehen, die mich überhaupt nicht interessiert. Lautem, tiefen Grölen zuzuhören, dass selbst durch die Wände meines Zimmers dringt. Nein, danke. Aber das spreche ich nicht laut aus, denn Polly ist die einzige Person, die ich bisher kenne, und sie war wirklich freundlich zu mir. Deshalb lege ich auch einen zwanzig Dollar Schein zwischen meinen leeren Teller und die Tasse, schnappe mir meine Tasche und winke ihr noch einmal zu, bevor ich nach draußen auf die Straße trete.

Bobs B&B, das klingt doch ganz freundlich. Auch wenn es mich irritiert, dass die Geschäfte hier mit dem Vornamen des Inhabers beginnen. Aber vielleicht ist das so ein Ding in Kleinstädten, wer weiß. In Boston zumindest war alles viel anonymer.

Mit der Tasche über der Schulter schlendere ich durch die inzwischen deutlich belebteren Straßen. In der Ferne sehe ich bereits das Schild des Bed & Breakfast. Als ich dann jedoch davorstehe, schlucke ich.

Von außen sieht es ganz einladend aus. Die Fassade aus rotem Backstein wirkt gepflegt, und die Eingangstür scheint frisch gestrichen worden zu sein. Ähnlich wie Pollys Bäckerei gibt es ein großes Fenster, durch welches ich ins Innere des Gebäudes schauen kann. Aber was ich da sehe, lässt einen Schauer über meinen Rücken laufen. Viele bunte Farben und Muster, die absolut nicht zusammenpassen. Auf einmal fällt mir Pollys zögerliches Gesicht wieder ein und ihr Kommentar darüber, dass dieses B&B sehr speziell sei. Vielleicht hätte ich während meines Aufenthalts in New York doch intensiver nach einer Wohnung suchen sollen.

Seufzend öffne ich die knarrende Eingangstür. Frisch gestrichen, aber nicht geölt. Merkwürdig. Mit gestrafften Schultern betrete ich den Eingangsbereich.

»Es sind nur ein paar Nächte«, murmle ich und erinnere mich daran, dass diese Option eindeutig besser ist als eine WG mit drei Sportlern.

Kapitel zwei

Polly hat kein bisschen übertrieben, was ihre Aussage angeht. Das B&B ist mindestens genauso eigenartig wie sein Besitzer. Es dauert fast fünf Minuten, bis jemand an die Rezeption kommt. Das ist genug Zeit, um mich in Ruhe umzuschauen.

Ein furchtbar süßlicher Geruch liegt in der Luft, von dem ich sicher bin, dass es Cannabis ist. Die komplette Inneneinrichtung ist in den Siebzigern stehen geblieben. Überall liegen bunt gemusterte Teppiche herum, die nicht zusammenpassen und mir ein Schwindelgefühl verpassen, wenn ich zu lange draufschaue. Die schweren Vorhänge an den Fenstern im Frühstücksraum haben eine seltsam gelbe Farbe und sind mit großen, braunen Punkten bestickt, die ursprünglich wohl Blumen sein sollten.

»Hallo Freundin des Friedens. Ich bin Bob. Wie kann ich dir helfen?« Aus einer Tür hinter der Rezeption tritt ein Mann mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Er trägt Vollbart, eine blaue Schlaghose und ein geblümtes Hemd, was nicht zum Rest des Outfits passt.

Ich öffne den Mund, um irgendwas zu sagen. Sein Auftreten macht mich allerdings sprachlos. So einem bunten Paradiesvogel bin ich bisher noch nicht begegnet. Er sieht mich abwartend an und als ich meine Stimme nach einer geschlagenen Minute immer noch nicht wiedergefunden habe, redet er einfach weiter.

»In den Achtzigern habe ich mal eine Zeit lang im Kloster gelebt und ein Schweigegelübde abgelegt. Das war sehr erholsam. Man nimmt alles viel intensiver wahr.« Ich runzle irritiert die Stirn. Wieso zur Hölle erzählt er mir das?

»Ich brauche ein Zimmer.« Na, geht doch! Ich danke meinen Stimmbändern im Stillen dafür wieder zu funktionieren. Wer weiß, was er sonst noch für Anekdoten aus seinem Leben ausgepackt hätte. Der Mann schiebt sich seine herzförmige Sonnenbrille ins dunkle, schulterlange Haar und wirft einen Blick in den riesigen Computer vor sich.

»Ich befürchte, ich habe keins frei. Bobs B&B ist ausgebucht.«

Ich weiß nicht, was mich mehr verwirrt. Die Tatsache, dass es genug Leute gibt, die in diesem Haus Urlaub machen, oder dass er von sich in der dritten Person spricht. Einige Sekunden ist nur das Klicken von seiner Maus zu hören.

»Ah nein, du hast Glück. Grade eben hat jemand seine Reservierung online storniert.« Er lacht, während ich nur milde lächeln kann. Auf einmal bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich wirklich hier übernachten will. Aber leider gibt es keine nennenswerte Alternative. Er reicht mir einen Schlüssel mit gelb-orange-blauem Anhänger, auf dem eine 70 steht.

»Nimm die Treppe in den zweiten Stock und dann rechts. Heute Abend treffen wir uns alle im Frühstücksraum, um in der Musik der Siebziger zu schwelgen und das Leben zu feiern. Du bist herzlich eingeladen, dabei zu sein.« Er strahlt förmlich und setzt sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase.

»Danke, ich überlege es mir«, erwidere ich hastig und gehe nach oben.

Jetzt sitze ich hier in einem Zweibettzimmer mit einer so merkwürdig bedruckten Tapete, dass ich das Gefühl habe, mich starren tausend Augen von den Wänden an. Es besteht allerdings die Möglichkeit, dass ich halluziniere. Kann man von Schlafmangel und passivem Cannabis rauchen high werden? Ich sollte dankbar für ein Dach über dem Kopf sein. Aktuell weiß ich jedoch nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Vielleicht überfordert mich auch nur die Situation. Ich bin allein an einem fremden Ort, wo ich niemanden kenne. Normalerweise habe ich mit so was kein Problem, aber diesmal ist es anders. Es ist endgültiger, weil ich mich bewusst hierfür entschieden habe. Für diesen Neuanfang.

Aktuell fühlt es sich jedoch nicht nach Ankommen an. Nichts an diesem Hostel wirkt einladend auf mich. Die Gäste, die mir bisher begegnet sind, sind locker vierzig bis fünfzig Jahre älter als ich und eindeutig Anhänger der damaligen Hippiebewegung. Außer mir scheint niemand Skinny Jeans zu tragen. Stattdessen laufen sie in Schlaghosen und langen, flatternden Gewändern durch die Gegend. Tragen bunte Haarbänder, geblümte Sonnenbrillen und an jedem von ihnen hängt der charakteristische Geruch von Gras. Aber ich sage mir immer wieder, dass dieser Ort nur eine Zwischenlösung ist, und ich sicher schnell etwas anderes finde. Denn die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

***

Nach einigen erholsamen Stunden Schlaf sehe ich schleunigst zu, das B&B wieder zu verlassen. Mit einer Sonnenbrille auf der Nase spaziere ich Richtung Campus, um mein Informationsmaterial für die morgen beginnenden Kurse abzuholen. Dabei bewundere ich das schöne Gelände der Silveroaks Park. Alle Collegegebäude sind aus rotem Backstein.

