Leseprobe Für immer mein Rockstar

Kapitel 1

„Igitt, ist das Zeug widerlich!“

Ich schüttle mich, während ich das leere Shotglas auf den Tresen knalle. Das dritte.

„Aber es hilft, oder?“ Meine Freundin Kiki wirft mir einen prüfenden Seitenblick zu.

„Helfen würde es, wenn ich Lukas darin ertränken könnte!“

„Magst du mir jetzt erzählen, was eigentlich passiert ist?“

„Nach der nächsten Runde, okay? So lange ich mich noch daran erinnern kann, was ich gesehen habe, hatte ich noch nicht genug.“

Rasch bestelle ich eine weitere Runde Tequila. Der Drink steht kaum vor mir, als ich ihn auch schon in mich hineinschütte, wobei ich das Salz und die Zitrone verschmähe. Ich fühle mich zwar beduselt, aber noch lange nicht betäubt. Und nach wie vor stehen die widerlichen Bilder vor mir, die ich einfach nur vergessen will.

„Ich hätte es doch wissen müssen, oder?“ Klagend drehe ich mich zu meiner besten Freundin auf meiner rechten Seite um.

„Tja“, erwidert sie vorsichtig und hebt die Schultern. „Ich kann mir denken, was du mir erzählen willst. Es wäre ja nicht das erste Mal, und Anzeichen gab es mehr als genug. Aber du hast sie nicht sehen wollen.“

Ich bemerke, dass der Typ, der links von mir sitzt, mich anstarrt, und fahre zu ihm herum.

„Ups!“ Fast hätte ich auf meinem Barhocker den Halt verloren, während ich mich ihm zuwende. „Kennst du das? Alles steht deutlich vor dir, aber du raffst es nicht? Nee, warte. Das hab ich ja. Ich habe es gerafft.“

Irgendwie hat sich vor meiner Nase ein weiterer Tequila materialisiert, und mit Todesverachtung stoße ich mit dem Typen an, greife dieses Mal sogar zu Salz und Zitrone und kippe ihn in mich hinein.

„Was ist passiert?“, fragt er. Dunkle Haare, weißes Hemd. Wie Lukas.

„Du hast bestimmt ’ne Freundin, oder?“

Er nickt und lächelt. „Eine Verlobte.“

„Schön, schön. Weiß die immer ganz genau, wo du bist und was du machst? Und mit wem? Vor allem, mit wem …“

Irre ich mich, oder rückt er ein Stückchen von mir weg? Zumindest wendet er sich seinem Kumpel zu und tuschelt mit ihm.

„Wollen wir nach Hause gehen, Lara?“, erkundigt sich Kiki und wirkt besorgt. „Ich glaube, du hast genug.“

Ich schüttle so heftig meinen Kopf, dass mir schwindelig wird.

„Auf keinen Fall. Ich brauche Ablenkung, damit ich vergessen kann, was ich gesehen habe.“

„Dann kommst du eben mit zu mir. He, morgen fliegen wir nach Finnland. Denk nicht mehr über den Idioten nach, hörst du?“

„Mach ich nicht. Ich ertränke ihn in Tequila.“

Während ich eine weitere Runde bestelle, kommt mir der Blick des Barmanns nicht mehr so locker-fröhlich vor wie vorhin.

„Was ist?“, frage ich ihn. „Hast du noch nie eine Frau gesehen, die ihren Kerl am liebsten eigenhändig erwürgen würde?“

„Oh, doch.“ Jetzt grinst er wieder. „Viel mehr, als du denkst.“

„Das ist so traurig!“

Der Typ links von mir und sein Freund hauen ab. Kiki fasst nach meinem Arm und zieht mich vom Hocker.

„Komm, hinten in der Ecke ist ein Tisch freigeworden. Da setzen wir uns hin, und du erzählst mir ganz genau, was eigentlich los ist. Bisher hast du immer nur gesagt, dass Lukas ein Riesenarschloch ist. Nicht, dass ich das nicht bereits seit Langem wüsste. Und dann überlegen wir gemeinsam, was als Nächstes zu tun ist.“

„Okay.“ Schwankend stehe ich auf und bin froh über Kikis stützenden Arm.

Es ist eng hier, und ich muss aufpassen, nicht über ausgestreckte Beine oder abgelegte Taschen zu stolpern. Fürsorglich bahnt meine Freundin uns einen Weg zu dem Ecktisch. Die Tische daneben sind voll belegt, und die Gäste werfen uns neugierige Blicke zu, während wir uns setzen.

„Trink ab jetzt lieber Wasser, Lara“, schlägt Kiki vor. „Es ist zwar noch früh am Abend, aber wir müssen morgen zeitig aufstehen.“

„Du hast ja recht.“

Rasch bestellt sie zwei Wasser. „So, und jetzt erzähl noch mal von Anfang an, ja? Als du mich vorhin angerufen hast, hast du nur geschimpft, dass du Lukas umbringst und die Trulla gleich mit.“

Ja, daran erinnere ich mich. Ich habe unter Schock gestanden. Ich atme durch und versuche, meine Gedanken zu sammeln.

„Also, du hast ja mitbekommen, dass Doktor Wagner mich vorzeitig nach Hause geschickt hat, weil ich die ganze Zeit nur am Niesen war. ‚Es ist Freitag, und in wenigen Stunden haben wir ohnehin alle Urlaub‘, hat er gesagt. ‚Kurieren Sie sich aus, so gut es geht. Und nach dem Urlaub kommen Sie gesund wieder.‘“

Es gelingt mir, meine Stimme fast wie seine klingen zu lassen. Amüsiert sehen zwei Männer vom Nebentisch zu uns rüber und grinsen.

„Ja. War cool von ihm. Wir haben echt einen netten Chef.“

Kiki und ich arbeiten beide in einer Arztpraxis.

„Aber meinst du, dass du echt krank wirst? Direkt vor dem Urlaub?“, setzt sie besorgt hinzu.

Ich winke ab. „Das sind nur die dämlichen Haselpollen, die mir zu schaffen machen. Also, weil wir ja morgen in den Urlaub fahren, wollte ich diesen letzten Abend vor unserer Abreise mit Lukas verbringen“, erzähle ich weiter.

Wir leben in getrennten Wohnungen. Obwohl ich das Thema Zusammenziehen in den fünf Jahren, seit wir zusammen sind, schon öfter angesprochen habe, ist Lukas bisher immer ausgewichen und meinte, vorerst sein eigenes Reich behalten zu wollen. Immerhin hatten wir gegenseitig Schlüssel zu unseren Wohnungen, damit wir nicht immer den anderen rausklingeln mussten, wenn wir uns besuchten. Aber nach dem, was ich gesehen hatte, verfügte ich trotz meines Schocks noch über genug Geistesgegenwart, meinen Schlüssel aus dem Kästchen an der Flurwand zu nehmen, wo er ihn aufbewahrte. Zu schade, dass ich sein dummes Gesicht nicht sehen kann, wenn er feststellt, dass er nicht mehr bei mir aus und ein gehen kann.

Unser Wasser kommt, und durstig trinke ich einen großen Schluck. Es erfrischt und belebt mich. Und meinen Zorn.

„Er wusste also, dass ich komme, nur nicht genau, wann“, erzähle ich weiter und spüre, dass erneut die Wut in mir hochkocht. „Er hat erst drei Stunden später mit mir gerechnet.“

Kiki sieht mich gespannt an, und auch die Männer am Nebentisch scheinen ihre Ohren zu spitzen. Als ich ihnen einen Blick zuwerfe, wenden sie sich rasch ab.

„Ich hab mich auf ihn gefreut, weißt du? Wir würden Pizza und eine Flasche Wein bestellen und uns noch einen herrlich romantischen Abend machen, bevor wir uns zwei Wochen lang nicht sehen würden. Und dadurch, dass ich früher nach Hause gehen durfte, hätten wir sogar noch einige Stunden mehr miteinander.“ Mein Hals ist ganz trocken, und ich trinke einen weiteren Schluck Wasser. „Tja, und dann kam ich in seine Wohnung und sah die rote Jacke an der Garderobe. Okay, er hat Besuch, dachte ich. Völlig harmlos, weißt du? Gerade, als ich rufen wollte, dass ich da bin, hörte ich etwas. Aus seinem Schlafzimmer. Leises Lachen, Gekicher.“

„Oh nein!“, flüstert Kiki. Sie hängt gebannt an meinen Lippen.

Ich nicke, während all die Bilder mir wieder vor Augen stehen, als wären sie gerade erst geschehen.

„Ich hielt den Atem an und schlich über den Flur zum Schlafzimmer. Die Tür war nur angelehnt, und ich spähte hindurch. Kiki, ich wünschte, ich hätte es nicht getan!“

Plötzlich fühle ich mich unsagbar müde und reibe mir über die Augen. Kikis Blick ist voller Mitleid, und sie legt ihre Hand auf meine.

„Da war diese rothaarige Tussi, die auf ihm saß und den Kopf in den Nacken warf. ‚Lukas!‘, stöhnte sie.“ Wieder verstelle ich meine Stimme, und wieder sehen Leute von den Nebentischen zu uns herüber.

„Scheiße!“, entfährt es Kiki.

„Sie waren so beschäftigt, dass sie gar nicht merkten, dass ich da war.“

„Was hast du gemacht?“

„Ich war wie gelähmt. Ich wollte nur noch weg, verstehst du? Aber dann war da plötzlich die Wut. ‚Wie kannst du nur?‘, schrie ich, ehe ich überlegen konnte. Die beiden fuhren auseinander, als wäre ein Blitz zwischen sie gefahren. Die Trulla sprang von Lukas herunter und zog die Decke über sich, und er lag da und starrte mich an, und ich …“ Unvermittelt beginne ich zu weinen. „Wie konnte er mir das nur antun?“, klage ich.

Offenbar laut, denn etliche Köpfe rucken zu uns herum. Kiki rückt näher zu mir heran und nimmt mich in den Arm.

„Er ist eben ein Arschloch!“, bekräftigt sie. „Er war schon immer eins und wird immer eins bleiben. Das hat er ja gerade mehr als gründlich bewiesen.“

Ich schniefe und trinke mein Wasser aus. „Jetzt könnte ich doch noch einen Drink gebrauchen. Trinkst du noch einen Tequila mit?“

„Okay, ausnahmsweise, aus medizinischen Gründen.“ Rasch bestellt sie zwei weitere Shots.

„Ab morgen bin ich doch sowieso weg“, überlege ich laut und wische mir über die Augen. „Hätte er nicht damit warten können, bis ich im Urlaub bin? Dann hätte ich das wenigstens nicht mitansehen müssen. Die Bilder kriege ich nie wieder aus dem Kopf!“

„Ach, Süße. Es ist …“

„Nee, weißt du was?“, rufe ich und ernte erneut neugierige Blicke von den Nebentischen. „Es ist gut, dass er nicht damit gewartet hat. Jetzt weiß ich wenigstens Bescheid. Ich hab ihn in flagranti erwischt, und seine ganzen Ausreden funktionieren jetzt nicht mehr. Damit hat er sich endlich selbst verraten.“

„Ist es denn wirklich eine Überraschung für dich?“, fragt Kiki vorsichtig. „Du weißt doch schon lange, dass er nicht treu ist. Hast du vergessen, wie es war, als du damals den Zettel in seiner Jackentasche gefunden hast, in zierlicher Frauenhandschrift mit einer Telefonnummer beschrieben und rotem Lippenstift-Kussmund verziert?“

„Als ob ich das vergessen könnte!“ Ich schüttle mich bei der Erinnerung daran.

