Driving home for Christmas
Ich feuchte meinen Zeigefinger an und reiße das skatkartengroße Kalenderblättchen des zweiundzwanzigsten Dezembers ab. Ich grinse zufrieden. Es existieren weder Ton- noch Filmaufnahmen, auch keine steno- oder tagebuchähnlichen Aufzeichnungen, die als Beweismittel taugen, einzig mein Gedächtnisprotokoll liegt mir vor. Und dennoch erinnere ich mich an jedes Detail. Ein warmer Hauch weht mir über das Gesicht. Die besonderen Ereignisse des letzten Weihnachtsfestes, die mein gesamtes Leben umgestaltet, umgekrempelt und umso besser gemacht haben, sind noch immer präsent …
1 Jahr zuvor
„In zwei Tagen ist Weihnachten“, raunte ich, betrachtete aufmerksam mein Spiegelbild und bemühte mich um ein Grinsen. Doch mir gelang nichts außer einem Seufzen. Ich konnte Weihnachten nicht leiden. Warum? Weil die menschlichen Erwartungen an diesem speziellen Tag besonders hoch und unrealistisch sind. Alle Jahre wieder bündelte sich die Sehnsucht nach Perfektion am vierundzwanzigsten Dezember. Oh Tannenbaum, lasst uns froh und munter sein, heute Kinder, wird’s was geben. Vorfreude, Nervosität und warten, warten, warten. Warten auf das Christkind, oder wie in meinem Fall, bis es wieder weg war.
Ich hielt meine Hand unter den Wasserhahn, wischte mir durch das Gesicht und befeuchtete meine Mimik. Mit Tropfen auf der Nase starrte ich in den Badezimmerspiegel und bemühte mich noch einmal um ein Grinsen. Ich öffnete meine Lippen so weit, als hätte mich meine Zahnärztin darum gebeten. Von wegen, weißere Zähne, dachte ich. Diese neue Zahncreme taugt gar nichts. Sie sind nicht weißer, sie sind einfach nur heller, stellte ich nüchtern fest. Verfärbtes Hell ist nur leider nicht das Gleiche wie Weiß. Ich schüttelte den Kopf und schaute mir tief in die blauen Augen.
„Müde siehst du aus“, flüsterte ich. „Müde mit hellen Zähnen“, ergänzte ich und ließ eine zuckende Rage meiner Schultern zu. Die Zeiten, in denen mein Lächeln das des Kinderschokolade-Knaben hätte doubeln können, waren Geschichte. Mein Zahnweiß, ein Weiß, wie die Fronten einer hochglanzfurnierten Einbauküche, war lange her. Weiß würden in den nächsten Jahren nur noch meine Haare. Vielleicht auch früher schon, überlegte ich und dachte voll Gram an das bevorstehende Weihnachtsfest. Ich spürte fast, wie meine Haare farblich verblassten, von Kastanienbraun zu Ascheweiß.
„Das Leben ist unvollkommen“, zitierte ich einen klugen Menschen, dessen Name mir gerade nicht einfiel und pfiff einen Gothic-Klassiker. Ich hatte mich mit der Unvollkommenheit des Lebens schon lange arrangiert. Ich machte eine wegwischende Handbewegung und klapste versehentlich den Rand des Waschbeckens. „Autsch.“
Ich strebte nicht nach Perfektion. Ich brauchte keine Formvollendung. Ich verwirklichte mich im Mittelmaß. Europaweit war ich vermutlich die einzige Frau ohne Figur-Probleme. Ich war nicht zu üppig, nicht zu dürr, nicht zu hoch und nicht zu tief. Ich gefiel mir. Dass man heutzutage sowas eine Frau noch sagen hört, ist fast empörend, zumindest aber unglaublich.
„An der Nordseeküste“, sang Fee, meine beste Freundin, mit der ich gemeinsam eine Doppelhaushälfte bewohnte, die ich mir vor einigen Jahren gekauft hatte. Sie stöckelte durch den Flur und klopfte im Vorbeigehen an die Badezimmertür.
„Netter Hinweis“, rief ich, fletschte meine Zähne und schloss die Augen. Was meine Mutter sich in den Kopf setzt, dachte ich und sauste mit meinen Gedanken in die Vergangenheit. In den Spätsommer genau genommen …
„Ich würde den Abend gerne zu Hause vor dem Fernseher verbringen. Mit Kartoffelsalat und Bockwürstchen“, meinte ich zu meinen Eltern und nickte. Mutter schaute mich an, entsetzt, fast verstört, als hätte ich ihr Tino Chrupalla als meinen neuen Lover vorgestellt.
„Nein, nein“, widersprach sie. Ihr Zeigefinger fegte durch die Luft. Ich hatte ihr gerade eine Absage hinsichtlich des geplanten Weihnachtsevents erteilt. Meine Eltern beabsichtigten ein glamouröses, glanzvolles Fest mit allen Freunden, Bekannten, Angeheirateten und Verwandten auszurichten.
„Du feierst mit uns“, bestimmte sie.
„Basta!“, scherzte mein Vater und zwinkerte mir zu.
„Dein Vater und ich planen seit März“, erklärte sie, während ihre Stimme in die Höhe schoss. „Es wird ein unvergessenes Fest werden“, beteuerte sie.
„Hätte es eine kleinere Veranstaltung nicht auch getan?“, hakte ich nach.
„Du tust ja gerade so, als planen wir eine Promi-Veranstaltung im ausgebuchten Roncalli-Zelt?“, konterte meine Mutter.
„Du weißt genau, was ich meine“, behauptete ich. „Warum wollt ihr ausgerechnet an der Nordseeküste feiern? In Nurdachhäusern? Und dann gleich für eine Woche. Weihnachten ist nur am vierundzwanzigsten Dezember.“
„Dass wir alle noch einmal zusammenkommen“, säuselte sie. Wie überdramatisch, dachte ich.
„Dreh nicht durch, Mama, du bist gerade einmal sechzig Jahre alt, bist frei von heimtückischen Erbkrankheiten, bist keine risikofreudige Extremsportlerin, hast ein Herz wie … eine Mutter eben, bist nicht schlaganfallgefährdet und hast nicht einmal eine Schilddrüsenüber oder -unterfunktion“, fasste ich die Fakten kühlen Kopfes zusammen.
„Lass uns doch die Freude. Es wird großartig werden, du wirst schon sehen.“
Doch das Einzige, was ich sah, waren die unbezahlten Urlaubstage, die mein Weihnachtsgeld verdauten, da mein Jahresurlaub nur bis September gereicht hatte. Mit einer der gedruckten Einladungskarten fächerte ich mir Frischluft zu.