Jeder lange Weg ist mit großen, dicken Bäumen gesäumt, die bestimmt schon mehrere hundert Jahre hier stehen. Ihr dichtes, grünes Blätterdach spendet vielen Studierenden Schatten, die sich zum Lernen nach draußen verzogen haben und auf den Grünflächen liegen, die sich vor den Gebäuden erstrecken. Es ist ganz anders als zu Hause in Boston, wo die Straßen voller Geschäftsleute sind, die eilenden Schrittes und mit gehetztem Gesichtsausdruck von einem Termin zum nächsten müssen. Wo man Rasen nur in den spärlich vorhandenen Parks findet.

Mein erstes Ziel ist das Studentenwohnheim, das sich etwas abseits des Campus befindet. Die Gebäude sind mit weißem Holz vertäfelt. Wieder andere haben beeindruckend aussehende Säulen vor den Türen stehen. Laut Wegweiser sind das die Verbindungshäuser.

Ich drücke die Eingangstür des Wohnheims auf und werde von einer enormen Geräuschkulisse empfangen. Überall wuseln Studierende durch die Gegend. Direkt vom Eingang abgehend ist ein Aufenthaltsraum, der ebenfalls prall gefüllt ist. Die Atmosphäre hier begeistert mich, und ich weiß instinktiv, dass es mir gefallen würde, hier meine Studienzeit zu verbringen. Nachdem ich mich durchgefragt habe, stehe ich schließlich vor dem Büro der Wohnheimleitung und klopfe zaghaft an.

»Herein!«. Ich trete ein und finde eine Dame mittleren Alters hinter ihrem Schreibtisch vor. Sie lächelt freundlich und betrachtet mich durch die ihre große Brille, die beinahe ihre gesamte obere Gesichtshälfte bedeckt.

»Wie kann ich dir helfen?«

»Mein Name ist Eliza Scott. Ich fange morgen mein Studium an und wollte fragen, ob im Wohnheim eventuell noch ein Zimmer frei ist.« Mein Herz klopft schnell in meiner Brust. Das hier wäre die unkomplizierteste Lösung, um aus dem B&B rauszukommen, doch leider schüttelt mein Gegenüber den Kopf.

»Alle Zimmer sind bereits belegt. Tut mir leid. Versuch es gern zum Beginn des nächsten Semesters noch mal.« Sie lächelt mich entschuldigend an. Ich versuche den Kloß herunterzuschlucken, der sich in meinem Hals bildet. Ein halbes Jahr werde ich kaum bei Bob aushalten, ohne selbst marihuanaabhängig zu werden.

Ich räuspere mich und erwidere ihr Lächeln. »Trotzdem vielen Dank für Ihre Zeit.«

Ich verlasse das Büro, und eine Welle der Enttäuschung flutet meinen Körper. Mein nächster Stopp ist das schwarze Brett in der Mensa, doch auch hier bleibe ich erfolglos. Jede Wohnungsanzeige ist bis auf den letzten Schnipsel abgegrast. Ich habe also keine Chance, jemanden diesbezüglich zu kontaktieren.

Langsam macht sich Verzweiflung in mir breit. Ich hätte die Einführungstage doch nicht verpassen und mich auf die Zimmersuche konzentrieren sollen. Stattdessen musste ich unbedingt noch mal nach New York und meine Mom besuchen.

Niedergeschlagen kehre ich ins Bed & Breakfast zurück, um mich dort ein wenig mit dem Infomaterial und dem Lageplan des Colleges zu beschäftigen.

Leider haben die restlichen Gäste andere Pläne. Den kompletten Abend und die halbe Nacht wird mit Led Zeppelin, Pink Floyd und Aerosmith gefeiert, wodurch mir wichtige Stunden Schlaf genommen werden, weil ich kaum ein Auge zubekomme.

Am nächsten Morgen fühle ich mich noch geräderter als nach der mehrstündigen Busfahrt. Schnurstracks laufe ich in Pollys Bäckerei, um ihr zu verkünden, dass sie recht hatte, und ich das Zimmer ihres Freundes liebend gern mieten würde. Momentan wäre sogar das Zusammenleben mit einem wildgewordenen Bären attraktiver für mich, als noch eine weitere Nacht in diesem verfluchten B&B zu bleiben.

Leider hat Polly nicht die Frühschicht, weshalb ich mir einen Kaffee bestelle und die Zeit bis zum Beginn der Vorlesung an einem der kleinen Tische am Fenster verbringe. Eigentlich sollte ich aufgeregt sein. Immerhin beginnt heute offiziell der erste Tag meines neuen Lebens! Stattdessen bin ich komplett übermüdet und danke dem lieben Gott im Stillen, dass es Kaffee gibt. Ohne den wäre ich vermutlich auf der Stelle eingeschlafen.

Mit einem Espresso to go sitze ich jetzt im Hörsaal und beobachte, wie der sich spärlich füllt.

»Hat dir niemand gesagt, dass man die Einführungswoche zum Feiern nutzen soll und nicht die Nacht vor dem ersten Vorlesungstag?« Überrascht schaue ich auf. Eine junge Blondine hat sich auf den freien Platz neben mir fallen lassen und funkelt mich aus ihren grünen Augen belustigt an. Ihr Make-up sitzt perfekt, ihre Locken scheinen von Engeln gedreht worden zu sein, und das weiße Sommerkleid schmeichelt ihrer Figur. Sie wirkt wie aus dem Ei gepellt. Ich hingegen habe meine widerspenstigen braunen Naturlocken in einem Zopf zusammengefasst, mich notdürftig geschminkt, um die Augenringe und den fehlenden Schlaf zu verdecken, und mir schlichte Jeansshorts und ein altes Band T-Shirt übergeschmissen. Im Vergleich zu ihr sehe ich aus wie eine Vollkatastrophe.

Seufzend fahre ich mir mit den Händen übers Gesicht. »Mir brauchst du das nicht sagen. Ich wohne in diesem schrägen B&B, dessen Besitzer nicht weiß, dass wir inzwischen im 21. Jahrhundert angekommen sind. Die anderen Gäste haben mich heute Nacht kaum schlafen lassen.«

»Du wohnst bei Bob? Mein Beileid.« Sie wirft mir einen mitfühlenden Blick zu.

»Ganz ehrlich? Ich erwäge, heute Nacht auf einer Parkbank zu übernachten.« Sie lacht, als ich eine Grimasse ziehe, dabei ist das mein voller Ernst.

»Dann bin ich vielleicht deine Retterin in der Not.« In Sekundenschnelle bin ich hellwach und sehe sie aufmerksam an. »Aber zuallererst: Ich bin Maddie.«

»Eliza, es freut mich, dich kennenzulernen. Also … wie kannst du mir helfen?«

Sie setzt ein geheimnisvolles Lächeln auf und beugt sich ein Stück in meine Richtung. Während ich auf ihre Antwort warte, kippe ich meinen Espresso runter.