„Und dann haben wir ihn kurz danach im Café mit dieser Tussi entdeckt. Sie himmelte ihn an, und er turtelte zurück. Das zeigte damals schon, wie glaubwürdig er ist.“

Unser Drink kommt. Sofort kippe ich ihn in einem Zug herunter und bestelle einen weiteren.

„Daraufhin hab ich ihm die Hölle heißgemacht. Er hatte mir geschworen, dass es nichts zu bedeuten hatte.“

Kiki seufzt und verdreht die Augen. „Und was war einige Zeit danach, als er angeblich ständig Überstunden machen musste? Und wenn er nach Hause kam, hat er nach fremdem Parfüm gerochen?“

„Damals hab ich das erste Mal mit Lukas Schluss gemacht“, werfe ich ein.

„Und als er angekrochen kam, hast du ihm verziehen.“

„Ich liebe ihn nun einmal.“

Mir ist schummrig. Am nächsten Tequila nippe ich nur. Als ich das Glas auf den Tisch stelle, scheint er zu schwanken.

„Dürfen wir uns zu euch setzen?“, fragt ein junger Kerl, blond und schlaksig. Sein Kumpel neben ihm schweigt und grinst.

„Nein!“, wehrt Kiki ab.

„Meinetwegen“, biete ich an.

„Wollt ihr was trinken?“, fragt der Schlaksige.

Kiki schüttelt den Kopf.

„Tequila!“, fordere ich. „So viel, bis das Aschloch drin verschunden ist.“ Kann es sein, dass die Worte leicht schwammig klingen? Meine Zunge gehorcht mir nicht mehr so ganz.

Die beiden Typen wechseln einen Blick, der Kumpel zuckt die Schultern, und beide tauchen im Gewühl der Gäste unter. Wir sehen sie nicht wieder.

„Tut mir so leid, dass du das durchmachen musst“, sagt Kiki mitfühlend. „Ich wollte dir das damals nicht sagen, aber ich hatte gleich ein komisches Gefühl, als Lukas vorschlug, dass du und ich doch mal zusammen in den Urlaub fahren könnten.“

Ich starre sie an. „Du has recht! Da hatta schon den Plan gehabt, mich zu bescheißen. Was für’n Wixa!“ Ich bin stolz auf mich, dass ich endlich klarsehe, und das sogar in meinem Zustand. „Und ich bin ihm auf den Leim gegangen, blöd, wie ich war. Ich war ihm sogar noch dankbar, dass er auf sone tolle Idee gekommen ist. Hadde mich gefreut, was für einen großzügen und verständnisvolln Freund ich hab.“ Mir ist schwindelig.

„Mann, ist der Kerl verlogen!“, schimpft Kiki.

„Ja, furchtbar! Na, wenigstens zu etwas war seine Lüge gut. Ich weiß ennlich, woran ich bin.“

Der Rest des Tequilas verschwindet in meinem Magen, und rasch beiße ich in die Zitrone, verziehe nicht einmal mehr das Gesicht und bestelle einen weiteren, ohne mich um Kikis mahnenden Blick zu kümmern. Gerade ist das meine Medizin.

„Das wusstest du doch im Grunde schon lange“, wendet sie leise ein.

Ich nicke zustimmend und kippe den Drink herunter. „Ja, ich weiß. Ich war nur zu blöd, es zu sehn.“

„Du hast es gesehen“, wirft sie ein. „Und das mehr als einmal. Zweimal hast du dich von ihm getrennt, weil du ihm auf die Schliche gekommen bist. Beide Male kam er wieder angekrochen, und du hast ihn zurückgenommen. Und trotzdem waren da immer wieder verstohlene Blicke, die er anderen Frauen zuwarf, dringende Überstunden. Oder er verließ das Zimmer, nachdem auf seinem Handy ein Anruf einging. Du hattest mir das alles unzählige Male erzählt, Lara. Du wusstest es. Du hattest nur Angst, dich der Realität zu stellen.“

„Damit isses jetz vorbei. Ab heute ist Lukas Geschichte. Er ist so ein Blödmann! Wie hab ich es so lange mit ihm aushalten können? Er war doch schon imma doof. Er …“ Ich merke selbst, dass ich zu viel rede, kann es aber nicht abschalten.

Irgendwann gelingt es Kiki glücklicherweise, mich davon zu überzeugen, es für heute gut sein zu lassen.

„Stell dir vor, wir verpassen unseren Flug, weil du dich seinetwegen komplett abgeschossen hast. Willst du ihm diesen Triumph gönnen?“

„Auf keinen Fall!“

Wir nehmen ein Taxi, und ich lehne dankbar Kikis Angebot, heute bei ihr zu schlafen, ab. Ab sofort bin ich wieder Single. Ich habe Lukas in die Wüste geschickt und sehe den Tatsachen ins Auge. Ich komme wunderbar allein klar.

In meiner Wohnung finde ich noch die Energie, kurz aufs Handy zu gucken. Vorhin hat Lukas mich angerufen, kaum dass ich fluchtartig seine Wohnung verlassen habe. Nach seinen ersten drei Versuchen, die ich alle nicht annahm, schaltete ich den Ton aus. Nun stelle ich fest, dass er diverse Male versucht hat, mich zu erreichen. Kurzerhand blockiere ich ihn.

„Jetzt kannst du mich anrufen, bis du schwarz wirst“, sage ich und lache. Dann lege ich mich ins Bett.

Sobald mein Kopf mein Kissen berührt, falle ich in tiefen Schlaf.

Kapitel 2

Es gibt diese Tage, an denen einfach nichts läuft, wie es laufen soll. Völlig egal, was man anpackt, macht oder bleiben lässt, alles scheint sich gegen einen verschworen zu haben. Man sollte im Bett liegen bleiben und gar nicht erst aufstehen.

Heute scheint so ein Tag zu sein, das ahne ich bereits, als ich aufwache und mein Kopf hämmert, als säße ein kleines Männchen mit einer Bohrmaschine darin. Ungeschickt taste ich herum, bis ich den Schalter meiner Nachttischlampe finde und betätige. Es kommt mir vor, als wäre ich gerade erst eingeschlafen. Als ich versuchsweise meine Augen einen winzigen Spalt öffne, entfährt mir ein gequältes Ächzen. Das gedimmte Licht der Lampe fühlt sich an, als wäre es ein glühendes Schwert, das sich in meine Pupillen bohrt. Sofort kneife ich die Lider wieder zusammen. Zudem ist mir von der Bewegung übel geworden.

Wie spät ist es? Abgesehen von der Lampe ist es stockdunkel im Zimmer, also offenbar noch Nacht. Warum bin ich wach geworden? Endlich wage ich, meine Augen erneut zu öffnen und vorsichtig einen Blick auf die Uhrzeit auf meinem Handy zu werfen.

Halb fünf. Aus irgendeinem Grund leuchtet vor meinem inneren Auge aber vier Uhr auf. Warum? Erschrocken fahre ich auf, als mir der Grund einfällt. Finnland! Ich habe verschlafen! Wie kann das sein? Das passiert mir sonst nie, wirklich nie, ehrlich! Ich bin zwar mitunter etwas schusselig oder mittelschwer verpeilt, wie Kiki es nennt, aber immer absolut pünktlich und zuverlässig. Immer! Ich muss vergessen haben, meinen Wecker zu stellen. Aber warum?

Ehe ich nach der Antwort fahnden kann, erhalte ich die Quittung für mein unüberlegtes Hochschrecken. Das Männlein in meinem Schädel legt nämlich die Bohrmaschine zur Seite und greift nach einem Hammer. Einem großen, schweren Hammer. Der nun unablässig im Takt meines Herzschlags gegen meine Schädeldecke wummert. Rasch lege ich mein Handy weg, presse die Fingerspitzen auf meine Schläfen und massiere sie, um die Schmerzen zu lindern. Völlig klar, gestern Abend war ich allem Anschein nach nicht mehr zurechnungsfähig gewesen. Sonst hätte ich niemals so viel getrunken, was ich offenbar getan habe, und schon gar nicht meinen Wecker vergessen. Was, um Himmelswillen, habe ich gestern in mich hineingeschüttet? Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er mit Schrauben gefüllt, die durcheinandergerüttelt werden. Meinem Magen geht es nicht viel besser, und mein Mund ist trocken wie die Sahara.

In dem Moment ertönt ein ohrenbetäubendes Getöse. Gepeinigt zucke ich zusammen. Irgendetwas stimmt heute nicht mit mir, denn es dauert eine Weile, bis ich realisiere, dass es die Türklingel ist. Und dass sie nicht zum ersten Mal erklingt, sondern mich gerade geweckt hat.

Warum? Wer will etwas von mir? Ich muss mich auf Finnland vorbereiten und bin jetzt nicht in der Verfassung, um …

Nur langsam läuft mein Denkapparat warm. Ebenso langsam setze ich mich auf, als das nervtötende Klingeln von lautstarkem Klopfen abgelöst wird. Der Arbeiter mit dem Hammer legt noch einen Zahn zu. Ehe er womöglich ein Loch in mein Hirn haut, wuchte ich mich hoch und torkele zur Haustür.

Als ich sie öffne, fällt mir Kiki beinahe entgegen. Offenbar hatte sie ihr Ohr an die Tür gelegt, um zu lauschen.

„Was ist denn mit dir passiert?“, ruft sie anstelle einer Begrüßung und starrt mich an, als hätte ich mich grün angemalt. „Du siehst ja richtig scheiße aus!“

Gequält verziehe ich das Gesicht. „Nicht so laut, bitte!“

„Sag bloß, du hast einen Kater!“ Kiki lacht unverschämt fröhlich. „Oh, Mann, Lara, ich hab dir gestern Abend nach dem fünften Tequila gesagt, hör lieber auf damit.“

Langsam geht mir ein Licht auf. „Ich hab nicht auf dich gehört, oder?“

„Nee, keine Chance. Bist du denn jetzt fertig?“

„Klar. Kann gleich losgehen.“ Ich bemühe mich um normales Denken, obwohl das Männlein inzwischen seine Kollegen zu Hilfe geholt hat.

„Hast du dir keinen Wecker gestellt? Du siehst aus, als hätte ich dich gerade aus dem Bett geworfen.“

„Äh, das muss ich irgendwie vergessen haben.“

„Gehst du deshalb nicht an dein Handy? Ich hab schon dreimal bei dir angerufen.“

„Was?“

„Lara, ist alles in Ordnung?“

„Ich … äh …“ Schnell gehe ich ins Schlafzimmer und sehe nach. „Der Ton ist aus. Hab ich gestern gemacht, als Lukas mich mit Anrufen bombardiert hat. Das hat so genervt!“

Ich schalte den Ton wieder an. Zugleich mit dem Ton wird auch der Schmerz um meinen Verlust wieder angeknipst. Lukas! Es ist vorbei! Und dieses Mal endgültig.