„Da meine zweite Tochter nun endlich auch zugesagt hat, bleibt nur noch die Frage, wie der mundgeblasene Baumschmuck unfallfrei an die Nordseeküste kommt“, schrillte meine Mutter und fixierte meinen Vater mit einem Appell in ihrem Gesicht. Ich fixierte meinen Vater ebenfalls. „Papa, tu doch was“, flehte ich und schob meine Unterlippe vor. Warum feiern wir nicht zu viert, überlegte ich. Mama, Papa, Fee und ich. Zu Hause in meiner Doppelhaushälfte, vor dem Fernseher mit Kartoffelsalat und Bockwürstchen.
„Mein Mädchen, wir schaffen das“, flüsterte mein Vater und streichelte meinen Kopf. Er lächelte liebevoll. „Lass deiner Mutter doch die Freude.“
So eine Kraftanstrengung für einen einzigen Tag. Genaugenommen für wenige Stunden, überlegte ich und schaute mürrisch in den Spiegel. Ich erschrak und musste plötzlich an meine Oma denken. Ich ließ meine Augen groß werden wie Apfelsinen.
„Da steht man tagelang in der Küche und zwanzig Minuten später ist alles weggefressen“, hatte sie früher immer gesagt – Jahr ein Jahr aus, am Weihnachtsfest.
Und plötzlich befürchtete ich, dass ich meine relative Gleichgültigkeit gegenüber dem Weihnachtsfest meiner powerpessimistischen, meiner dauerdestruktiven, meiner megamosernden Oma zu verdanken hatte. Ich warf mir meine rechte Hand vor den Mund.
Damals hatte ich meine Mutter gefragt, warum wir jedes Jahr zu Oma nach Brunsbüttel fahren müssten, obwohl es dort so schrecklich war.
„Blut ist dicker als Wasser“, hatte meine Mutter mir verraten und ich hatte genickt, als hätte ich irgendetwas verstanden.
Heute weiß ich, was für eine nichtsnutzige Floskel das war. Blut ist dicker als Wasser, was soll das heißen? Geht’s da um den Aggregatzustand, um die Fließgeschwindigkeit von Flüssigkeiten? Und Zucker ist süßer als Salz. Punkt. Ich schnaubte.
Meine Oma hatte viel Energie darauf verwendet, das Fest der Liebe, das sagenumwobene Weihnachtsfest zu einer Weihnachtspest zu machen. Am Weihnachtsbaum hing zu wenig Lametta, die Geschenke waren selbstgestrickt und nach dem Hauptgang gab es, zum Braten passend, einen zähen Streit, dass der Nachtisch aus Zeitgründen vom Protokoll gestrichen werden musste. Mutter weinte, Oma exte einen Piccolo und Vater hielt meine Schwester und mich im Arm. „Nächstes Jahr fahren wir in den Skiurlaub“, versprach er. Pustekuchen, denn ein Jahr später stand wieder eine unberührte Gebäckspezialität auf dem selbstgestrickten Tischläufer in Beige und wartete auf seinen Verzehr, während drumherum schon zäh gestritten wurde. Mama weinte, Oma exte, Vater versprach uns einen Skiurlaub.
Wie soll ich nach diesem Trauma je wieder in Weihnachtsstimmung kommen?! Ich war noch immer eins mit meinem Badezimmerspiegel. Untätig betrachtete ich mein müdes Gesicht.
„Das Fest der Liebe“, hauchte ich ironisch und täuschte eine zittrige Unterlippe vor, wie ein Pfarrer, den seine eigene Predigt überwältigt hat. Ich wusste, ich benahm mich wie der Grinch und zog einen Flunsch.
„Im Radio haben sie gerade gesagt, dass es an der Nordseeküste schneien könnte. Super, oder?!“, trällerte Fee vor dem Badezimmer und riss mich aus meiner Untätigkeit raus.
„An der Nordseeküste? Niemals! Wenn es schneit, dann in Bayern“, schlaumeierte ich und sah mir beim Sprechen zu.
„Bist du jetzt Meteorologin geworden?“, scherzte meine beste Freundin und Mitbewohnerin. Durch die lärmabwehrende Tür klang ihre Stimme dumpf.
„Glaub mir, es wird nicht schneien!“ Ich gestikulierte, als hacke ich einen Laib Brot in der Mitte durch.
„Ey, du bist so Klischee“, behauptete sie.
„Ich?“, echauffierte ich mich.
„Ja, voll! Du verkörperst alle Merkmale eines Grinch.“ Fee pausierte kurz, dann fuhr sie fort. „Weihnachten scheiße.“ Sie sprach mit verstellter Stimme und klang wie … na ja … wie ein Grinch. „Geschenke scheiße. Baumschmuck scheiße. Schnee scheiße.“
„Ich bin weder ein Grinch noch entspreche ich irgendeinem Klischee!“, betonte ich.
„Glaub daran, aber es stimmt nicht“, entgegnete Fee. Ich hörte, dass sie kicherte. Dann stöckelte sie davon. Klack, Klack, Klack.
„Ich und Klischee“, zischelte ich und schnaubte. Niemals!
Die Wahrheit war, ich entsprach keinem Klischee. Denn obwohl ich eine Zwillingsschwester habe, machten sie und ich keine Werbung für die Pillen, Tabs und Tropfen eines großen deutschen Pharmaunternehmens. Kein Hanni und Nanni, kein doppeltes Lottchen, ich konnte meine Schwester nicht einmal leiden. Gute Reise, gute Wässerung – geh doch weg und schlag dort Wurzeln. Von wegen, tiefe Verbundenheit, meine Schwester und ich hielten Kontaktsperre. Seit Jahren schon.
Ich entsprach keinem Klischee, ich hatte Dreadlocks und war trotzdem keine Baumhausbesetzerin oder Ergotherapeutin geworden. Ich war Kauffrau. Ich war über dreißig, unverheiratet, kinder- und sogar haustierlos. Ich besaß keinen Autoführerschein. Ich machte mir nichts aus Schuhen mit Riemchen, nichts aus strippenden Typen mit öligen Waschbrettbäuchen, nichts aus Boygroups, es sei denn sie spielten Fußball mit mir, und trank lieber Bier als Sekt.
„Das sind eindeutig genug Beweise“, redete ich mir ein und nickte.
„Bist du eigentlich langsam mal bereit?“, rief Fee. Sie tänzelte wieder vor der Badzimmertür hin und her. Ich erschrak, zuckte zusammen und überlegte blitzschnell.
„Bereit wie man in dieser Situation sein kann“, erwiderte ich zerknirscht und schaute ebenso meinem Spiegelbild entgegen. Plötzlich wurde mir fürchterlich aufgeregt zumute. Meine Beine zitterten, als stünde ich auf viel zu hohen High Heels, mit viel zu schlanken Absätzen.
„Du ziehst hoffentlich nicht diesen schrecklichen Weihnachtspulli an, oder?“, rief sie.
„Hm“, antwortete ich und schaute an mir herab. Ich blickte auf Lebkuchenfiguren, weißbärtige Kerle, Engel und allerlei Weihnachtsgetier. Dieser Fummel mit All-Over-Print war meine Art des stillen Protests. Mein Gegenentwurf zu Frack, Pomp, Pailletten und Nadelstreifen. Feixend rieb ich mir die Hände. Der leuchtend bunte Kitschpullover knisterte, ob des hohen Kunstfaseranteils, bei jeder Bewegung. Jetzt nur kein Metall berühren, überlegte ich achtsam.
