Leseprobe Föhr immer

Kapitel 1

Dean

Meine Nerven waren kurz vorm Zerreißen.

Mit noch mehr Kraft als zuvor klopfte ich mit dem Handy gegen meinen Oberschenkel. Als ob ich ihm so Leben einprügeln könnte. Himmel! Der Jetlag steckte mir in den Knochen, und klares Denken war heute schwierig. So würde ich in dieser Einöde keinen Empfang erhalten.

Aus zusammengekniffenen Augen sah ich mich um. Grüne Wiesen. Nicht das geringste Anzeichen von Strand, Insel oder Meer. Alles, was ich von der Fähre aus beobachtet hatte, war mit meinem Ausstieg aus dem Bus von Wyk hierher verschwunden. Mitsamt dem Handyempfang.

Weder mein Kunststudium noch die Jobs in Coffeeshops hatten mich je vor die Aufgabe gestellt, ohne Handyempfang ein Problem zu lösen. Verdammt!

Ich atmete lange aus. Weit und breit war nichts vom Hotel meiner Gastfamilie zu sehen. Nur wenige Meter – wie weit das auch immer sein mochte – von der Haltestelle entfernt sollte mein Zuhause für die nächsten sechs Monate sein.

Doch nichts davon war in Sicht. Kein Schild, keine Hotelanlagen. Nur die Mitte von Föhr. Unendliche grüne Weiten. Machten die alle Mittagsschlaf?

Ich sah links und rechts die Straße – den geteerten Weg – entlang. Nichts. Auf der gegenüberliegenden Seite waren Koppeln. Daran schlossen sich landwirtschaftliche Gebäude an. Zumindest hielt ich das Ganze für einen Bauernhof.

Ich war ein vierundzwanzigjähriger New Yorker und würde mich von ein bisschen Orientierungslosigkeit nicht unterkriegen lassen.

Aus den Tiefen meines Inneren zog ich die letzte Entschlossenheit, die ich nach meiner Reise noch finden konnte, und überquerte mit meinem Gepäck auf den Schultern die Straße. Es erschwerte jeden Schritt, doch mit dem Mut der Verzweiflung stapfte ich zwischen den Gattern, die die Wiesen einzäunten, auf die Gebäude zu. Die Kühe darauf warfen mir nur einen kurzen Blick zu und widmeten sich dann wieder ihrem Gras. Die roten Ziegel des Hauses und der Stallungen strahlten mich warm an. Wärmer als alles, was mir bisher auf dieser Insel begegnet war.

Auf dem Hof begrüßten mich nur ein paar Hühner in einem Gehege. Verflixt. Hier war niemand. Ich kramte mein Telefon hervor. Spitze. Auch hier kein Netz. Wo zum Henker war ich hier gelandet? Kommt schon, Tine, Uwe. Direkt an der Bushaltestelle? Wollt ihr mich verarschen?

Ein gellender Schrei riss mich aus meinen Gedanken. Eine Ziege streckte ihren Kopf aus einer Scheune. Und … bellte? Nein, sie gab ein absolut wirres Geräusch von sich. Erneut zuckte ich zusammen. Langsam trat sie vollends aus der Deckung und ließ mich dabei nicht aus den Augen. Ich wich einen Schritt zurück. Die Ziege kam einen Schritt auf mich zu. Schon wieder gab sie ihren bellenden Kreischlaut von sich. Wie zu einem Duell standen wir uns gegenüber.

»He! Was treibst du hier?«

Die unbekannte Stimme überfiel mich von hinten, und ich fuhr herum. Ha. Meine Muttersprache hatte ich schon lang nicht mehr in dieser Tonlage gehört. Hinter mir baute sich ein Kerl in Jeans und groben Schuhen auf und sah mich mit gerunzelter Stirn an.

»Oh. Wow, zum Glück bist du da. Dieses Vieh hier greift mich an.«

»Cindy? Cindy tut keiner Seele was zuleide.«

Um mich komplett blöd dastehen zu lassen, lief Cindy an mir vorbei auf den Typen zu und rieb ihren Kopf an seinem Knie. Er beugte sich zu ihr und tätschelte ihre Hörner, was mir die Gelegenheit gab, ihn zu mustern. Er war wohl etwas älter als ich. Ob er die dreißig schon erreicht hatte? Auf jeden Fall war er der Herr des Hauses. Zumindest strahlte er die entsprechende Autorität aus. Darüber täuschte auch nicht hinweg, wie er mit der Ziege umging. Das Gefühl, er wollte mich mit einer Mistgabel vertreiben, blieb.

Aber seine grimmige Miene war verschwunden, und er lächelte sanft auf diese seltsame Kreatur hinab. Er wirkte nicht mehr bedrohlich, sondern zugänglich. Erst jetzt konnte ich erkennen, wie schön sein Gesicht war. Schön. Neben seinem linken Mundwinkel bildete sich ein Grübchen, das sogar unter den Bartstoppeln zu erkennen war.

Hübsch wahrscheinlich auch. Seine Nase dominant, auffällig genug, um ihn ein bisschen verwegen wirken zu lassen, aber symmetrisch genug, damit er als klassisch attraktiv galt. An seinen vollen Lippen zupfte ein Lächeln, das meinen Blick gefangen hielt. Er strich durch Cindys Haar, und seine Augen strahlten eine Wärme aus, die sich um ihn herum ausbreitete. Seine ganze Körperhaltung hatte sich verändert. Das breite Kreuz wirkte nicht mehr so bedrohlich, sondern beschützend.

»Ach ja? Kann ich sie auch streicheln?«

Der Typ hob den Kopf. Unsere Blicke trafen sich, und seine Entspanntheit verpuffte. Er presste seine Lippen zu einer harten Linie zusammen und starrte mich an. Seine Mimik war wie Tausende kleine Sandkörnchen in einem heftigen Sturm, die gegen nackte Haut getrieben wurden. So intensiv, dass mein ganzer Körper pikste und kribbelte. Um die Vorstellung davon zu vertreiben, rieb ich mir über den Arm.

»Sie ist auf Eindringlinge nicht gut zu sprechen. Du hast hier nichts verloren.«

Welche Laus war dem über die Leber gelaufen? Demonstrativ zog ich eine Augenbraue hoch.

