Leseprobe Fürstliche Weihnachten

Kapitel 1

Emily

Emily zog die Decke bis zu ihrer Brust, nachdem sie die Heizung um zwei Stufen runtergedreht hatte. Ihr Laptop ruhte auf ihrem Schoß, während ihre Augen sich mit Tränen füllten, unfähig zu begreifen, wie hoch die Schulden waren, die ihr Ex-Verlobter ihr hinterlassen hatte. Es hatte sie Wochen gekostet, die Einnahmen und Ausgaben in eine Excel-Tabelle einzupflegen, was eigentlich Saschas Aufgabe gewesen wäre.

Seufzend strich sie sich eine rote Locke aus der Stirn, die gleich darauf wieder in dieselbe Position sprang. Sie mochte ihre Haarfarbe, auch wenn sie in der Schulzeit deswegen oft gehänselt worden war. Ihre Sommersprossen auf Nase und Wangen störten sie manchmal, weswegen sie den Winter liebte, wenn sie fast unsichtbar wurden. Emily klappte den Laptop zu und stellte sich an das Fenster. Draußen war es schon dunkel, und das Licht der Straßenlaternen und der mit Lichterketten geschmückten Fenster spiegelte sich in den Regenpfützen auf der Straße. Für Anfang Dezember war es viel zu mild, das redete sie sich jedenfalls ein, wenn sie wehmütig an ihre unbeschwerte Kindheit zurückdachte, und an Schlittenfahrten und heißen Kakao. Sie hatte stets ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern gehabt, die viel zu früh wegen eines tragischen Unfalls von ihr gegangen waren. Die Narben waren noch frisch gewesen, als Sascha in ihr Leben getreten war und sie mit seinem Aussehen und seinem Charme für sich eingenommen hatte. Für ihn war es leicht gewesen, sie um den Finger zu wickeln. Jetzt war sie dreiunddreißig und entschlossen, es nicht noch einmal so weit kommen zu lassen.

Traurig wandte sie sich von der trostlosen Aussicht auf den nassgrauen Asphalt ab und kroch wieder unter die Decke. Sie hatte sich doch nur nach Liebe gesehnt, nach einer Schulter zum Anlehnen. Stattdessen war sie auf das Übelste betrogen und ausgenutzt worden.

Als Emily an ihren Laptop zurückkehrte, wurde ihr wieder einmal bewusst, dass sie sich von Sascha und seinen Visionen hatte blenden lassen. Von der Vorstellung eines besseren, finanziell unabhängigen Lebens. Träume, die er auf ihre Kosten verwirklicht hatte. Als Inhaberin einer Eventagentur hatte Emily die Mittel bereitgestellt, bis er sich in einer nächtlichen Aktion auf Nimmerwiedersehen abgesetzt hatte. Sie schloss die Augen.

Es war sowohl zu spät, über ihr insolventes Geschäft nachzudenken, als auch für einen kitschigen Weihnachtsfilm. Die liefen doch immer gleich ab. Erst mochten die Hauptdarsteller sich nicht und am Ende … Happy End. Nein, sie hielt solche Filme für unrealistisch.

Gerade als Emily den Laptop ausschalten wollte, ging eine E-Mail ein. Ein ungutes Grummeln zog sich durch ihren Bauch. Bestimmt handelte es sich wieder um eine Zahlungserinnerung, trotzdem klickte sie auf Öffnen. Der Name in der Empfängerleiste weckte ihre Neugier.

»Fürstin Cecilia von Hohenlich«, las sie leise vor sich hin. An einen derart auffälligen Namen erinnerte sie sich gar nicht. Sie lehnte sich etwas näher an den Bildschirm und kniff die Lider zusammen, überflog die wenigen Textzeilen, in denen gefragt wurde, wann sie am Samstag mit ihrem Erscheinen rechnen könne.