„Was hast du gegen meinen Weihnachtspulli?“
„Er ist cringe, du Grinch“, skandierte Fee vom Flur aus.
„Ich glaube, dieses Jahr liegen schlimmere Dinge unter dem Weihnachtsbaum“, erwiderte ich und ging die Gästeliste durch. Gast Nummer eins, meine Oma Gretchen. Nichts an dieser Person rechtfertigte eine Verniedlichung, ein „chen“ im Namen. Gast Nummer zwei, meine Schwester Lissy. Gast Nummer drei, Kim, der Sohn der besten Freunde meiner Eltern. Die Liste war ebenso lang wie das Gesicht, das ich in dem Moment machte.
"Kim“, flüsterte ich und legte eine Portion Verachtung in meine Stimme.
„Hast du was gesagt?“, rief Fee.
„Was? Nein!“, log ich.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Ich war sechzehn Jahre alt und Kim mein erster Freund. Dann kam Lissy daher und ich war wieder Single.
„Ein Teil von mir wird dich immer lieben“, log Kim, damals, nachdem ich ihn und Lissy beim Knutschen erwischt hatte. „Ihr seid eineiige Zwillinge. Wenn ich deine Schwester küsse, ist es, als küsse ich auch dich. Es ist nur dieses eine kleine Prozent“, meinte er zu mir. Es war immer dieses eine kleine Prozent, dieser Spritzer Zitronensaft, diese paar Zentimeter, die meine Schwester vorne lag.
Nach dem Betrug hatte ich nie wieder mit Kim gesprochen. Wenn ich ihn in der Vergangenheit auf irgendwelchen Events meiner Eltern traf, schaute ich weg und tat so, als kannte ich ihn nicht. Stattdessen tat ich so, als amüsierte ich mich, lachte zu laut, flirtete zu frech – manchmal sogar mit dem Onkel eines Schwagers, einundsiebzig Jahre alt.
Kim kümmerte das nicht, er hatte mal die eine, dann wieder eine andere an der Hand. Zeitweise war er solo unterwegs. Doch nie solo und verzweifelt, immer nur solo und wissend, dass bald die Nächste kommt. Er hatte Charme, sah so unerhört gut aus, dass es kaum auszuhalten war - als wäre mir der einundsiebzigjährige Onkel eines Schwagers mit seinen orthopädischen Schuhen beim Tanzen auf den kleinen Zeh getreten.
„Komm drüber weg. Es ist fast zwanzig Jahre her“, bellte der Grinch in mir und riss mich aus meiner Erinnerung heraus.
„Wir müssen in einer Dreiviertelstunde los“, bellte schließlich auch Fee.
„Ich weiß“, gab ich zurück. Fee und ich kannten uns so gut.Ohne sie zu sehen, wusste ich, dass sie im Flur mit dem Zeigefinger auf ihre Smartwatch eindrosch und versuchte, den Alarm auf fünfundvierzig Minuten zu programmieren.
„Scheiß Ding“, fluchte sie, während es vor der Badezimmertür bimmelte und klingelte.
Sie trug das Scheiß Ding seit über einem Jahr und wusste noch immer nicht, wie es funktionierte.
„Nimm dir doch die Eieruhr aus der Küche.“
„In einer Dreiviertelstunde“, wiederholte Fee. Meinen Vorschlag ignorierte sie. Dann entfernte sie sich mit den Worten: „Ich checke noch einmal den Geschenkeberg.“ Das Schrillen wurde leiser.
Der Geschenkeberg, dachte ich. Er hatte auf dem Wohnzimmerfußboden sein Zwischenlager gefunden und musste noch verladen werden. Das auch noch!
„Ich will nicht“, raunte ich leise und schaute auf meine dunkelgrün lackierten Nägel. Vielleicht breche ich mir die Finger, überlegte ich, dann darf ich zu Hause bleiben. Und wenn nicht, breche ich spätestens, wenn ich Gretchen gegenüberstehe. Oder Kim. Oder Lissy. Vielleicht bekomme ich vorher einen tödlichen Stromschlag, dachte ich, während der Pullover verheißungsvoll vor sich hin knisterte. Ich seufzte.
Reiß dich zusammen, wirkte ich still auf mich ein und glättete mit den Fingerkuppen meine Zornesfalten.
„Das Leben ist unvollkommen“, wiederholte ich noch einmal und spulte in Gedanken schon einmal die Begrüßungsszene ab, in der mir die nahen und weit entfernten Verwandten, die Angeheirateten und Geschiedenen, mit fröhlicher Weihnachtsstimmung, plappernd und gackernd, um den Hals fielen. Ich nahm mir vor, emotional stabil zu bleiben, mich beherrscht und gelassen zu geben. Selbst wenn sie mir und Fee zum x-ten Mal eine Beziehung nachsagten.
Nein, wir sind immer noch kein Paar, würde ich erklären, als ob ich das nötig hätte, und ein geduldiges Grinsen vortäuschen. Von außen würde niemand meine Rage erkennen. Es ist ja schließlich Weihnachten. Und sowieso kann man den Menschen immer nur bis vor den Kopf blicken, der Rest liegt im Verborgenen. In dem Zusammenhang fiel mir etwas ein …
Viele Jahre war es her, da hatte ich die Gelegenheit, eines meiner Idole persönlich kennenzulernen. Seit meiner Kindergartenzeit, während all die anderen Kinder aus der Igelgruppe Rolf Zuckowski und seine Freunde feierten, hörte ich die Graving Beasts, eine eher düstermelancholisch wirkende Goth-Rock-Band. Tiefschwarz, wenig Tempo, viel Bass und ein guttural agierender Frontmann namens Divo.
Müsste ich an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen, dass ich keinem Klischee entsprach?!
Dachbodenaufräumarbeiten mit meinem Vater hatten mir eine Schallplatte der Graving Beasts in die Hände gespielt.
„Ach, du meine Güte“, meinte mein Vater mit Tränen in den Augen und grinste beseelt. „Das, Luise, ist das erste Album der Graving Beasts, der besten Band der Welt.“ Neugierig sortierte ich die schwarze Scheibe aus der ausgelaugten Papphülle.
„Ich wette, deine Mutter hat sie hier oben versteckt“, schimpfte mein Vater und polterte sodann die Stufen der Dachbodentreppe herab.
Viereinhalb Minuten später saßen er und ich vor dem rotierenden Plattenteller und wippten mit den Köpfen. Es war Liebe auf den ersten Ton. Liebe, Verzückung und das Gefühl, Rolf Zuckowskis Freunden aus der Igelgruppe musikalisch den Mittelfinger zu zeigen.