Als Antwort presste er seinen Kiefer stärker zusammen, sodass seine Kinnlinie noch dominanter hervortrat. Wieso waren gutaussehende Typen immer so furchtbar ätzend?

Ich gab es auf. »Wie dem auch sei. Es tut mir leid, dass ich störe, aber ich suche ein Hotel, das hier an der Bushaltestelle sein soll.«

»Hier ist kein Hotel.«

Mein Herz setzte zum Zwischengalopp an und versetzte mich in eine mittelschwere Panik. »Bin ich an der falschen Haltestelle?«

»Woher soll ich das wissen?« Demonstrativ drehte sich Grummel um und marschierte den kurzen Weg zurück zu einer der Weiden. Er öffnete sie und stakste auf einen kleinen Unterstand daneben zu.

Brummend stapfte ich hinterher. »Es ist das Uun’t Waanjhüs«, erklärte ich.

Er hielt kurz inne und ging dann weiter auf ein Quad zu. »Noch nie gehört.«

»Noch nie gehört? Gibt es nicht …? Kannst du nicht …?« Es war zum Verzweifeln. Ich wollte zu meiner Gastfamilie. War ich einem Betrug aufgesessen? »Aber es muss hier sein.«

Mittlerweile war er auf den Sitz des Gefährts geklettert und musterte mich nachdenklich. »Wie, hast du gesagt, heißt das?«

»Uun’t Waanjüs«, quälte ich jedes Wort aus mir heraus, um es korrekt auszusprechen. Mein Deutsch war tadellos. Mein Friesisch hingegen ließ zu wünschen übrig.

Er kniff die Augen leicht zusammen, so als überlegte er krampfhaft, rieb sich das Kinn und nickte kurz. Hoffnung waberte in mir hoch. Bis er in der nächsten Sekunde den Kopf schüttelte. »Ne. Gibt’s nicht.«

»Aber …!« Der Kerl drehte den Zündschlüssel um, und mein Protest ging im Motorengeräusch unter. Ich zuckte zusammen und trat erschrocken zur Seite. In Schrittgeschwindigkeit fuhr er an mir vorbei.

»Kann ich dann wenigstens telefonieren? Ich hab hier keinen Empfang. Ich muss dahin.«

Er fuhr auf die Koppel und stieg von seinem Fahrzeug ab. Nachdenklich kratzte er sich am Kopf. »Ein Hotel sagst du?«

»Ja! Hier!«, schob ich nachdrücklich hinterher. Irritiert hielt ich inne. Was passierte hier?

»Wie heißt es?«

Frustriert warf ich die Hände in die Luft. »Uun’t Waanjüs!«, wiederholte ich ungeduldig.

»Sag noch mal!«

»Juun’t Wäänjüs!« Diesmal betonte ich es ein bisschen amerikanischer. Und ein bisschen lauter. Es stimmte was mit meiner Aussprache nicht. Ich versuchte, mich zu erinnern, wie Tine den Namen des Hotels formuliert hatte. Aber sie hatte immer nur vom Hotel gesprochen.

Der Typ hob einen Finger und deutete auf mich. Seine Augen blitzten auf. »Jetzt, da du es sagst. Irgendwie kommt es mir bekannt vor. Wie heißt es genau?«

»Schluss damit, Arved!« Wir rissen beide unsere Köpfe in Richtung der Stimme, die zwischen uns fuhr.

Hinter mir stand Tine, mit den Händen in die Hüften gestemmt. Obwohl wir bisher nur per Videotelefonie gesprochen hatten, erkannte ich meine Gastmutter sofort. Sie warf Arved einen giftigen Blick zu. Als sie mich ansah, lächelte sie. »Wie schön, dass du es geschafft hast!«

Geschafft war relativ.

»Und du …« Sie zerschnitt die Luft vor ihr mit ihrem Zeigefinger und fuchtelte in Arveds Richtung. »Du kennst unser Hotel sehr wohl.«

»Ach, euer Hotel. Das Uun’t Waanjüs! Natürlich kenn ich das. Aber das hat er nicht gesagt.« Seine Stimme schwang humorvoll. Der Mistkerl! Er presste seine Lippen zusammen. Das Grinsen konnte er sich kaum verkneifen.

Zugegebenermaßen sprach er den Namen anders aus als ich. Dennoch! Verarschte mich der Vollpfosten? Hitze stieg in meine Wangen. Sollte das ein Witz sein? War ich unwissend zu einer Witzfigur gemacht worden? Nun presste ich die Lippen zusammen und starrte den Ziegenflüsterer an. Meinen ganzen Ärger legte ich in meinen Blick. Hoffte ich.

»Aber das Wort Hotel verstehst du schon, oder?«, forderte ich ihn heraus.

Doch der Bauer hob nur seine Schultern.

Sein Mundwinkel zuckte erneut. »Hotels gibt es viele. Und den Namen hast du nicht gesagt.«

Was sollte ich hierauf erwidern? Aber unseren Anstarrwettbewerb würde ich gewinnen.

»Jetzt sammle deine Urlauber ein, Tine, und entschuldige mich. Ich habe zu tun und kann mich nicht um die Bespaßung von Stadtmenschen kümmern.« Er fuhr zu meiner Gastmutter herum.

Leider konnte ich meinen kleinen Sieg darüber, dass er den Blickkontakt als Erster abgebrochen hatte, nicht lange feiern. Was war falsch daran, ein Stadtmensch zu sein? Woher wollte er wissen, ob ich ein Stadtmensch war? Sah man mir New York an? War es meine Kleidung? Meine Jeans war modern weit geschnitten und stylisch. Und meine Schuhe hatten einen Absatz. So what? Ich verheimlichte meinen Glamour mit Sicherheit nicht! Wieso sollte der etwas Negatives sein?

»Ich bin kein Hotelgast.« Irgendetwas musste ich erwidern.

Seine Stirn legte sich in Falten, als überlegte er, was meine Worte bedeuteten. Er sah mich von Kopf bis Fuß an. Unverhohlen. Mit einer Intensität, dass ich sie zwischen dem Aprilwind, der um uns wehte, und meiner Jacke auf meiner Haut spüren konnte. What the fuck?

