Kapitel Eins
Grace
Noch fünf Minuten durchhalten, dann habe ich meine tägliche Trainingseinheit auf dem Laufband geschafft. Ich liebe Laufen, alle anderen Arten von Sport hasse ich. Am schlimmsten sind Mannschaftssportarten. Sich anderen in Tempo oder Intensität anzupassen oder gar die totale Versagerin sein, weil die Mannschaft verliert, sind für mich Horrorszenarien. Schon Schulsport war damals ein Graus. Das vermisse ich wohl am wenigsten an meiner Schulzeit, und bin froh, mit meinen achtundzwanzig Jahren nie wieder eine Turnhalle betreten zu müssen. Nach unsportlichen Blamagen folgte regelmäßig die Fleischbeschau in den Gruppenduschen, wo ich für meinen Hintern kritisch beäugt wurde.
Noch vier Minuten durchhalten. Ich glaube, ich würde auch dann laufen, wenn ich meine weiblichen Rundungen nicht ständig unter Kontrolle bringen müsste und einfach schlank wäre, wie manch andere Frauen – ohne etwas dafür tun zu müssen. Aber mit solchen Genen bin ich leider nicht gesegnet. Außerdem muss ich meinen viel zu hohen Zuckerkonsum irgendwie kompensieren. Ein zu langer Blick auf eines meiner Törtchen, und an meinem Po klebt ein weiteres Pfund Speck. Darüber hinaus hält das Laufen nicht nur meine Kurven in Schach, sondern macht auch den Kopf frei und hinterlässt da ein gutes Gefühl, wo vorher Zweifel und Sorgen waren.
Noch drei Minuten durchhalten. Beautiful Day von U2 dröhnt aus meinen kabellosen Kopfhörern. Die Guten-Morgen-Playlist hat sich mit dem Wetter abgesprochen. Heute ist wirklich ein schöner Tag. Eigentlich perfekt, um ihn draußen zu verbringen und die Steilklippen der Jurassic Coast zu bewundern. Besonders im Sommer kommen Touristen aus aller Welt hierher nach Little Kings Bay – jene, die über das nötige Kleingeld verfügen, steigen im Kings Crown ab, dem Hotel meines Mannes Kevin.
Noch zwei Minuten durchhalten. Mein Gesicht im Spiegel ist gerötet, und meine langen braunen Haare, die ich mir wie immer, wenn ich laufe, zu einem hohen Zopf gebunden habe, fallen wild durcheinander über meine Schulter. Eine Schweißperle läuft mir den Hals hinab über mein Dekolleté. Sie verschwindet in dem engen Tal, das sich durch den Sport-BH zwischen meinen Brüsten bildet. Ob Kevin das gefallen würde? Ich könnte ihn gleich vor der Arbeit überraschen. Vielleicht unter der Dusche. Unser letztes Mal liegt schon wieder Wochen zurück. Es ist nicht so, als hätte er ein körperliches Problem. Für ihn sind einfach andere Dinge wichtiger. Viele Frauen wären wahrscheinlich glücklich, wenn ihr Mann sie nach sechs Jahren Beziehung – davon drei Jahren Ehe – in Ruhe lassen würde. Wenn ich mich mit den Frauen aus dem Ort treffe, tauschen sie sich über ihre neuesten Ideen aus, um dem Sex mit ihren Partnern zu entgehen. Ich dagegen wünschte mir, Kevin würde öfters in Wallung geraten oder zumindest Zeit für mich erübrigen.
Noch eine Minute durchhalten, dann kann ich mich auf die Suche nach ihm begeben. Vielleicht denkt er auch genau jetzt an mich und lässt sich nachher doch noch auf meine Verführungskünste ein.
Das Piepen des Laufbands lässt mich aus meinen Tagträumen hochschrecken. Meine tägliche Einheit Schwitzen ist damit endlich beendet.
Ich schließe die Tür des Trainingsraums leise hinter mir und mache mich barfuß auf Zehenspitzen auf den Weg durch das Haus. Helles Licht fällt durch die hohen Fenster im Flur und trifft mein Gesicht. Automatisch schließe ich die Augen und genieße die Wärme auf meiner Haut. Ich liebe dieses Haus dafür, dass es so lichtdurchflutet ist und diese unglaubliche Lage am Meer hat. Ansonsten ist es mir oft zu groß, und noch öfter fühle ich mich ziemlich verloren und einsam hier. Im Gegensatz zu Kevin, der diesen Lebensstandard von Kindesbeinen an gewohnt ist, komme ich aus einfachen Verhältnissen. Oder wie meine Schwiegereltern es gerne betiteln: aus der Arbeiterklasse. Kevin ist als Sohn vermögender Hoteliers Luxus sein Leben lang gewöhnt, während meine Eltern die örtliche Kfz-Werkstatt betreiben und meine Mutter nebenbei freischaffende Künstlerin ist. Wir waren nie arm, aber eben auch nicht vermögend.
Langsam schlendere ich den Flur entlang und streife dabei mit den Fingern die Wand unterhalb all der Bilderrahmen, die auf jeder Party ein echter Hingucker sind. Kinderfotos von uns, Familienporträts und allerlei Schnappschüsse reihen sich an offizielle Fotos von unserem Schulabschluss an der Little Kings School und aus der Folgezeit an der Universität. Urlaubsbilder am Strand oder beim Wandern in den Bergen erinnern an gemeinsame Erlebnisse. Bilder von mir auf der Arbeit, wie ich im Hotel feinste Desserts und Torten dekoriere. Das Cover meines ersten Dessertbuches, gefolgt von Kevin, wie er an seinem Schreibtisch sitzt und den Vertrag für das Hotel unterschreibt. Zuletzt die schönsten Fotos unserer Hochzeit, die uns als strahlendes Brautpaar in exquisiter Kulisse zeigen. Die Wand ist ein Zeitstrahl unseres Lebens. Und natürlich ziert auch sie einige der Fotos.
Meine Ehe ist nicht das Ergebnis einer großen Liebesgeschichte. Kevin und ich kennen uns zwar bereits unser ganzes Leben, allerdings waren wir die meiste Zeit davon alles andere als Freunde. Seine Zwillingsschwester war dagegen von frühster Kindheit an meine beste Freundin. Sarah war das genaue Gegenteil von Kevin. Während er sich stets im Glanz seines Familiennamens sonnte und von seinen Eltern darauf abgerichtet wurde, diesem alle Ehre zu machen, war Sarah eher verrückt, experimentierfreudig und offen, obwohl auch sie zu ihren Wurzeln stand. Kevin, der in unserer gemeinsamen Schulzeit eher dadurch glänzte, sich wie der letzte Arsch zu verhalten und aufgrund seines Nachnamens zum selbsternannten Anführer unserer Stufe wurde, stand im Kontrast zu Sarah, die tatsächlich bei allen wegen ihrer offenen und freundlichen Art beliebt war.
Natürlich hatte ich daher zwangsläufig auch immer mit Kevin zu tun, den ich damals als übles Anhängsel empfunden habe. Nachdem wir unseren Schulabschluss in der Tasche hatten, zog ich mit ihm und Sarah in eine kleine Wohnung am Campus. Obwohl Kevin genügend Freunde hatte, mit denen er hätte zusammenziehen können, wollte er dennoch bei seiner Zwillingsschwester bleiben, und Sarah hat mich bekniet, dem zuzustimmen. Auch dort wurde das Verhältnis zwischen mir, der ruhigen Studentin, und Kevin nicht unbedingt besser.