„Hast du denn inzwischen wieder mit ihm geredet?“

„Nee. Will ich auch nicht. Ich hab ihn blockiert.“

„Sehr schlau. Okay, komm, ich helfe dir, dann gehts schneller. Geh duschen, ja? Ich koch schon mal einen besonders starken Kaffee.“

„Zu Befehl.“

Wie blöd kann das Leben sein? Lukas, der hinter allem herjagt, was nicht bei drei auf dem Baum ist und den ich deshalb endlich, nach zwei vorübergehenden kurzzeitigen Trennungen und unzähligen letzten Chancen, endgültig in die Wüste geschickt habe, Tequila und Alkohol an sich, mein wummernder Schädel und Kikis Energie zu nachtschlafender Zeit, all das macht mich gerade echt fertig. Nicht einmal der Gedanke an Finnland kann mich aufmuntern. Eiseskälte, Dunkelheit ab dem frühen Nachmittag …

Kiki schiebt mich ins Bad. Ich schaffe es irgendwie, mich auszuziehen, ohne hinzufallen, und stelle mich unter die Dusche. Bräsig, wie ich noch bin, warte ich nicht, bis die richtige Temperatur erreicht ist, was immer eine Weile dauert, sondern halte den Wasserstrahl über mich und schreie vor Schreck, als es eiskalt auf mich niederprasselt. Sofort stelle ich hektisch am Wasserhahn herum und bibbere vor Kälte. Jetzt wird das Wasser zu heiß. Ein Gutes hat die Sache trotzdem: Ich bin schlagartig wach, und vor lauter Schreck machen sogar die Arbeiter in meinem Kopf eine kleine Pause.

Endlich wird das Wasser normal warm, und mit der angenehmen Temperatur verschwinden auch die depressiven Gedanken. Langsam entspanne ich mich, und die Männchen in meinem Kopf halten nicht nur inne, sondern legen ihr Werkzeug zur Seite. Ich beginne, mich auf den Urlaub zu freuen. Die Tage in Finnland werden Kiki und mir guttun. Nichts als Natur um uns herum, Ruhe und frische Luft. Urlaub hilft sowieso immer. Man kommt auf andere Gedanken und stimuliert das Belohnungszentrum im Gehirn. Dabei werden Glückshormone ausgeschüttet, und man vergisst alles, was einen ärgert. Sogar Idioten, die Lukas oder Tommy heißen. Der ist Kikis wunder Punkt.

Nach dem Duschen putze ich mir die Zähne, und das ruft die Handwerker in meinem Schädel erneut auf den Plan. Offenbar war es nur eine kurze Frühstückspause und noch kein Feierabend.

„So, hopphopp. Hinsetzen!“, befiehlt Kiki erbarmungslos, als ich in die Küche taumele, rückt mir einen Stuhl zurecht und schiebt mich darauf. „Hier, trinken.“ Vor mir steht eine Tasse doppelter Espresso.

Versuchsweise nippe ich am dampfenden Getränk und verziehe sofort angewidert das Gesicht. „Willst du mich vergiften? Was hast du da aufgebrüht, mein Gewürzsortiment?“

„Das ist ein doppelter Espresso, extrastark, mit dem Saft einer halben Zitrone. Los, rein damit. Hinterher trinkst du das hier.“ Damit stellt sie ein riesiges Glas Wasser vor mich hin.

Gehorsam erfülle ich ihre Anweisungen, und während sich der Kaffee in meinem Magen ausbreitet, starre ich meine Freundin an.

„Wie machst du das eigentlich?“

„Was meinst du?“

„Na ja, wir haben gestern beide getrunken. Im Gegensatz zu mir wirkst du wie das blühende Leben.“

Tatsächlich wirbeln ihre blonden Locken aufgekratzt um sie herum, als wollten sie uns auffordern, nicht so lange herumzutrödeln, sondern endlich aufzubrechen. Ich habe auch Locken, nein, eher Wellen, allerdings braune, und sie hängen heute ebenso schlapp herunter, wie ich wahrscheinlich auf dem Stuhl fläze.

„Im Gegensatz zu dir hab ich nach wenigen Shots aufgehört. Nächstes Mal hörst du am besten auf gute Ratschläge, okay?“

„Es wird kein nächstes Mal geben. Die Männer können mich alle mal kreuzweise.“

Kikis Blick sagt mehr als tausend Worte. Während sie die Tassen abspült, ziehe ich mich um, bürste mein Haar und gönne mir ein wenig Kajal und Wimperntusche. Langsam fühle ich mich besser, und bald darauf sind wir fertig und verlassen meine Wohnung.

Draußen sauge ich die frische Winterluft in meine Lungen und laufe mit meinem Trolley neben Kiki her zur Bushaltestelle. Eine der Rollen scheint defekt zu sein und klappert laut, nicht gerade Balsam für meinen sich gerade erholenden Brummschädel. Also versuche ich, das nervtötende Geräusch auszublenden und mich auf das typisch hamburgische Schmuddelwetter zu konzentrieren. Es nieselt bei wenigen Graden über Null. Die feuchte Kälte dringt schnell durch meine Jacke und bringt mich zum Frösteln.

Und dann verabschiedet sich mit einem lauten Knacks die kaputte Trolley-Rolle. Da ich noch ziehe, beschreibt er einen Halbkreis und weigert sich schließlich, weiterzufahren.

„Scheiße!“, schimpfe ich. Die Bushaltestelle ist noch mindestens fünfhundert Meter weit entfernt. Und ich bin heute alles andere als fit. Zudem wird der Regen stärker.

„Ach, das ist echt ärgerlich“, gibt Kiki mir recht. „Wir hätten ein Taxi nehmen sollen.“

„Nee, Quatsch, das schaffe ich schon.“ Seufzend hebe ich den Trolley am Griff hoch und setze mich wieder in Bewegung. „Frühsport soll ja fit halten, oder?“, versuche ich einen Scherz.

„Soll ich dich ablösen?“, schlägt Kiki nach der halben Strecke vor. „Wir könnten bis zur Bushaltestelle tauschen.“

„Nicht nötig. Ich meine, danke, aber das kriege ich schon hin.“ Mir gerät ein dicker Regentropfen direkt ins Auge, und ich blinzle. „Schietwetter!“

„Du hast es ja gleich geschafft“, macht meine Freundin mir Mut.

Ich wechsele den Arm und trage mit der linken Hand, aber mein Koffer scheint schwerer und schwerer zu werden, ich komme immer langsamer voran. Ächzend muss ich stehen bleiben und durchatmen.

Noch während Kiki prüfend auf die Uhr guckt, fährt unser Bus an uns vorbei und steuert die Bushaltestelle an. Um ihn zu erreichen, müssten wir einen Sprint über hundert Meter einlegen. Mit einem schweren Trolley.

„Schaffst du das?“, fragt Kiki zweifelnd.

„Keine Chance. Ich hätte weniger Klamotten einpacken sollen.“ Oder gestern weniger trinken. Früher schlafen gehen.

„Kein Problem, wir nehmen den nächsten. Noch haben wir keinen Zeitdruck.“

Wir gehen weiter und sehen den Bus davonfahren. Gleichzeitig nähern wir uns unserem ersten Ziel. Gleich haben wir es geschafft und können uns unterstellen. Nur noch zwanzig Meter, achtzehn …

Mit einem lauten Wusch fährt ein Auto durch die große Pfütze, die sich genau auf meiner Höhe befindet, und eine kalte Dusche trifft mich. Mit einem Aufschrei springe ich zur Seite.

„Verdammter Mist!“, fluche ich und blicke dem davonfahrenden Wagen finster hinterher.

„Oh, nein! Hat es dich schlimm erwischt?“ Besorgt geht Kiki um mich herum, um den Schaden zu begutachten.

Auch ich sehe an mir herunter. Sowohl meine Jacke als auch meine Jeans und sogar meine Stiefel sind mit Spritzwasser bekleckert.

„Großartig! Was ist das denn für ein dämlicher Tag?“, schimpfe ich.

„Es kann nur besser werden. Komm!“ Entschlossen nimmt Kiki mir meinen Koffer aus der Hand, zieht mit der anderen ihren eigenen Trolley, den ich ihr rasch abnehme, und endlich erreichen wir die Bushaltestelle und können uns unterstellen.

„Meine rechte Schulter tut weh“, klage ich. „Was muss diese dämliche Rolle auch ausgerechnet jetzt kaputtgehen? Außerdem ist mir kalt. Ich bin nass und schmutzig und müde und durchgefroren.“ Und immer noch stinksauer auf meinen Ex. Und traurig. Sehr sogar.

„Wir haben es ja bald überstanden. Denk an Finnland“, tröstet Kiki mich.

„Das hilft nicht. Da ist auch Winter. Mir ist arschkalt.“

„Das kommt dir nur so vor, weil du eine miese Nacht hinter dir hast.“

„In Finnland dürfte es noch wesentlich kälter sein. Warum haben wir keinen Urlaub in der Karibik gebucht?“

„Weil wir Ruhe wollen und keine Dauerparty.“

„Ich will nicht mehr frieren. Ich will in die Sonne fliegen, lass uns umbuchen.“

Ja, meine Laune war tatsächlich schon mal besser. Vor allem liebe ich Schnee und Winter und bin überhaupt kein Hitzefan. Es muss der Restalkohol sein, der mich diese Dinge sagen lässt. Während wir warten, spüre ich allerdings, dass mir die frische Luft in Kombination mit der Bewegung guttut und es mir besser geht. Mein Kopf pocht nur noch leicht.

Endlich kommt der nächste Bus, aber er ist so überfüllt, dass wir uns gerade noch hineinquetschen können und natürlich keinen Sitzplatz bekommen. Dicht gedrängt neben mürrisch dreinblickenden Mitreisenden stehen wir da, während der Bus über die Straße schaukelt und alle paar Meter an Ampeln oder Haltestellen stoppen muss. Vom Gerüttel wird mir wieder übel. Die Scheiben sind beschlagen, und es müffelt undefinierbar. Doch jeder Meter bringt uns nun unserem Ziel näher, nur daran denke ich.

„Danke für den Arschtritt“, sage ich versöhnlich.

„Es war nicht ganz uneigennützig. Immerhin möchte ich unseren Urlaub ab der ersten Minute genießen. Wir haben ihn beide echt nötig.“ Kiki seufzt lang gezogen.

Unsere Jobs in einer großen Arztpraxis sind ziemlich stressig. Meist geht es dort zu wie in einem Bienenstock. Pünktliche Feierabende sind selten, Überstunden und genervte – oder nervende – Patienten gibt es dafür mehr als genug.

„Ruhe und Einsamkeit rund um die Uhr. Das wird herrlich.“ Während ich rede, versuche ich, mich auf meine Atmung zu konzentrieren, so flach wie möglich, um meine Übelkeit in den Griff zu bekommen. Es funktioniert, langsam lässt das Grollen in meinen Eingeweiden wieder nach.

„Einfach mal nichts sehen und hören außer verschneiten Bäumen und uns selbst. Kein Telefon, keine Patienten, kein Straßenlärm“, schwärmt Kiki.

„Kein Gemecker und Genörgel. Keine Baustellen und Feuerwehrsirenen.“

„Und keine Männer!“, schließt Kiki.