Sein Blick schnellte zurück in mein Gesicht. »Mhm.«

»Dean ist unser neues Au-pair für die Saison. Und ich wäre froh, wenn du ihn nicht vergraulen würdest. Wir sind auf ihn angewiesen. Oder willst du auf die Kinder aufpassen?«

Arveds Gesicht verzog sich, als ob er auf etwas Saures gebissen hätte. »Red keinen Mist. Und du weißt, dass niemand was auf dem Hof verloren hat.«

»Und du weißt, dass dort drüben unser Hotel ist«, konterte Tine.

»Euer Hotel ja, aber er …«

Tine hielt abwehrend die Hand hoch und Arved verstummte. »Schluss mit den Kindereien. Es geht darum, dass du unsere Gäste nicht vertreiben sollst.«

»Ich dachte, er ist kein Gast?« Arved stellte auf stur und sah Tine herausfordernd an.

»Er hätte es aber sein können. Das geht nicht Arved. Wirklich, egal …« Mit einem frustrierten Laut legte Tine ihre Hand, wie zum Schutz, auf meine Schulter. »Lass uns friedlich koexistieren, ja?«

»Das können wir, Tine, das weißt du. Aber die Leute müssen hier wegbleiben. Das ist kein Spielplatz.«

»Ich tu, was ich kann.« Offenbar waren die beiden zu einer Einigung gekommen.

Cindy kam zu uns und stellte sich neben mich. Sie rieb ihren Kopf an meinem Oberschenkel, gab ihren seltsamen Laut von sich und trottete auf Arved zu, der das Gatter hinter ihnen schloss. Als er mit dem Quad davonfuhr, lief Cindy neben ihm her. Was für ein Duo.

»Willkommen auf Föhr, Dean!« Mit einem schiefen Grinsen hielt mir Tine die Hand hin.

Mit klopfendem Herzen schüttelte ich sie. »Danke dir! Jetzt bin ich ja wirklich angekommen.« Ich sah zurück auf die Weide, auf der Arved verschwunden war. Nicht jeder auf Föhr hieß mich willkommen.

***

Das Hotel lag tatsächlich nur wenige Schritte von der Bushaltestelle entfernt. Schräg hinter Arveds Hof, verborgen von einer eingewachsenen Hecke. Und das Gestrüpp ragte über ein Schild hinweg.

»Wir schneiden das in den nächsten Tagen frei. Wir haben das Hotel noch nicht lange. Erst die dritte Saison. Und immer ist was anderes wichtiger gewesen. Die Renovierung war so unfassbar aufwändig. Aber irgendwann müssen wir uns was für diesen kompletten Verwuchs einfallen lassen.« Sie lief so schnell, dass sie die Sätze mit kurzen Atemstößen vor sich hin feuerte.

Ein grünes Monster. So stellte ich mir die Hecke in Dornröschen vor, hinter der niemand die Prinzessin finden konnte. Genauso wenig wie das Hotel.

»Hier ist die Rezeption.« Tine führte mich über die Anlage und zeigte mir die zentralsten Punkte. Wir liefen das große umgebaute Wagenhaus entlang. Das Erste, was ich davon sah, war das große Tor an der Breite des Hauses zur Straße hin. Es dürfte keinen großen Nutzen mehr haben, gab dem Gebäude aber einen ehrwürdigen, traditionellen Anstrich. Wie eine überdimensionale Scheune, die mehrstöckig im Zentrum des Areals thronte. Von außen in Holz verkleidet ließ jeder Blick durch die Fenster erahnen, dass es modern eingerichtet war. Es erinnerte mich stilmäßig an New Yorker Loftwohnungen mit hohen Decken, alles in Naturmaterialien und hellen, freundlichen Tönen.

»Hier gibt’s das Frühstück für die Gäste.« Hinter den großen Glasfenstern tummelten sich ein paar Leute. »Im Moment trinken einige, die schon von ihren Ausflügen zurück sind, Kaffee in der Lounge.«

Das wäre jetzt nicht schlecht.

»Und hier«, wir umrundeten das Haupthaus und gingen auf ein kleines niedliches Reetdachhaus zu, »wohnen wir.«

»Es ist wunderschön.« Endlich löste freudige Aufgeregtheit meinen Stress ab, und ich betrachtete jeden Winkel der weißen Außenfassade mit den kleinen Fenstern. Das war mein Zuhause auf Zeit.

»So. Das Wichtigste für die Au-pairs gleich mal zuerst: Hier solltest du WLAN haben. Ansonsten ist das Netz hier nämlich nicht sonderlich stabil.«

Das hatte ich schon mitbekommen.

Tine werkelte an der Haustür herum. »Entschuldige bitte nochmals, dass ich dich nicht holen konnte. Heute ist mal wieder der Teufel los!«

»Das ist kein Problem. Es ist auch nicht eure Schuld, dass ich das Hotel nicht gefunden habe.«

Sie seufzte. »Arved ist kein schlechter Kerl. Er ist nur … schwierig. Störrisch, wie seine Ziege, die denkt, sie sei ein Hund.«

Erleichtert lachte ich auf. »Richtig! Das Gefühl hatte ich auch. Ich meine, das mit der Ziege. Arved …« Arved war heiß. Obwohl er mich zur Weißglut gebracht hatte. Aber genau das entsprach ja meinem Typ. Unmöglicher Mistkerl, der mich reizte und an der Nase herumführte. Nicht, dass es irgendein Anzeichen gegeben hätte, dass Arved an mir interessiert war. Sein Blick, der mir bis unter die Haut gegangen war, konnte alles bedeuten. Dass er nächstes Mal eine Kuh auf mich hetzen würde, wenn ich seinen Hof betrat, zum Beispiel.

Tine drückte die Haustür auf. Ihr helles Lachen erklang in dem niedrigen Eingangsbereich. »Er ist wirklich ein guter Kerl. Und ich verstehe, dass die Gäste nerven können. Aber sie sind für uns, für die meisten Leute auf der Insel, unser Einkommen. Bleiben sie aus, können wir nicht überleben. Na ja. Viele Berührungspunkte solltest du nicht mit ihm haben.«

Das war eine Erleichterung. Ich hatte sicher genug zu tun, da brauchte ich keinen heißen Farmer, der mich verarschte. Die Wut stieg wieder in mir hoch. Es gab keinen Grund für mich, sich zu schämen. Ich hatte das Friesisch falsch ausgesprochen. Das passierte sicher auch anderen Leuten.