Doch alles änderte sich in dieser einen, schrecklichen Nacht, in der er Sarah für eines seiner unzähligen Dates versetzte und sie alleine auf die Party einiger Typen aus ihrem Studiengang ging. Sarah war Alkohol und Drogen gegenüber nie abgeneigt gewesen und hatte auch in dieser Nacht etwas genommen, um Partystimmung zu bekommen. Obwohl alle getrunken hatten und high waren, stiegen sie in ein Auto, um sich etwas zu Essen zu holen. Der Fahrer nahm einem anderen Wagen die Vorfahrt, der ihm mit hoher Geschwindigkeit in die Seite krachte. Während die beiden Typen vorne fast unverletzt davonkamen, zahlte Sarah auf der Rückbank mit dem Leben.
Nachdem meine beste Freundin gestorben war, lebte ich mit Kevin in einer Blase aus Schmerz, Selbstvorwürfen und Trauer. Irgendwo zwischen diesen desaströsen Gemütszuständen bemerkten wir, dass wir all die Jahre doch eine Gemeinsamkeit gehabt hatten.
Sarah.
Während wir in Erinnerungen und Gefühlen erstickten und Kevins Eltern – geschäftsmäßig, wie sie eben sind – sich selbst und auch Kevin nicht die Zeit gaben, alles zu verarbeiten, fingen Kevin und ich an, miteinander ins Bett zu gehen. Eins führte zum anderen, und ohne, dass wir je darüber gesprochen hätten, wurde aus uns ein Paar, das gemeinsam nach Little Kings Bay zurückkehrte.
Der Rest ist Geschichte.
Ich sehe wieder auf das Foto, das Sarah und mich bei einem unserer Selfie-Versuche zeigt, während Kevin hinter uns steht und das Bild durch Hasenohren und ein dümmliches Gesichtskino crasht. In der ersten Zeit nach dem schrecklichen Unfall konnte ich mir Bilder von uns kaum ansehen, so unerträglich war der Schmerz. Heute betrachte ich sie gern und erinnere mich an die Momente voller Glück und jugendlicher Unbeschwertheit. Mittlerweile zählen die Schnappschüsse, auf denen Sarah zu sehen ist, für mich zu den allerschönsten an der Wand. Alles, was nach ihr kommt, ist ein Abklatsch gegen meine Jugend.
Ich horche an der Badezimmertür. Das Prasseln des Wassers ist deutlich zu hören. Leise schleiche ich mich hinein. Kevin steht mit dem Rücken zu mir. Heißer Dampf steigt aus der Dusche; der Duft von Minze erfüllt den Raum. Langsam streife ich mir mein Top mitsamt dem Sport-BH über den Kopf. Ich halte kurz inne und genieße den Anblick des heißen Wassers, das mit Schaum vermischt über das breite Kreuz meines Mannes läuft. Er ist wirklich schön anzusehen, das ist er schon damals gewesen. An Schönheit mangelte es den Zwillingen nie.
Mit einer fließenden Bewegung befreie ich mich von meiner Lauftight und meinem Slip. Langsam betrete ich die Dusche und stelle mich neben meinen Mann unter das heiße Wasser. Die dicken Tropfen benetzen meinen Körper und spülen den Schweiß hinunter. Meine Fingerspitzen nähern sich seiner Haut. Langsam lasse ich sie an seinem Rückgrat hinuntergleiten und benutze dabei bewusst provokant meine Fingernägel, worauf ihm ein wohliges Seufzen entfährt. Mit seinen Händen stützt er sich an der dunklen Wand ab. Ich schmiege meinen Körper eng von hinten an ihn, sodass kein Hauch Luft mehr zwischen uns passt, und lasse meine Hände langsam über seine Hüften nach vorne wandern, wo mich bereits sein mit Vorfreude zuckender Schwanz erwartet. Vorsichtig beginne ich, ihn mit meinen geschickten Händen zu bearbeiten. Stöhnend dreht Kevin sich zu mir um. Seine nassen, hellbraunen Haare sind ein Chaos, und seine blauen Augen sind forschend auf mich gerichtet. Er drückt mich sanft gegen die Glaswand der Duschkabine. Eine Hand legt er auf meine Brust, während er mich mit der anderen fester gegen das Glas drückt. Seine Lippen finden die meinen und arbeiten sich nach einem Kuss zu meinem Ohr hoch.
„Hast du die Pille endlich abgesetzt?“, flüstert er mir zu.
Meine Hände lasse ich langsam zu seinem halbsteifen Schwanz wandern, um der Frage aus dem Weg zu gehen, denn ich weiß sowieso, dass dieser Moment gleich ein jähes Ende finden wird. Es ist so selten geworden, dass wir uns nahekommen. Zwischen uns waren andere Dinge einfach viel wichtiger als endloser Sex, aber mittlerweile bin ich wirklich ausgehungert.
„Und?“, stöhnt er gequält und fährt mit seinen Fingerspitzen meine Seite hinauf. Kurz überlege ich zu lügen und seine willige Stimmung einfach auszunutzen. Ich gehe unangenehmen Themen nur zu gerne aus dem Weg. Aber irgendwann muss er akzeptieren, dass nicht alles nach seinem Zeitplan läuft und ich auch noch Mitspracherecht bei unseren Entscheidungen habe.
„Nein, habe ich nicht.“ Schon weiß ich, dass es das für heute mit uns gewesen ist.
„Verdammt, Grace!“ Er ballt die Hand, mit der er mich gerade noch so sanft berührt hat, zur Faust und schlägt sie gegen die Duschwand, sodass das Glas in der Verankerung vibriert. Ich hasse seine Launen – er ist meist viel zu ruhig und wird dann, wenn er sich vor den Kopf gestoßen fühlt, oft ungehalten. Das Cholerische liegt in den Genen der Roberts. Oft ist es mit Kevin, als würde ich russisches Roulette spielen. Ich weiß nie, wann die Kugel noch haarscharf an mir vorbeifliegt oder mich mit voller Wucht trifft.
Später am Mittag gehe ich gedankenverloren meiner Arbeit in der Hotelküche nach. Schokolade war schon immer meine besondere Leidenschaft, aber eher privat als beruflich. Während andere sich im Restaurant auf das deftige Steak oder den besonders feinen Fisch freuen, war für mich das Dessert schon immer das absolute Highlight. Während der Schulzeit habe ich mich gerne zuhause ausprobiert und kleine Kuchen gebacken oder aus Schokoladenresten Pralinen hergestellt. Weniger rühmlich war es, dass ich für Sarah und Kevin Haschischkekse gebacken habe, von denen ich nur ein einziges Mal ein Stück probiert habe. Eine Jugendsünde, an die ich mich allerdings aus anderen Gründen nur ungerne erinnere. Neben meinem Literaturstudium habe ich Patisserie- und Konditoreikurse besucht, um meine Fertigkeiten weiter auszubauen. Nie hätte ich gedacht, tatsächlich einmal in diesem Bereich zu arbeiten und mir einen Namen als Konditorin zu machen. Als dann mein erstes Buch mit meinen Rezepten und kleinen Geschichten dazu erschien und recht erfolgreich gewesen ist, stand für mich fest, dass ich in dem Bereich bleiben wollte. Ich erhielt das Angebot, ein weiteres Buch zu veröffentlichen, aber das Leben kam dazwischen.
Damals war ich frisch mit Kevin zusammen, der im Begriff war, das Hotel seiner Eltern zu übernehmen. Obwohl ich Little Kings Bay liebe und nach dem Studium auch direkt wieder hatte herziehen wollen, dachte ich nach Sarahs Unfall anders. Zu viele Erinnerungen – das war es, wegen dem ich die meisten Bedenken hatte. Die Chance auf sein eigenes Hotel wollte ich Kevin aber auch nicht verwehren. Darüber hinaus läuft das Kings Crown fantastisch, und das dazugehörige Restaurant ist überregional bekannt für seine Neuinterpretation der alten englischen Küche – und seit ich hier tätig bin, auch für meine Desserts und Naschereien. Obwohl sich Kevin ausschließlich um die wirtschaftlichen Aspekte kümmert, hängt sein Herz daran.