Die übellaunigen Gesichter der anderen Fahrgäste und der Mief im Bus verstärken meinen Wunsch, schnellstmöglich hier weg und dort hinzukommen. Finnland im Winter! Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen ruhigeren Ort auf der Welt gibt. Keine schlecht gelaunten Mitmenschen. Nur Kiki und ich, heißer Kakao und ganz viel Schnee.

Die Fahrt zum Hamburger Flughafen dauert nicht allzu lang. Ich wohne in Eppendorf, Kiki wohnt nur ein paar Straßen weiter. Aber eingezwängt wie Schafe in einem Viehtransporter erscheint mir die Fahrt endlos zu dauern. Rasch verstummt unser Gespräch. Ohne dass ich es will, muss ich an Lukas denken.

Lukas, der ein Arschloch ist. Gut fünf Jahre lang waren wir zusammen gewesen, fünf Jahre voller Glück, schöner Erlebnisse und wunderbarer Zukunftspläne. Ich habe ihn sehr geliebt und gedacht, wir würden für immer zusammenbleiben. Leider war das ein Trugschluss. Nun bin ich fünfundzwanzig Jahre alt und werde noch einmal von vorne beginnen müssen.

Kiki betrachtet mich prüfend von der Seite. Sie scheint mal wieder zu ahnen, was ich denke.

„Grübelst du etwa schon wieder über einen gewissen Vollpfosten?“

„Schon vorbei“, verspreche ich hastig. „Soll ich dir was sagen? Ich bin irre froh, dass wir in die finnische Pampa fahren und nicht auf irgendeine Partyinsel mit wildem Strandleben und unzähligen Typen, die an einem herumgraben. Männer können mir ab sofort komplett den Buckel runterrutschen.“

Ein etwa fünfzigjähriger Mann in dunkler Jacke und Mütze bedenkt mich mit einem finsteren Blick. Ich erwidere ihn, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Frag mich mal!“, sagt Kiki. „Die einzigen männlichen Wesen, die wir im Schnee zu sehen bekommen, werden vielleicht Elche oder Kaninchen sein. Oder der ein oder andere Husky.“

„Das genügt auch.“

Wir sehen uns an und brechen in Gelächter aus.

Es bleibt uns fast im Hals stecken, als der Bus so unvermittelt abbremst, dass wir fast umgeworfen werden. Einige Leute schreien vor Schreck auf. Zu denen gehöre auch ich, und um nicht hinzufallen, klammere ich mich am nächstbesten fest, das ich finden kann. Die Jacke des schlecht gelaunten Fünfzigjährigen. Sein Blick wird tatsächlich noch düsterer, und er zieht die Augenbrauen zusammen.

Schnell ziehe ich meine Hand zurück. „Entschuldigung.“

Er hebt die Hand und streicht damit an seiner Jacke entlang, als hätte ich sie beschmutzt.

Sobald der Bus weiterfährt, gibt es erneut einen Ruck. Irgendjemand stolpert und tritt mir auf den Fuß. Er erwischt meinen großen Zeh so heftig, dass ich erneut aufschreie, diesmal vor Schmerz.

Verursacher ist ein fülliger Mann, der mit dem Rücken zu mir steht und offenbar nicht bemerken will, dass er mir wehgetan hat. Ich atme auf, als wir endlich unsere Haltestelle erreichen und aussteigen können. Leider sind wir nicht die Einzigen. Beinahe alle Fahrgäste zugleich wollen den Bus verlassen. Es gibt Gedrängel und Geschiebe, böse Blicke und leise Flüche. Aber endlich stehen wir vor dem Flughafengebäude.

Vor den Check-in-Schaltern erstreckt sich eine lange Schlange. Meterweise rücken wir vor, und wegen meines schweren Trolleys schmerzen inzwischen beide Schultern. Auch meinen Zeh spüre ich immer noch, doch endlich können wir unser Gepäck aufgeben. Bei der Sicherheitskontrolle piept es, während ich vor dem Scanner stehe. Ich muss noch einmal zurück und meine Stiefel ausziehen. Wahrscheinlich bilde ich es mir nur ein, dass mich etliche Fluggäste misstrauisch und die Securitymitarbeiterin streng anstarren, während ich nur auf Socken darauf warte, meine Stiefel wiederzubekommen. Als ich sie schließlich wieder anziehen darf, komme ich so blöd gegen meinen ramponierten Zeh, dass erneuter Schmerz hindurchschießt.

Habe ich schon erwähnt, dass heute einer dieser Tage ist?

Ich atme auf, als wir unser Gate erreichen, und während wir auf den Aufruf unseres Flugs warten, holen wir uns einen Kaffee und Kiki eine Metal-Zeitschrift.

Während ich neugierig meine Blicke umherschweifen lasse und die aufregende Atmosphäre des Flughafens in mich aufnehme, scrollt Kiki durch ihr Handy. Plötzlich keucht sie und reißt die Augen auf.

„Du meine Güte! Das ist ja krass!“, ruft sie.

„Was denn?“ Vorsichtig nippe ich an meinem viel zu heißen Kaffee und verbrühe trotzdem meine Lippen. Rasch sauge ich die Luft ein, um sie zu kühlen.

Black Earth spielt einen Gig im Vorprogramm von Darkness Calls. Du weißt schon, die finnische Band mit dem sexy Sänger und dem süßen Gitarristen mit den superlangen Haaren. In Helsinki, und dann auch noch ausgerechnet während unseres Urlaubs. Das ist ja ein Zufall!“

„Cool“, schaffe ich zu sagen und wedele mit der Hand vor meiner Lippe herum.

„Guck mal, hier ist ein Foto von Darkness Calls.“ Sie hält mir ihr Handy unter die Nase. Ich blicke auf fünf attraktive Musiker mit langen Haaren und in schwarzen Klamotten.

„Wirklich cool“, wiederhole ich, betaste mit der Zunge vorsichtig meine Lippe und zucke schmerzerfüllt zusammen. Da bildet sich bereits eine Blase. Shit! Wir fliegen in den Urlaub, und ich sehe entstellt aus. Gut, dass es nur in die finnische Wildnis geht.

„Ja, die sind total heiß, ich liebe sie. Und Black Earth ebenfalls“, plappert Kiki schon weiter. „Es wird Zeit, dass ich sie mir mal wieder live ansehe. Bisher kamen sie immer richtig gut an. Der Auftritt mit Darkness Calls ist eine super Chance für sie. Sie hatten ja vor einiger Zeit schon mal ein paar Gigs in deren Vorprogramm gespielt. Schade, dass du damals nicht mitkommen wolltest.“ Ein vorwurfsvoller Blick trifft mich, der jedoch sofort wieder vergeht. „Ich glaube, aus Black Earth kann echt etwas werden. Das ist so aufregend!“

Black Earth ist eine Heavy Metal-Band, deren Mitglieder zufälligerweise auch noch aus Hamburg kommen, wie Kiki mir mal erzählte.

„Ja, und wie.“

„Sie haben einen neuen Gitarristen“, fährt Kiki ungebremst fort. „Schade, dass Julian raus ist. Der war so süß!“

Nachdenklich sehe ich sie an. „Ich dachte, du hast von Musikern die Nase voll?“

Tommy spielt ebenfalls in einer Band.

„Hab ich auch! Aber nicht jeder ist wie Tommy. Julian hat so tolle lange Haare und wie er spielen kann! So einen guten Gitarristen wie ihn kriegen sie bestimmt nicht wieder. Und das gerade jetzt bei dieser großartigen Chance mit Darkness Calls.“

„Weißt du schon, wer der Neue ist?“

An mir gehen solche Neuigkeiten grundsätzlich vorbei. Ich höre gern Musik, am liebsten, wie Kiki, Rock und Metal, aber ich streame sie und kaufe weder CDs noch Zeitschriften, und auch auf einem Konzert war ich noch nie. Kiki hingegen saugt alle Informationen auf wie ein Schwamm und ist stets auf dem neuesten Stand. Was ihr ja auch bereits den einen oder anderen Liebeskummer eingebracht hat. Vor Tommy gab es schon Chris und davor …

„Nein“, erwidert sie. „Sie machen ein Geheimnis draus. Ich bin schon so neugierig!“

„Na, früher oder später wirst du es schon erfahren.“

Unser Flug nach Helsinki wird aufgerufen, und als wir nebeneinander zum Flugzeug gehen, überkommt mich ein gewaltiges Glücksgefühl.

Sobald wir unsere Reisehöhe erreicht haben, zückt Kiki ihr Handy und betrachtet mit einem stillen Lächeln entzückt das Display.

„Was hast du denn da?“, frage ich neugierig.

„Ach, ich sehe mir gerade noch mal den Bericht von Black Earth und Darkness Calls an. Das mit dem Gig in Helsinki ist so aufregend!“ Sie hält mir ihr Smartphone hin. „Guck doch mal! Sehen die nicht hot aus?“

Ich nehme ihr das Telefon aus der Hand und betrachte das Foto der fünf finnischen Musiker von Darkness Calls genauer.

„Ja, stimmt, wirklich sehr heiß.“ Ich zoome etwas heran, um die Gesichter genauer unter die Lupe nehmen zu können.

Kiki beobachtet mich. „Warte, ich zeige dir mehr Fotos.“ Sie wischt auf dem Display herum. „Hier, das ist Jussi, der Gitarrist.“

„Wow! Der hat echt wahnsinnig lange Haare.“

„Irre, oder? Und hier, das ist Esko, der Leadsänger.“

Eingehend betrachte ich das Porträtfoto. „Diese Augen, dieser Blick! Der ist wirklich total sexy! Wie kann so ein Traumkerl solche Growls rausbringen? Krass!“

Versonnen sehe ich mir noch mehr Fotos an, und Kiki, offensichtlich glücklich über mein Interesse, grinst zufrieden.

Kurz darauf wird unsere gute Stimmung noch einmal ziemlich strapaziert, denn mit einem Mal treten heftige Turbulenzen auf, und der Rest des Fluges verläuft alles andere als angenehm. Immer wieder sackt die Maschine in Luftlöcher, rumpelt und schaukelt, und mein Magen hebt sich. Auch Kiki klammert sich an den Armlehnen fest und wirkt ziemlich bleich.

Immerhin startet der anschließende Inlandsflug, der uns weiter nach Oulu bringt, pünktlich und verläuft sogar wesentlich ruhiger. Nur der Orangensaft, den ich mir bestelle, schmeckt sauer und brennt an meiner ramponierten Lippe.

Als wir ankommen, dämmert es bereits. Wir nehmen in Oulu unseren Mietwagen in Empfang, und als wir den Ort hinter uns lassen und nordwärts in Richtung Einöde fahren, wird es rasch dunkel.

„Schade“, sage ich enttäuscht. „Ich hatte gehofft, wir würden noch bei Tageslicht ankommen.“

„Dann müssen wir im Sommer herkommen oder bereits am Vortag nach Helsinki fliegen. He, wir werden zwei Wochen lang hier sein und noch viel Schnee bei Tageslicht zu sehen bekommen“, tröstet mich Kiki.