Emily ließ sich in das Kissen hinter ihr sinken. Ihr Herz klopfte aufgeregt in ihrem Brustkorb. Auweia. Sie war sich sicher gewesen, alle offenen und bereits angenommenen Aufträge abgesagt zu haben, rechtzeitig, damit sie endlich mit der Eventgeschichte abschließen und wieder in ihrem eigentlichen Beruf in der Kinderbetreuung arbeiten konnte. Zutiefst sehnte sie sich nach den kleinen Geschöpfen, die mit großen, neugierigen Augen darauf warteten, die Welt erklärt zu bekommen. Ja, das war ihre Bestimmung. Mit viel Liebe und Geduld gemeinsam ein Weihnachtsgeschenk für die Eltern zu basteln, oder den kleinen Rackern bei gemütlichem Licht eine Weihnachtsgeschichte vorzulesen oder Plätzchen zu backen. Sie roch regelrecht den Vanilleduft und sah die leuchtenden Augen und geröteten Wangen der Kinder. Der Hoffnungsschimmer gab ihr Kraft. Nächstes Jahr würde sie wieder in ihrem Job arbeiten. Die Zusage hatte sie letzte Woche im Briefkasten gehabt, und Emily war mehr als erleichtert über diese glückliche Fügung. Zwar würde sie nur eine Teilzeitstelle bekommen, aber es war ein Anfang, um der Schuldenspirale zu entkommen. Vielleicht könnte sie sich irgendwann einen bescheidenen Urlaub leisten. Sie brauchte nicht viel und war doch mit wenig sehr zufrieden. Das war schon immer so gewesen – warum Sascha es geschafft hatte, ihr das auszureden, war ihr bis heute ein Rätsel.

Mit wenigen Klicks verfolgte sie den Mailverkehr und musste mit Entsetzen feststellen, dass sie diesen Auftrag tatsächlich übersehen hatte. Den musste Sascha angenommen haben. Eine andere Erklärung gab es nicht. Allerdings konnte sie ihn nicht fragen. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Also musste sie wohl oder übel bei Janine, ihrer ehemaligen Mitarbeiterin, nachhaken. Entschlossen wählte sie Janines Kontakt, die das Gespräch prompt entgegennahm.

»Hallo, Emily«, meldete sie sich mit rauer Stimme.

»Tut mir leid, Liebes. Ich habe gar nicht auf die Uhr geguckt. Hab ich dich geweckt?«

»Nein, nicht wirklich. Ich bin vor dem Fernseher eingeschlafen. Was hast du denn auf dem Herzen, dass du jetzt noch anrufst?«

»Sagt dir der Name Fürstin Cecilia von Hohenlich etwas?«

»Nein, wer soll das sein?«, fragte sie nun interessiert. Es schien, als wäre ihre Müdigkeit wie weggeblasen.

Dann hatte wohl Sascha der Organisation zugestimmt. »Ich habe eine Erinnerungsmail von ihr wegen der anstehenden Familienfeier bekommen. Das Treffen ist schon am Samstag und das Fest am vierten Advent. Also eine Woche vor Weihnachten. Keine Ahnung, wie es passieren konnte, dass ich verpennt habe, ihr rechtzeitig abzusagen.«

»Oh, kurzfristig zu canceln, so wenige Wochen vor Weihnachten, da möchte ich nicht in deiner Haut stecken.«

»Vielen Dank auch, Freundin«, fügte Emily ironisch hinzu, um zu betonen, dass sie eigentlich nicht zum Scherzen aufgelegt war.

Janine lachte leise im Hintergrund. »Wenn du aus der Nummer ohne finanziellen Verlust rauskommen willst, dann musst du dich um Ersatz kümmern, das wird keine leichte Aufgabe. Mittlerweile beauftragt jede Firma und jede Arztpraxis, egal wie klein, jemanden mit der Organisation ihrer Weihnachtsfeier.«

Emily hätte heulen können. Denn sie wusste, dass Janine recht hatte. Vor allem, was den finanziellen Schaden anbelangte. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen kannte sie auswendig. Als Veranstalterin kam sie nicht grundlos und so zeitnah aus dem Vertrag heraus, ohne zusätzliche Kosten zu tragen.