Für ihn ist von Anfang an klar gewesen, dass er mich mit dabeihaben will, immerhin hätte Sarah eigentlich nach dem Studium zusammen mit ihm das Hotel übernehmen sollen. Und da ich ungerne nein sage und mich tatsächlich kulinarisch einbringen kann, habe ich zugesagt. Auch wenn sich die Arbeit an meinem zweiten Buch dadurch verzögert. Während er sich also darum kümmert, dass der Laden läuft, habe ich in der Küche meinen Platz gefunden. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn ich einen repräsentativen Part übernommen hätte, so wie seine Mutter es jahrelang getan hat, aber ich fühle mich jenseits des Rampenlichts einfach wohler und kann mit den wohlhabenden Gästen ohnehin wenig anfangen. Kevin bezeichnet mich gerne als Mädchen für alles, denn obwohl ich mich eigentlich ausschließlich den Desserts widme und gewisse kreative Freiheiten genieße, kommandiert er mich zu gerne auch für andere Tätigkeiten aus meiner sicheren Nische in der Küche ab und zerrt mich auf diverse Veranstaltungen und Meetings, bei denen ich lächeln und nicken muss.
„Vorsicht – Schwiegermonster im Anflug!“ Molly, die mit mir in der Küche arbeitet, reißt mich aus meinen Gedanken. Sie ist hier mein absoluter Lichtblick. Wie keine andere versteht sie es, mich bei meinen zum Teil mutigen Kompositionen zu unterstützen. Während Kevin und meine Schwiegereltern mich für die Kombination von dunkler Schokolade, Avocado und Chili zunächst ausgelacht haben, hat Molly die Idee dahinter sofort verstanden, was einfach daran liegt, dass sie als Konditorin brillant ist. Darüber hinaus bereichert sie auch privat mein Leben. Seit Sarah habe ich keine solche Freundin mehr gehabt. Kevin würde mich zwar deutlich lieber in Begleitung einer ruhigeren und weniger auffälligeren Freundin sehen, denn er war schon immer ein Snob, der viel Wert auf Oberflächlichkeiten gelegt hat. Molly ist mit ihren vielen Tattoos und ihren Haaren, die in den Farben des Regenbogens getönt sind, alles andere als eine graue Maus. Wäre ich nicht von Beginn an von ihren Fähigkeiten überzeugt gewesen und hätte auf ihre Einstellung gepocht, hätte er sich für eine andere Bewerberin entschieden. Aber genau wie bei ihrer Einstellung habe ich mir bei unserer Freundschaft nicht von ihm reinreden lassen.
„Danke für die Warnung“, flüstere ich ihr zu.
Kevins Eltern spuken täglich wie zwei rastlose Seelen im Hotel herum und treiben mich und die anderen Mitarbeiter regelmäßig in den Wahnsinn, obwohl die beiden eigentlich längst im Ruhestand sind und das Leben genießen sollten. Leider ist das Privatleben ihres nun einzigen Kindes für sie ebenso interessant wie das Geschehen im Hotel, und es scheint ihnen ein größerer Genuss zu sein, sich ständig in beides einzumischen, als es sich in ihrer Villa bequem zu machen, was mir regelmäßig zusätzlichen Frust beschert.
„Ladys, wie sieht das hier aus? So kann niemand arbeiten!“ Trishs Stimme schrillt durch den Raum. Sie muss es wissen, wo sie in ihrem Leben bisher nicht mal einen Rührkuchen hinbekommen hat. Wenn meine Schwiegermutter eines kann, dann ist es, andere herumzukommandieren und sie verbal anzugehen. Diese wirklich schlechten Charakterzüge in Kombination mit ihrer extrem hohen Stimme – ähnlich der eines Kanarienvogels kurz vor dem Ableben – haben schon manchen Mitarbeiter in die Flucht geschlagen. Besonders die untersten Glieder der Nahrungskette im Kings Crown leiden unter ihren Auftritten als Furie. Anscheinend macht es ihr gerade dann ganz besonderen Spaß, wenn sie weiß, dass ihr Gegenüber nicht in der Position für Widerworte ist, ohne dabei den Job zu riskieren.
Das Geklacker ihrer Stöckelschuhe nähert sich uns. Ich spüre ihre Präsenz hinter mir und wie sie mir förmlich über die Schultern blickt. Gänsehaut breitet sich in meinem Nacken aus, als mir ihr süßliches Parfum in die Nase steigt. „Grace, Schätzchen“, surrt sie , sodass sich meine Härchen noch stärker aufrichten und meine Haut beinahe schmerzt. Langsam drehe ich mich zu ihr um.
„Patricia – Trish.“ Ich muss mich immer daran erinnern, sie bei ihrem Spitznamen zu nennen, worauf sie vehement besteht. „Was kann ich für dich tun?“ Sie verirrt sich eigentlich nur dann in die Küche, wenn sie etwas Bestimmtes will. Ein weiterer Grund, warum ich mich am liebsten hier verschanze und mich schon das ein oder andere Mal wie ein kleines Kind hinten im Lager versteckt habe, was für eine Frau Ende Zwanzig mit Sicherheit weniger rühmlich ist. Auf ihrem Gesicht macht sich ein falsches Grinsen breit, so als hätte ich ihr gerade einen wunderbaren Köder geboten, um für den nächsten Schlag auszuholen.
„Nun ja, da du mir höchstwahrscheinlich immer noch nicht den lang ersehnten Enkel schenkst und auch nicht aus dieser Küche raus willst, fällt mir gerade nicht viel ein.“ Sie sagt es süffisant und so laut, dass die gesamte Küchenbesatzung mithören kann.
Ich verdrehe die Augen und widme mich wieder meiner Arbeit. Diese Gespräche bringen in der Regel nichts, genau wie das Aufregen darüber. Ignorieren und aussitzen ist meist die beste Lösung in solchen Situationen. Eigentlich ist das natürlich etwas, worum sich Kevin kümmern müsste – immerhin ist sie seine Mutter. Allerdings sträubt er sich mit Händen und Füßen gegen alles, was die Harmonie innerhalb der Familie stören könnte, und lässt den Dingen lieber ihren Lauf.
„Im Übrigen bin ich hier, um dich für unseren Familienrat abzuholen. Sofern du überhaupt Interesse daran hast. Es ist ja so traurig, dass du offenkundig so wenig Wert auf die Meinung deiner eigenen Familie legst, wo wir dich doch wie eine zweite Tochter willkommen geheißen haben!“
Bevor ich der Frau gleich vor versammelter Mannschaft meinen Schneebesen um die Ohren haue, lege ich lieber alles nieder und folge ihr missmutig in Kevins Büro. Hier warten er und mein Schwiegervater George auch schon auf uns.
„Grace.“
„George.“ Ich erwidere sein Nicken.
George kann man am ehesten als stattlichen Mann bezeichnen. Genau wie Kevin ist er groß gewachsen – mit zunehmendem Alter allerdings auch leider in die Breite. Wie immer trägt er einen Anzug aus feinem Tweed in Kombination mit einem dieser unmöglichen, bunt gemusterten Hemden. Ziemlich auffällig und irgendwie protzig. Protzig ist ohnehin eines der Attribute, mit denen man die Roberts am besten beschreiben kann. Sie gehören seit Generationen zu den wohlhabenden Familien von Little Kings Bay und haben auch keine Scheu, das zu zeigen.