Es folgten ein schwarz gestrichenes Jugendzimmer, verwehte Sturmfrisuren und ein Nasenpiercing. Ein Meet and Greet, nicht zu verwechseln mit dem Meat und great einer Fastfoodkette, brachte zusammen, was meiner Meinung nach zusammengehörte, Divo und mich. Doch schon der erste Eindruck ließ mich ernüchtert zurück. Divo war ein unsympathischer Riesenarsch. Ich konnte ihn weder riechen noch leiden. Er war ungehobelt, ungeniert und unverschämt. Er nannte mich „Kleine“ oder „Schätzchen“.
„Ciao, Arschloch“, schmetterte ich. „Schieb dir dein Meet and Greet in die toupierten Haare.“ Ich stampfte aus der schaurigen Eventlocation und strich die Graving Beasts unwiderruflich von der Liste meiner Lieblingsbands.
„Man kann den Menschen immer nur bis vor den Kopf schauen“, flüsterte ich. „Oder aber bis vor die aufgehellten Schneidezähne.“ Ich fuhr mir mit der Zungenspitze über die Frontzähne.
„Noch vierzig Minuten“, rief Fee. Ihre Uhr dudelte immer noch. „Was machst du eigentlich die ganze Zeit da drinnen?“ Sie ruckelte an der Türklinke.
„Ich frisiere mich“, log ich, zog mit den Zeigefingern die Unterlider herab und betrachtete meine blassrote Bindehaut. So sah ich aus wie ein Bernhardiner.
„Du hast Dreadlocks“, konterte Fee.
„Als ob sich Dreadlocks nicht frisieren lassen“, erwiderte ich mäkelig, schnappte mir Fees goldene Duttnadeln und schob sie spontan in den wurstigen Riesenknäuel, der am Hinterkopf vertäut werden wollte. Ein letzter unzufriedener Blick in den Spiegel. Ich ohrfeigte den Lichtschalter und verließ seufzend den Raum.
Lasst uns froh und munter sein
„Da bin ich!“ Ich baute mich im Flur vor meiner besten Freundin auf und gestikulierte wie eine Narzisstin. Sofort griff ich mir ihr Handgelenk und tippte routiniert auf ihrer Smartwatch herum. Ding Dong, Ding Dong, Ding Dong, bis das Bimmeln verstummte.
„Ich mache nichts anders als du“, behauptete Fee. Ich hob meine Schultern kurz an und schenkte ihr ein verständnisvolles Grinsen. „Auf mich reagiert die Uhr irgendwie nicht“, schob sie hinterher und sich den Unterarm vor die Nase.
„Noch achtunddreißig Minuten“, informierte sie mich. „Wir sollten uns um den Geschenkeberg kümmern.“
Fee stöckelte durch den Flur. Ich schlurfte hinter ihr her und musterte die gemusterten Bodenfliesen.
„Weißt du noch, die Fliesenleger, die sie verlegt haben?“, fragte ich nach und schmunzelte. „Du wolltest mich mit dem Großen der beiden, dem mit dem kahlen Schädel verkuppeln.“
„Ja“, kicherte Fee und drehte sich nach mir um. Mit dem Zeigefinger richtete sie ihre dunkle Brille. „Ich hätte den Kleinen mit den rotbraunen Haaren genommen.“
„Ich erinnere mich noch gut an sein gelocktes Gesäß-Dekolleté“, spottete ich.
„Haare kann man weglasern“, entgegnete sie. „Ich war halt scharf auf eine Doppelhochzeit.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber …“ Sie strammte ihren Zeigefinger. „… ich habe meine Erwartungen erheblich runtergeschraubt. Heute wäre ich schon froh, wenn eine von uns vergeben wäre.“
Ich zwinkerte ihr zu. „Tja“, seufzte ich. „Das Leben hat wohl andere Pläne.“
„Trotz Vision Board, der Bucket List und meinem Fünfjahresplan, stell dir das mal vor“, raunte Fee. „Ich sag dir, es liegt an meiner riesigen Nase“, schmollte sie.
„Quatsch“, widersprach ich. „Es liegt an den Fingern.“
„An den Fingern, hä?“ Sie schlitzte ihre Augen.
„Schließlich tragen die meisten Typen, für die du dich interessierst, Eheringe.“
In dem Moment betraten wir das Wohnzimmer und kamen vor den bunt und weihnachtlich verpackten Präsenten zum Stehen. Ich schob mich neben sie und griff nach ihrer Hand.
„Wie sollen wir das alles in dein Auto kriegen?“ Ich sperrte meine Augen auf und schürzte die Lippen.
Direkt vor unseren Füßen lag das größte Geschenk. Ich hatte Fee ein Flipchart gekauft. Noch mehr hätte sie sich über eine chirurgische Nasenkorrektur gefreut, das wusste ich. Doch, ich war nur Kauf- und keine Spielerfrau. Selbst Fee, Bankerin, sparte seit Jahren für diesen maximalinvasiven Spezialeingriff.
Sie war sehr unglücklich mit ihrer Nase. Mit einem Filzstift malte sie regelmäßig an ihrem Riechorgan herum und markierte die Bereiche, die ihrer Meinung nach für ausbleibende Dating-Erfolge verantwortlich waren. Ohne die seltsame Bemalung sieht deine Nase völlig normal aus, sagte ich meist. Doch Fee, im Gegensatz zu mir, gefiel kein normal.
„Dann wollen wir mal“, leitete Fee den Verladeprozess ein und drückte meine Hand.
„Müssen“, korrigierte ich und verhalf der schwarzen Faltbox zu mehr Fassungsvermögen. „Das Ding kann seine Gestalt verändern, wie ein Transformer“, scherzte ich. „Guck mal wie riesig“, staunte ich und Fee griff sich, wie immer, wenn jemand „riesig“ sagte, an die Nase.
Mit beiden Händen trug ich den Geschenkeberg ab und schaufelte die Präsente in die Box. Vor dem Haus auf der Auffahrt kippte ich die erste Ladung lose in Fees Kofferraum. Insgesamt dreimal musste ich laufen, ehe ich die Box wieder zusammenfaltete.
„Puh“, machte ich und testete, ob sich die Kofferraumklappe von Fees kleinem Suzuki noch schließen ließ. „Eng, aber es passt“, lautete mein Fazit.
Das Flipchart, versteckt unter einigen Kilogramm Luftpolsterfolie, schob ich auf die Rücksitzbank und schlug die Tür zu. Rums.
„Was ist das bloß?“, rätselte Fee. „Ein Michelin-Männchen?“
„Vielleicht“, antwortete ich schmunzelnd und setzte mich auf den Beifahrersitz. Aus Platzmangel landete Fees Reisetasche unter meinen Beinen und meine Reisetasche hievte ich auf den Schoß. Sie war prall gefüllt und groß wie ein Dreipersonenzelt.
„Was sagtest du noch, wie lange fahren wir?“, ächzte ich unter dem Gewicht und fühlte mich wie ein Weberknecht-Weibchen unter einem Türstopper.