»In der WG meines Bruders ist ein Zimmer frei.«

Beinahe hätte ich ihr den Kaffee ins Gesicht gespuckt. »Nicht dein Ernst?«

Sie nickt triumphierend und ich kann mein Glück kaum fassen. »Soll ich ihm schreiben, dass ich jemanden kenne, der sich dafür interessiert?« Ich bekomme gerade noch ein Nicken zustande, bevor die Flügeltüren des Vorlesungssaals aufgerissen werden, und ein junger Mann hereinstürmt.

»Ihr seid also mein neuer Schauspielkurs? Wie famos!« Ich unterdrücke ein Lachen, und Maddie kichert. Famos, wer drückt sich denn heute noch so aus? Ungeduldig klatscht der Mann in die Hände.

»Setzt euch schon in Bewegung, meine Lieben. Hopp, hopp. Alle auf die Bühne.« Insgesamt stehen etwa zwanzig Studierende auf. Mehr sind wir nicht. Deshalb hatte ich also keine Probleme, den Kurs zu belegen. Bisher habe ich keine schauspielerische Erfahrung, aber es war neben englischer Literatur die einzige Möglichkeit, noch ins aktuelle Semester zu rutschen. Ob ich das noch bereuen werde, wird sich in den kommenden Wochen rausstellen.

»Ich bin Neal, euer Dozent und bevor wir richtig anfangen, müssen wir uns erst mal locker machen. Schauspiel ist eine Kunst, und das Wichtigste ist, dass ihr keine Hemmungen habt, wenn ihr euch auf der Bühne bewegt. Jedem ist die Evolutionstheorie ein Begriff?«

Vereinzeltes Nicken. Andere sehen genauso verwirrt aus wie ich bezüglich des abrupten Themenwechsels. Auch Maddie scheint darüber nachzudenken, ob sie im richtigen Raum ist. Zeit für Fragen bleibt allerdings nicht, denn Neal redet ohne Punkt und Komma weiter. Er erklärt uns das sogenannte Evolutionsspiel, durch das wir miteinander in Kontakt kommen sollen. Jede Evolutionsstufe hat bestimmte Bewegungen, die wir mit dem Körper darstellen müssen. Wenn wir jemanden auf derselben Stufe treffen, entscheidet das klassische Duell Schere, Stein, Papier, wer sich von beiden weiterentwickelt. Das Spiel ist erst vorbei, sobald sich nur noch jeweils eine Person auf jeder Entwicklungsstufe befindet, und es somit keine Möglichkeit mehr gibt, aufzusteigen. Ist simpel, klingt dämlich, macht aber verflucht viel Spaß, wie ich feststelle.

Während ich erst als Amöbe über die Bühne schwimme, dann versuche, eine Schlange zu imitieren und mir schließlich als Affe mit den Fäusten auf der Brust herumtrommle, fällt tatsächlich die Anspannung und Müdigkeit von mir ab. Und da alle anderen auch ziemlich lustig dabei aussehen, dauert es nicht lange, bis jeder von uns deutlich gelassener wirkt. Anschließend stellen wir uns in einem Kreis auf und starten eine Vorstellungsrunde. Allerdings nicht so, wie man es normalerweise macht. Nein, Neal möchte, dass wir unseren Vornamen nennen und ein Obst mit demselben Anfangsbuchstaben. Dabei darf sich selbstverständlich nichts doppeln und jeder muss die bisherigen Namen und Obstsorten wiederholen, bevor die eigene Konstellation genannt wird.

Nachdem Maddie Mango und ich fertig sind, stößt sie mir mit ihrem spitzen Ellenbogen in die Rippen.

»Du kannst um kurz nach vier kommen, um dir das Zimmer anzuschauen«, wispert sie, und ich wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen.

»Maddie, du bist meine persönliche Heldin«, gebe ich ebenso leise zurück, was sie zum Lachen bringt und uns einen bösen Blick von Neal beschert. Aber das ist mir egal, denn ich bin froh neben Polly eine weitere Person gefunden zu haben, mit der ich mich gut verstehe.

Vor der Zimmerbesichtigung habe ich keine Zeit mehr, um einen Zwischenstopp im B&B einzulegen. Ich hätte mich gern noch einmal frisch gemacht und kurz geduscht. So muss die Unitoilette herhalten, wo ich vor dem Spiegel mein Make-up überprüfe und meine Haare so zusammenstecke, dass sie zumindest halbwegs vernünftig aussehen. Ich fasse sie zu einem Dutt zusammen, lasse ein paar Locken mein Gesicht umrahmen und mache mich auf den Weg.

Vom Campus aus laufe ich etwa zehn Minuten, bis ich zu dem Gebäudekomplex komme, wo sich die Wohnung befindet. Es ist sehr schön hier, gepflegt, und versprüht den Südstaatencharme, in den ich mich schon während der Fahrt verliebt habe. Die Häuser sind weiß vertäfelt und haben diese hübschen, geschmiedeten Balkone, die ich bei meiner Ankunft in Silveroaks bereits an anderen Häusern bewundern konnte. Auf den ersten Blick würde ich nicht vermuten, dass hier überwiegend Studierende wohnen, aber laut Maddies Ausführungen in der Mittagspause ist genau das der Fall.

Ich komme am Gebäude mit der Nummer zwölf an, gerade als ein junges Paar die Tür öffnet. Sofort nutze ich die Gelegenheit und schlüpfe ins Innere des Hauses.

Die Treppenstufen knarren, während ich in den dritten Stock gehe und untermalen damit meine herumwirbelnden Gedanken. Maddie hat nicht viel über die WG ihres Bruders erzählt. Nur, dass es drei Freunde sind, die alle vier Semester über uns sind. Die Tatsache, dass es ausschließlich Männer sind, stört mich inzwischen nicht weiter, immerhin war ich heute Morgen noch so verzweifelt, dass ich in das Zimmer von Pollys Freund ziehen wollte. Schlimmer kann es kaum werden.

In der obersten Etage befinden sich zwei Wohnungen. Eine mit zwei Namen am Klingelschild, die andere mit vier. Das muss es sein. Ich klingele und warte. Aber niemand öffnet. Verwirrt schaue ich auf mein Handy. Viertel nach vier. Das ist die Uhrzeit, zu der ich hier sein sollte.

Also schelle ich erneut, doch auch diesmal passiert nichts. Verärgert schürze ich die Lippen und werde nach weiteren fünf Minuten sogar richtig sauer. Pünktlichkeit ist eine Eigenschaft, die ich an mir und anderen sehr schätze. Wenn ein Termin zu einer bestimmten Uhrzeit vereinbart wurde, erwarte ich, dass die andere Person ebenfalls zeitig erscheint. Dass darauf in dieser WG offensichtlich keinen Wert gelegt wird, ärgert mich ungemein. Dann hätte ich mich gar nicht so beeilen brauchen!

Energisch klopfe ich gegen die Tür. Verarschen kann ich mich allein. Kaum habe ich die Hand von der Tür zurückgezogen, wird sie aufgerissen. Aha, es ist also doch jemand da.

Ich hebe den Blick und schaue direkt in ein Paar blauer Augen, die mir seltsam bekannt vorkommen. Wobei sie eher graublau sind. Jedes Wort, was ich mir auf dem Weg hierher zurechtgelegt habe, ist plötzlich weg. Mein Kopf ist komplett leer.