»Wenn du Fragen hast, kannst du jederzeit auf mich bauen.«

»Du meinst, ich soll den Auftrag annehmen? Wie stellst du dir das vor? Mit der Planung und Ausführung hatte ich nie etwas am Hut. Ich habe keine Ahnung, wie das funktioniert.« Sie war vielmehr für die Kinderbetreuung zuständig gewesen, die oft und gern von den Kunden angenommen worden war.

»Du hast doch von einem Familienfest gesprochen. Solche Feiern haben maximal dreißig Gäste, von denen allein zehn Kinder sind. Das sieht bei großen Events ganz anders aus.«

»Hört sich gar nicht so schlimm an«, murmelte sie und zupfte an einem Faden ihrer Decke. Zwanzig Erwachsene und zehn Kinder waren doch eine überschaubare Anzahl, redete Emily sich gut zu. Galt das denn auch bei Adelsfamilien? »Ich überlege es mir.«

»Hey, du schaffst das. Du hast schon ganz andere Sachen durchgestanden. Und wenn etwas unklar ist, rufst du mich an.«

»Danke, Janine. Das bedeutet mir wirklich sehr viel. Nicht jeder hätte so viel Verständnis wie du.« Emily brach ab. Tränen stiegen ihr hinter den Lidern auf, wie so oft, wenn sie an die Sache dachte. Viele Freunde hatte sie nicht, dafür konnte sie auf jeden einzelnen zählen. Insbesondere auf Janine.

»Du kannst ja nichts für deinen Ex.«

»Ich melde mich. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Damit beendeten sie das Gespräch.

Mit einem tiefen Seufzer verweilte sie im Schneidersitz auf dem Sofa und spielte in Gedanken durch, wie sie mit den Caterern verhandelte, sich um die Tischdekoration bemühte und sich anderen Aufgaben widmete, von denen sie wenig verstand.

Nein. Es ging nicht. Sie musste die Feier absagen. In Windeseile verfasste sie eine freundliche Absage, in der beschrieben stand, wie sehr sie es bedauerte.

Unschlüssig verharrte ihr Finger über der Enter-Taste. Brachte sie es womöglich doch nicht übers Herz? Der finanzielle Verlust machte den Kohl auch nicht mehr fett. Aus dem Mailverlauf wusste sie, dass es sich um ein traditionelles Familienfest handelte, bei dem strikte Routinen eingehalten werden mussten, die keine Abweichungen zuließen.

Ein Familienfest, geisterte es Emily durch den Kopf. Sie fragte sich, wie viel Zeit verstrichen war, seit sie zuletzt an einem festlich gedeckten Weihnachtstisch gesessen hatte, ein Glas Wein in der Hand, und die erwartungsvollen, geröteten Gesichter der Kinder beobachtet hatte, die darauf brannten, ihre Geschenke endlich öffnen zu dürfen. Augenrollend schob sie das Bild fort.

»Reiß dich zusammen, Emily«, mahnte sie sich. Wenn überhaupt, würde sie die Feier planen und sich ansonsten wie ein Geist verhalten, nicht auffallen und schon gar nicht an der Tafel dieser reichen Familie sitzen. Diese Vorstellung bescherte ihr eine Gänsehaut, sodass sie ihre Decke etwas höher zog. An einem Tisch mit hochnäsigen, fein gekleideten Menschen über Politik zu philosophieren, war so gar nicht ihre Welt und würde es auch nie werden. Nein! Entschlossen, diesem Irrsinn aus dem Weg zu gehen, schickte sie die Absage ab, auch wenn ihr klar war, dass Cecilia von Hohenlich die Entscheidung nicht schmecken würde. Aber Emily würde sich irgendwie aus der Angelegenheit herauswinden.