Kevin begegnet der eisigen Stimmung zwischen mir und seinen Eltern mit der üblichen Ignoranz. Dabei weiß er, dass es als Neuankömmling in der Familie unglaublich schwierig ist. Wobei man nach drei Jahren Ehe und insgesamt sechs Jahren Beziehung – ganz abgesehen von unserer Kindheit – kaum noch von einem Neuankömmling sprechen kann. Aber auch hier hat sich nach Sarahs Tod einiges geändert. Als beste Freundin wurde ich noch akzeptiert, als feste Freundin des einzigen Sohnes und mittlerweile Ehefrau haben die beiden sich das noch mal anders überlegt.
Kevin räuspert sich und durchbricht die unangenehme Stille. „Nun gut. Der Grund für den heutigen Familienrat ist ein neuer Großauftrag, der uns ein enormes Sümmchen einbringen wird. Es geht um Hochzeitsfeierlichkeiten mit gut einhundertfünfzig Personen. Empfang der Gäste, Probeessen, Hochzeitsfeier, Abschiedsfeierlichkeit – das volle Programm, und zwar in der First-Class-Variante. Und das an einem verlängerten Wochenende, Donnerstag bis Sonntag. Wir werden jede Hand und jeden Kopf brauchen, um die Feierlichkeiten auszurichten. Und nun kommt das Sahnebonbon: Der Bräutigam ist kein Geringerer als Brandon Scott. Der Brandon Scott!“ Kevin lässt es sich nicht nehmen, die letzten Worte besonders theatralisch zu betonen.
Brandon Scott? Da schrillen allerdings auch die Alarmglocken in meinem Kopf. Ich kenne diesen Namen irgendwoher.
Trish zieht scharf die Luft ein, während in Georges Augen förmlich die Dollarzeichen blinken. Jetzt fällt auch endlich bei mir der Groschen. „Brandon Scott, der Restaurant- und Hotelkritiker?“
„Ich kann es auch kaum glauben, aber ja! Anscheinend hat seine Zukünftige vor einigen Jahren hier gelebt und darauf bestanden, dass sämtliche Feierlichkeiten in Little Kings Bay stattfinden müssen“, sagt Kevin.
„Und ich wette, es kommen alle, die in der Gastro-Welt Rang und Namen haben. Jede halbwegs renommierte Fachzeitschrift wird über die Hochzeit berichten, das Kings Crown wird danach in aller Munde sein. Bessere PR gibt es gar nicht. Eine einmalige Gelegenheit, uns von der besten Seite zu präsentieren. Gut gemacht, Junge!“ George tätschelt mit seiner speckigen Pranke Kevins Schulter. Wenn Mr Scott privat das Kings Crown für seine Hochzeitsfeierlichkeiten auswählt, ist das schon etwas Besonderes und neben den vielen guten Kritiken ziemlich löblich.
„Wann findet das Spektakel denn statt?“, frage ich.
„Schon am ersten Juni-Wochenende!“ Das ist in einem guten Monat. Kurzfristig, aber mit der richtigen Planung und den passenden Kontakten zu schaffen. „Blitzhochzeiten sind jetzt wohl im Trend.“
„Vater, ich würde dich bitten, dich während der Vorbereitungen um den Papierkram zu kümmern. Mutter, du übernimmst das Tagesgeschäft. Und Grace wird mit mir das Brautpaar während der Planung unterstützten und die Hochzeitsgesellschaft an den Tagen der Feierlichkeiten betreuen. Mr Scott und seine Angebetete verbringen die Wochen vor der Hochzeit bereits als verlängerte Flitterwochen bei uns und wollen aktiv mitplanen.“
In meinem Kopf hallt sein letzter Satz wider. Die Hochzeitsgesellschaft betreuen? Ganz unmöglich! „Ich sag es nur ungerne, aber das schaffe ich nicht. An diesem Wochenende kommt mein zuständiger Lektor aus London, um mein zweites Buch zu besprechen, und das Shooting für die Promotion findet statt. Das ist schon so lange in Planung. Für mich kaum machbar, dann auch noch am Rockzipfel von Mr Scott und seiner Herzdame zu hängen und deren Wünsche zu erfüllen.“
Es ist wirklich selten, dass ich Kevins Sonderaufträge nicht erledige, und ich habe immerhin genau für diese Art von Zwischenfällen jahrelang mein zweites Buch verschoben. Jetzt, wo schon alle Verträge unterschrieben sind, kann ich unmöglich einen Rückzieher machen und meinen neuen Verlagslektor verärgern. Natürlich würde zeitlich schon irgendwie beides gehen, aber auf zwei Hochzeiten tanzen ist nicht nur sprichwörtlich schwierig. Ich hasse Situationen wie diese, aber nun muss ich da durch.
Georges Gesicht färbt sich rot, wechselt dann zu Blau und dann zu einem gefährlichen Lila. In einem Cartoon würde jetzt Dampf aus seinen Ohren strömen. „Da haben wir es wieder! Hab ich es dir nicht gesagt, Kevin? Hab ich es dir nicht vor der Hochzeit gesagt? Egoistin! Eine Egoistin, die sich auf Kosten des Kings Crown einen Namen mit ihren Häppchen gemacht hat, und jetzt, wo du sie brauchst, steht sie wo? Na, wo? Richtig! Nicht hinter dir!“
Das kann ich nicht so auf mir sitzen lassen. „Das ist eine bodenlose Unverschämtheit! Mein erstes Buch erschien bereits, bevor Kevin hier überhaupt Geschäftsführer war und ich hier gearbeitet habe. Also kann wohl kaum die Rede davon sein, dass ich mir auf eure Kosten einen Namen gemacht habe!“ Es war so klar, dass das wieder eskalieren musste. Das tut es immer, spätestens dann, wenn meine Projekte die Belange des Hotels oder die privaten Pläne der Roberts durchkreuzen.
„Beruhigt euch, verdammt nochmal!“, sagt Kevin. „Grace, kannst du dein Hobby nicht einfach ein bisschen verschieben?“
Seine Worte machen mich sprachlos vor lauter Wut. Mein Mund klappt unschön auf, während sich die Roberts weiter in Rage reden.
„Beruhigen? Wenn deine Frau nicht ständig ihr Buch im Kopf hätte, könnte sie sich wichtigeren Dingen im Crown widmen. Aber sie will sich hier einfach nicht unterordnen. Ich habe mich damals schon immer gefragt, was Sarah an diesem schlichten Mädchen findet.“ Trish bringt mich wirklich zum Platzen. Die Unverfrorenheit, immer wieder Sarah zu benutzen, um mich unter Druck setzen zu wollen, ist einfach ekelerregend.
„Mutter! Du gehst zu weit!“ Kevin schlägt mit der Faust auf die Tischplatte. Offensichtlich hat er irgendwo unter dem Schreibtisch seine Eier wiedergefunden, um diese unmögliche Situation zu beenden.
George greift seine Frau am Arm und schiebt sie vor sich aus dem Büro. „Wir vertagen dieses Gespräch“, verabschiedet er sich von uns und schlägt die Tür hinter sich und seiner Krähe von Ehefrau zu.
Kevin hat sich währenddessen mit dem Schreibtischstuhl umgedreht und starrt die kahle Wand hinter sich an. Ich weiß, dass ihn diese Situationen unheimlich nerven und es ihm am liebsten wäre, wenn ich die Spitzen seiner Eltern einfach über mich ergehen lassen würde. Zu meinem Bedauern muss ich zugeben, dass ich das auch oft genug tue, um Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Prinzipiell ist es einfach so, dass niemand es schafft, die Roberts konstant zufriedenzustellen.