»Kann ich dir helfen?« Die Stimme meines Gegenübers ist tief, rau und ziemlich schroff. Ich öffne den Mund und schließe ihn direkt wieder, weil ich keine Ahnung habe, was ich sagen wollte. Es scheint, als hätte mein Gehirn vergessen, wie man spricht.

Stattdessen starre ich ihn an. Sein dunkles Haar ist feucht, als wäre er frisch aus der Dusche gestiegen. Und – holy moly – die Tatsache, dass er nur ein Handtuch um die Hüften geschlungen hat, bestätigt meine Vermutung. Auf einmal wird mir warm, und ich muss kurz schlucken, während mein Blick über seine breite Brust und seinen muskulösen Bauch wandert, bis er schließlich an dem ausgeprägten V hängen bleibt, was in dem Stoff um seine Hüften verschwindet. O heilige Mutter Gottes.

»Also?« Er zieht eine Augenbraue in die Höhe und lehnt sich mit dem Arm gegen den Türrahmen, sodass sein Bizeps stärker hervortritt.

»Ich … ähm … ich …« Herrgott noch mal, Eliza! Reiß dich zusammen. Ist doch nicht das erste Mal, dass du einen fast nackten Mann vor dir stehen hast. Auch wenn er mit Abstand der attraktivste von allen ist. Ich räuspere mich kurz und zum Glück springen genau in dem Moment meine Synapsen wieder an, sodass ich es schaffe, ihm fest in die Augen zu sehen.

»Ich komme wegen des Zimmers.« Na geht doch.

»Das glaube ich nicht.« Ehe ich mich versehe, schlägt er mir die Tür vor der Nase zu.

Sprachlos starre ich sie einen Moment lang an. Habe ich mich vielleicht in der Etage geirrt? Ich ziehe mein neues Handy aus der Tasche, das neben der Nummer meiner Mom jetzt auch Maddies enthält, und überprüfe erneut ihre Nachricht. Haus zwölf, dritte Etage, rechte Tür. Ich bin definitiv richtig. Also klopfe ich noch mal und wenige Sekunden später schaue ich wieder in das attraktive, aber sehr genervt dreinblickende Gesicht des Unbekannten. Inzwischen trägt er eine graue Jogginghose, was mein Kopfkino jedoch nicht zum Stillstand bringt.

»Ich bin mit Nate verabredet. Ist er nicht zu Hause?«

Sein Kiefer zuckt, als er sich umdreht und nach seinem Mitbewohner ruft. Ich versuche, an ihm vorbeizuschauen, um einen ersten Blick in die Wohnung zu werfen. Aber sein breiter und immer noch nackter Oberkörper versperrt mir die Sicht.

»Warte hier«, weist er an, als niemand kommt und schließt erneut die Tür. Ich knirsche mit den Zähnen. Wie unhöflich. Er hätte mir wenigstens anbieten können, drinnen zu warten. Wenn er schon ein Zimmer vermietet, könnte er seinen potenziellen Mitbewohnern gegenüber etwas freundlicher auftreten.

Plötzlich wird die Tür aufgerissen, und ich stehe einem blonden, jungen Mann gegenüber, der mich freundlich anlächelt. Die Ähnlichkeit zu seiner Schwester ist unverkennbar.

»Hey, du musst die Freundin von Maddie sein. Sorry, ich hatte Kopfhörer auf und die Klingel nicht gehört. Ich bin Nate, komm doch rein.« Ich trete ein. Der Typ von eben lehnt mit verschränkten Armen an der Wand und beobachtet mich finster. Als ich an ihm vorbeigehe, nehme ich den herben Duft von Männerduschgel wahr, der von ihm ausgeht. Angestrengt versuche ich nicht zu tief einzuatmen.

»Ich bin Eliza. Danke, dass ich so kurzfristig kommen konnte.« Nate winkt lässig ab. »Ich habe auch schon bei Bob gewohnt. Von daher weiß ich, wie nervenaufreibend das sein kann.«

Ich lache, kann mich aber nicht richtig entspannen. Mein Nacken kribbelt, weil ich immer noch den Blick des jungen Mannes auf mir spüre, dessen Namen ich jetzt endlich erfahre. »Unser Herzblatt Connor hast du ja schon kennengelernt.«

Ich nicke, ohne mich umzudrehen. Solange er in der Nähe ist, traue ich meinem Körper nicht und so einen Totalausfall wie eben an der Tür will ich ungern ein zweites Mal riskieren.

»Außer uns wohnt hier noch Ethan, aber der ist unterwegs.«

Während Nate redet, folge ich ihm durch den breiten Flur, der in einem riesigen Wohnzimmer endet. Gut, es ist mehr ein Wohn- und Essbereich mit offener Küche, allerdings durchaus eindrucksvoll. Große, bodentiefe Fenster spenden reichlich Tageslicht und ich bewundere den Ausblick auf die sumpfige Moorlandschaft, die sich hinter den Gebäuden erstreckt. Am Ende des Raumes, gegenüber der Küche, führt eine schmale Wendeltreppe in eine weitere Etage.

Obwohl die Außenfassade des Hauses alt wirkt, ist im Inneren alles sehr modern. Die Wände sind in schlichten Cremefarben gehalten. Die Einrichtung im Wohnzimmer ist recht minimalistisch und konzentriert sich auf zwei Sofas, einen Couchtisch, einen Esstisch und vier Stühle. Im Gegensatz zum B&B strahlt die Wohnung eine Stille aus, die mich direkt beruhigt.

»Hier halten wir uns die meiste Zeit auf. Ethan und ich schlafen oben und haben ein eigenes Badezimmer. Du und Connor würdet euch die untere Etage teilen.« Mein Blick zuckt über die Schulter, aber Connor ist nicht mehr da. Er scheint sich in sein Zimmer zurückgezogen zu haben. Ist vielleicht auch besser so. Ohne seine Anwesenheit habe ich direkt das Gefühl, etwas freier atmen zu können, und mein Herzschlag normalisiert sich langsam. Mein Auftritt an der Tür war echt megapeinlich.

»Das hier wäre dann dein Zimmer.« Nate öffnet eine Tür im Flur kurz vor dem Wohnzimmer. »Es ist leider das Kleinste in der Wohnung und hat auch keinen Balkon.«

Er klingt zerknirscht, so als würde er befürchten, dass ich deshalb abspringen könnte. Dabei stört mich das nicht im Geringsten.

Es ist deutlich größer als mein jetziges Zimmer im B&B und bietet Platz für ein Bett, einen Kleiderschrank und einen Schreibtisch. Mehr brauche ich ohnehin nicht.

»Flynn holt seinen Kram die Tage noch ab, aber er hat zugesagt, dass sein Nachmieter die Möbel übernehmen kann.« Ich nicke geistesabwesend, da ich gedanklich bereits alles einrichte. Ein kleines, durchaus interessantes Detail dringt dann jedoch erst zu mir durch.

»Warte mal, hast du grade Flynn gesagt? Wie Pollys Flynn?« Ich sehe Nate mit großen Augen an, bis es mir auf einmal klar wird. Deshalb kamen mir Connors blaugraue Augen vorhin so bekannt vor! Weil wir uns bereits gesehen haben. Gestern in Pollys Bäckerei.