Zufrieden mit sich selbst ging sie in ihr winziges Bad, machte sich für die Nacht fertig und lag schließlich mit einem Liebesroman gemütlich im Bett, als ein vertrauter Ton erklang. Die Benachrichtigung einer eingehenden E-Mail. Ob sich Cecilia bereits gemeldet hatte? Ihr Puls beschleunigte sich schlagartig. Wovor hatte sie nur solche Angst? War es vielleicht doch die Furcht vor dem Schadenersatz, den die ohnehin reiche Familie von ihr fordern würde, wenn sie das Kleingedruckte gelesen hatte? Und das hatte sie, ganz bestimmt. Emily könnte vorgeben, die Nachricht nie bekommen und dementsprechend auch nicht gelesen zu haben. »Nein«, sagte sie sich und schüttelte energisch den Lockenkopf. So eine war sie nicht. Sie war keine Person, die den Kopf in den Sand steckte. In der Regel zog sie Dinge durch, und wenn sie noch so unbequem waren. Die Vergangenheit hatte sie gelehrt, auch mal zu scheitern, aber wenigstens konnte sie von sich sagen, dass sie es versucht hatte. Wie hieß es immer so schön: Hinfallen, Krone richten, weitergehen.

Entschieden nahm Emily ihren Laptop und klickte auf die Nachricht, die, wie erwartet, von Cecilia kam. Sie schluckte hart, während sie den Vertrag überflog, der sowohl als Anhang als auch zur Erinnerung mitgeschickt und unter dem eine beachtliche Summe für die Auftragserfüllung vermerkt worden war. Mit einem Schlag wäre sie einen großen Teil ihrer Geldsorgen los. Nicht komplett, dafür hatte Sascha gesorgt.

Ob sie es sich doch noch mal überlegen sollte? Geld stank nicht.

Mit klopfendem Herzen befeuchtete sie ihre Lippen und betrachtete zum ersten Mal die Adresse, an der das Ereignis stattfinden sollte. Google Maps zeigte ihr, wo sie sich befand. Unruhe keimte in ihr auf. Tief im Inneren hatte sie gehofft, dass es in der Nähe von Bremen sein würde. Vielleicht in einem der vornehmen Viertel Hamburgs, wo sich das protzige Haus umgeben von anderen prunkvollen Gebäuden präsentierte. Doch dass es irgendwo in Bayern, nahe der österreichischen Grenze und weitab von allem liegen würde, damit hatte sie nicht im Entferntesten gerechnet. Die Fahrtkosten würden den Inhalt ihres Portemonnaies deutlich schmälern.

Mit der Maus scrollte sie weiter, denn Cecilia hatte unter dem Vertrag einen zusätzlichen Text verfasst. Nachdem sie auch den gelesen hatte, lehnte sie sich wieder zurück in die Kissen und kaute auf ihrer Wangeninnenseite. Nicht nur, dass Kosten und Logis frei für sie seien, wie vereinbart dürfe sie auch eines der vielen Zimmer bewohnen. Zudem habe sie sogar die Wahl, wie sie anreiste. Ob mit der Bahn oder mit dem Flugzeug. Cecilia würde natürlich umgehend für alle Kosten aufkommen. Emily solle ihr lediglich die Rechnung zusenden, worauf sich prompt ihr Gewissen meldete. Es schien, als läge diese Familienfeier Cecilia sehr am Herzen. Emily atmete kurz ein und wieder aus und schloss dabei die Augen. Währenddessen erinnerte sie sich an das Gespräch mit Janine und daran, dass ein Familienfest mit zwanzig Personen üblich sei.

Sie wollte nicht daran schuld sein, wenn die von Hohenlichs dieses Jahr auf ihre Tradition verzichten mussten. Es tat ihr in der Seele weh. Aber hatte Cecilia nicht darauf hingewiesen, dass Emily sich strikt an die wiederkehrende Routine des Festes halten sollte? Wenn bereits alles entschieden war – der Ort, das Menü und die Tischdekoration –, warum dann all die Aufregung?