Über zwei Stunden Fahrt führen uns durch die verschneite Landschaft Nordfinnlands, von der wir nicht mehr erkennen können als das im Scheinwerferlicht erleuchtete Band der Straße. Immer wieder passieren wir Hinweisschilder auf wechselnde Rentiere. Diese Gefahr macht das Fahren sehr anstrengend, und wir wechseln uns ab. Kaum ein Fahrzeug kommt uns währenddessen entgegen, und bald fühlen wir uns, als wären wir die einzigen Menschen weit und breit. Schier unendlich gleitet der geisterhaft scheinende Wald an uns vorüber, still stehen die Fichten und Kiefern da, wie Wächter, die auf uns achtgeben.

Ich hoffe von ganzem Herzen, dass meine Pechsträhne endlich vorüber ist.

Am frühen Abend erreichen wir endlich unser Ziel.

„Wow, ist das schön!“

Überwältigt stehe ich vor unserer Hütte, die für zwei herrliche Wochen unser Zuhause sein wird.

„So toll habe ich es mir nicht vorgestellt“, stimmt Kiki zu. Sie tritt neben mich, und gemeinsam genießen wir schweigend den Anblick, der sich uns bietet.

Die Holzhütte besteht aus rustikalen halben Baumstämmen und wirkt so stabil, dass ihr auch ein heftiger Wintersturm nichts wird anhaben können. Hinter den Sprossenfenstern leuchtet einladendes Licht; warm scheint es uns entgegen und bildet einen atemberaubenden Kontrast zu der verschneiten Landschaft um uns herum, die im Licht des Mondes silbrig schimmert.

Unser Traum hat sich erfüllt: Hoher Schnee bedeckt die unzähligen Bäume des Waldes, in dem unsere Hütte sowie ein paar weitere der Anlage stehen, alle jedoch mit so großem Abstand zueinander, dass sich durchaus ein Gefühl von Einsamkeit einstellen kann. Auch das breite Dach ist schneebedeckt, es wirkt, als hätte jemand eine dicke flauschige Decke darüber ausgebreitet. Auf der Veranda unter dem Vordach flackern Windlichter, und am Himmel stehen die Sterne in ihrem eisigen Glanz.

„Das haben wir uns nach all dem Stress auch verdient“, sage ich und atme tief durch. „Was für ein Kontrast zum grauen Hamburg. Stell dir nur den vielen Verkehr vor, den Lärm und Gestank.“

„Und die Praxis! Weißt du noch, wie hektisch es während der letzten Wochen zugegangen ist? Oft sind wir nicht mal dazu gekommen, ’nen Kaffee zu trinken.“ Kiki seufzt schwer. „Umso schöner, endlich hier zu sein, einfach herrlich! Komm, lass uns unser Gepäck holen. Ich bin schon so neugierig, wie es innen aussieht.“

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Rasch laufen wir zum Auto zurück, öffnen den Kofferraum, holen unsere Koffer und Taschen heraus und schließen den Wagen ab. Der Parkplatz liegt blickgeschützt hinter einigen Bäumen, sodass man die Autos von der Hütte aus nicht sehen kann und sich wirklich wie in der puren Wildnis fühlt. Ein schmaler Weg ist in den sicher einen halben Meter hohen Schnee geschippt worden, der zu den Hütten führt. Er wird schwach von einigen Fackeln beleuchtet, die in den Schnee gesteckt wurden. Unsere Unterkunft ist die erste in der Reihe, was uns sehr recht ist. Schließlich sind wir hier, um die Ruhe zu genießen und nicht irgendwelchen anderen Urlaubern beim Partymachen zuzuhören. Mit Nachbarn nur auf einer Seite halbiert sich dieses Risiko.

Es ist empfindlich kalt, und ich bin froh, als wir unter dem Vordach auf der Veranda stehen und Kiki den Schlüssel aus ihrer Jackentasche zieht. Fragend hält sie ihn mir entgegen.

„Du oder ich?“

„Du bist das weitere Stück gefahren“, sage ich großzügig. „Also gebührt dir auch die Ehre.“

Grinsend steckt Kiki den Schlüssel ins Schloss. Mit einem leisen Knarren schwingt die dicke Holztür auf, und einladend erstreckt sich das Innere der Hütte vor uns. An der Tür streifen wir unsere Stiefel ab und betreten den Raum.

Wohlige Wärme empfängt uns. Im Kamin flackert ein Feuer, auf den Fensterbänken und dem rustikalen Tisch leuchten Kerzen. Jetzt ist mir klar, warum die Mitarbeiter unsere Ankunftszeit wissen wollten: um alles so herrlich gemütlich herzurichten. Das ist ein toller Service. Alles hier besteht aus Holz: der Tisch, die Türen, die Wände und Decken, die Bohlen des Fußbodens, die Schränke und die Betten, wie wir feststellen, als wir den Vorhang zum Schlafzimmer öffnen.

„Ist das gemütlich“, ruft Kiki entzückt.

„Hier bleibe ich“, stimme ich zu und setze mich auf das Bett. Decke und Kissen sind dick und flauschig und garantiert warm. Sie sind mit blau-weißer Bettwäsche in den Farben Finnlands – oder den Farben des Winters? – bezogen, und am Fenster hängen ähnliche Vorhänge. „Ich kehre nicht nach Hamburg zurück“, füge ich hinzu. „Niemand bekommt mich hier mehr weg.“ Genießend breite ich die Arme aus und lasse mich nach hinten aufs Bett fallen. Ich versinke fast in der weichen Decke.

Während der nächsten Stunde packen wir unsere Koffer aus und inspizieren alle Winkel unserer Hütte. Es gibt einen Kühlschrank und eine kleine Kochecke. Da es jedoch auch ein Restaurant gibt, haben wir Vollpension gebucht und werden dort essen. In diesem Urlaub wollen wir es uns einfach nur gut gehen lassen.

„Wollen wir auch mal in die Sauna?“, fragt Kiki.

Eine solche befindet sich hinter unserer Hütte beziehungsweise ist unmittelbar daran angeschlossen. Jede Unterkunft hier ist mit eigener Sauna ausgestattet.

„Klar. He, wir sind in Finnland, da gehört das quasi zum Leben dazu.“

Ich stelle es mir herrlich vor, in der Hitze zu schmoren, während draußen leise der Schnee auf die gefrorene Landschaft fällt.

„Jetzt hab ich aber erst mal Hunger“, erklärt Kiki. „Du auch? Wollen wir gleich zum Restaurant rübergehen?“

„Super Idee, ich verhungere schon.“

Vorfreudig ziehen wir unsere Jacken und Stiefel an und laufen los. Entlang des Pfads, der zum Hauptgebäude führt, stecken ebenfalls Fackeln im Schnee, die den Weg beleuchten.

„Die haben echt an alles gedacht“, stellt Kiki zufrieden fest.

„Ich sagte ja schon, dass ich hier nicht mehr weggehe. Es ist so romantisch.“

Gleich darauf betreten wir das Touristenzentrum, einen Gebäudekomplex, der sehr viel größer ist als die Hütten. Linker Hand befindet sich eine Boutique, rechts ein kleiner Supermarkt, und geradeaus geht es in den großen Restaurantbereich. Im ersten Stock erstreckt sich eine Reihe von Hotelzimmern.

Die Weihnachtszeit mit den Feiertagen ist vorbei, der größte Gästeansturm jetzt Ende Januar wieder abgereist, und somit haben wir beinahe freie Auswahl, was unseren Tisch betrifft. Nur noch drei Pärchen sind hier sowie zwei Familien mit einigen kleinen Kindern.

Zufrieden sieht sich Kiki um.

„Das wird ein herrlich ruhiger Urlaub. Es ist kaum jemand hier. Stell dir vor, die wären voll besetzt! Ich bin echt froh, dass wir nicht zur Hauptsaison gekommen sind.“

„Stimmt.“ Hungrig sehe ich zum Essen hinüber. „So bleibt mehr für uns.“

Wir bedienen uns am Buffet, und was mich betrifft, ich kann mich kaum entscheiden, so köstlich wirkt die Auswahl. Ich schaufele gebratenen Lachs auf meinen Teller, probiere Elchragout und einen würzigen Eintopf und wähle Brokkoli und Karotten. Es schmeckt himmlisch.

„Ich werde mit zehn Kilo mehr auf den Rippen zurückkommen“, stöhnt Kiki und spießt ein Stück Hähnchenfilet auf ihre Gabel. „Hast du die Nachspeisen gesehen?“

Ja, auch dort fällt es schwer, nicht von allem etwas zu nehmen. Ich entscheide mich für Vanillemousse, ein Stückchen Brombeerkuchen und einen Cappuccino.

„Sagtest du was von zehn Kilo?“, vergewissere ich mich. „Verdopple lieber auf zwanzig.“

Grinsend lasse ich einen Happen Kuchen in meinem Mund verschwinden. Was für eine gute Idee dieser Urlaub doch ist. Ideal, um vom Stress zu Hause abzuschalten. Besonders das schockierende Ende mit Lukas steckt mir nach wie vor in den Knochen, so sehr ich auch versuche, es endlich zu vergessen. Gegen die Bilder in meinem Kopf hat auch aller Tequila nicht geholfen.

„Das trainieren wir uns alles wieder ab“, ist sich Kiki sicher. „Wenn ich überlege, was man hier alles unternehmen kann …“

Was mich betrifft, bin ich da nicht so zuversichtlich, denn der heiße Glögi, der finnische Glühwein, den wir uns nach dem Essen genehmigen, ist so köstlich, dass es nicht bei einem Glas bleibt.

Kurz vor dem Schlafengehen denke ich erneut an Lukas, und mit einem Mal ist mir so wehmütig zumute, dass ich ihn kurzerhand entblockiere. Zugleich schalte ich den Ton meines Handys aus, damit ich in Ruhe schlafen kann.

Kapitel 3

In dieser ersten Nacht schlafe ich tief und fest. Tatsächlich ist es so leise, dass nichts zu hören ist außer dem Rauschen des eigenen Blutes in den Adern. Das habe ich noch nie erlebt, und anfangs ist es wirklich gewöhnungsbedürftig. Doch schnell stelle ich fest, wie erholsam das Fehlen von störenden Hintergrundgeräuschen ist, und bereits beim Frühstück am folgenden Morgen fühle ich mich wunderbar erholt.

Im Hauptgebäude kann man sowohl Schneeschuhe als auch Skier und andere Wintersportgeräte ausleihen. An diesem ersten Tag beschließen Kiki und ich, die Schneeschuhe auszuprobieren. Es ist so lustig, mit den großen Dingern an den Füßen loszustapfen. Unser Weg führt uns über den zugefrorenen See hinter unserer Hütte. Auch hier liegt der Schnee hoch, doch dank der Schneeschuhe sinkt man beim Gehen nicht ein und kann sich vergleichsweise einfach fortbewegen. Es ist atemberaubend, mitten auf dem See stehen zu bleiben. Es ist, als würden wir inmitten all des Weiß um uns herum schweben. Wir überqueren den See und betreten den lichten Wald auf der anderen Seite. Nichts ist zu hören außer dem gelegentlichen Klatschen, wenn einer der Bäume sich seiner Schneelast entledigt. Einmal beobachten wir ein Kaninchen, das nach Nahrung suchend herumhoppelt. Die Luft ist unglaublich frisch und klar.

Der Hunger ist es, der uns zurücktreibt, nicht die Kälte. Zwar haben wir beide ganz rote Wangen bekommen, aber wir frieren nicht, das Gehen hält uns warm.