Da stehe ich tatsächlich in der Wohnung von den vier Testosteronbomben, die ich nur als Notlösung in Betracht gezogen habe. Was das Schicksal sich dabei wohl gedacht hat?

Jetzt scheint auch Nate mein Gesicht zuordnen zu können, denn ein breites Grinsen breitet sich auf seinen Lippen aus.

»Du warst gestern im Pollys Pastries und hast wie eine ausgehungerte Löwin einen Bagel verputzt.« Hitze schießt mir in die Wangen. So habe ich hoffentlich nicht ausgesehen.

»Ich nehme das Zimmer«, erwidere ich hastig, um das Thema zu wechseln. »Sofern deine Mitbewohner damit einverstanden sind.«

»Sind sie nicht«, brummt es von der Tür aus.

»Sind sie total«, entgegnet eine mir unbekannte Stimme. »Zwei zu eins, du bist überstimmt, Connor!«

Ich drehe mich um und erkenne einen weiteren Mann neben Connor, der den anderen beiden in Größe, Breite und Attraktivität in nichts nachsteht. Seine Haare haben einen ähnlichen Braunton wie meine, und seine Augen funkeln ebenso braun.

Er hebt die Hand zum Gruß und schiebt sich an Connor vorbei. »Ich bin Ethan.«

»Eliza«, erwidere ich lächelnd. Seine fröhliche Art ist ansteckend und viel angenehmer als Connors Gebrumme.

»Also, die Miete wären dreihundert Dollar plus zwei Monatsmieten als Kaution, um die von Flynn zu ersetzen.« Nate kratzt sich verlegen am Kopf und meidet meinen Blick.

»Kein Problem. Ich würde es direkt bar zahlen, ist das okay?« Sie sehen mich mit großen Augen an. Ethan findet als Erster seine Stimme wieder.

»Wieso hast du knapp tausend Dollar bar dabei?«

»Vielleicht hat sie eine Bank ausgeraubt«, mutmaßt Connor und mustert mich misstrauisch.

»Wenn ich eine Bank ausgeraubt hätte, wäre ich sicher nicht nur mit tausend Dollar verschwunden«, entgegne ich und sehe ihn herausfordernd an. Es ist offensichtlich, dass er nicht damit einverstanden ist, dass ich hier einziehe. Allerdings muss er sich damit jetzt anfreunden und sollte mich dabei nicht unterschätzen.

»Reicht euch die Aussage, dass das Geld nicht von kriminellen Aktionen stammt, sondern dass ich es ganz legal verdient habe?«

»Natürlich reicht das«, entgegnet Nate schnell und wirft seinem Mitbewohner einen düsteren Blick zu.

»Super, wann holt Flynn seine Sachen ab?« Die drei sehen sich an und zucken mit den Schultern.

»Vermutlich kann er heute nach dem Training die meisten Sachen mitnehmen. Dann könntest du morgen schon einziehen.«

Perfekt! Eine weitere Nacht bei Bob überlebe ich bestimmt. Irgendwo in dieser Stadt gibt es sicher eine Drogerie, wo ich Ohrstöpsel kaufen kann. Dann wäre der Lärm wenigstens aushaltbar.

»Was trainiert ihr eigentlich?« Neugierig mustere ich meine neuen Mitbewohner. Gestern in der Bäckerei konnte ich zwar erkennen, dass sie Sportler sind, aber bisher habe ich noch keinen Hinweis darauf gefunden, welche Sportart ihre Leidenschaft ist. Vom Körperbau würde ich auf Football tippen.

»Wir sind die große Hoffnung des Eishockeyteams der Silveroaks Park. Dank uns sind wir schon zweifacher Meister, Baby!« Ethan lacht. Mir ist jedoch nicht danach zumute. Ich schaffe es nicht mal, meine Lippen zur Andeutung eines Lächelns zu verziehen. Es fühlt sich eher an, als würde jemand einen Kübel Eiswasser über mir auskippen.

Ich bemerke Connors fragenden Blick. Er muss mir den Schock bezüglich dieser Information deutlich ansehen.

Drei Eishockeyspieler. Ich werde mit drei Eishockeyspielern zusammenwohnen. Wenn ich dieses Zimmer nicht so dringend brauchen würde, hätte ich die Wohnung jetzt sofort wieder verlassen. Ausgerechnet die Sportler, mit denen ich nichts mehr zu tun haben wollte, werden zu meinen Rettern in der Not. Warum, liebes Universum, musst du mein Leben nur so kompliziert gestalten?

Kapitel drei

Meine neuen Mitbewohner halten ihr Versprechen. Einen Tag später kann ich in das ehemalige Zimmer von Pollys Freund ziehen. Alle seine persönlichen Sachen und Klamotten sind weg. Seinen Schreibtisch und das Bett darf ich behalten, nur der Kleiderschrank zieht in den nächsten Tagen noch aus. Da hat Polly schon lange ein Auge drauf geworfen. Soll mir recht sein. Ich habe ohnehin nicht genug Kleidung, um den kompletten Schrank auszufüllen.

Nate bietet mir an, mich vom B&B abzuholen, doch das lehne ich dankend ab. Erstens laufe ich von dort aus nur etwa zehn Minuten bis zur Wohnung und zweitens kann ich die einzelne Reisetasche, in der sich mein gesamtes Hab und Gut befindet, auch gut allein tragen.

Dementsprechend wenig habe ich einzurichten, als ich mein neues Heim beziehe. Irgendjemand hat freundlicherweise frische Bettwäsche, ein Laken und Handtücher auf dem Bett drapiert. Aufgrund der rosa Farbe und des Blumenmusters der Decke schätze ich, dass es Polly gewesen ist.

Mein Einrichtungsproblem soll sich aber bald ändern, denn ich habe mich mit Maddie verabredet, damit wir gemeinsam ein Möbelhaus in der nächstgrößeren Stadt plündern.

Wenige Tage nach meinem Einzug starten wir direkt nach den Vorlesungen Richtung Covington. Maddie hat ihre Mitbewohnerin Ruby ebenfalls zum Shoppen überredet, sodass wir jetzt zu dritt unterwegs sind. Zu Beginn der Fahrt stellen wir fest, dass wir denselben Kurs über englische Literatur besuchen und haben so eine gute Gesprächsgrundlage.

Ruby ist laut und fröhlich und steht Maddie in Sympathie in nichts nach. Ihre Haut ist von der Sonne gebräunt. Ihre langen, fast schwarzen Haare sind zu zwei Zöpfen geflochten und auf dem Kopf trägt sie einen braunen Cowboyhut.

»Ich bin ein waschechtes Texasgirl«, meint sie grinsend, als sie meinen überraschten Blick bezüglich ihrer Kopfbedeckung bemerkt.

Bisher weiß ich, dass sie bei ihrer Grandma in der Nähe von Beaumont aufgewachsen ist, die dort eine kleine Farm mit Rindern und Pferden betreibt. Das ist ein Traum meiner Kindheitstage! Leute, die ein Leben auf dem Land führen, habe ich schon früher bewundert.