Meine Gedanken über einen bestimmten Bauern kamen abrupt zum Erliegen.

Aus einer Tür lugte eine Nase. Ein skeptisch verzogenes Gesicht samt zwei brauner Augen, die mich neugierig musterten.

»Du bist kein Mädchen«, stellte das kleine Wesen fest.

Ich unterdrückte ein Schmunzeln. »Nein, das bin ich nicht. Aber du bist Bo. Stimmt’s?«

Bo atmete schwer aus für einen Fünfjährigen. »Richtig.« Er sah zu seiner Mutter. »Glück gehabt!«

Irritiert sah ich zu Tine, die abwinkte. »Danke, Bo, für dein Vertrauen.« Sie wandte sich an mich. »Bo hat gesagt, das nächste Au-pair muss ein Junge sein. Sonst … Ich habe ehrlich gesagt vergessen, was er uns angedroht hat.« Sie ging zu ihrem Sohn und stupste ihm gegen die Nase. »Ich habe dir gesagt, Dean kommt. Das weißt du doch.«

»Man kann nicht vorsichtig genug sein«, erklärte das Kind mit der Schwere eines Fünfzigjährigen in der Stimme.

Nun konnte ich ein Glucksen nicht mehr unterdrücken. Schnell bemühte ich mich, zu erklären: »Du hast völlig recht, Bo. Lieber Vorsicht als Nachsicht.«

»Richtig.« Bo grinste mich an.

»Wo ist eigentlich Jule?«, wollte Tine wissen.

»In ihrem Zimmer.«

»Und Papa?«

»Kurz rüber, weil … irgendwas.«

Seufzend hängte Tine ihre Jacke an die Garderobe. Ich tat es ihr gleich und zog die Schuhe aus.

»Bo, zeig doch Dean schon mal sein Zimmer.«

»Au ja.« Der Kleine drehte sich nicht mehr nach mir um, sondern flitzte die Treppenstufen hoch.

Ich deutete hinter ihm her. »Soll ich …?«

»Immer Bo nach. Ich bin gleich bei euch.«

Deutlich langsamer folgte ich Bo. Auf einer Zwischenebene mit mehreren Zimmertüren sah ich mich um. Wo war …?

»Dean!«, erscholl es von oben. Mein Blick folgte dem Ruf, der von einer weiteren schmalen und steilen Treppe kam. Als ich sie betrat, sah ich, dass sie auf einer winzigen Ebene endete, an die sich direkt ein Raum anschloss. Ich ging durch die geöffnete Tür und fand Bo, wie er auf einem großen Bett, das mit einer weißen Tagesdecke bedeckt war, herumsprang.

Ich sah mich hastig um, um mir einen schnellen Überblick zu verschaffen. Mein Herz tat einen Satz. Das Zimmer war wunderschön und komplett in Weiß und Hellblau gehalten. Ein Vintage-Sessel stand in einer Ecke, daneben befand sich ein kleines Fenster mit einem hölzernen Fensterkreuz. Es erinnerte mich an ein Guckloch auf einem Schiff. Eine Kommode im Shabby Chic. In einem anderen Eck ein ebenfalls dunkelweißer Schrank. Es war alles nicht viel, aber so heimelig, dass ich am liebsten erleichtert gestöhnt hätte. Es war das eine, jemandem über eine elendig lange Distanz zu vertrauen, und etwas ganz anderes, festzustellen, dass alles, was die Leute versprochen hatten, zutraf. Mit einem erschöpften Seufzen setzte ich mich auf das Bett.

Erst jetzt bemerkte ich, wie mir die Kraft ausging. Meine Beine wurden schwer, und an meinem Rücken zogen bleischwer die Strapazen meiner Reise. Ich war seit Stunden unterwegs. Mein Zwischenstopp in Hamburg war wie ein Wimpernschlag vergangen. Die Fähre, die Odyssee über Arveds Bauernhof hatten das Adrenalin in mir hochgehalten.

Endlich war ich an dem Ort, an den ich hingehörte.

Hinter mir sank die Matratze in einem regelmäßigen Rhythmus ein.

»Da. Ist. Das. Klo.« Bo setzte auf jeden Sprung ein Wort. Ich folgte mit meinem Blick seinem ausgestreckten Finger, der auf eine kleine Tür zeigte.

Ich stand auf und öffnete sie. Ein winziges Badezimmer en suite schloss sich an meine Kammer an. Es hatte kein Fenster. Nur Toilette, Dusche mit Vorhang und ein kleines Waschbecken. Wunderbar.

»Na, ihr zwei?«

Ich sah zurück ins Zimmer. Tine und Jule, ich hatte das Mädchen schon auf Bildern gesehen, standen im Türrahmen. Beide hatten halblange blonde Haare und helle Augen. Tine war ein gutes Stück höher gewachsen als ich und Jule vermutlich groß für ihr Alter. Unverkennbar Mutter und Tochter.

»Hast du alles gefunden?«, fragte meine Gastmutter.

»Es ist perfekt. Wirklich. Ich bin sehr glücklich.« Tatsächlich war ich extrem erleichtert. Die Familie war mir von Anfang an sympathisch gewesen, und das erste Gefühl bestätigte sich gerade.

»Hallo.« Jule sprach zurückhaltend und leise. Sie schaute auf den Boden vor sich.

Langsam ging ich auf sie zu. »Ich bin Dean.«

Erst jetzt hob sie den Blick. »Ich weiß.«

Eingehend musterte ich das Mädchen. Meine Kinderbetreuungserfahrung lag eher in der Mittagsbetreuung an der Middle School. Nicht bei Neunjährigen. Aber die Schnute, die Jule zog, war universal. Alters- und kontinentübergreifend.

»Magst du mir mal dein Zimmer zeigen?«

»Okay …«

Jule ging die Treppe hinab. Bo hüpfte weiterhin auf dem Bett.

»Bo, runter vom Bett!«, befahl Tine.

»Nur noch kurz!«

»Bo!«

Bo knurrte vor sich hin und sprang mit einem großen Satz von meinem Bett, dass die Holzdielen unter seinen Füßen nur so krachten. »Na gut!« Er stapfte aus dem Zimmer.