„Fünfzehn Uhr sechsundzwanzig sollen wir da sein.“
„Das sind ja über drei Stunden“, maulte ich.
„Die Nordseeküste ist halt nicht direkt um die Ecke“, erklärte sie und startete den Motor. „Bist du bereit?“
„Bereit wie man in dieser Situation sein kann“, erwiderte ich zerknirscht und schaute rechts aus der Seitenscheibe, da mir meine Reisetasche den frontalen Blick aus der Windschutzscheibe verwehrte. Katastrophe, dachte ich. Mir fiel die Bauchatmung schwer und wegen der lanzenähnlichen Duttnadeln konnte ich mich nicht einmal gegen die Kopfstütze lehnen. Das fängt ja gut an. Ich seufzte.
„Ach komm schon, Weihnachten ist doch kein Beinbruch“, tönte Fee. Ich schob meine Augen bis auf Anschlag nach links und betrachtete sie reglos von der Seite. Die Duttnadeln hatten sich mittlerweile ins Textil der Kopfstütze eingefädelt und ließen kaum eine Bewegung meines Kopfes zu.
„Freust du dich nicht ein kleines bisschen? Nicht einmal auf deine Eltern?“ Im Wageninneren roch es, wie Waldmeisterlimonade schmeckte. Schuld war das am Rückspiegel baumelnde Duftbäumchen. Die direkte Sonneneinstrahlung ließ es prächtig gedeihen.
„Ich kann meine Eltern das ganze Jahr sehen. Dafür braucht es keine Feiertage“, maulte ich. Fee schummelte sich gerade zwischen zwei Lkw und verließ den Beschleunigungsstreifen in Richtung aufgehobenes Tempolimit. Wenn sie jetzt eine Vollbremsung macht, sitzen mir ihre Duttnadeln im Gehirn, überlegte ich.
„Irgendwann kaufe ich mir einen Maserati“, feixte Fee.
„Oder aber, du heiratest einen Autohändler. Ist billiger“, riet ich ihr.
„Nicht mit dieser Nase!“ Wir rasten über den unebenen Asphalt. Still vibrierten meine Wangen vor sich hin. Die Autobahn war gut besucht. Ein Geräusch wie eine Stromschnelle, wenn sie links an anderen Kraftfahrzeugen vorbeidonnerten.
„Los, fahr! Aus dem Weg!“, nölte Fee.
„Jetzt mach bloß keine Lichthupe“, bat ich.
„Du sei schön still, schließlich hast du keinen Führerschein.“
„Ich habe auch keinen Freund und weiß trotzdem, dass man nicht fremdgehen sollte“, retournierte ich. Sie scherte aus und überholte von rechts. Ich kniff meine Augen zu.
„Also Leute, ihr müsst nun ganz stark sein. Die Wahrscheinlichkeit für eine weiße Weihnacht liegt bei null“, verriet eine Stimme im Radio.
„Da hörst du es“, gickste ich. „Doch kein Schnee.“ Ich hätte am liebsten in die Hände geklatscht.
„Hier nicht. Vielleicht wird es hier nicht schneien. Kein Wort über die Nordseeküste“, relativierte Fee die Aussage der Radiomoderatorin. „Du wirst schon sehen.“
„Was habt ihr nur immer mit dem Schnee?“, raunte ich.
„Das ist so stimmungsvoll“, schwärmte Fee.
„Ab sechzehn Uhr wird es dunkel. Noch ehe das Weihnachtsfest richtig losgeht, sieht man eh nichts mehr vom Schnee“, lästerte ich. Eine Art Rennwagen donnerte gerad an uns vorbei. Ich erschrak.
„Du bist so negativ, du Grinch.“
„Und du bist naiv. Hast du schon jemals erlebt, dass Wettervorhersagen und menschliche Erwartungen zusammenpassen?!“ Ich warte auf den Tag, an dem THW-Fahrzeuge durch die Straßen rattern, um Kunstschnee zu verteilen. Alles für ein stimmungsvolles Ambiente, überlegte ich. Außerdem muss das Mikroplastik ja irgendwo hin. Ich schnaubte.
„Du wirst schon sehen, es wird schneien“, behauptete meine beste Freundin.
„Und ich muss sehen, dass ich mir für die Weihnachtstage ein Flirtopfer suche“, wechselte ich das Thema.
„Okay, und wer soll das sein?“ Fee schmunzelte.
„Mal schauen, wer so da ist“, antwortete ich. „Mein einundsiebzigjähriger Onkel scheidet aus. Ich lasse mir kein zweites Mal von seinen orthopädischen Schuhen auf den Füßen rumlatschen.“
„Alles nur, um Kim eifersüchtig zu machen?“, hakte Fee nach. Sie setzte gerade den Blinker.
„Spätestens seit ich Kim und meine Schwester beim Knutschen erwischt habe …“ Mit der Verachtung, die ich in meine Stimme legte, ging ich nicht gerade sparsam um. „… weiß ich, dass sämtliche Versuche, eine Eifersucht zu provozieren, überflüssig sind. Ich will ihm nur zeigen, dass ich kein Kind von Traurigkeit bin.“
„Die Frage ist doch, warum du das willst?!“
„Du nun wieder!“, tönte ich einigermaßen entgeistert und zog einen Flunsch. Einspruch! Ihre Frage zielt darauf ab, dass ich zugeben muss, dass ich die Demütigung auch nach fast zwanzig Jahren noch immer nicht verarbeitet habe. Stattgegeben!
„Irgendwer mit Flirtpotential wird schon dabei sein“, verlieh ich meinen Hoffnungen Ausdruck.
„Nimm doch mich“, schlug Fee vor.
„Es denken eh schon alle, dass wir eine Beziehung haben.“
„Eben“, bestätigte sie.
„Aus dem Grund nehme ich dich nicht. Ich will die doch nicht noch bestätigen.“
„Deine Entscheidung.“ Fee seufzte. „Ich würde es lustig finden. Also, wenn du mich brauchst …“ Weiter kam sie nicht. „Brauche ich nicht“, hechtete ich verbal dazwischen, griff hinter mich und entfernte eine Duttnadel nach der nächsten. Entspannt ließ ich mein Haupt gegen die Kopfstütze kippen. „Ah“, machte ich und schloss die Augen.
Morgen Kinder wird’s was geben
Über einspurige Sträßchen schlichen wir verkehrsberuhigt durch eine Siedlung mit niedlichen Fischerhäuschen. Rechts von uns lagen abgeerntete Kohlfelder.
„Immer am Fleet entlang“, flüsterte Fee, ehe sie abbog. Wie sie vorausgesagt hatte, erreichten wir um fünfzehn Uhr sechsundzwanzig das Feriendorf mit seinen vielen Nurdachhäusern.
„Schön“, schwärmte sie und strahlte beseelt. Ein Häuschen sah wie das andere aus.