Das Mittagessen ist wieder köstlich. Während ich meine Nachspeise genieße, warmen Vanillepudding mit heißen Früchten, sehe ich, dass Kiki kurz ihre Nachrichten checkt, und mir fällt ein, dass der Ton meines Handys ja immer noch ausgeschaltet ist und ich heute noch gar nicht nachgesehen habe, ob sich jemand bei mir gemeldet hat. Ich stelle ihn wieder an, und sofort piept es diverse Male.

„Ach du meine Güte“, sagt Kiki. „Du bist ja sehr gefragt.“

Stirnrunzelnd scrolle ich durch die Benachrichtigungen.

„Andrea fragt, ob wir gut angekommen sind. Und Vera wünscht uns einen schönen Urlaub, ich soll dir liebe Grüße ausrichten. Davon abgesehen: Lukas, Lukas, Lukas.“ Ich zähle nach. „Er hat noch viermal angerufen und insgesamt sieben Nachrichten geschickt.“ Unwillkürlich schlägt mein Herz schneller. So egal kann ich ihm dann wohl doch nicht sein, oder?

Kiki sieht skeptisch aus. „Du willst sie aber nicht lesen, oder?“

„Ich weiß nicht … Scheint wichtig zu sein, oder? So oft, wie er sich gemeldet hat?“

Ich wünsche mir, mich in seine Arme zu werfen, und alles ist wieder gut. Zugleich stelle ich mir vor, wie es wäre, ihm einen richtig schönen Tritt in den Allerwertesten zu verpassen. Verdammt, was ist denn bloß los mit mir? Ich hasse ihn! Und ich liebe ihn. Und natürlich weiß ich, dass es so nicht weitergeht. Es tut weh, einfach nur weh.

Kiki seufzt. „Versprich mir zumindest, dir nicht die Urlaubslaune verderben zu lassen, was auch immer er schreibt.“

Ich nicke und öffne die erste Nachricht.

Lara, bitte, lass uns reden. Es tut mir alles so leid.

Das hat überhaupt nichts zu bedeuten. Wirklich, Ute bedeutet mir nichts. Nicht das Geringste. Ich liebe nur dich.

besagt die nächste.

Kiki beobachtet mich. „Tu dir das nicht weiter an, Süße“, empfiehlt sie mitleidig.

Erschrocken stelle ich fest, dass mir Tränen in den Augen stehen. Schnell schließe ich die Nachrichten, schalte erneut den Ton aus und stecke das Handy in die Tasche zurück.

„Warum hat er das getan?“, frage ich leise, während die Tränen kullern.

Sie greift nach meiner Hand und drückt sie. „Weil er ein Arschloch ist. Komm, iss deinen Pudding weiter und vergiss ihn. He, wir sind in Finnland. Genieße es!“

Ich folge ihrem Rat, schniefe noch einmal, und bald geht es mir wieder besser.

Nach dem Mittagessen machen wir es uns in der Hütte gemütlich.

Es ist so still, dass wir aufschauen, als wir einen Automotor hören. Neugierig laufen wir ans Fenster und sehen hinaus. Der Motor verstummt, und Männerstimmen dringen an unsere Ohren sowie Gelächter. Schon sehen wir sie an unserer Hütte vorbeilaufen. Es sind zwei. Sie tragen dicke Jacken und Mützen, und wir können nicht viel von ihnen erkennen. Beim Vorbeigehen werfen sie einen Blick auf unsere Hütte, und instinktiv weichen Kiki und ich vom Fenster zurück.

„Hoffentlich sind die leise und saufen und grölen nicht die ganze Zeit“, bangt Kiki.

Ich verrenke mir den Hals, um besser sehen zu können.

„Sie haben die Hütte neben uns“, stelle ich fest.

Kiki seufzt ergeben.

„Wenn die Lärm machen, muss ich sie leider um die Ecke bringen“, sagt sie. „Wir könnten ein Loch ins Eis des Sees hacken, was meinst du? Hier dauert es lange, bis das Tauwetter einsetzt. Man würde sie frühestens im nächsten Sommer finden.“

„Gute Idee.“

Gleich darauf ist es wieder still, und wir atmen auf. Beim Abendessen halten wir neugierig Ausschau nach den Neuankömmlingen, doch sie lassen sich nicht blicken. Entweder haben sie bereits gegessen oder kommen erst später, wenn wir schon wieder weg sind. Oder es sind hart gesottene Eisangler im Rentenalter, die sich selbst verköstigen. Ist ja auch egal. Solange sie Ruhe geben, soll ihre Gegenwart uns gleichgültig sein.

An diesem Abend bekomme ich trotz aller Bemühungen doch wieder einen Durchhänger, denn ich begehe den Fehler und lese weitere Nachrichten von Lukas. Inzwischen sind noch drei neue hinzugekommen, und er hat zweimal versucht, mich anzurufen.

Wenn du mir noch eine Chance gibst, verspreche ich dir, dir niemals wieder wehzutun“, lese ich Kiki vor.

Ich breche in Tränen aus. „Was soll ich bloß machen? Er fehlt mir so!“

„Standhaft bleiben, auch wenn es schwer ist. Der meint es nicht ernst, das musst du inzwischen doch wissen. Er hat schon unzählige Chancen von dir bekommen. Und immer wieder Mist gebaut.“

„Aber ich liebe ihn!“ Schluchzend ziehe ich ein Taschentuch aus der Packung und schnäuze mich geräuschvoll.

„Ja, ich weiß, wie weh das tut. Ich wünschte, ich könnte dir helfen. Aber in diesem Fall gibt es tatsächlich nur einen Ratschlag, den ich dir geben kann: Lass ihn in der Wüste, in die du ihn geschickt hast, und hol ihn nicht mehr zurück.“

„Vielleicht meint er es diesmal ja wirklich ernst. Hier, hör mal.“

Ich lese eine weitere Nachricht vor. „Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugetan, Lara. Ich vermiss dich so. Bitte, lass es uns noch einmal miteinander versuchen.

„Wie oft hat er dir so was schon gesagt?“

Schniefend tupfe ich meine Augen trocken. „Ich weiß. Aber wie soll ich denn ohne ihn leben? Irgendwann wollte ich ihn heiraten und vielleicht sogar Kinder mit ihm bekommen.“

„Dafür ist er nicht der Richtige, Süße.“

Natürlich weiß ich das selbst. Im Grunde will ich ihn ja auch gar nicht mehr.

Aber warum vermisse ich ihn dann so?

***

„Ich kaufe eben ein paar Sachen im Supermarkt ein“, erkläre ich am nächsten Morgen nach dem Frühstück. „Milch zum Beispiel. Wenn wir nachher durchgefroren zurückkommen, ist ein heißer Kakao am Fenster wundervoll.“

„Gute Idee. Soll ich mitkommen?“, fragt Kiki. „Eigentlich wollte ich duschen, und …“

„Nee, mach mal. Das kriege ich auch allein hin.“

Grinsend wickele ich den Schal um meinen Hals. Gleich darauf bin ich unterwegs. Der Schnee knirscht unter meinen Schritten. Tief sauge ich die Luft in meine Lungen und lasse meine Blicke umherschweifen. Überall stehen Bäume, um die verschiedenen Hütten voneinander zu trennen, wenn auch nicht so dicht wie im Wald. Ich betrete das Hauptgebäude und ziehe meine Handschuhe aus. Außerdem hole ich mein Portemonnaie aus meiner Jackentasche, denn der Reißverschluss der Tasche klemmt, und es würde mir gerade noch fehlen, wenn mir das an der Kasse passiert. Im Geiste sehe ich schon eine lange Schlange ungeduldiger Kunden, die sich hinter mir bildet, während ich verzweifelt am Reißverschluss zerre. Das ist mir in Hamburg schon zweimal passiert und war immer sehr unangenehm.

Aus der Boutique erklingen die Stimmen eines Mannes und einer Frau, und ein kleines Kind plappert dazwischen. Das muss eine der Familien sein. Kurz überlege ich, einen Einkaufskorb zu nehmen, entscheide mich dann jedoch dagegen. Viel brauche ich ja nicht, die paar Teile kann ich auch so tragen. Neugierig betrete ich den kleinen Supermarkt und sehe mich suchend um. Es gibt alles, was man während eines Urlaubs gebrauchen kann. Von Getränken und Brot über Waschartikel bis hin zu Zeitschriften und sogar einigen Büchern. Gemächlich schlendere ich die Regale entlang, schmunzele mitunter über die putzigen finnischen Begriffe mit unheimlich vielen Ääs und steuere das Kühlfach an. Meine Handschuhe klemme ich mir unter den linken Arm, halte mein Portemonnaie in der linken Hand und lege schließlich zwei Liter Milch auf meinen gebeugten linken Unterarm, dann brauchen wir morgen nicht gleich wieder herzukommen. Sorgfältig korrigiere ich den Sitz des Portemonnaies, damit ich es gerade halte und nichts herausfallen kann. Jetzt fehlt noch das Kakaopulver.

„He, Mika, sollen wir auch eine Flasche Wodka mitnehmen?“, ruft eine Männerstimme.

„Klar. Gibt doch einiges zu feiern.“

Neugierig bleibe ich stehen. Das müssen die beiden Neuankömmlinge sein, allem Anschein nach ebenfalls Deutsche und offenbar doch keine Rentner. Das mit dem Wodka lässt allerdings nichts Gutes ahnen. Wie es scheint, sind die tatsächlich zum Partymachen hergekommen. Und sie haben die Hütte neben uns. Oh je.

Entschlossen trete ich aus meiner Deckung. Der, der wegen des Wodkas gefragt hat, steht mit dem Rücken zu mir vor dem Getränkeregal. Der andere, der Mika sein muss, bemerkt mich und dreht sich zu mir um.

Holla! Abrupt stoppe ich mitten in der Bewegung und spüre, wie mir der Mund aufklappt und die Hitze ins Gesicht schießt. So dermaßen attraktiv kann doch kein Mann sein, oder? Wie sein Freund trägt er eine Wollmütze, aber seine Augen darunter strahlen vor Lebensfreude und treffen mich direkt ins Herz wie ein Pfeil. Sie sind warm und braun. Rehbraun, wie mir auffällt. In ihnen tanzen winzige Lichter, und ich bin mir sicher, dass er mich durchschaut, denn sein Strahlen intensiviert sich, und seine schönen Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, das ebenmäßige weiße Zähne freigibt. Er könnte mal wieder eine Rasur vertragen. Andererseits macht ihn der Fünftagebart noch umwerfender. Wirklich, dieser Kerl sieht geradezu unverschämt gut aus.

Automatisch lächele ich zurück, ohne zu wissen, was ich tue.

In dem Moment dreht der andere Typ sich um, eine Flasche in der Hand.

„Was meinst du, Mika, diese Marke oder lieber …?“

Er verstummt, und sein Blick fliegt zwischen seinem Freund und mir hin und her, bevor ein Grinsen sein Gesicht überzieht.

Endlich erwache ich aus meiner Erstarrung.

„Ihr habt was zu feiern? Na, da rate ich doch eher zu Champagner“, empfehle ich kurz entschlossen. Nicht ohne Eigennutz, denn so johlen sie vielleicht nachts nicht ganz so laut herum.