Als hätten ihre Finger ein Eigenleben entwickelt, flogen sie über die Tasten ihres Laptops und versicherten Cecilia, dass lediglich eine Verwechslung vorliege und sie natürlich am vereinbarten Termin erscheinen würde. Die Uhrzeit und die Rechnung des Flugtickets würde sie ihr in den nächsten Tagen zukommen lassen. Oje, jetzt hatte sie auch noch die Frechheit gehabt, die kostspieligere Reiseoption zu wählen. Hoffentlich warf das kein schlechtes Licht auf sie. Vielleicht sollte sie doch lieber den Zug nehmen.

Heute war sie viel zu müde und gleichzeitig aufgekratzt. Sie legte den Laptop beiseite und vergrub ihren Kopf tief in das Kissen. So schwer konnte es doch nicht sein, eine Familienweihnachtsfeier zu organisieren.

Kapitel 2

Oliver

Oliver fühlte sich wie von einem Laster überfahren. Der Aufenthalt auf dem kleinen Landsitz ganz in der Nähe Rostocks hatte seine Emotionen aufkochen lassen. Das Treffen mit seiner Ex war ganz anders verlaufen, als er erwartet hatte. Er hatte ihr entgegenkommen wollen, mit ihr verhandeln, nicht streiten.

Ächzend ließ er sich in den Sessel fallen und fuhr sich mit den Händen über die Augen, sah sich um. Das Hotel, in das er sich unglücklicherweise einchecken musste, war ganz nett. Nichts Besonderes, einfach und schlicht ausgestattet. Das Zimmer genügte seinen Ansprüchen völlig. Ganz im Gegenteil zu Jules, die es extravagant und luxuriös mochte. Das war auch der Grund, warum Oliver extra den Weg nach Bremen auf sich genommen hatte. Nachdem Jule ihre Ansprüche auf nachehelichen Unterhalt auf den Tisch gelegte hatte, war ihm die Hutschnur geplatzt. Nicht nur, dass sie jeden Monat ein halbes Vermögen von ihm verlangte, jetzt forderte sie auch noch das kleine Landgut von ihm, in dem sie sich vor ein paar Stunden noch getroffen und in dem sie jeden Herbst mit den Kindern ihre Urlaube verbracht hatten.

Unwillkürlich krümmte sich sein Magen zusammen, wenn er nur daran dachte, Jule würde auch noch Liv und Anni verlangen. Er würde seines Lebens nicht mehr froh werden, wenn er seine Kinder womöglich nur an jedem zweiten Wochenende sehen dürfte. Glücklicherweise stand das Familiengericht auf seiner Seite, da selbst die Richterin erkannt hatte, dass Jule mit der Erziehung der Kinder völlig überfordert war. Nie hatte er die Absicht gehabt, Jule Vorwürfe zu machen. Sie war unter schwierigen Bedingungen aufgewachsen und hatte nie die Liebe ihrer Eltern erfahren dürfen. All die Jahre hatte er gehofft, dass sie irgendwann so etwas wie Muttergefühle entwickeln könnte. Doch er hatte sich getäuscht. In ihr und in sein Bauchgefühl. Und nach ihrer Forderung hatte er sie angeschrien, mit dem Finger auf sie gezeigt und sie als Rabenmutter betitelt, noch das harmloseste unter den vielen anderen Worten. Nun tat ihm seine Reaktion unendlich leid.

Seufzend vergrub er sein Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf. Er konnte nur beten, dass sie damit nicht zu ihrem Anwalt marschierte und mit seinem Fehlverhalten offene Türen einrannte, um ihm die Kinder wegzunehmen. Der Gedanke daran machte ihn ganz mürbe. Deswegen hatte er seinen besten Freund, der sein Anwalt war und den gesamten Scheidungsprozess von Anfang an begleitet hatte, sofort persönlich aufsuchen wollen. Dass Christoph sich gerade gar nicht in Bremen aufhielt, sondern sich auf einer Fortbildung in Bremerhaven befand, war nur ein Teil der Pechsträhne, die ihn verfolgte. Zu allem Überfluss war der Zug, der ihn morgen früh eigentlich nach Hause bringen sollte, gecancelt worden. Die darauffolgende Verbindung ebenfalls. Auch wenn es ihn eine Heidenüberwindung gekostet hatte und er Fliegen mehr verabscheute, als sich mit seiner Ex zu treffen, hatte er sich für die Option entschieden, die am wenigsten Zeit und Aufwand erforderte. So würde er seine Kinder schneller wieder in die Arme schließen können.