Tine hielt mich am Arm zurück. »Jule vermisst unser altes Au-pair. Nach wie vor telefonieren die beiden einmal die Woche. Mit ein bisschen Zeit …«

»Das ist kein Problem. Ich verstehe das. Selbst für mich ist das hier alles ziemlich überwältigend. Und ich bin erwachsen. Wir raufen uns schon zusammen.«

Erleichtert sah sie mich an. »Super.«

Ich sah Jule hinterher. Auf dem Treppenabsatz warf sie mir einen Blick zu. Hoffentlich würde ich recht behalten.

***

Am Abend, während Tine die letzte Schicht an der Rezeption übernahm und Bürokram erledigte, fuhr Uwe mit Jule, Bo und mir mit dem Fahrrad ans Meer.

»Damit du die Gegend gleich kennenlernst«, rief er mir über den Wind, der uns um die Ohren pfiff, zu.

Der Weg führte uns an Arveds Bauernhof vorbei. Er lehnte gegen ein Auto, das vor dem Hauseingang parkte. In Jeans, Hemd und Sneakers, mit dem Handy in der Hand. Mit seinem entspannten Blick darauf wirkte er, als hätte er keine Sorgen in der Welt. Hatte ich heute Nachmittag gedacht, dass er ein Schnittchen war, blieb mir jetzt die Spucke weg und ich musste aufpassen, nicht vom Rad zu fallen. Schick und leger gleichzeitig. Wie er wohl roch? War das sein Date-Outfit? Was ging es mich an? Nichts. Überhaupt gar nichts.

Energisch richtete ich den Blick nach vorne. Ich musste mich konzentrieren. Es war Jahre her, seit ich das letzte Mal Rad gefahren war. Und der Wind machte es mir nicht leicht, das Gleichgewicht zu halten.

Zwischen Uwe und mir trat Bo voller Elan in die Pedale. Jule fuhr nahe bei ihrem Vater.

»Hier beginnt Nieblum«, rief dieser mir über seine Schulter zu.

Wir fuhren an nahe beieinander liegenden Reetdachhäusern vorbei, vor denen die ersten Frühlingsblumen blühten, und über das idyllische Kopfsteinpflaster weiter auf die See zu. Gleichzeitig versuchte ich mir, die Details einzuprägen. Einen Bäcker. Ein Café. Einen Supermarkt. Weiß getünchte Häuschen. Bunte Fensterrahmen, die nicht wirklich Einblick gaben in das Innenleben der historischen Gebäude.

Um die Jahreszeit war die Insel noch nicht von Touristen überlaufen. Doch ich bildete mir ein, den einen und die andere auszumachen.

Vor einem Teeladen unterhielt sich eine Bedienung mit einem Paar, das sich in einem Strandkorb in eine Decke kuschelte. »Zumindest seid ihr rechtzeitig aus dem Watt zurückgekommen«, meinte sie gerade und stellte dampfende Tassen vor die beiden Gäste.

Was die beiden Teetrinker antworteten, konnte ich nicht mehr hören. Schon ließen wir sie hinter uns. Das Grüppchen wirkte wie aus einem Nordsee-Werbefilm.

Schließlich verließen wir den Ortskern. Das holprige Kopfsteinpflaster wurde von einer Teerdecke abgelöst, und mein Rad rollte endlich wieder flüssiger voran.

Die Häuser wirkten nicht mehr alle wie aus einem Inselmärchen. Modernere Bungalows wechselten sich mit winzigen Reetdachhäuschen ab, die wie aus einer anderen Zeit wirkten. Doch was die meisten Gebäude verband, waren die blau-rot-weißen Schleswig-Holsteinischen Fahnen und Strandkörbe in jedem zweiten Garten. Ob sich da jemand reinsetzte, wenn doch das Meer nur wenige Meter entfernt war?

Vereinzelt wiesen Schilder die Häuser als Ferienwohnungen aus. Wir fuhren am Möwennest vorbei, auf das ein Strandhus folgte. Gierig sog ich alle Besonderheiten dieser völlig ungewohnten Umgebung ein. Die kargen Sträucher, die die Gebäude von den Nachbarn trennten. Ein blaues Gartenholztor, das eher einlud, sich dem Anwesen zu nähern, statt abzuschrecken. Die schiefen Wände unter den Schilfdächern. Modernste Gartenmöbel auf der anderen Straßenseite.

Die Details prasselten auf mich ein und huschten auf unserer Fahrt nur so an mir vorbei, dass ich sie kaum aufnehmen konnte.

Der Eindruck eines Städtchens verflog mit jedem Meter, den wir Richtung See fuhren, mehr. Sträucher schmiegten sich an Bäume, und selbst die mächtige Düne vor uns war mit zartem Strandhafer bewachsen. Dass wir uns faktisch noch in Nieblum befanden, war schier unglaublich.

Die Straße verengte sich und der Teer verschwand in einem Sandweg. Die Räder stockten und wir sprangen ab.

Den Rest der kurzen Strecke schoben wir und parkten unseren fahrbaren Untersatz auf einem speziellen Fahrradparkplatz. Bereits hier hörte ich die Brandung. Das Geräusch des regelmäßigen Rauschens schwappte beruhigend über mich.

Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Ich liebte das Meer. Endlich würde ich es sehen.

Als wir den Bohlenweg zum Wasser entlanggingen, verstärkte sich das Meerfeeling. Der helle Sand knirschte leicht unter meinen Füßen. Wie er sich unter mir zusammenschob, spürte ich sogar durch meine Schuhe. Wir bogen durch eine Düne um die Ecke, und vor uns wartete das Meer. Instinktiv holte ich tief Luft und füllte meine Lungen mit der salzigen Brise. Eine tiefe Zufriedenheit erfüllte mich sofort. Das tat so gut! Es war wie nach Hause kommen.

Anscheinend war Flut, da die Wellen in Sichtweite auf den Strand schwappten.

»Da ist Polly!«, rief Jule noch und lief zu einem Mädchen.

»Gehen wir zum Strandkorb?«, wollte Bo wissen und deutete auf die wie an einer Perlenschnur aufgereihten Körbe, die sich den ganzen Strandabschnitt entlang streckten. Doch statt mit einladenden Decken ausgestattet, waren diese mit Gittern versperrt.