„Wir nehmen einfach beides“, entscheidet Mika, ohne mich aus den Augen zu lassen. Schließlich bedenkt er mich noch mit einem Lächeln, ehe er sich abwendet und gemeinsam mit seinem Kumpel die Alkoholauswahl inspiziert.

Ich sollte zusehen, dass ich hier wegkomme. Die Nähe dieses Mika versetzt mich in Unruhe. Und das ist etwas, was ich momentan überhaupt nicht gebrauchen kann. Männer können mir nach dem Erlebnis mit Lukas ohnehin bis auf Weiteres gestohlen bleiben, und außerdem sind Kiki und ich hergekommen, um Ruhe zu haben. Herrliche Stille. Entspannung pur.

So etwas gibt es nicht, wenn Kerle in der Nähe sind.

Doch da ist irgendetwas in mir, das mich davon abhält, sofort die Kasse anzusteuern. So schlendere ich einen Gang weiter zum Knabberkram, während ich lausche, ob die beiden noch etwas von sich geben. Wahllos lege ich eine Tüte Chips und eine weitere mit Flips auf die Milchpackungen. Langsam wird mein linker Arm lahm. Ich sollte jetzt wirklich gehen.

Ah! Da hinten entdecke ich mein Lieblingsduschgel. Das will ich unbedingt noch mitnehmen. Mein linker Arm ist komplett belegt, also fische ich das Fläschchen vorsichtig mit der rechten Hand zwischen den anderen hervor. In solchen abenteuerlichen Aktionen bin ich geübt, wenn ich während der Mittagspause rasch im nächsten Supermarkt etwas einkaufe.

Nun schnell ab zur Kasse. Doch bevor ich sie erreiche, tritt eine Frau, laute Grußworte rufend, ans Band und beginnt sofort einen Plausch mit der Kassiererin. Offenbar hat sie mich nicht bemerkt. Ohne Punkt und Komma redend, packt sie den Inhalt ihres prall gefüllten Einkaufswagens aufs Band. Sie spricht Finnisch, und ich vermute, dass es sich um eine Hotelangestellte handelt, die ihren privaten Wocheneinkauf tätigt. Wobei, bei der Menge, die sie aus ihrem Wagen zieht, könnte es auch der Monatseinkauf sein.

Unruhig beginne ich, von einem Fuß auf den anderen zu treten, weil mein linker Arm inzwischen anfängt zu schmerzen. Das wird später wahrscheinlich einen Muskelkater geben. Ich hätte vielleicht nur einen Liter Milch nehmen sollen. Vorsichtig wechsele ich meine Einkäufe so, dass sie nun auf beiden Unterarmen ruhen, und seufze leise vor Erleichterung.

Endlich ist die Dame fertig und das Band voll. Die Kassiererin beginnt mit ihrer Arbeit, und langsam, ganz langsam, rollt das Band weiter und ein winziges Stückchen wird frei. Ich beuge mich vor, um alle Dinge zugleich abzulegen, weil ich jetzt keine Hand mehr frei habe, um sie einzeln zu nehmen. Dabei kippt mein Portemonnaie in meiner linken Hand, und das Fach für das Kleingeld, das bei mir immer berstend voll ist, entleert sich.

Einem Wasserfall gleich ergießen sich unzählige Münzen über das Laufband und klimpern auf den Boden. Erschrocken fährt die Frau zu mir herum, die Kassiererin reißt die Augen auf, und …

„Ach, herrje“, erklingt eine Stimme hinter mir.

Erbittert schließe ich die Augen. Das ist Mika. Der Klang seiner Stimme hat sich bereits in meinem Gedächtnis eingebrannt. Und ich wünsche mir, auf der Stelle unsichtbar werden zu können. Mein Gesicht ist puterrot, ich kann es fühlen. Und ich habe mich gleich bei unserer ersten Begegnung so sehr bei ihm blamiert, dass ich ihm nie wieder unter die Augen treten kann.

„Scheiße“, fluche ich und denke, ich hätte es leise getan. Doch die Frau vor mir sieht sich missbilligend nach mir um und hebt streng eine Augenbraue.

Die Kassiererin beeilt sich mit ihrer Arbeit, und das Band läuft jetzt zügiger voran. Während ich beginne, meine verstreuten Münzen aufzusammeln, höre ich hinter mir eine Bewegung. Und als ich mich bücke, um mich um mein Geld auf dem Fußboden zu kümmern, blicke ich mitten in ein Paar warmer Augen hinein.

„Ich bin auch immer zu faul, einen Wagen zu nehmen“, erklärt Mika und lächelt unschuldig. Er hält mir seine Hand hin und schüttet mir schließlich einen Haufen Münzen in meine Handfläche.

Hinter ihm entdecke ich seinen Freund, der mich gutmütig angrinst. Oder spöttisch? Dann macht er einen Schritt auf mich zu und übergibt mir weiteres Kleingeld. Stumm nicke ich ihm zu. Noch nie ist mir etwas so unangenehm gewesen.

Die Dame vor mir bezahlt inzwischen, und als sie zur Seite tritt, entdecke ich dort, wo sie gerade gestanden hatte, noch mehr Münzen. Wie peinlich ist es bloß, sich danach bücken zu müssen, während ich mir der interessierten Blicke dieses umwerfenden Kerls bewusst bin. Warum kann ich nicht einfach im Boden versinken oder mich in Luft auflösen?

„Danke“, bringe ich heraus, ehe ich mich rasch abwende und hoffe, diesen beiden Typen nie wieder über den Weg zu laufen. Zum Glück ist die Gegend hier derart weitläufig, dass die Gefahr dafür nicht allzu groß ist. Ich muss nur aufpassen, dass sich unsere Essenszeiten nicht mit ihren überschneiden. Aber vielleicht essen sie ja auch gar nicht hier im Restaurant, vielleicht …

„Das macht sieben Euro achtundvierzig.“

Eine Hand erscheint in meinem Blickfeld. Aus meinen Gedanken gerissen fahre ich herum. Mika grinst mich an und hält mir zwei weitere Münzen entgegen.

„Wahrscheinlich findest du nächste Woche immer noch welche“, sagt er und zwinkert mir zu.

„Sieben Euro achtundvierzig, bitte!“

Die Stimme bohrt sich in meinen Gehörgang, und ich zucke zusammen.

„Oh, sorry, klar.“ Ich wühle in meiner Geldbörse nach einem Schein, damit es schneller geht. Das mache ich ständig, und das sich dadurch immer weiter ansammelnde Kleingeld ist auch der Grund für diesen peinlichen Zwischenfall. Jetzt aber will ich nur noch weg, so schnell es geht, und habe keine Lust, umständlich diverse Münzen zu zählen.

Verwirrt starrt die Mitarbeiterin mich an. Sie muss mich für vollkommen bekloppt halten, nachdem sie gerade meinen Überfluss an Kleingeld gesehen hat. Doch jetzt zählt jede Sekunde! Die Nähe dieses rehäugigen Kerls treibt mich schier in den Wahnsinn. Wenn das so weitergeht, werde ich mir noch ein blutdrucksenkendes Medikament besorgen müssen!

Endlich drückt die Kassiererin mir mein Wechselgeld in die Hand. Achtlos stopfe ich es in die Jackentasche, ehe mein Portemonnaie noch platzt, raffe meine Einkäufe und die Handschuhe an mich und rausche aus dem Laden.

Draußen atme ich tief durch und versuche, meinen rasenden Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dann stolpere ich los und rutsche in meiner Hast, wegzukommen, auch noch beinahe auf dem verschneiten Weg aus. Es sieht bestimmt überaus ulkig aus, wie ich herumschliddere und versuche, mein Gleichgewicht zu halten.

Gar nicht auszudenken, mich hier vor Mikas wunderschönen Augen langzulegen! Ich stelle mir vor, wie meine Einkäufe in einem hohen Bogen durch die Luft sausen und im Schnee landen. Eine der Milchpackungen würde aufplatzen, und er stünde mit seinem Kumpel neben mir und schüttelte sich vor Lachen.

Atemlos erreiche ich unsere Hütte, drücke mit dem Ellenbogen die Klinke herunter und stürze hinein.

„Lara, du lieber Himmel! Was ist denn mit dir los? Ist der Leibhaftige hinter dir her? Du bist ja völlig durch den Wind!“ Erschrocken starrt Kiki mich an.

Schnell werfe ich meine Einkäufe auf den Küchentisch, als würden sie glühen.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, was mir passiert ist. Ich, äh … Am besten fahre ich nach Hause, jetzt gleich.“

„Was?“

Ich muss überzeugend gewesen sein, denn Kiki wird ganz blass.

„Ist dir einer blöd gekommen, oder wie?“, fragt sie zaghaft.

Mir fällt ein, dass ich immer noch meine Stiefel anhabe, und ich gehe zur Tür und ziehe sie dort aus. Dann hole ich einen Lappen, um das Schmelzwasser aufzuwischen. Die Zeit nutze ich, um etwas herunterzukommen.

„Das nicht gerade“, bringe ich schließlich heraus. „Du erinnerst dich, dass wir neue Nachbarn haben?“ Mit einer Kopfbewegung weise ich zur Hütte neben uns.

„Klar, die beiden Typen.“ Kiki reißt die Augen auf. „Sag nicht, das sind so richtige Vollidioten. Lass mich raten: Die waren stockbesoffen und haben dich angemacht. Ach, ich wusste doch, dass ich hätte mitgehen sollen. Tut mir echt leid, dass du allein …“

Schnell schüttele ich den Kopf und hebe die Hand. „Im Gegenteil. Die sind supernett. Und ich bin so was von blöd.“

„Bitte?“ Nur selten sieht Kiki dermaßen verwirrt aus.

Ich schlucke und hole tief Luft. Dann erzähle ich ihr vom peinlichsten Moment meines Lebens.

Einen Moment lang wirkt Kiki schockiert. Dann beginnt sie zu grinsen und schließlich zu kichern.

„Ach du meine Güte, du Ärmste“, ruft sie und japst vor Lachen. „Ich meine, wann begegnet man schon mal einem Traummann? Und ausgerechnet da passiert dir so etwas?“ Sie lacht immer lauter.

„Danke für dein Verständnis“, brumme ich säuerlich. Doch dann steigt auch in mir ein Kichern auf, und schließlich kann ich mich gar nicht mehr einkriegen.

***

Im Grunde müsste ich während unseres langen Spaziergangs durch den Winterwald herrlich entspannt sein. Stattdessen drehe ich mich immer wieder um, ob Mika und sein Freund auch nicht in der Nähe sind. Das würde mir nach der Blamage gerade noch fehlen! Es ist schon schlimm genug, dass ich den Anblick seiner schönen Augen nicht mehr aus dem Kopf kriege. Der Gedanke versetzt mich in Unruhe, und genau so etwas wollte ich doch nicht mehr.

Also gehen wir im Anschluss an den Spaziergang in unsere hauseigene Sauna.

„Ich fahre nicht mehr nach Hause“, erklärt Kiki mit geschlossenen Augen und von wohligen Dampfschwaden umgeben.

„Sag ich doch.“

Still lächele ich in mich hinein und fühle mich endlich tiefenentspannt. Dieser Urlaub ist wirklich die beste Idee, die wir seit Langem gehabt haben. Um uns herum erstreckt sich ein Winterparadies, wir wohnen in einer gemütlichen kleinen Hütte mittendrin und haben sogar eine eigene Sauna. Könnte es noch besser sein?