»Und du hast mit deiner gesamten Familie auf der Farm gelebt?« Neugierig werfe ich ihr einen Blick durch den Rückspiegel zu. Für einen Moment legt sich ein Schatten über ihre hübschen Züge, und ich weiß instinktiv, dass ich in ein Fettnäpfchen getreten bin.

»Überwiegend mit meinen Großeltern und Dad. Mom ist vor einigen Jahren gestorben.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Mein Herz wird schwer und sackt nach unten.

»Das tut mir leid.« Sie zuckt kurz mit den Schultern, als wäre der Tod eines engen Familienmitglieds keine große Sache. Bevor ich noch etwas sagen kann, hellen sich ihre Gesichtszüge wieder auf, und der düstere Ausdruck von vor wenigen Sekunden ist wie weggewischt.

»Und wo kommst du her? Bestimmt nicht aus dem Süden.« Ich bestätige Rubys Vermutung mit einem Nicken.

»Geboren bin ich in New York, aber ich habe mein komplettes Leben in Boston verbracht.« Ruby pfeift anerkennend und auch Maddie sieht mich überrascht an.

»Das ist ganz schön weit weg«, stellt sie fest. »Was hat dich dazu gebracht, dir ein College in Louisiana auszusuchen?«

Bei der Frage bekomme ich eine Gänsehaut. Den wahren Grund kann ich ihnen auf keinen Fall nennen, deshalb versuche ich, so ausweichend wie möglich zu antworten.

»Ich wollte etwas Neues ausprobieren. Neue Stadt, neue Leute, neues Leben. Sucht nicht jeder junge Mensch nach solchen Abenteuern?«

Ich klinge fröhlich. Zu fröhlich. Vielleicht auch ein bisschen aufgekratzt, und ich hoffe inständig, dass die beiden meine falsche gute Laune nicht durchschauen.

»Nicht jeder braucht das.« Ich höre Rubys Grinsen, ohne in den Rückspiegel zu gucken. »Unsere Maddie hier kommt nämlich aus New Orleans. Zum Studieren hat sie es nicht weit weggeschafft.«

Maddie funkelt ihre Mitbewohnerin böse an. »Man muss nicht zwangsläufig mehrere Bundesstaaten zwischen sich und sein Zuhause bringen«, entgegnet sie aufgebracht, fügt allerdings direkt ein »Sorry Eliza« hinten an.

Lässig winke ich ab. Wenn New York nicht so nah an Boston wäre, hätte ich gern dort studiert. Die Stadt ist wunderschön, und die Universitäten haben einen guten Ruf. Im Endeffekt waren mir die tausend Meilen Entfernung dann aber doch lieber.

»Außerdem hätten meine Eltern es sowieso nicht erlaubt, dass ich zum Studieren wegziehe«, grummelt Maddie. »Dafür habe ich sie mit der Wahl meiner Studienfächer ziemlich auf die Palme gebracht.«

Jetzt grinst sie wieder, und Ruby lacht, während ich verwirrt zwischen den beiden hin- und herblicke.

»Was ist denn mit deinen Eltern?« Maddie wird rot, was Ruby nur noch lauter lachen lässt.

»Maddies Familie ist stinkreich. Ihr Vater produziert irgendeinen teuren Bourbon, der in die ganze Welt verschifft wird.«

»Und was ist daran so schlimm?« Ich verstehe das Problem nicht. Meine Freundin seufzt.

»An und für sich nichts. Dad wünscht sich nur, dass Nate und ich das Familienunternehmen weiterführen, wenn er es nicht mehr kann. Mein lieber Bruder hatte jedoch schon immer diesen surrealen Traum, Eishockeyprofi zu werden, und ich interessiere mich nicht sonderlich für Bourbon. Das findet Dad scheiße.«

Überrascht ziehe ich die Augenbrauen hoch. Bisher habe ich Maddie als jemanden wahrgenommen, der versucht, es jedem recht zu machen. Dass sie in diesem Fall für ihre Träume eingestanden ist und sich nicht dem Willen ihrer Eltern gebeugt hat, finde ich bewundernswert und mutig.

»Was machen denn deine Eltern so?«, fragt Maddie schließlich, als sie von der Interstate auf eine Landstraße abbiegt, die uns auf direktem Weg nach Covington bringt.

»Meine Mom arbeitet als Assistentin der Geschäftsleitung in einem großen Konzern in New York. Mein Dad war Feuerwehrmann.« Für einen Moment ist es mucksmäuschenstill im Auto.

»War?«, wiederholt Ruby leise, und ich nicke. »Er ist beim Einsturz der Twin Tower am elften September gestorben.«

Betretenes Schweigen macht sich zwischen uns breit, was ich schnellstmöglich wieder kitten will. »Damals war ich noch klein. Alle Erinnerungen an ihn sind von Fotos und Erzählungen. Ich bedaure nur, dass ich ihn nie richtig kennenlernen durfte und er mich nicht aufwachsen sehen kann.«

»Das verstehe ich«, murmelt Ruby, die bestimmt an ihre verstorbene Mutter denkt.

»Aber warte mal. Deine Mom arbeitet in New York, obwohl ihr in Boston wohnt? Das ist ein langer Arbeitsweg.« Maddie sieht mich stirnrunzelnd an. Ich lache dankbar für die Auflockerung der Situation.

»Nein, nein. Sie fährt keine dreieinhalb Stunden zur Arbeit, keine Sorge. Vor ein paar Jahren hat sie ihren jetzigen Ehemann Jeff kennengelernt. Er war Spieler bei den Boston Red Sox

Als die beiden mich verständnislos anblicken, seufze ich. »Baseball.«

»Ahhhhh«, erklingt es unisono.

»Irgendwann hat er ein Angebot von den New York Yankees bekommen, es angenommen, und meine Mom ist mit ihm umgezogen.«

»Und du bist allein in Boston geblieben? Krass.« Maddie ist sichtlich beeindruckt, was Rubys Aussage bestätigt, dass ihre Mitbewohnerin ziemlich familienbezogen ist. Moms Umzug war damals keine große Sache für mich. Immerhin war ich schon fast zwanzig und hatte zu dem Zeitpunkt noch meine Freunde, die für mich da waren. Dadurch war es leicht, die Entscheidung zum Bleiben zu treffen.

Maddie stellt den Wagen auf einem kleinen Parkplatz mitten in der Stadt ab. Die Häuser hier sehen ähnlich aus wie in Silveroaks und haben denselben südstaatlichen Charakter. Vereinzelt sehe ich Pferdekutschen, Touristen durch die Gegend fahren. Mit Kutschern, die einen Frack und Zylinder tragen. Wie abgefahren ist das denn?

Zuerst steuern wir ein Einrichtungshaus an, wo wir uns mit jeglicher Art von Deko eindecken. Kerzen, Bilderrahmen und Zierkissen wandern in unsere Einkaufskörbe. Besonders stolz bin ich auf eine Lichterkette, die man sich wie einen Sternenhimmel an die Zimmerdecke hängt. Beim Anbringen werde ich zwar definitiv Hilfe benötigen, aber Ethan oder Nate kann ich sicher fragen.