»Nein. Wir zeigen Dean nur kurz die Gegend. Wir fahren gleich wieder zurück«, erklärte Uwe.

Bo beachtete uns gar nicht mehr und lief auf das Wasser zu.

Ich schaute den Strand entlang. Betrachtete die Leute, die ihre Drachen steigen ließen. Die bunten Kreaturen zogen an den Schnüren in die grauen Wolken, die wie Kissen über dem Horizont hingen. Wie buntes Konfetti, das sich eigenmächtig in eine graue Wand drängte.

»Das ist also das Meer.« Uwe kräuselte die Stirn, zuckte die Schultern und grinste mich schließlich an.

Ich lachte. »So, so. Wer hätte das gedacht?«

Entschuldigend neigte Uwe den Kopf. »Ich weiß nie, was ich den Au-pairs sagen soll. Was der einen gefällt, ist dem anderen schnurzegal. Ich hoffe, dass du dich gut einlebst. Wenn du was brauchst oder was wissen willst, gib Bescheid. Auch wenn wir beschäftigt sind, wollen wir, dass es allen auf dem Hof gut geht. Also dem Hotel. Es war mal ein Hof, bevor wir es umgebaut haben.«

»Hat Tine schon erzählt. Und ich verspreche, mich zu melden, falls was anliegt. Im Moment bin ich aber nur sehr froh, hier zu sein. Alles ist perfekt.«

Uwe nickte und sah zu seinen Kindern.

Ich ließ meinen Blick über die glitzernde Wasseroberfläche gleiten. Die Sonne stand bereits unterhalb des Horizonts. Die letzten Strahlen wandelten sich von einem warmen Gelb und Orange in kühlere Farben. Die Wolken am Himmel unterstützten den Effekt und brachen das Licht. Lockten die versteckten Blau- und Violetttöne hervor. Mit Sprenkeln von Rosa, wo die einzelnen Sonnenstrahlen durch Wolken sprossen.

Das war also die berühmte Blaue Stunde. Ein magisches Lichtspiel, das mich an eine vergessen geglaubte Sehnsucht in mir erinnerte. Zaghaft zog es in meiner Brust. So als vermisste ich einen alten Freund.

Fast alles war perfekt. Ich war immer noch ich. Und die Nachbarschaft war … interessant. Und dabei sollte ich es belassen.

Kapitel 2

Arved

Cindy presste ihren Kopf gegen die Küchentür und stierte mich an. Mit einer Hand winkte ich ihr zu. Sie hob den Kopf und ihre Nase hinterließ einen feuchten Abdruck auf dem Glas. Ich schob mir einen weiteren Löffel Nudeln in den Mund. Zum dritten Mal in dieser Woche Nudeln. Ich musste endlich abwechslungsreicher kochen. Mir kam das Fertigzeug zu den Ohren heraus.

Erneut bellte meine Ziege mit Identitätsproblemen im Garten vor der Tür. Bevor ich losfuhr, musste ich sie in ihren Stall zu ihren Artgenossen sperren. Ob sie es wollte oder nicht. Ich drückte mich von der Küchenplatte ab. Und ich sollte mir angewöhnen, im Sitzen zu essen. Seufzend stellte ich mein Geschirr in die Spülmaschine.

All das Wie und Wo und Was ich aß, war egal. Da ich es immer allein tat. Für mich selbst einen derartigen Aufwand zu betreiben, war sinnlos. Cindy und ich waren zufrieden, wie ich mein Abendessen verdrückte. Zumindest konnte ich mir das einreden.

Ich machte mich im Bad für den Abend fertig und schnappte mir meine treue Gefährtin aus dem Garten. Unter ihrem Protest brachte ich sie in den Freilauf zu ihren Artgenossen und kontrollierte dreimal, dass das Tor richtig verschlossen war. Ich schüttete einen abendlichen Snack in die Futterraufe. Die drei fielen sofort darüber her.

Mit einem letzten Blick über den Hof ging ich zum Auto.

Es war Wochen her, dass ich die Jungs auf ein Bier getroffen hatte. Aber der Tag war so seltsam verlaufen, dass ich rausmusste.

Mir ging dieser Kerl nicht mehr aus dem Kopf. Mein neuer Nachbar. Das Au-pair der Klaasens.

Als ich ihn zuerst entdeckt hatte, hatte ich ihn als einen Gast abtun können. Sein knackiger Hintern, die wilden Haare, die wohl eine moderne Frisur waren, die klaren Augen, die so voll Interesse an allem um sich geschaut hatten, hatten mir den Atem geraubt. Zum Glück hatte mich Cindy abgelenkt. Die Wehmut, dass ich nie einen Mann wie Dean haben konnte, war sofort wieder verpufft. Es war eine altbekannte Sehnsucht. Die Gewissheit, dass die Männer, für die ich mich interessierte, regelmäßig Touristen waren, löste diese in Rauch auf. Keine Touristen. Nie wieder. Einmal war genug. Ich fuhr über mein Brustbein. Dahinter zog irgendwas.

Im selben Moment hörte ich Bo vom Weg her schnattern. Er, Uwe, Jule und, ganz am Ende ihrer kleinen Truppe, Dean fuhren den Weg am Hof vorbei. Schnell senkte ich den Blick.

Ich lehnte mich ans Auto, fischte mein Handy aus der Tasche und rief Fritjof an.

»Nein! Du sagst nicht ab. Auf keinen Fall. Ich werde es mir gar nicht anhören und jetzt auflegen«, rief mein Freund aus Kindertagen durchs Telefon.

»Himmel, warte doch mal. Ich komme«, rief ich dazwischen.

»Du kommst?«

Ich verdrehte die Augen. »Ja. Kannst du einen kleinen Umweg einlegen und mich abholen? Ich will mein Auto hierlassen und komme sonst zu spät.«

»Klar, kein Problem. Ich bin in zehn Minuten da. Alles klar bei dir?«

»Es ist alles bestens. Ich habe nur soeben beschlossen, dass ich heute alle Fünfe gerade sein lassen kann und mir einen freien Abend gönnen darf.«

»Und wie du das kannst! Ich bin sofort da.«

Ich schloss die Augen. Diesen einzigen Abend würde ich mir gönnen, zu bedauern, was nicht sein konnte. Es ging auch gar nicht um Dean an sich. Dieser hatte mich nur an meine Situation erinnert. Er stand für all das, was ich mir wünschte und nie haben würde.