„Oh, das ist aber auch schön“, schwärmte Fee erneut. Entgegen meiner Wahrnehmung schien sie deutliche Unterschiede zu sehen. Ich schaute unbeweglich aus dem Seitenfenster, während sich eine Nackensteifigkeit ankündigte.
„Gehören die zu den Gästen?“, wollte Fee plötzlich wissen und scherte aus.
„Hä? Wer?“, hakte ich nach.
„Na die!“ In diesem Augenblick fuhr sie an sechs seltsamen Personen vorbei.
„Ich hoffe nicht!“, erwiderte ich erschrocken, während ein älterer Herr im Regenponcho mit seiner rechten Hand gegen meine Scheibe tippte, grinste und sehr viel von seinem Zahnfleisch preisgab. „Ich kenne die nicht.“
„Die tragen Regenhüte“, fasste Fee zusammen. „Es regnet doch gar nicht.“
„Fahr schnell vorbei“, bat ich. „Ich habe einfach schon zu viele Horrorfilme gesehen, in denen durchgeknallte Hobbykiller ahnungslose Feriengäste abschlachten.“ Fee beschleunigte, während das skurrile Grüppchen im Seitenspiegel kleiner und kleiner wurde.
Dann endlich schob sich ein rauverputztes Reetdachhaus in die Szene. Auf dem großzügigen Parkplatz davor brachte Fee ihren Suzuki zum Stillstand und zum Schweigen.
„Schön“, wiederholte sie, legte ihre Brille ab und zum Schutz vor dem grellen Sonnenlicht, eine verspiegelte Sonnenbrille an. Im Hintergrund lachten die Möwen. Nicht, weil Fee mit ihrer Sonnenbrille ulkig aussah, sondern, weil Möwen einfach immer lachen.
Ich öffnete die Autotür, stieß meine Dreipersonen-Reisetasche auf den Asphalt und trödelte beinsteif ins Freie.
„Ah, Erlösung“, flüsterte ich, tippelte auf der Stelle und ließ meine Hüfte kreisen.
„Schön“, juchzte Fee, zum x-ten Mal, und warf ihre Arme um meinen Oberkörper. Meine Dreadlocks stürzten haltlos in die Tiefe und ließen sich vom griffigen Wind herumschaukeln.
In Fees Umarmung stehend, entdeckte ich Lissys Auto. Sie fuhr einen cremefarbenen Mini. Status, Status, Status. Ich zog erneut einen Flunsch.
„Lissy ist auch schon da“, verriet ich Fee, die vor Freude plötzlich zu hüpfen begann und mir ihre linke Schulter gegen das Kinn donnerte. Leider nicht direkt gegen die Kinnspitze, sonst wäre ich K. O. gegangen und hätte das Weihnachtsfest schwänzen können.
„Da sind ja meine Süßen“, trug der starke Wind die vergnügte Stimme meiner Mutter zu uns herüber.
Sie eilte den Weg entlang, der von der Haustür des prächtigen Reetdachhauses zum Parkplatz führte. Sie trug eine bunte Pudelmütze auf dem Kopf und zerrte am Reißverschluss ihrer winddichten Helly Hansen-Jacke herum.
„Erst die eine Süße.“ Sie herzte mich und verteilte mehrere Küsschen auf meinem Gesicht, zackig und mit fest gespitzten Lippen, als wäre sie ein Huhn beim Körnerpicken.
„Dann die andere Süße.“ Sie herzte Fee und verteilte mehrere Küsschen auf ihrem Gesicht.
„Schön, dass ihr da seid“, trällerte sie.
„Ho! Ho! Ho!“, kollerte mein Vater mit dumpfer Stimme. Er trug einen Plüschhaarreif mit Geweih und war meiner Mutter hastig gefolgt. Wehe, es sagt noch irgendwer etwas gegen meinen Weihnachtspulli, dachte ich. Auch er herzte und küsste uns.
Sie lieben Fee, dachte ich. Ich würde sie sehr glücklich machen, wenn Fee und ich ein Paar wären und heiraten würden.
„Vielleicht heiraten wir, wenn wir in Rente gehen“, meinte Fee einst zu mir. „Sofern wir bis dahin immer noch Singles sind. Womit ich allerdings fest rechne.“ Sie strich sich über den Nasenrücken.
„Ich kann auch ohne Trauschein mit dir befreundet sein“, scherzte ich und griente. Fee schob ihre Unterlippe vor und seufzte. „Na gut“, lenkte ich ein. „Aber nur damit das Erbe nicht an irgendeine entfernte Großcousine oder meine Zwillingsschwester geht.“ Ich gackerte.
„Lasst euch mal anschauen, Kinder“, toste mein Vater und der Wind toste, dass es den Haarreif auf dem lichten Haar Richtung Hinterkopf verschob. „Gut seht ihr aus.“ Er lächelte glücklich.
Da entdeckte ich Lissy. Sie stand in der offenen Eingangstür des Mietobjektes und versteckte ihre Arme hinter dem Rücken. Da sag noch einmal jemand, eineiige Zwillinge sähen sich ähnlich. Null! Die sieht doch nicht aus wie ich, dachte ich. Hoffte ich. Es war keineswegs so, als blickte ich in einen Spiegel. Diese Frau dort, diese Zwillingsschwester, war mir fremder als das Apnoetauchen. Kleiner Fun Fact: Ich konnte selbst in der Badewanne nur etwa für fünf Sekunden unter Wasser bleiben.
„Deine Schwester ist auch schon da“, lüftete meine Mutter das bereits offen dastehende Geheimnis.
„Schon gesehen“, antwortete ich emotionslos. Ich nickte in ihre Richtung und sah, wie sie ihre Hand zum Gruße in die Höhe hob. Sie winkte wie eine Monarchin. So elegant hätte ich niemals winken können. Es war immer dieses eine kleine Prozent, dieser Spritzer Zitronensaft, diese paar Zentimeter, die meine Schwester Lissy vorne lag.
„Ist Leander gar nicht da?“, erkundigte ich mich nach ihrem Ehemann.
„Der ist drinnen. Und da sollten wir auch schleunigst hingehen.“ Meine Mutter grinste und stellte pantomimisch dar, dass die starken Windböen sie anderenfalls über den Deich wehen würden. Ich zwinkerte ihr zu und zog meine Lippen breit.
„Ihr müsst euch unbedingt den Weihnachtsbaum anschauen“, lockte sie.
„Oh, fein“, johlte Fee und legte sich gespannt die Hand vor den Mund, ehe sie ihre Reisetasche schulterte.
Meine Eltern und ich hievten meine Tasche, groß wie ein Dreipersonenzelt, in das Reetdachhaus mit den vielen kleinen Fenstern, deren Rahmen grün lackiert waren. Anstatt in den Flur, führte die Eingangstür gleich in die Küche, was mich irritierte.
„Hallo Leander.“ Ich streckte ihm zur Begrüßung meine kalte Hand entgegen. Wir hatten kein besonders inniges Verhältnis. Schließlich hat er meine Schwester geheiratet.