Kevins Liebesleben vor meiner Zeit bestätigt diese Tatsache leider. Keine seiner Freundinnen oder Betthäschen war je gut genug. Wer will sich auch schon freiwillig permanentem Terror aussetzen? Scheinbar ich. Allerdings kenne ich die Familie schon ziemlich lange und bin daher einiges gewohnt. Mit der Zeit lernt man die Marotten seiner Mitmenschen kennen und lebt damit. Vielleicht war das neben Sarahs Unfall der Grund, weswegen ich mich trotzdem auf Kevin eingelassen habe.
Vorsichtig dreht er sich mit dem Stuhl wieder zu mir. „Grace, ich weiß, meine Mutter geht zu weit. Wieder mal. Aber natürlich meint sie es nicht so. Die beiden sind eben schwierig. Lass uns später in Ruhe über alles reden.“ Er atmet tief ein. „Nicht nur über die beiden, sondern auch über uns und das heute Morgen. Ich wollte dich nicht wegstoßen, aber das Thema lässt mich einfach nicht los. Und du bist in letzter Zeit wirklich unkooperativ.“
Tja, blöderweise lässt mich einiges hier auch nicht mehr los.
Der Druck, den Kevin mir in Sachen Familienplanung macht.
Die Gleichgültigkeit, mit denen die Roberts mein Buchprojekt behandeln. Die Kontrolle, die man immer wieder über mich ausüben will.
All das braut sich seit einiger Zeit zu einer riesigen Gewitterzelle in mir zusammen und droht von Tag zu Tag mehr, in einem gigantischen Unwetter aus mir herauszubrechen. Aber nicht heute.
„Ich mache Feierabend“, lasse ich ihn wissen, als ich die Tür hinter mir schließe.
Kapitel Zwei
Grace
Das gleichmäße Rauschen der Wellen wird immer lauter, als ich den schmalen Trampelpfad von unserer Villa in Richtung Strand hinunterlaufe. Für mich ist es das absolute Glück, direkt am Meer zu wohnen. Es ist für mich schon immer ein Ort der totalen Entspannung gewesen. Die kühle Brise peitscht durch mein offenes Haar. Ich schließe die Augen und atme tief die herrlich raue Luft ein.
Ich gebe mich wieder meinem täglichen Gedankenkarussel hin und überlege, wo ich im Leben stehe und wie ich die Situation verbessern – oder wie Molly zu sagen pflegt: verschlimmbessern – kann. Wie einfach war noch die Zeit, als ich diese ganzen Verpflichtungen nicht hatte. Nie hätte ich gedacht, irgendwann die Schule oder gar die Universität zu vermissen. Aber oft weiß man erst im Nachhinein, wie gut man es mal hatte. Vielleicht vermisse ich diese Zeit aber auch einfach, weil ich damals noch nicht verheiratet war und jederzeit hätte gehen können.
Es ist nicht so, dass ich es jeden Tag meines Lebens bereue, mit Kevin zusammengekommen zu sein. Auch wenn uns nicht die große Leidenschaft verbindet, wissen wir, dass wir auf den anderen zählen können. Aber genau das ist es, was an mir nagt. Kevin verlässt sich auf mich und zählt auf meine Hilfe, genau wie ich mich nach Sarahs Tod auf seine Hilfe verlassen habe. Aber was diesen Auftrag angeht, werden wir Kompromisse eingehen müssen. Ich werde mich, sofern es mir möglich ist, bei den Vorgesprächen blicken lassen. Die Ausrichtung der Feierlichkeiten kann Kevin aber gut und gerne mit seiner Mutter übernehmen.
Und dann ist da noch diese andere Sache. Kevin hegt, seit ich wieder an meiner Karriere und dem Buch arbeite, einen Kinderwunsch. Es ist nicht so, dass Kinder für mich ein rotes Tuch sind. Aber genau jetzt, wo ich gerade wieder anfange, etwas für mich zu tun, ist einfach der denkbar schlechteste Zeitpunkt. Obwohl ich ihn ungerne vor den Kopf stoße, weiß ich tief in meinem Inneren, dass er nur mit dem Babythema angefangen hat, um mich von meinem Buch abzuhalten. Die Tatsache, dass er ohnehin keine Zeit für eine Familie hat, macht die Vorstellung eines Babys für mich eher noch unerträglicher.
Ich wünschte, ich wäre eine dieser selbstbewussten Powerfrauen, die alles und jedem die Stirn bieten und ihr eigenes Ding durchziehen. Ganz ungeachtet dessen, was ihr Umfeld dazu zu sagen hat und ob jemand ihnen eine Grenze aufzeigt. Leider ist tough so ziemlich das letzte Attribut, mit dem man mich beschreiben könnte.
Ich lasse mich in den weichen Sand fallen und mache es mir bequem. Hier oben, in der Nähe der Dünen, hat man einen guten Blick auf das Strandpanorama und das Meer. Der perfekte Platz auf dieser Welt, um seinen Träumen nachzuhängen oder zu entspannen – oder um sich für einen Moment vor der Welt zu verstecken. Zumindest im Träumen und Verstecken bin ich ziemlich gut. Gedankenverloren lasse ich meinen Blick über den Strand schweifen. Die dunklen Wellen des Ozeans brechen sich in weißen, schaumigen Formationen und hinterlassen Spuren im hellen Sand.
In der Ferne erkenne ich eine Person, die sich langsam aus dem Wasser erhebt. Den Umrissen nach zu urteilen ein Mann.
Er fährt sich mit seinen Händen durch sein dunkles Haar, und als er ganz aus dem Wasser tritt, erkenne ich seine überdurchschnittlich breite Statur. Fast wie einer dieser Boxer aus Kevins Sportmagazinen – nicht übertrieben muskulös, eher sexy. Sein schwarzer Neoprenanzug spannt sich bei jeder Bewegung um seinen breiten Brustkorb.
Sein Blick schweift über die malerische Landschaft, die der Strand mit den Dünen vor den Steilklippen im Hintergrund abgibt, bis er auf meiner Höhe hängen bleibt. Ich starre ihn nach wie vor an. Und er starrt zurück. Schnell sehe ich zu Boden. Ungerne will ich mich erwischt fühlen, wobei ich genau genommen auch ihn beim Starren erwischt habe.
Vorsichtig blinzle ich wieder in seine Richtung. Allem Anschein nach sieht er immer noch zu mir. Wie unverschämt! Freche Menschen mag ich ganz besonders … nicht. Allein aus Höflichkeit hätte er seinen Kopf ebenfalls senken sollen. Wenigstens tue ich so, als würde ich ihn nicht beobachten. Dem Verhalten nach ist er kein Brite, und falls doch, dann jedenfalls kein Gentleman. Jetzt öffnet er den Reißverschluss seines Neoprenanzugs.
Wenn ich jetzt aufstehe und gehe, weiß er ganz genau, dass ich ihn weiterhin beobachtet habe und nur abhaue, weil er sich auszieht. Ich beschließe, noch einige Minuten sitzen zu bleiben und das Blau des Himmels zu betrachten, denn wenn ich noch mal zu ihm rüberlinse, fällt mir wahrscheinlich die Kinnlade runter und ich kann mir den Sabber aus dem Mundwinkel wischen.
„Fokus, Grace“, sage ich leise zu mir selbst.
Ich stütze mich auf meine Ellenbogen und hebe den Kopf – so ist es schon viel besser. Ob er schon weg ist? Ich muss noch einen Blick riskieren.
Er ist noch da und steht mit dem Rücken zu mir – allerdings in aller Pracht, wie Gott ihn schuf. Und Gott hatte, gemessen an dem, was ich erkennen kann, einen verdammt guten Tag, als er diesen Mann auf den Weg gebracht hat. Mit einem lächerlich kleinen Handtuch rubbelt er sich trocken.