Ob Liv sich wirklich über ihn und seine Anwesenheit freuen würde, konnte er nur erahnen. Sie war in einem schwierigen Alter. Mit fünfzehn war sie zu alt zum Puppenspielen und zu jung, um sich mit älteren Jungs zu treffen. Ihre Schminkversuche ließen sie wie eine Zwanzigjährige wirken, was ihm vor Augen hielt, ihr lieber kein Kuscheltier mitzubringen. Anni hingegen freute sich über derartige Geschenke. Mit sechs Jahren fanden Kinder noch Freude an solch kleinen Gesten. Überhaupt war sie noch sehr verschmust. Jeden Abend las Oliver ihr dieselbe Gute-Nacht-Geschichte vor. Es wunderte ihn, dass sie der Geschichte von Bernhard und Bianca nie müde wurde, in der Madam Medusa das Waisenmädchen Penny entführte. Manchmal, wenn er einen besonders anstrengenden Tag hatte, trieb das Schicksal des Mädchens, ohne Eltern aufwachsen zu müssen, selbst ihm die Tränen in die Augen.

Oliver sah auf die Uhr und wägte ab, ob die Monster schon schliefen. Es war bereits nach zehn Uhr abends. Anni war mit Sicherheit längst ins Reich der Träume gedriftet, was er von Liv weniger glaubte. Viel zu oft hatten sie wegen der Handyzeit gestritten, und viel zu oft war Liv weinend in ihr Zimmer abgedampft und hatte die Türen geknallt. Dabei wollte er doch nur das Beste für seine Kinder, um ihnen den weiteren Weg zu ebnen. Was im Moment schwierig aussah, denn Livs schulische Leistungen, insbesondere die in Englisch, ließen zu wünschen übrig.

Das war nicht das Einzige, was ihn mürbe machte. Die Eventagentur hatte doch tatsächlich die Dreistigkeit gehabt, das geplante Familienfest abzusagen, das seiner Mutter so viel bedeutete. Zum Glück hatte Cecilia ihn umgehend kontaktiert, was ihm die Gelegenheit gegeben hatte, angemessen auf diese Unverschämtheit zu reagieren. Blöd aber auch, dass die bewährte Firma ihnen diesmal abgesagt hatte. Und nur aufgrund der Empfehlung hatten sie sich für diesen Veranstalter entschieden. Hoffentlich war das kein Fehler gewesen. Noch so ein Desaster, was er so überhaupt nicht gebrauchen konnte. Aber dem Anschein nach war es nur ein Irrtum der Agentur gewesen. Gott sei Dank!

Er erhob sich und sah hinaus auf den vom Regen nassen Asphalt. Es war nicht sein Wetter, dafür liebte er es, wenn die Landschaft zu Weihnachten puderzuckrig vor ihm lag und die Welt sich in eine traumhafte Schneelandschaft verwandelte. Innerlich schmunzelte er bei der Erinnerung daran, dass Liv noch vor zwei Jahren beim Schlittenfahren ganz vorne mit dabei gewesen und jauchzend die Piste rauf- und runtergeflitzt war. So schnell veränderten sich die Kinder.