Dean selbst war vermutlich ohnehin ein unsympathischer Vogel. Obwohl er nicht so gewirkt hatte. Vielmehr hatte es mich ziemlich beeindruckt, wie er mir immer wieder das Friesisch um die Ohren gehauen hatte. Dabei war er nachdrücklich und höflich geblieben. Und sexy. Ich schüttelte den Kopf über meine sinnlosen Gedanken. Mit meinem dummen Spaß hatte ich wahrscheinlich jede Chance auf nur eine entfernte Bekanntschaft verspielt. Eigentlich sollte ich froh sein, dass meine erste Reaktion war, attraktive Kerle auf Abstand zu halten.

Und trotzdem war da der Frust, dass ich nie herausfinden würde, wie ein Mann, der mich interessieren könnte, wirklich war, der sich wie eine Bleidecke auf mich legte. Einen Abend würde ich es zulassen, mich selbst zu bemitleiden, und dann mit meinem Leben, das wunderbar war, weitermachen.

Ich hatte vielleicht keinen Mann, würde nie eine Familie haben, aber ich hatte mich, meinen Hof, Cindy. Meine Freunde. Waren meine Freunde tatsächlich meine Freunde, wenn sie mich nicht wirklich kannten?

Energisch trat ich vom Auto zurück. Schluss mit den Flausen!

Ich lief noch mal zu den Kühen, die, wie nicht anders zu erwarten war, im Freilauf lagen und sich entspannten. In dem Moment wollte ich eine Kuh sein.

Als ich zurück auf den Hof ging, kam Fritjof die Auffahrt entlang. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz, und er wendete sofort.

»Kommst du grad vom Fußball?« Das ganze Auto müffelte nach was auch immer.

»Klar, du kriegst echt nichts mehr mit. Wird Zeit, dass du wieder unter Leute kommst. Wie lange haben wir uns nicht gesehen?«

»Ist schon ’ne Zeit her«, stimmte ich Fritjof zu. Er fuhr sich durch die noch leicht feuchten dunklen Wellen und wischte seine Hand an der Jeans ab. Meine Arbeit forderte mich zum Glück körperlich genügend. Dafür, mich wie Fritjof beim Sport fit zu halten, hätte ich gar keine Zeit.

Mein Kumpel brachte mich auf den neuesten Stand, was unseren Freundeskreis anging. Wer mit wem und wer die Insel verlassen hatte. Wegen eines Jobs. Wer zurückgekehrt war, wegen einer Scheidung. Doch der Kern unserer Gruppe war unverändert. Und ich hoffte, dass es immer so sein würde. Auch wenn sie nicht alles über mich wussten, war ich froh, vertraute Leute zu haben. Ich liebte den Hof. Aber hin und wieder wurde es einsam. Und niemand verlangte ernsthaft von mir, dass ich mich erklärte, weil ich vier Wochen nirgends aufgetaucht war.

Fritjof parkte an unserer Stammkneipe, und ich konnte die meisten unseres Freundeskreises bereits durch das Fenster entdecken. Hinter ihm betrat ich den Alten Schuh, und der alberne Haufen tat so, als wäre ich von den Toten auferstanden. Nachdem sie mich hinreichend aufgezogen hatten, wurden zwei Bier für mich serviert. Ich fragte nicht nach, sondern trank.

Während meine Freunde über irgendein Fußballspiel redeten, genoss ich es, unter Leuten zu sein. Das Gewusel in der Kneipe um mich herum tat gut. Mein Blick wanderte aus dem Fenster hinaus auf den Gehweg, wo ich Bo und Dean entdeckte, die ihre Räder schoben. Bo gestikulierte wild, und Dean lachte ein breites Lachen, das sein ganzes Gesicht erhellte. Seine Wangen waren gerötet. Seine Augen glänzten, und seine Wuschelhaare standen noch schlimmer in alle Himmelsrichtungen als heute Nachmittag. So als wäre der Wind in sie gefahren und hätte sie mit beiden Händen durchgerubbelt. Wie sie sich wohl anfühlten? So weich, wie sie aussahen? Oder verwendete er irgendwelche Mittelchen? Erst jetzt entdeckte ich Uwe und Jule, die ein Stückchen vor ihnen gingen.

Ich sah zurück zu Dean. Eine Saison. Ein halbes Jahr. Wie lebte jemand wie Dean? Mit Sicherheit völlig anders als ich.

Wo kam er her? Was tat er, wenn er nicht Au-pair war? Wieso Föhr? Aber es war albern, sich diese Fragen überhaupt zu stellen. Sie hatten keine Konsequenz für mich. Sobald er sie beantwortet hätte, würde ich mehr Fragen haben. Und er würde dennoch nach wenigen Monaten gehen. Zu einem Leben, das spannender war als ein Bauernhof auf Föhr. Und ich würde hierbleiben und davon träumen, dass sich ein Mann – vielleicht ein Mann wie Dean – für mich entscheiden würde. Der Weltschmerz hatte mich heute Abend wirklich im Griff.

»Arved!«

»Was?« Ich schrak hoch und sah zu Lars, der mich erwartungsvoll ansah.

»Wo bist du denn in Gedanken? Du bist ja völlig weggetreten. Was gibt’s da draußen zu sehen?«

»Nichts gibt’s da. Gar nichts.« Ich zwang meinen Blick von Dean weg und starrte Lars ins Gesicht.

»Junge, Junge, du musst öfter unter Leute. Oder jemand muss auf deinen Hof. So geht’s nicht weiter mit dir.«

»Ne, lass mal. Das passt schon«, versuchte ich abzulenken.