Das ist die Gelegenheit zu gehen. Ich springe auf, nehme meine Handtasche und eile Richtung Trampelpfad. Eilig stapfe ich durch den weichen Sand, der unter jedem Schritt nachgibt und mich vermutlich wie eine besoffene Ente aussehen lässt. Damenhaftigkeit ist keine meiner Stärken. Nach einer Weile kann ich nicht widerstehen und sehe noch einmal zu ihm hinüber.
Nein, er stammt definitiv nicht aus Little Kings Bay. So jemand wäre schon viel eher aufgefallen, wenn nicht mir, dann ganz bestimmt Molly. In Gedanken verabschiede ich mich von dem heißen Touristen und laufe den schmalen Weg in Richtung Villa.
Am Nachmittag bleibe ich zu Hause, obwohl ich meine Freizeit oft im Hotel verbringe. Für eine weitere Begegnung mit meiner Schwiegermutter bin ich heute aber nicht mehr zu haben. Stattdessen bringe ich das Haus in Schuss, mache die Wäsche und räume einiges auf. Für manche Dinge hat man einfach nie die nötige Zeit oder nimmt sie sich nicht. Da ich prinzipiell ein ordnungsliebender Mensch bin, während sich Kevin außerhalb seines Geschäftes eher dem Chaos hingibt, stören mich solche Kleinigkeiten schon sehr.
Nachdem das Haus vorzeigbar ist, beschließe ich, eine Kleinigkeit zu kochen. Ich entscheide mich für eine leckere, klassische Lasagne. Dazu passt ein leichter, gut gekühlter Weißwein, denn Alkohol brauche ich bei der bevorstehenden Unterhaltung. Als Kevin gute zwei Stunden später immer noch nicht zuhause ist, schreibe ich ihm eine Nachricht.
Ich warte zuhause auf dich.
Lasagne ist im Ofen und Wein steht kalt.
Ich bin bereit zum Reden! Ich liebe dich, Grace
Keine Antwort. Ob er vielleicht doch sauer ist? Ich beschließe, mir die Wartezeit mit einem Gläschen Wein zu versüßen.
Eine Stunde später vibriert mein Handy.
Sorry Grace, ich habe es jetzt erst geschafft, deine Nachricht zu lesen.
Hier ist die Hölle los! Es wird später heute.
Kevin
Danke. Bitte. Gern geschehen. Ausgerechnet heute!
Nicht, dass ich mich überschwänglich auf den Abend gefreut hätte. Ein klärendes Gespräch hätte uns trotzdem gutgetan. Manchmal ist er ein richtiger Idiot, so wie damals in der Schule. Natürlich ist das Hotel unglaublich wichtig, aber eben nicht ausschließlich. Zudem gibt es immer genug zu tun. Rein theoretisch könnte man morgens anfangen zu arbeiten und vor dem Schlafengehen aufhören – wenn überhaupt. Aber das ist eben nicht der Sinn des Lebens, zumindest für mich nicht.
Ich schenke mir das dritte Glas Wein ein und drehe die Musik lauter. Von der leisen Chill-Out-Musik im Hintergrund habe ich langsam genug und wechsle zu einer dieser vorgefertigten Gute-Laune-Playlists, um meine Stimmung zu heben. Ich tänzle mit meinem Glas in der Hand durch das Wohnzimmer, so als wäre es ein angesagter Nachtclub und ich süße achtzehn. Mit Sarah war ich oft auf Partys oder in Clubs. Sie hat es immer geschafft, mich mit ihrer guten Laune und Partystimmung anzustecken. Sie fehlt mir noch immer so sehr.
Ich stelle die Musik noch lauter und fülle mein Glas erneut. Irgendwann vergesse ich beinahe, dass Kevin mich heute Abend versetzt hat. Nicht zum ersten und bestimmt auch nicht zum letzten Mal. Leider auch dann, wenn wir etwas Wichtiges zu bereden hatten oder aber zu einem besonderen Anlass, wie zum Beispiel unserem Hochzeitstag. Als die Weinflasche leer ist und sich langsam, aber sicher ein schwebendes Gefühl in meinem Kopf breit macht, ziehe ich die Jeans aus und taumle langsam, aber siegessicher Richtung Bett. Dabei proste ich meinem jüngeren Ich auf den Fotos im Flur zu. Den letzten Schlummertrunk gönne ich mir eingekuschelt in meine Decke. Die Stille unseres Schlafzimmers wird nur durch das leise und gleichmäßige Rauschen des Meeres unterbrochen, das durch das halb geöffnete Fenster dringt. Während ich vor mich hindämmere und der Wein seine restliche Wirkung zeigt, überkommt mich wieder dieser Gedanke, bei dem ich mich nur ungern erwische.
Was wäre wenn?
Wenn einfach alles ganz anders gekommen wäre und ich eben jetzt nicht alleine und wartend in unserem Bett liegen würde?
Vor meinem inneren Auge sehe ich mich ohne den Ring am Finger, der von Tag zu Tag an Gewicht zunimmt und mich davon abhält, mich aus dem tiefen Wasser und auf das rettende Land zu ziehen.
Mit letzter Kraft schiebe ich den Gedanken zur Seite und drifte langsam ab in einen tiefen Schlaf, wie ihn nur kleine Kinder oder Betrunkene haben. Das sanfte Meeresrauschen begleitet mich in die dunkle Welt des Unterbewussten.
Ich sitze im feinen Sand und beobachte das Spiel der Wellen. Wie sie Woge für Woge an das Ufer brechen und Sand sowie Muscheln zurück ins Meer tragen. Das herrliche, gleichmäßige Rauschen beruhigt all meine Sinne, und ich fühle mich unglaublich frei und ausgeglichen.
Aus dem weißen Schaum der Wellen erhebt sich eine dunkle, breite Gestalt. Es ist wieder dieser Typ, der gestern schon hier geschwommen ist. Er kommt auf mich zu. Langsam wandert sein Blick die Küste entlang und bleibt an mir hängen. Es ist, als würde er tief in mich hineinsehen können. Jedes Geheimnis, jeder Wunsch und meine dunkelsten Gedanken – nichts davon ist mehr sicher. Zielstrebig marschiert er auf mich zu.
Eine Gänsehaut überzieht meinen ganzen Körper. Ich sollte weglaufen. Ich drehe mich um, renne los und suche den Trampelpfad, der hoch zu unserem Strandhaus führt. Aber hier ist kein Trampelpfad. Nur die felsigen Klippen der Steilküste. Ich bin gefangen. Es gibt kein Entkommen. Langsam drehe ich mich um. Er steht nur gute zwei Meter von mir entfernt. Sein dunkles Haar ist nass und wirr. Langsam hebt er den Kopf und sieht in meine Augen. Ich sehe sein Gesicht vor mir und kann es zugleich nicht erkennen. Alles makellos, attraktiv, aber auch verschwommen. Das sollte mir noch mehr Angst machen. Mein ganzer Körper kribbelt vor Panik, aber auch vor Begierde. Ich will ihn!
Wie in Zeitlupe und mit der Eleganz eines Raubtieres nähert er sich mir. Die Luft zwischen uns pulsiert, und mein Herzschlag hämmert wie wild. Zwischen uns ist nur noch eine Armlänge Abstand. Je näher er kommt, umso mehr weicht die Furcht etwas anderem. Das Kribbeln wird zu einer wohligen Erwartung, die Gänsehaut zu einem erregenden Ziehen auf meiner Haut. Da ist nur noch Lust, obwohl das total falsch ist.
Er kommt noch näher, und aus Reflex trete ich einen weiteren Schritt zurück. In meinem Rücken spüre ich den harten, kalten Stein der Felswand und wie sich die raue Struktur durch den dünnen Stoff meines Kleides bohrt. Ich stehe mit dem Rücken an der Klippe, und keine Handbreit vor mir steht ein Fremder.