Seine Mundwinkel verloren an Spannkraft und fielen hinab. Letztes Jahr hingegen war Liv nur noch physisch dabei gewesen und hatte den Schlitten neben sich gestellt, den Blick fest auf das Handy gekettet und mit ihren Freundinnen gechattet. Dieses Jahr würde sie sehr wahrscheinlich erst gar nicht mit dabei sein. Er konnte nur hoffen, dass ihr Benehmen der Pubertät zuzuschreiben war und nicht auf den Einfluss ihrer Mutter.

Da war sie wieder, und mit ihr die Wut, die er am liebsten bei einem Glas Whisky mit seinem Freund in der nächsten Bar ertränkt hätte. Doch normalerweise mied er Alkohol, trank nur selten, seit er die Auswirkungen kannte. Heute, mit seinen reifen neununddreißig Jahren, würde er seinem dreiundzwanzigjährigen Ich erklären, dass die Anti-Baby-Pille keine einhundertprozentige Sicherheit gegen eine ungewollte Schwangerschaft bot.

Ächzend fuhr er sich über den Nacken. Nein, so durfte er nicht denken. Auch wenn Liv nie geplant gewesen war, liebte er sie. Sie war nicht verantwortlich für die Taten ihrer Mutter oder dafür, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Sie hätten sich sehr wahrscheinlich auch ohne Kinder irgendwann auseinandergelebt. Ihre gemeinsamen Töchter hatten es nur beschleunigt.

Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Blick genügte, um festzustellen, wer ihn um die Uhrzeit noch anrief. Es war sein bester Freund. »Chris«, begrüßte er seinen Kumpel einen Tick zu überschwänglich.

»Hey, Mann. Was für ein Dilemma. Ausgerechnet heute bist du in Bremen und ich nicht! Wir hätten richtig einen draufmachen können. Uns ein paar hübsche Mädels anschauen. Das nächste Mal sagst du mir bitte rechtzeitig Bescheid, dann buche ich einen Onlinekurs.«

Oliver schnaubte belustigt. Ihm war überhaupt nicht nach Brautschau. Nicht nach Frauen, die nur ansatzweise wie Jule tickten. Selbst wenn er damit gerade jede weibliche Person über einen Kamm scherte. Er war sich sicher, dass es da draußen irgendwo die eine, ganz besondere Frau für ihn geben musste, aber im Moment hatte er keinen Blick dafür. »Es war nicht geplant, hier zu stranden«, sagte Oliver knapp, statt auf die Bar mit den schönen Damen einzugehen.

»Offensichtlich war das mit Jule keine gute Idee. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du keine Verabredungen mit ihr treffen sollst, ohne mich vorher einzuweihen? Bin ich jetzt dein Anwalt oder nicht? Wie schlimm war es?«, fragte er nun ruhiger.

»Schlimmer.«

»Oh, Mann.«

»Sie will den Landsitz.«

Christoph schwieg vorerst, doch dann sagte er: »Dann gib ihn ihr. Du bist im Besitz vieler anderer. Wo ist das Problem?«

»Es ist eines meiner Lieblingshäuser, so viele Erinnerungen hängen daran.«

»Umso besser, wenn du es abwirfst. Erinnerungen können auch Ballast sein.«

Oliver fuhr sich mit der Hand über seine Wange, wodurch ein leises Knistern entstand. Seine letzte Rasur lag fast zwei Tage zurück, was ihm einen dunklen Bartschatten verlieh. In der Vergangenheit hatte er sich täglich rasiert, eine langwierige Routine, die Jule immer wieder von ihm gefordert hatte.

»Wie hat sie reagiert, als du abgelehnt hast?«

»Ich bin völlig aus der Hose geflippt und habe sie als Rabenmutter betitelt.«

»Das ist sie, und das weiß die Richterin, die das Urteil gesprochen hat. Jetzt beruhig dich. Solange du die Hand nicht gegen sie erhoben hast, bist du auf der sicheren Seite.«

Für einen Moment herrschte Schweigen zwischen den beiden, bis Chris skeptisch nachfragte: »Du hast doch nicht …«

»Was? Nein. Für wen hältst du mich?« Oliver konnte nicht glauben, was sein Freund von ihm dachte.