„Hallo Luise“, erwiderte der spröde Kerl und ließ meine Hand sofort wieder los. Er berührte sie nicht einmal so lange, wie ich in der Badewanne unter Wasser bleiben konnte.
„Puh.“ Meine Riesentasche landete auf den terracottafarbenen Bodenfliesen. Ohne mich zu bücken, streifte ich meine Chelsea Boots ab. „Cool, Fußbodenheizung“, bemerkte ich.
„Ich will auch!“, trällerte Fee, zog ihre Schuhe aus und kreiste in ihren einfarbigen Strümpfen über den warmen Boden.
„Wir haben auch einen Kamin“, gab mein Vater an, als wäre er der Hauseigentümer. Er setzte den Haarreif ab und toupierte sein lichtes, gelocktes Haar, dass es für einen kurzen Moment in die Höhe stieg, allerdings direkt wieder fusselig in sich zusammenfiel. Sein akkurat getrimmter Fünftagebart war noch ein bisschen grauer geworden. Graumeliert, denn noch erkannte man, dass er einst brünett gewesen war. Er sah ein bisschen wie ein privater Tennislehrer aus. Sein sportlicher großer Körper steckte in einem dunkelblauen, langärmeligen Poloshirt und einer schwarzen Levis-Jeans, die oberhalb der Hüftknochen von einem hellbraunen Gürtel mit auffälliger Schnalle gehalten wurde.
„Kommt, der Weihnachtsbaum.“ Meine Mutter schaufelte mit ihren Händen durch den Raum und bewegte sich flink durch die weite Küche mit Kochinsel. Die war so groß, dass ich plötzlich an „Castaway“ mit Tom Hanks denken musste. Hinten rechts am Ende der Küche gelangten wir durch eine Tür in den Flur. Ich krauste die Stirn, war ob der Zimmerreihenfolge nach wie vor irritiert. Kommt der Flur normalerwiese nicht zuerst?
Wir staksten hindurch. Links vom Flur zweigten weitere Zimmer ab, doch Mutter hielt Kurs auf die vor uns liegenden Schiebetüren mit Milchglasscheiben. Sie schob sie zu den Seiten und gab den Blick frei in ein riesiges viereckiges Zimmer, in dessen Mitte eine Tafelrunde aufgebaut war, als hätte gerade erst der Ältestenrat getagt. Auf dem Boden die gleichen warmen, terracottafarbenen Bodenfliesen.
Links in der Ecke, nahe der Terrassentür, leuchtete es punktuell aus einem deckenhohen Nadelgehölz heraus.
„Ist das Eiche?“, fragte ich nach.
Lissy und sogar der spröde Leander lachten gellend auf. „Das ist eine Nordmanntanne“, korrigierten sie mich amüsiert.
„Du redest vom Weihnachtsbaum“, erwiderte ich schnippisch. „Ich rede von den Tischen.“
Fee griff sich beschwichtigend meine Hand.
„Ja mein Kind, das ist Eichenholz“, bestätigte mein Vater mich. „Sind die Tische nicht herrlich rustikal?“
„Du hättest Tischlerin werden sollen“, scherzte Fee.
„Weißt du schon, dass Lissy sich selbstständig gemacht hat?“, jodelte meine Mutter und plinkerte stolz mit den Augen.
„Ich dachte, du bist schon selbstständig“, erwiderte ich so unbeeindruckt wie möglich und schaute, nur um Lissy nicht ansehen zu müssen, in den Weihnachtsbaum. Die unzähligen Lichtlein stressten meine Augen.
„Ja, schon“, begann sie zu erklären und ich täuschte ein Gähnen vor. „Man könnte sagen, ich habe expandiert.“
„Könnte man das?“, provozierte ich. Fee quetschte meine Finger, bis sie dünn wie Salzstangen waren.
„Ich habe einen Onlineshop für Dekoartikel und Nahrungsergänzungsmittel eröffnet.“
„Und was ist mit deiner Boutique?“
„Verkauft“, antwortete sie zweisilbig.
„Miete zu teuer?“, wollte ich wissen. Ich schaute zur Abwechslung zu Leander herüber. Spröde, wie eine Hornhautfeile, dachte ich.
„Nein, ich konnte mir das schon leisten.“ Sie täuschte Gelassenheit vor. „Ich wollte mich nur verändern, ich wollte etwas Größeres.“ „Und bei dir so? Wie läuft es bei dir beruflich?“, hakte Lissy nach.
„Ich hatte gerade mein Jahresgespräch“, verriet ich, weil mir spontan nichts Repräsentativeres einfiel.
„Und?“ Mutters Stimme drückte Neugier und einen beträchtlichen Vorschuss Mutterstolz aus.
„Wo siehst du dich in fünf Jahren, Luise?“, fragte meine Chefin einen Tag zuvor.
„Äh“, antwortete ich.
„Geht es etwas präziser?“, scherzte sie. Sie trug ein hellrotes Kostümchen und einen gleichfarbigen Lidschatten. Die Wimperntusche ihres linken Auges war in viele Richtungen verschmiert.
„Meinst du beruflich oder privat?“, retournierte ich, um etwas Zeit zu gewinnen. Ich wusste partout nicht, was ich antworten sollte.
„Beruflich natürlich“, antwortete Andrea. „So gern ich dich auch mag, aber dein Privatleben ist Privatsache.“
Blöd, dachte ich, da mir hinsichtlich meines Privatlebens plötzlich doch eine Antwort eingefallen war.
Ich wünsche mir Liebe. Ich könnte gut mal wieder eine anständige, eine glückliche, eine blütenreine und leicht verdauliche Liebesbeziehung gebrauchen, dachte ich und nickte überzeugt.
„Gibt es zu deinem Nicken auch die passenden Worte?“ Meine Chefin legte ihren Kopf schief.
„Äh“, erwiderte ich erneut. Dann fing das große Stammeln an. „In fünf Jahren, mal sehen, also, ich denke, wenn ich so in mich gehe, vielleicht, eigentlich, ich bin ja nicht unzufrieden, genaugenommen bin ich zufrieden, na ja, und aus dem Grund würde ich in fünf Jahren furchtbar gerne noch hier arbeiten.“ Puh, geschafft, dachte ich. Das war der Moment, in dem die vorgesehene Beförderung zur Teamleiterin an eine Kollegin ging.
Mir war das egal. Ich hatte ohnehin keine Aufstiegsambitionen. Ich machte Dienst nach Vorschrift. Auf dem Weg zurück in mein Büro seufzte ich erleichtert. Ein Jahr Ruhe, bis zum nächsten Jahresgespräch, dachte ich.
„Keine Beförderung“, erklärte ich. „Was soll nur immer dieses höher, schneller, weiter, mehr?! Weniger ist mehr.“ Ich nickte. „Ich mache Dienst nach Vorschrift. Ich mache keine Überstunden, wandele jede Minute meiner Mittagspause in Freizeit um und habe bis spätestens September meinen Jahresurlaub aufgebraucht. Meine Freizeit ist mir heilig“, sagte ich und schaute selbstzufrieden.