Ja. Wenn wir allein wären. Wenn diese zwei Typen ihren Urlaub in Australien verbringen würden oder in Grönland. Hauptsache, weit weg von uns.

Als wir uns an diesem Abend auf das Essen vorbereiten, bin ich aus unerfindlichen Gründen seltsam nervös. Und als wir die Hütte verlassen, um zum Restaurant hinüberzugehen, werfe ich einen misstrauischen Blick zu unserer Nachbarhütte hinüber. Es steigt zwar Rauch aus dem Kamin, doch davon abgesehen rührt sich nichts.

Kiki wirft mir einen neugierigen Seitenblick zu.

„Die haben bestimmt den Wodka bereits intus und liegen im Koma“, vermutet sie.

„Hoffentlich!“

„Ach, ich wäre schon neugierig.“

Sie grinst so frech, dass ich mich bücke, eine Handvoll Schnee aufhebe und sie damit bewerfe. Kreischend vor Lachen weicht sie zurück und geht zum Gegenangriff über. Als wir das Restaurant erreichen, sind wir über und über von Schnee bedeckt und klopfen uns erst mal gründlich ab.

Dann scanne ich nervös den Raum und atme erleichtert auf. Rehauge und sein Kumpel sind nicht hier. Also stimmt Kikis Vermutung wahrscheinlich.

Wir lassen uns das Essen und den Weißwein schmecken. Ich habe gerade ein zweites Glas bekommen, halte es in der Hand und lausche einer Erzählung meiner Freundin, als sich ihre Augen mit einem Mal weiten und sogar ihr Mund ein wenig aufklappt.

Neugierig fahre ich herum, meine das Glas haltende Hand prallt gegen einen Körper, und die Hälfte des Inhalts ergießt sich darüber.

Schockiert schlägt Kiki die Hand vor den Mund und starrt von mir zu der Person, die ich bekleckert habe. Aus deren Mund entweicht ein gedämpfter Fluch, und sie springt zurück. Wahrscheinlich eine Servicekraft, die unser Geschirr holen will.

Ich blicke in die riesigen Augen meiner Freundin, ehe ich es wage, mich meinem Opfer zuzuwenden. Ganz langsam, weil ich mich schäme, ihm ins Gesicht zu sehen.

„Entschuldigung“, sage ich. „Ich hab nicht gewusst, dass jemand neben mir steht, und …“

„Schon gut. Was schleiche ich mich auch so an. So was passiert mir nicht zum ersten Mal, ich hätte es inzwischen wissen müssen.“

Beim Klang der Stimme erstarre ich. Mein Blick, der über ein am Bauch durchnässtes T-Shirt inzwischen bis zur immerhin trockenen Brust – einer Männerbrust – hochgewandert ist, ruckt das letzte Stück bis zu dessen Gesicht und zusammengebundenem braunem Haar.

„Ach du Scheiße“, entfährt es mir.

Wider Erwarten grinst Mika.

„Ich freu mich auch, dich zu sehen. Und ich verspreche, ab sofort auf alles vorbereitet zu sein, wenn ich dich treffen sollte. Wie man ja sieht, ist das echt nötig.“

„Tut mir wirklich leid“, erwidere ich kleinlaut. „Die Reinigungskosten für dein Shirt ersetze ich dir natürlich.“

Er winkt achtlos ab. „Ach was, Schwamm drüber. Das kommt in die Waschmaschine, alles gut. Ist nur schade um den guten Wein.“

„Halb so schlimm.“

Warum tut sich kein Loch im Boden auf und verschluckt mich? Wieso passiert so was immer mir? Er muss mich für komplett verpeilt halten. Und warum mache ich mir eigentlich Gedanken darüber, was er von mir denken könnte?

„Hör mal, du scheinst zwar gern mit Dingen um dich zu werfen beziehungsweise zu spritzen“, beginnt Mika und grinst umwerfend. „Und bestimmt gehen wir ein großes Risiko damit ein, aber mein Kumpel und ich wollten euch fragen, ob ihr Lust habt, mal etwas gemeinsam zu unternehmen. Wo wir doch Nachbarn sind.“

Wie seine Augen leuchten. Ich kann nicht anders, als ihn anzustarren.

„Tja, äh …“

„Du schuldest mir was.“ Grinsend weist er auf den nassen Fleck auf seinem glücklicherweise schwarzen Shirt.

„Ja, stimmt natürlich. Sorry noch mal! Okay, was schwebt euch denn so vor?“

„Habt ihr schon mal eine Hundeschlittenfahrt unternommen?“

„Nein. Allerdings steht es weit oben auf unserer Agenda.“

Ich wechsele einen raschen Blick mit Kiki. Sie wirkt total aufgeregt und nickt.

Mika beobachtet uns und wirkt zufrieden.

„Gut, dann ist es abgemacht. Wie siehts mit morgen aus?“

Betont unbeteiligt, damit er mir den Aufruhr, der in mir tobt, nicht anmerkt, zucke ich die Schultern.

„Tja, da wir gerade keine dringenden Termine haben …“

„Super. Dann können wir morgen schon einmal miteinander frühstücken, und anschließend fahren wir los, in Ordnung?“

„Wir kennen euch doch gar nicht“, versuche ich einen letzten Einwand.

„Aber die Hotelleitung.“ Mika grinst. „Guck dich mal um. Es gibt reichlich Zeugen dafür, dass wir gerade miteinander sprechen, und bestimmt bekommen es auch morgen einige Leute mit, dass wir zusammen wegfahren. Da wären wir schön blöd, wenn wir euch unterwegs irgendwo verbuddeln würden, oder?“

Ich komme mir sehr albern vor und spüre, wie ich erröte. „Äh, ich bin übrigens Lara“, stelle ich mich rasch vor, um das Thema zu wechseln. „Und das ist meine Freundin Kiki.“

„Freut mich sehr.“ Mika lächelt umwerfend und stellt sich ebenfalls vor. „Ja, okay, dann bis morgen.“ Er schenkt uns noch einen strahlenden Blick, wendet sich ab und verschwindet.

„Wow“, sagt Kiki. „Ich weiß, was du meinst. Der Typ ist ja der Oberhammer.“

„Ja“, sage ich gedankenverloren und starre in die Richtung, in die er verschwunden ist. „Sein Kumpel ist auch nicht übel. Jedenfalls das, was man so mit Jacke und Mütze von ihm sehen konnte.“

„Na, dann steht einem schönen Ausflug morgen ja nichts im Wege.“

„Und was ist mit der Ruhe, deretwegen wir hergekommen sind?“

„Die können wir hinterher immer noch haben.“

***

Kurz vor dem Schlafengehen nehme ich mein Handy zur Hand, um noch einmal meine Nachrichten zu checken.

Kiki beobachtet mich. „Willst du es wirklich wissen?“

„Was meinst du?“

„Ob oder was er dir wieder geschrieben hat.“

Aus unerfindlichen Gründen bin ich heute gar nicht so richtig neugierig. Um ehrlich zu sein, schaffe ich es inzwischen immer länger, ob unterschwellig oder bewusst, nicht über Lukas nachzudenken. Klar, ich möchte gern wissen, was er schreibt, andererseits ist es mir irgendwie egal, und wenn ich daran denke, wie ich gestern noch geheult habe … Zum Teufel, was will ich eigentlich?

Trotzig öffne ich die Nachrichten. Es sind schon weniger geworden, nur noch zwei. Das übliche Geschwafel:

Verzeih mir. Ich liebe nur dich. Gib mir noch eine Chance.

Im Gegensatz zu gestern verursachen sie kein Gefühlschaos mehr bei mir. Ich verspüre nicht mehr die Sehnsucht, mich in seine Arme zu stürzen und alles zu vergessen. Stattdessen schiebt sich Mikas Gesicht mit seinen wunderschönen Augen vor das von Lukas und übermalt es.

„Es geht dir besser, oder?“, erkundigt sich Kiki, die mich beobachtet, während ich vorlese.

Ich nicke. „Gestern war ich noch nicht sicher, ob ich es durchhalte, ob ich wirklich endgültig mit ihm Schluss machen soll. Ob ich ihm nicht doch noch einmal verzeihen sollte. Aber jetzt … Er ist doch echt ein Idiot, oder?“

Kiki grinst. „Ja, das ist er. Schön, dass du es auch endlich einsiehst. Lara, auch wenn es schwerfällt: Bleib hartnäckig. Lass dich nicht wieder von ihm rumkriegen, auch wenn er noch so rumjammert. Du weißt, dass er es nicht ernst meint, oder?“

„Klar“, sage ich, auch wenn ich noch ein wenig unschlüssig bin. Immerhin waren wir fünf Jahre lang zusammen. Zwar mit zwei kleinen Trennungen dazwischen, aber trotzdem waren fünf Jahre eine lange Zeit, und wir hatten unzählig viele wunderbare Momente miteinander. Die steckt man nicht einfach so weg. Wahrscheinlich kann man mir meinen Zwiespalt im Gesicht ablesen, denn schon hebt Kiki mahnend ihren Zeigefinger.

„Wenn dich wieder das Mitleid mit ihm überkommt, denk an den ganzen Mist, den du mit ihm durchhast. An die Zettelchen, an die vielen Male, die er aus dem Zimmer ging, wenn sein Handy klingelte, oder wenn er angebliche Überstunden machen musste, an den Parfümgeruch an seinem Hemd …“

„Ja, mach ich. Versprochen.“

„Und, Lara, bitte: Lass dich nicht mehr erweichen. Bisher hat Lukas es immer wieder geschafft. Er konnte sich so viel Mist leisten, wie er wollte, weil er genau wusste, dass du ihn früher oder später wieder zurücknimmst. Du bist viel zu gutmütig.“

„Bisher habe ich ihn nie in flagranti erwischt. Es waren immer nur Vermutungen, Ahnungen, Befürchtungen. Aber ich hatte keine Beweise.“

„Dieses Mal ja.“

„Ja, diesmal hat Lukas endlich den entscheidenden Fehler begangen. Er hat sich erwischen lassen. Und deshalb werde ich jetzt auch nicht mehr einknicken. Ab sofort beißt er bei mir auf Granit.“

„Wirklich?“

„Ja.“ Ich nicke bekräftigend. „Dieses Mal halte ich durch. Wirklich. Ich vergesse jetzt einfach die schönen, liebevollen Zeiten und denke nur daran, dass er ein notorischer Fremdgänger ist. Ich schaffe das!“

Kiki atmet erleichtert durch. „Du ahnst nicht, wie froh ich bin, das von dir zu hören. Ich bin immer für dich da, hörst du? Wenn du weinen willst oder schreien, nur zu.“ Sie lächelt. „Hier in der schneebedeckten Wildnis hören dich außer mir nur die Elche, also lass ruhig alles raus.“

„Vielleicht komme ich mal drauf zurück“, erwidere ich schmunzelnd. Ich hebe mein Handy, um es ihr zu beweisen, und blockiere Lukas erneut. „Hier, siehst du? Blockiert. Ab sofort kann er sich an mir die Zähne ausbeißen.“

Meine Freundin grinst und wirkt sehr zufrieden.