Das Pochen meines Herzens wird durch das Ziehen in meiner Körpermitte ergänzt. Unsere Gesichter trennen nur noch Zentimeter voneinander. Gleich wird es passieren. Er wird mich berühren, wird mich küssen. Und ich will es so sehr. Ich bin bereit, ihm alles zu geben. Alles andere verblasst gegen dieses unsichtbare Band, das uns zueinander hinzieht. Sein maskuliner Duft aus Holznoten und einem Morgen im taufrischen Wald umhüllt mich und verdrängt mein letztes bisschen Verstand. Jetzt kann ich nur noch fühlen.
Seine starke Brust presst sich an meinen Körper, kesselt mich noch mehr ein. Die Lippen berühren sachte mein Kinn und fahren mit einer unglaublichen Leichtigkeit, die ich diesem Bild von einem Mann nie zugetraut hätte, über meine Wange hinauf Richtung Ohr. Ganz leicht streift seine Zunge mein Ohrläppchen, als er mir leise in mein Ohr haucht.
„Grace …“ Beim Klang seiner tiefen, rauen Stimme stöhne ich auf, denn darin liegt ein Vorgeschmack auf das, was kommen wird.
„Grace.“ Seine Stimme klingt nicht mehr ganz so rau, sondern eher besorgt. Irgendjemand rüttelt mich.
„Grace, du träumst schlecht!“
„Was?“
„… nur ein Alptraum! Ist schon gut!“
Was? Nein! Wo ist er? Wo bin ich? Das darf noch nicht zu Ende sein!
Ich atme geräuschvoll aus, als ich frustriert realisiere, dass ich im heimischen Bett liege. Es ist bereits hell draußen, und das weiche Licht der Morgenröte dringt durch die Gardinen. Neben mir liegt Kevin. Mein Kopf dröhnt leicht, aber beständig, und als ich das leere Weinglas auf dem Nachttisch sehe, wird mir ein wenig flau im Magen.
„Du hast nur schlecht geträumt. Wahrscheinlich war das ein Glas Wein zu viel“, scherzt er neben mir.
„Ja, ganz bestimmt“, erwidere ich, immer noch verwirrt wegen des ziemlich realen Traumes, der gerne noch hätte weitergehen dürfen.
Heute ist Montag, diese Woche steht das Sommerfest in unserer alten Schule an. Wie im vergangenen Jahr spendet das Kings Crown neben einer Geldsumme täglich eine Auswahl an Leckereien, die die Schüler zum Verkauf anbieten können. Der Erlös kommt dem Erhalt des alten Schulgebäudes zugute, was auch dringend notwendig ist. Auch dieses Jahr lasse ich es mir nicht nehmen, mindestens einmal eine Lieferung auszufahren. Auf meine Schulzeit blicke ich mit gemischten Gefühlen zurück. Die meisten sind glücklicherweise positiv, obwohl ich mich im Gegensatz zu Kevin nicht immer wohlgefühlt habe. In der Pubertät hat sich ziemlich früh abgezeichnet, dass mein Körperbau nicht ganz dem zierlichen Ideal der heutigen Zeit entsprechen wird. Während meine Freundinnen relativ elfenhaft durch die Schule tänzelten, zeigten sich bei mir deutliche Kurven am Po und an den Brüsten. Dafür bekam ich zu vielen Gelegenheiten den passenden Spruch, der die eine oder andere Narbe in meinem Selbstbewusstsein hinterlassen hat. Dass mein heutiger Ehemann einer derer war, die mich besonders gerne als Speckbarbie bezeichnet haben, macht es nicht gerade besser, auch wenn er mir später zigmal versichert hat, es nie wirklich so gemeint zu haben.
Die Ampel vor mir schaltet von Rot auf Grün. Ich trete vorsichtig aufs Gaspedal und biege in die Einfahrt ein. Ich bin seit Sarahs Unfall grundsätzlich darauf bedacht, mich an jede Verkehrsregel zu halten, und fahre lieber zu langsam als zu schnell. Der Schulhof ist bereits festlich geschmückt, und viele Schüler, Lehrer und Besucher tummeln sich zwischen den bunten Ständen. In der hinteren Ecke, neben dem Bierwagen, entdecke ich einen Stand, der mit einer riesigen, knallbunten Torte aus Pappmaschee geschmückt ist. Zwei Schüler steuern zielstrebig auf mein Auto zu, während ich über den Schulhof fahre. Ich lasse mein Fenster runter, damit sie mir einen Platz zum Ausladen zuweisen können.
„Guten Morgen, Mrs Roberts“, sagt der größere Junge zu mir. „Wir sind zu Fuß schneller als Sie mit dem Auto!“
Innerlich setze ich einen weiteren Strich auf die Liste all derer Menschen, die sich schon über meinen Fahrstil lustig gemacht haben.
„Wir helfen Ihnen beim Abladen“, sagt der andere und boxt seinem Freund spielerisch in die Seite.
„Danke, ihr beiden.“ Auch wenn die Bemerkung über mein Schneckentempo nicht so nett war, gibt es noch Höflichkeit bei den jungen Leuten. Obwohl mir diese beiden Exemplare den Eindruck machen, als würden sie zu späterer Stunde das Privileg der Oberstufenschüler ausnutzen und den Zapfhahn des Bierwagens hauptsächlich für ihre eigenen Gläser betätigen.
Am Kuchenstand angekommen, beginne ich sofort damit, beim Auspacken und Verladen der Törtchen zu helfen. Als ich einer Siebtklässlerin zeige, wie man die Törtchen auf die Teller befördert, ohne dass die kleinen Kunstwerke kippen, passiert es: Mein Blick schweift über den sich immer weiter füllenden Schulhof, und mitten in der bunten Masse, etwa fünf Meter von mir entfernt, steht er und sieht mir direkt in die Augen.
Ein Blitz durchfährt meinen Körper. Das ist definitiv einer dieser Momente im Leben, bei denen man sich nicht sicher ist, ob man wach ist oder träumt. Meine Handflächen werden feucht, und ein Kloß scheint mir in der Kehle zu stecken. Liebend gern würde ich mir die Torte aus Pappmaschee über das geschockte Gesicht ziehen, um ihn nicht wie der letzte Depp anzuglotzen.
Nicht nur, dass das Schmachtobjekt meines Traumes und des gesamten Wochenendes jetzt einfach so vor mir steht. Nein, jetzt sehe ich auch sein Gesicht. Ich bin mir sicher, diesen Mann zu kennen. Obwohl er sich über die Jahre unglaublich verändert hat und eigentlich gar nicht mehr dem Jungen von damals ähnelt, werde ich diese stahlblauen Augen wohl niemals vergessen können.
Kapitel Drei
Jackson
Ich bin ohne jede Erwartung zurück nach Little Kings Bay gekommen und habe vorher keinerlei Nachforschungen betrieben, ob sie überhaupt noch hier lebt. Eine meiner selbstauferlegten Regeln. Es wäre eine glatte Lüge zu behaupten, dass ich in den vergangenen Jahren nie an sie gedacht hätte. Trotzdem habe ich sie zusammen mit meiner Schulzeit in eine Kiste gesteckt, diese sorgsam verschlossen und in eine der hintersten Ecken meines Hirns verfrachtet. Das Kapitel über Little Kings Bay habe ich in den letzten zehn Jahren mehr als erfolgreich verdrängt.