„Oh, ach so“, reagierte Mutter ernüchtert, den Vorschuss Mutterstolz hatte sie zurückgepfiffen.
„Da kommt Gretchen“, informierte uns Lissy erschrocken. Sie und ich zuckten zusammen. Nicht, dass es für identische Outfits oder eine fröhliche Zwillingstour auf einem Tandem gereicht hätte, doch Lissy und ich hatten tatsächlich eine Gemeinsamkeit.
„Nichts an dieser Person rechtfertigt ein ‚chen‘ in ihrem Namen“, lästerten wir synchron. Konsterniert schaute ich zu ihr hinüber. Und sofort wieder weg.
„Zwillinge halt“, kommentierte meine Mutter diesen Ausrutscher. Ich ärgerte mich über unsere Gleichzeitigkeit, noch mehr als über Gretchens Ankunft.
„Will denn niemand die Oma begrüßen?“, schmetterte Gretchen rauchig und barsch, als sie das Reetdachhaus betrat.
„Hallo Oma.“ Ich sah mich über meine linke Schulter nach ihr um und nickte kurz. Danach schaute ich freiwillig in den Weihnachtsbaum. Lissy, dieses eine Prozent höflicher als ich, stolzierte auf sie zu und umarmte sie.
„Hallo Gretchen.“ Fee und Leander bedachten sie mit einer geschüttelten Hand. Geschüttelt und geführt, immer artig auf und ab. Moment mal, dachte ich und bemerkte plötzlich die beiden Personen, die Gretchen ins Haus gefolgt waren. Wer ist das, fragte ich mich.
„Dat ist Wolfgang, mein Neuer“, antwortete Gretchen, als wenn sie von meiner Frage Wind bekommen hätte. Doch Wind, vor allem Gegenwind, hatte sie in ihrem Leben nur wenig bekommen. Gretchen sorgte selbst gern für Wirbel. Sie war ein Zyklon. Und gegen einen Zyklon sehen selbst Tornados oder Hurricanes wie laue Sommerlüfte aus. Der arme Wolfgang, fiel mir spontan ein. Plötzlich spürte ich etwas artverwandtes wie Solidarität. Still formulierte ich einen Spendenaufruf. Spendet für Wolfgang – Trost, Zuneigung, Aufmerksamkeit. Er braucht es dringender als sonst irgendwer! Ohne darüber nachzudenken, ging ich auf ihn zu und umarmte ihn. „Ich bin Luise“, verriet ich.
„Wie nett“, kommentierte er meinen Überfall. „Schön, dich kennenzulernen.“ Erst danach fiel mein Blick auch auf den zweiten Mann. Gretchen ist polyamor, dachte ich, doch nur für einen kurzen Augenblick.
„Ich bin Torben, Wolfgangs Enkel“, räumte der große Mann meinen Verdacht aus dem Weg.
„Ach, und mich drückst du wohl nicht“, bellte Gretchen.
Ich schwieg, während sie ungefragt nach meinen Handgelenken griff und mich zu sich in eine Umarmung zog. Sie war stark, als hätte sie einen Bizeps wie Silvester Stallone in „Over the top“. Dieses zähe alte Weib steckt voller Vitalität, dachte ich erstaunt. Sie roch nach Lux Seife und Sprit. Mühevoll befreite ich mich.
„Wie eine fleischfressende Pflanze“, flüsterte ich Fee zu, die am Rand der Szene stand, und wischte mir wütend die Umarmung von der dicken Winterjacke. Ich schwitzte.
„Luise“, rief mir der Zyklon hinterher. „Wollt ihr nicht irgendwann mal heiraten?“
„Wer ihr?“ Ich gab mich ahnungslos und angriffslustig. Augenblicklich schnappte sich Fee meine Hand, womit sie Omas Frage noch befeuerte.
„Wer wohl?!“ Gretchen schüttelte ihren Kopf. „Du und Fee natürlich!“ Ich schnaufte angestrengt, als hätte ich gegen Sly beim Armdrücken verloren.
„Wir sind kein Paar!“, toste ich.
„Wat du dich zierst. Dat is doch heutzutage kein Thema mehr. Habt ihr eurer Tochter nicht beigebracht, zu sich selbst zu stehen?“, wand sie sich griffig an meinen Vater, der hilflos zu meiner Mutter schaute.
„Ich lebe vegan“, warf Wolfgang plötzlich ein. „Tierleben vor Gierleben. Fleischeslust verursacht Rinderfrust.“
„Wo bleiben denn alle?“ Auch mein Vater zappte durch die Themenlandschaft.
„Schaut euch nur den Weihnachtsbaum an“, lockte Mutter, ebenfalls ohne Kontext.
„Mir wird langsam zu warm in der Jacke“, verriet ich. „Ich glaube, Fee und ich beziehen mal unser Ferienhaus.“
„Das ist eine gute Idee“, meinte mein Vater. „Ach seht nur, da kommen die nächsten.“ Ein Opel Mokka reihte sich auf dem Parkplatz neben Fees Suzuki ein.
Vater nahm eine Salatschüssel von der Anrichte, in der er zig Schlüsselbunde aufbewahrte, und rührte darin herum. Es klirrte und klingelte. Jingle Bells, dachte ich, kling, Glöckchen, klingelingeling und süßer, die Glocken, nie klingen. Dann legte er mir das entsprechende Schließwerkzeug in die offene Hand.
„Hier, Nummer neun. Wattwurmstieg neun. Das vorletzte Haus, direkt an der Wiese.“
„Alles klar, danke.“
„Lass dich von Gretchen nicht provozieren. Du weißt doch, wie sie ist“, meinte er schließlich noch. Er lächelte liebevoll und streichelte meinen Rücken.
Dann begleiteten meine Eltern Fee und mich zum Parkplatz, um die neuen Ankömmlinge zu empfangen. Es waren Onkel Robert und Tante Carola. Ohne Blickkontakt reichte ich Onkel Robert meine Hand. Er war ein scheußlicher Mensch, der Frauen „Hasen“ nannte und ihnen gerne auf den Hintern klopfte. Er war immer einen Tick zu laut, einen Tick zu vulgär und vertrat absurde Ansichten. Tante Carola, die ältere Schwester meines Vaters, herzte ich.
„Schön, dass du da bist!“ Ich freute mich sehr, sie zu sehen. Ich verstand nicht, weshalb sie freiwillig mit diesem Grabscher verheiratet war.
„Ich leih mir die mal aus“, rief ich meinen Eltern zu und nickte durch den Wind. Vor dem an der Hauswand gestapelten Brennholz hatte ich eine Schubkarre entdeckt. Die Axt, die im Hackklotz steckte, ließ ich stecken und sparte sie mir für Onkel Robert, Kim oder Oma Gretchen auf.