Ich nehme sogar eine kleine Topfpflanze mit, in der Hoffnung, dass sie nicht direkt innerhalb der nächsten Wochen stirbt. Im Gegensatz zu den anderen Bewohnern von Silveroaks habe ich zwar keinen grünen Daumen, hoffe jedoch, dass ihr Talent auf mich abfärbt. Neben der Deko findet auch Bettwäsche und eine hübsche blau-weiß geblümte Tagesdecke ihren Weg in meinen Wagen sowie zwei Kleiderstangen. Der Schrank steht inzwischen bei Polly und Flynn in der Wohnung.

Wir bringen die schweren Taschen und Kartons zu Maddies Auto und beschließen, unseren Einkaufsbummel fortzuführen. Immerhin muss ich meine Garderobe aufstocken. Mithilfe von Maddie und Ruby kommen zusätzlich zu den gekauften Sachen noch Shorts, Hosen, T-Shirts, Tops und zwei, drei hübsche Kleider dazu. Mit dieser Ausbeute bin ich mehr als zufrieden und sehr beeindruckt, wie talentiert wir beim Verstauen sind. Jetzt habe ich auf der Rückbank von Maddies Mini zwar kaum noch Platz, aber das war es definitiv wert.

Nach einem gemeinsamen Abendessen halten wir gegen halb acht vor der Wohnung.

»Wir hätten vielleicht doch etwas intelligenter packen sollen.« Ruby seufzt und betrachtet das Chaos in Maddies Auto. Beim Einladen haben wir nicht bedacht, dass ich als Erste wieder aussteige. Meine Einkäufe sind nämlich irgendwo unter den Habseligkeiten der anderen versteckt.

»Hinterher ist man immer schlauer. Na los. Lasst uns ausladen.« Maddie krempelt die Ärmel ihrer Bluse hoch und beginnt damit, eine Tasche nach der anderen aus dem Wagen zu holen. Zu dritt tragen wir alles in den dritten Stock, kapitulieren jedoch bei den Kartons mit den Kleiderständern.

»Abstellen! Ich kann es nicht mehr halten«, keuche ich, als mir die Ecke der Verpackung aus den schwitzigen Fingern gleitet. Wir stehen vor der Treppe in den ersten Stock und mir tun die Arme jetzt schon derart weh, dass ich bezweifle, dass wir unfallfrei in die oberste Etage kommen.

»Dann lassen wir die Pakete hier an der Seite stehen, und du bittest morgen die Jungs dir beim Tragen zu helfen«, schlägt Maddie vor. Ich streiche mir einige Locken aus dem Gesicht und nicke. Das klingt nach einem hervorragenden Plan.

Also holen wir noch den zweiten Karton aus dem Wagen und stellen ihn neben den anderen, bevor wir den Rest wieder einräumen. Ich winke den beiden hinterher, als sie davonfahren und gehe hoch in die Wohnung.

Die anderen sind noch beim Training, weshalb die Räume leer und verlassen wirken. Unerklärlicherweise fällt es mir im Moment schwer, allein zu sein. Ein Umstand, der mich früher nie gestört hat. Doch seit ich in Silveroaks bin, habe ich lieber Menschen um mich. Also beeile ich mich damit, mich umzuziehen, schultere meine Reisetasche und mache mich auf den Weg zum College.

Da es schon recht spät ist, kommen mir nur noch wenige Studierende entgegen. Trotzdem grüßt mich jeder, als würden wir uns seit Ewigkeiten kennen. Eine Angewohnheit, die ich als Großstädterin nicht gewohnt bin.

Von Weitem sehe ich bereits das Gebäude, das ich heute Abend besuchen will: die Eishalle der Silveroaks Park. Nicht, um meine Mitbewohner vom Training abzuholen, sondern weil ich hoffe, sie selbst nutzen zu dürfen.

In den letzten Tagen habe ich ein wenig mit Coach Henderson gemailt, und er meinte, dass ich nach dem Eishockeytraining mal vorbeischauen soll, um die Einzelheiten zu besprechen.

Mein Herz klopft heftig, als ich die Tür zur Halle öffne und vorsichtig den Kopf reinstecke. Im Eingangsbereich ist weit und breit niemand zu sehen. Sehr gut. Ich würde meinen Mitbewohnern ungern über den Weg laufen. Es ist nicht so, dass ich mich schäme, Eiskunstläuferin zu sein. Dafür gibt es keinen Grund. Es ist vielmehr eine bewusste Entscheidung meinerseits, dieses Hobby zunächst für mich zu behalten. Ein kleines Privileg, dass ich mir zu Beginn dieses neuen Lebensabschnitts gönne.

Ich durchquere den Eingangsbereich und folge dem genervten Brüllen, was mich direkt zum Herzstück des Gebäudes führt: der Eisfläche. Für einen Moment lehne ich mich gegen die Wand und beobachte das heftige Treiben wenige Meter von mir entfernt. Die Spieler jagen über das Eis, immer hinter dem Puck her, der für meine Augen kaum zu erkennen ist. Es ist eine Weile her, dass ich am Rand einer Tribüne stand, um Eishockeyspielern beim Training zuzusehen. Wenn es nach mir ginge, hätte ich darauf gut und gern weiterhin verzichten können. Aber ich will wieder aufs Eis und wenn das bedeutet, mich mit der Eishockeymannschaft der Silveroaks Park oder ihrem Coach gutzustellen, dann gehe ich diesen Kompromiss ein.

Ein schriller Pfiff lässt mich zusammenzucken und die Spieler anhalten. Reflexartig trete ich ein Stück zurück, dabei würde mich vom Eis aus ohnehin niemand sehen.

»Was war das denn? Da spielen meine Töchter besser Eishockey, und die können nicht mal den Schläger halten!«, brüllt ein Mann mit dunkelblauer Cap. Knapp zwanzig Männer stützen sich auf ihren Schlägern ab und hören ihm zu.

»Stevens, Eishockey ist ein Mannschaftssport. Es bringt nichts, wenn du den Puck allein von einer Seite des Spielfelds zur anderen bringst. Abgeben ist das Zauberwort! McAllister, dein ganzer Körper ist zur Abwehr da. Falls du Angst hast, verletzt zu werden, ist das nicht der richtige Sport für dich! Und Wellington, was war das? Du bist über das Eis getorkelt, als hättest du vor dem Training einen gekippt. Was du hoffentlich nicht getan hast! Eure Kondition nach der Sommerpause lässt zu wünschen übrig. Wir treffen uns morgen eine Stunde früher und analysieren das Videomaterial. Jetzt geht duschen.«

Die Spieler murmeln Verabschiedungen und verschwinden Richtung Umkleide. Erst als alle das Eis verlassen haben, gehe ich die Treppen runter und mache mit einem Räuspern auf mich aufmerksam.

»Mister Henderson? Ich bin Eliza Scott. Wir hatten gemailt.« Der Coach ist ein Mann Mitte vierzig. Die Cap mit dem Universitätslogo hat er tief ins Gesicht gezogen, als er sich zu mir umdreht. Höflich reiche ich ihm die Hand, die er direkt ergreift und kurz drückt.