»Du brauchst ’ne Frau. Eine, die dir ein bisschen unter die Arme greift, die dich tröstet, wenn es zu einsam wird bei deinen Tieren.«

An dem Satz war so viel falsch, dass ich nur den Kopf schütteln konnte. Das Letzte, was ich brauchte, war eine Frau. Aber das wusste Lars nicht. Und es bestand keine Notwendigkeit, dass er das erfuhr. Das Konzept, einen Partner zu finden, der sein Leben mit mir teilte, war rein theoretisch. Es würde keine Realität werden. Für einen Traum musste ich mein Innerstes nicht nach außen kehren, wenn ich ohnehin nicht sicher war, wie meine Kumpel die Neuigkeit, dass ich schwul war, aufnehmen würden. Sprüche über queere Menschen hatte ich in diesem Kreis oft genug gehört.

Und was ich schon gar nicht wollte, war jemand, der mir bei der Arbeit unter die Arme griff. Dafür hatte ich einen Lehrling, meinen Bruder, Lohnunternehmer.

Ich wollte einen Partner. Jemanden, der bei mir war, weil er es wollte. Mich wollte. Die Gedanken setzten sich als Worte auf meine Zunge. Doch …

»Ach, wo soll ich denn plötzlich eine Frau herzaubern?«, fragte ich sinnentleert.

»Lisa ist doch wieder single.«

»So ein Quatsch«, protestierte Hauke. »Die heiratet. Den Bruder von Sonia.«

»Doch nicht die Lisa«, konterte Fritjof. »Oles Schwester.«

Ich hörte nur mit einem Ohr zu. Mir war Lisa – welche auch immer – herzlich egal.

Nach einem tiefen Schluck wagte ich einen flüchtigen Blick auf den Gehweg, der komplett leer war. Es war schon spät. Bo und Jule mussten ins Bett. Und auch sonst war im Ort nichts mehr los. Ich konnte innerlich nur den Kopf über mich schütteln.

Als eine Runde Korn auf den Tisch gestellt wurde, griff ich zu. Mehrfach. Heute Abend würde ich mir das erlauben. Morgen früh, wenn ich die Kühe füttern musste, würde ich es bereuen. Doch jetzt wollte ich jegliche Erinnerung an Rainer, die Dean in mir hervorgerufen hatte, verdrängen. So lange hatte ich mit niemandem darüber geredet. Da konnte ich den Frust auch weiter in mir tragen.

Doch immer, wenn ich es geschafft hatte, Rainer aus meinen Gehirnwindungen zu schieben, rutschte Dean nach. Sein Lachen, sein irritierter Blick, seine zornig funkelnden Augen und seine Wärme, wenn er mit Bo redete. Wahrscheinlich stand Dean nicht mal auf Kerle. Und wenn doch, sicher nicht auf solche wie mich. Oder? Hatte sein Blick nicht ein gewisses … Interesse enthalten? Das Gefühl von Möglichkeit war unerträglich. Ich musste es betäuben.

Als ich ein Alkoholpensum erreicht hatte, das meine Gedanken in die letzten Hirnwindungen zurückgedrängt hatte, wollte ich gehen. Sofort. Ich hatte weder Lust auf Fritjof zu warten noch länger in der stickigen Kneipe zu sitzen.

Meine Freunde protestierten heftig, und Hauke, mit dem ich so gut wie nichts zu tun hatte, bot an, mich nach Hause zu fahren.

»Du hättest das wirklich nicht tun müssen.« Im Auto grummelte ich noch immer vor mich hin.

»Du meinst, so besoffen, wie du bist, ist es eine gute Idee, bei den Temperaturen den ganzen Weg nach Hause zu wanken?«

»So schlimm ist es auch nicht«, widersprach ich.

»Mach dir keine Gedanken. Ich habe eh noch was in Wyk zu erledigen.«

»Um diese Zeit?« Erstaunt musterte ich Hauke. Ich wusste so gut wie nichts über ihn. Es ging mich auch nichts an. Ich hasste Fragen nach meinem Leben, also hielt ich mich auch bei anderen raus. Hauke war ein netter Kerl. Auch wenn wir nie mehr als fünfzig Worte miteinander gewechselt hatten.

»Ja, ich treffe mich noch mit einem Kumpel.«

Einem Kumpel, der nicht in unserer Runde gewesen war. Ich war zu müde, um länger darüber nachzudenken.

Hauke ließ mich an der Straße zu meiner Hofauffahrt raus und fuhr weiter. Ich trottete den Feldweg entlang nach Hause. All das gehörte mir. Ich war gern hier und wollte nicht undankbar für mein Leben sein. Die Luft roch schwer nach Frühling. Die Pflanzen gruben sich aus der Erde. Die Kühe freuten sich über das frische Gras auf den Koppeln.

Oberhalb meiner Wohnung sah ich Licht im Lehrlingszimmer. Anton war also auch da. Hoffentlich war er morgen früh fit, um meinen Kater auszugleichen.

Als ich in meinem Bett lag, wanderten meine Gedanken zurück zu Dean. Er war nur wenige Meter von mir entfernt. Er hätte aber genauso gut auf einem anderen Planeten leben können. Vielleicht könnte ich … Energisch drehte ich mich im Bett um. Für könnte und vielleicht hatte ich keine Kapazitäten. Ich würde in naher Zukunft aufs Festland fahren, wo mich niemand kannte. Mich mit einem unbekannten Mann treffen. Für ein paar Stunden den Abklatsch eines Gefühls von Zweisamkeit genießen und dann wieder heimkommen, ohne das Risiko einzugehen, dass mir jemand über den Weg lief, der Fragen hatte. Fragen, denen ich mich wegen eines One-Night-Stands nicht stellen wollte. Auf Föhr wurden schwule oder bisexuelle Männer nicht wie Muscheln an den Strand gespült. Und im Hamburger Nachleben war niemand auf der Suche nach einer festen Beziehung mit einem Inselbauern. Dafür wusste jeder, woran er war. Dieses System lief ganz gut für mich. Es gab keinen Grund, es aufzugeben.

Hätte ich die Wahl zwischen einer Online-Bekanntschaft für ein paar Stunden oder Dean, den ich nur wenige Minuten näher kennenlernen konnte, wusste ich, wen ich wählen würde.

In Gedanken an sein Lachen, strahlende Augen und verwuschelte Haare, die Dean ins Gesicht hingen, schlief ich ein. Und ich träumte. Von salzigen Küssen, samtigen Strähnen, Deans Atem, der über meine Haut strich. Und wachte völlig frustriert auf.