Ich bin kein Kind von Traurigkeit mehr gewesen, seit ich damals zurück in die Staaten gegangen bin und mir dort ein neues Leben aufgebaut habe. Es hat sich seit meiner Zeit in Little Kings Bay drastisch verändert. Ich wollte es so. Den Jackson von damals gibt es nicht mehr. Von dem wütenden Jungen, dem das Herz gebrochen wurde, ist nicht mehr viel übriggeblieben. Jetzt bin ich zum ersten Mal wieder hier. Ich wollte diesen Aufenthalt so unbefangen wie möglich gestalten und weder an alten Schauplätzen meiner Jugend in zumeist negativen Erinnerungen schwelgen noch feuchten Träumen meiner Teenagerzeit hinterherjagen. Dennoch stehe ich hier und tue genau all das, was ich so zwanghaft zu vermeiden versucht habe.
Sobald ich den Boden dieser gottverdammten Insel unter den Füßen hatte, wurde mir klar, dass mein Plan, alles von damals gekonnt zu ignorieren, gescheitert ist. Spätestens letzte Woche am Strand ist mir bewusst geworden, dass ich diesen Ort nicht würde besuchen können, ohne auch nur einen einzigen Tag an sie zu denken. Gerade, als ich aus den Wellen gestiegen bin, sah ich sie dort sitzen. Die langen, kastanienbraunen Haare wehten um ihr Gesicht. Ja, sie hatte sich verändert, aber mein Grace-York-Radar funktioniert nach zehn Jahren immer noch exzellent, und tief in mir wusste ich sofort, dass sie es ist.
Trotzdem habe ich der Versuchung widerstanden, sie zu googeln oder Einheimische nach ihr zu fragen. Immerhin bin ich die letzten Jahre sehr gut ohne Fantasien von Grace gefahren. Meine männlichen Jagdinstinkte haben mich dann aber doch zum Sommerfest unserer alten Schule geführt. Denn wenn man einer Droge nach langer Abstinenz nur einmal nachgibt, dann will man sie immer wieder kosten. Grace ist meine alte Droge. Und siehe da, hier steht sie und sortiert mit diesen nervigen Kindern irgendwelche Schokotörtchen. Ihre Vorliebe für Süßes hat sich anscheinend über die Jahre gehalten.
Sie ist noch viel schöner, als ich sie in Erinnerung habe. Ihr langes Haar trägt sie in einem undefinierbaren Gebilde auf dem Kopf – wahrscheinlich, damit ihre langen Strähnen nicht auf den Törtchen landen. Es ist ein einziges Desaster, aber es passt zu ihr. Sie trägt Jeans und eine leichte, cremefarbene Bluse, die ihre Kurven nur erahnen lässt. Eine Schande, diesen Körper zu verdecken. Auch das hat sie offenbar beibehalten. Auf übermäßiges Make-up scheint sie nach wie vor zu verzichten, was keinesfalls heißt, dass sie es auch nur ansatzweise nötig hätte. Grace York war schon immer atemberaubend schön, auf ihre eigene, ganz spezielle Weise. Und die letzten Jahre haben nichts daran geändert.
Es ist weiß Gott nicht so, dass ich ihr seit der Schulzeit und dem desaströsen Ende unserer Freundschaft hinterhergeschmachtet hätte. Okay – damals war es so. Und das, obwohl sie mir die Abfuhr meines Lebens erteilt hat und ich ihr eigentlich bis in alle Ewigkeiten böse sein sollte. Es hat wirklich lange gedauert, um über Grace hinwegzukommen. Aber obwohl ich dieser Frau eigentlich nie, nie wieder verfallen wollte, sind die Würfel spätestens jetzt gefallen. Und dazu reichte ein einziger Augenblick aus: Ich werde Little Kings Bay nicht verlassen, ohne Grace gevögelt zu haben.
Hier stehe ich nun und blicke ihr direkt in die großen, grasgrünen Augen. Sie sieht mich an, als wäre ich ein verdammter Geist. Betreten wendet sie sich ab und mustert die Törtchen. Klar, das mit uns ist nicht gut ausgegangen, und vermutlich ist ihr ihre
Charakterlosigkeit von damals heute sogar unangenehm.
Grace und Jackson – das ging einen ganzen Sommer lang. Angefangen damit, dass meine Mutter mich nach der Scheidung von meinem Erzeuger aus den Staaten in diesen gottverdammten Küstenort verschleppt hat. Nachdem meine Eltern Jahre damit verbracht haben, sich gegenseitig zu terrorisieren, war ich einfach nur verflucht wütend. So wütend, dass ich mich mit Händen und Füßen gegen alles und jeden gewehrt habe. Ich habe mich tätowieren und mir die Lippe piercen lassen. Meine bevorzugte Kleidungsfarbe war schwarz. Meine Lieblingsbeschäftigung bestand darin, mich mit jedem zu prügeln, der sich mir in den Weg gestellt hat. Ich war ein verdammter Punk. Alles K.o.-Kriterien, wenn man in einem idyllischen Küstenstädtchen dazugehören will. Aber genau das war der Knackpunkt, denn ich wollte nie hierhergehören.
Die Schule war ein einziges Desaster. Jeder hat mich damals angepisst. Als ich an einem ganz beschissenen Tag dem größten Vollidioten und seiner kleinen Privatarmee aus Clowns in die Arme lief, war es Grace, die für mich Partei ergriff und mich aus der Situation rettete.
Es war das erste Mal, dass ich sie überhaupt wahrnahm. Einerseits war sie beliebig und unscheinbar, als wäre sie darauf bedacht, sich in der grauen Masse unsichtbar zu machen. Aber als ich mir einen Moment lang Zeit nahm und sie genauer ansah, wusste ich, dass sie das Schönste war, was diese ganze Stadt zu bieten hatte. Ab da war klar, dass ich sie für mich haben musste.
Über das E-Mail-System der Schule schrieb ich ihr Nachrichten, und sie antwortete. Das ging eine ganze Weile so. Da sie mich nicht treffen wollte, entführte ich sie. Natürlich nicht wirklich, aber ich passte sie nach der Schule ab, überredete sie, mit mir zu schwänzen und die Nachmittage am Strand zu verbringen, oder holte sie nachts mit kleinen Steinen gegen ihr Fenster aus dem Bett.
Der Sommer war perfekt und Grace gab mir etwas, das diesen Ort erträglich machte. Mehr als erträglich. Ich war ihr dermaßen verfallen, dass ich in ihrer Gegenwart nie wütend wurde und meine Pläne, so schnell wie möglich zurück in die Staaten zu kommen, immer und immer wieder verwarf.
Aber dann wurde all das zerstört, und Grace war daran alles andere als unbeteiligt.
Ich habe immer gedacht, wir würden uns nie mehr treffen, und bin jedes Mal wütend geworden, wenn ich mir ein Wiedersehen ausgemalt habe. Jetzt, wo sie vor mir steht und genauso nervös wirkt wie vor zehn Jahren, ist davon nichts mehr übrig.
Sie fährt einmal mit der Zunge über ihre volle Unterlippe, nur ganz kurz, atmet tief ein, und ihre Brust hebt sich deutlich.
Jetzt ist es an mir, den nächsten Schritt zu wagen. Ich überwinde den Abstand zwischen mir und dem Stand und stütze mich vor ihr auf der Theke ab. Die Kleine neben ihr, die soeben noch Törtchen sortiert hat, blickt verlegen zu mir auf. Sie sieht aus, als würde sie gleich in Panik ausbrechen, weil sie mir eines dieser Schokoladenmonster verkaufen muss. Grace flüstert ihr etwas zu, woraufhin sie sich sichtlich dankbar und erleichtert den Kisten im Hintergrund zuwendet.
Ich muss mich zusammenreißen. Nicht nur, weil mein Schwanz in freudiger Erwartung zuckt, wenn ich ihr so nah bin. Nein, tief in mir macht sich eine kleine Welle der Unsicherheit breit. Und ich war in den vergangenen Jahren vieles, aber ganz bestimmt nicht mehr unsicher.
„Es ist verdammt lang her, Grace.“
„Das ist es, Jackson.“