»Training ist meistens bis acht Uhr. Danach kannst du die Halle haben. Gegen neun kommt dann der Putztrupp, um mit der Zamboni das Eis zu polieren. Am Wochenende ist die Eisfläche tabu wegen der Spiele. Manchmal auch unter der Woche, aber da sage ich dir rechtzeitig Bescheid.«

Mein Herz macht einen Hüpfer. Ich hätte nicht gedacht, dass er direkt zusagt und mich hier trainieren lässt. Also nicke ich schnell, um ihm zu zeigen, dass ich seine Bedingungen verstanden habe und akzeptiere. Mein Blick gleitet über die Bande auf die Eisfläche und sofort breitet sich ein angenehm warmes Gefühl in meinem Körper aus, was ich schon lange nicht mehr gespürt habe. Die Vorfreude gleich wieder in meine Schlittschuhe zu schlüpfen, steigt ins Unermessliche. Trotzdem gibt es noch eine Sache, die ich dringend klären muss.

»Ähm … Coach Henderson?« Der Angesprochene bleibt stehen und dreht sich wieder zu mir um. »Es wäre mir sehr wichtig, dass dieses Arrangement unter uns bleibt.«

Er nimmt die Cap ab und fährt sich mit der Hand einmal durch das leicht angegraute Haar. Seine braunen Augen sehen mich dabei ernst an. »Ich denke nicht, dass es das Team interessiert, ob du hier Pirouetten drehst, Mädchen.«

»Ich rede nicht vom Eishockeyteam, Sir …« Doch noch bevor ich meinen Satz beenden kann, hat er sich wieder umgedreht und stiefelt Richtung Umkleide davon.

Ich schnalze mit der Zunge. Das lief jetzt eher suboptimal. Vielleicht hätte ich in den Mails bereits erwähnen sollen, dass niemand am College erfahren soll, dass ich hier trainiere. Falls das bekannt wird, würde das bedeuten, dass ich mich direkt exmatrikulieren könnte und wieder umziehen müsste. Hoffentlich ergibt sich später noch einmal die Gelegenheit, um in Ruhe mit dem Coach zu sprechen.

Zunächst sinke ich auf eine der Bänke und schlüpfe in die weißen Schlittschuhe, mit denen ich so viele Meisterschaften gewonnen habe. Darüber ziehe ich ein Paar schwarze Stulpen passend zu den dunklen Leggings und dem ebenso dunklen Oberteil.

Ich atme noch einmal tief durch, bevor ich das Eis betrete. Ein Zittern durchläuft meinen Körper. Es fühlt sich an wie nach Hause kommen. An einen Ort, von dem ich viel zu lange fortgeblieben bin.

Rachel Grae’s It’ll Be Okay dringt durch die Kopfhörer in meine Ohren, als ich mich mit dem rechten Fuß abstoße und einen Dreier links vorwärts auswärts laufe. Meine Muskeln entspannen sich mit jeder Sekunde, die ich auf dem Eis bin, und die Anspannung fällt ab. Problemlos übersetze ich rückwärts und wechsle mit einem Mohawk-Schritt die Laufrichtung wieder nach vorn. Mit dem Gewicht auf dem rechten Fuß laufe ich vorwärts einwärts und wechsle kurz auf links, nur um mich wieder nach rechts vorwärts einwärts abzustoßen. Anschließend drehe ich mich nach dem rechts vorwärts einwärts Bogen auf rechts rückwärts auswärts und kreuze mein Spielbein vor dem rechten Bein, um mit einer Pirouette zu starten. Meine Arme liegen eng an meiner Brust und je schneller ich mich drehe, desto befreiter fühle ich mich. Zum Ende hin versuche ich mich an einigen einfachen Sprüngen, um meine Gelenke nach der einjährigen Pause nicht direkt zu überlasten. Es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, als ich mein letztes Training in Boston absolviert habe. Als hätte es diese zwölfmonatige Zwangspause nicht gegeben. Nachdem ich zum Schluss einen doppelten Toeloop gestanden habe, nehme ich schwer atmend die Kopfhörer aus den Ohren und laufe langsam zur Bande.

Mit den heutigen Resultaten bin ich sehr zufrieden. Ein Blick auf die große Uhr am anderen Ende der Halle zeigt, dass es bereits kurz nach neun ist. Die Putzkolonne müsste also jeden Moment aufschlagen. Erstaunlich, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man mit etwas beschäftigt ist, dass man liebt.

»Niemand erfährt, dass du hier bist. Dein Geheimnis ist bei mir sicher, Mädchen.« Beinahe wäre ich ausgerutscht, als die brummige Stimme des Coaches ertönt. Er sitzt neben meiner Tasche auf der Bank und sieht mich an. Ich habe nicht bemerkt, dass er noch mal zurückgekommen ist.

»Wie lange sitzen Sie hier schon?«, frage ich und lasse mich neben ihn sinken.

»Lange genug, um eins und eins zusammenzuzählen«, entgegnet er. »Dein Name kam mir vage bekannt vor, aber ich konnte ihn nicht richtig einordnen, bis ich dich eben auf dem Eis gesehen habe.«

Langsam ziehe ich Stulpen und Schlittschuhe aus und packe sie sorgfältig zurück in die Tasche. Gespannt wartend, was er noch zu sagen hat.

»Eliza Scott an der Silveroaks Park. Die Hoffnungsträgerin der amerikanischen Eiskunstlaufszene mit mehreren Goldmedaillen.« Beeindruckt setze ich mich auf und sehe ihn von der Seite an. Entweder er hat sich schnell ziemlich gut informiert oder er weiß mehr über meinen Sport, als ich dachte.

»Der Dekan wäre begeistert, wenn er davon wüsste. Die Sponsoren und Gelder könnte er gut gebrauchen und so ein Aushängeschild bringt natürlich auf jede erdenkliche Weise Gewinn.« Sofort versteife ich mich.

Coach Henderson muss die Panik in meinem Blick gesehen haben, denn er berührt mich kurz am Oberarm. »Keine Sorge, Mädchen. Von mir erfährt er es nicht.«

Erleichtert atme ich auf, schultere meine Tasche und sehe ihn an. »Danke für Ihre Verschwiegenheit.«

Er brummt nur etwas Unverständliches, was mir signalisiert, dass dieses Gespräch beendet ist. Ich bin schon halb die Treppe rauf, als seine Stimme noch einmal ertönt.

»Hey Mädchen!« Ich bleibe stehen und werfe ihm einen Blick über die Schulter zu. »Das mit deinem Unfall tut mir leid. Du warst sehr gut.«

Meine Brust schmerzt, weshalb ich mit der Hand darüberstreiche. Die Euphorie, die ich eben noch auf dem Eis gespürt habe, fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Er hat Recht. Ich war gut. Extrem gut. Auf dem Weg zu Olympia-gut. Doch selbst wenn ich täglich zum Trainieren herkomme, würde das nichts an der jetzigen Situation ändern. Ich werde nie wieder auf dem Level laufen können wie noch vor einem Jahr. Ganz egal wie sehr ich mich auch anstrenge. Der Unfall, wie Coach Henderson es nannte, und die beiden daraus resultierenden gebrochenen Sprunggelenke machen mir das unmöglich.

Die Ärzte haben meine Karriere noch im Krankenhaus für beendet erklärt. Das war damals ein Schlag ins Gesicht, aber die Erkenntnis trifft mich gerade mit solcher Wucht, dass ich den Schmerz, den ich deswegen fühle, gar nicht in Worte fassen kann.