»Für einen herzlichen Mann, der ein friedvolles und unbeschwertes Leben verdient. Mit einer Frau an deiner Seite, die das Glück mit dir teilt. Für die ein Titel nur nebensächlich ist.«

Besagten Titel würde er am liebsten ablegen. Er war nie scharf auf sein Adelsdasein gewesen. In der heutigen Zeit hatte es keine politischen Auswirkungen auf die Gesellschaft, wie es das damals der Fall gewesen war. »Fürst« war lediglich der Bestandteil seines Namens und sagte nichts über seine Person aus. Allerdings verbargen sich Ländereien, Wälder sowie zahlreiche Gutshöfe und Landsitze dahinter. Aus diesem Grund tat er sich schwer damit, Frauen, die er erst kürzlich getroffen hatte, sein Vertrauen zu schenken. Tief in seinem Inneren sehnte er sich nach einer gut funktionierenden Beziehung, einer liebevollen und fürsorglichen Frau, die ihm respektvoll begegnete und ihn nur um seinetwillen liebte und nicht wegen seines Vermögens. Ihn und seine Kinder.

»Ich verstehe dich nicht, Oliver. Du bist der geduldigste Mensch auf Erden. Wenn du mir von dir und deiner pubertierenden Tochter erzählst, frage ich mich, ob ich ebenso ruhig bleiben könnte. Wie kommt es, dass du nur bei Jule dermaßen die Fassung verlierst?«

Wenn er das nur wüsste. Weil er sich von ihr blenden lassen hatte? Weil er viel zu lange versucht hatte das Bild einer intakten Familie aufrechtzuerhalten, das nur Fassade war? Er fuhr sich ächzend über den Nacken. Viel früher hätte er einen Schlussstrich ziehen müssen. Dann wäre ihm einiges erspart geblieben. »Ich arbeite an mir«, scherzte er, obwohl er es ernst meinte.

»Weißt du was? Geh und amüsiere dich. Tob dich mal richtig aus. Du bist viel zu verkrampft.«

»Danke für den Tipp. Ich werde es mir zu Herzen nehmen.« Nichts dergleichen würde er tun, das stand fest.

»Wir sehen uns spätestens am vierten Advent. Mach’s gut.«

Oliver legte sein Handy beiseite und knöpfte sein Hemd auf. Zweifellos würde Christoph die Gelegenheit ergreifen, schon kommendes Wochenende zu erscheinen, um mit ihm um die Häuser zu ziehen. Er war nun mal sein bester Freund, und auch dieser Tag würde vorübergehen. Das war sein Motto, und er klammerte sich gern daran, weil es nun mal so war. Aber Mutters Party würde ganz bestimmt nett werden. Er freute sich darauf, all seine Lieben wiederzusehen. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass es ein Spießrutenlauf werden würde, seiner Großmutter und allen voran seinem Großvater den leeren Platz an seiner rechten Seite zu erklären. Es war ihnen fremd und wahrscheinlich unangenehm, dass Oliver geschieden war. In der Familiengeschichte war er der Erste, der die Rolle eines alleinerziehenden Vaters übernahm.

Er dachte an Heiligabend, und hätte nichts dagegen, wenn seine kleine Familie allein, bestenfalls zu dritt, unter dem Baum sitzen würde. Vorher würden sie gemeinsam kochen, ein Gesellschaftsspiel spielen und Geschichten erzählen. Liv würde wieder verstehen, dass die wahre Bedeutung von Weihnachten in der Familie und in den Herzen der Menschen, die man liebte, lag, nicht in den Bildschirmen der Handys. Sollte er versuchen, es dieses Jahr anders zu machen, Traditionen zu erneuern, die er von früher her kannte?

Es war mühselig, jetzt darüber nachzudenken, wo doch das Bett nach ihm schrie. Morgen, sobald er zu Hause angekommen wäre, würde er mit den Kindern darüber reden. Wenn er den Flug überhaupt überlebte.